Rico, Oskar und die Tieferschatten (Rico und Oskar 1) - Andreas Steinhöfel - E-Book

Rico, Oskar und die Tieferschatten (Rico und Oskar 1) E-Book

Andreas Steinhöfel

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Beschreibung

Band 1 der preisgekrönten und verfilmten Abenteuer mit Rico und Oskar Eigentlich soll Rico ja nur ein Ferientagebuch führen. Schwierig genug für einen, der leicht den roten oder den grünen oder auch den blauen Faden verliert. Aber als er dann auch noch Oskar mit dem blauen Helm kennenlernt und die beiden dem berüchtigten ALDI-Kidnapper auf die Spur kommen, geht es in seinem Kopf ganz schön durcheinander. Doch zusammen mit Oskar verlieren sogar die Tieferschatten etwas von ihrem Schrecken. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft ... »Fantasievoll, rührend, lustig. Einfach schön.« DER SPIEGEL Alle Bücher über Rico und Oskar: Rico, Oskar und die Tieferschatten (Band 1) Rico, Oskar und das Herzgebreche (Band 2) Rico, Oskar und der Diebstahlstein (Band 3) Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch (Band 4) Rico, Oskar und das Mistverständnis (Rico und Oskar 5)

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Seitenzahl: 197

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Für Gianni… das ist von mir zu dir genau wie umgekehrt A.S. CARLSEN Newsletter Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!www.carlsen.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. © 2008 by Carlsen Verlag GmbH, Hamburg Umschlag und Illustrationen: Peter Schössow Lektorat: Barbara König Layout: Peter Schössow Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-656-92111-3 Alle Bücher im Internet unterwww.carlsen.de

Die Nudel lag auf dem Gehsteig. Sie war dick und geriffelt, mit einem Loch drin von vorn bis hinten. Etwas getrocknete Käsesoße und Dreck klebten dran. Ich hob sie auf, wischte den Dreck ab und guckte an der alten Fensterfront der Dieffe 93 rauf in den Sommerhimmel. Keine Wolken und vor allem keine von diesen weißen Düsenstreifen. Außerdem, überlegte ich, kann man Flugzeugfenster nicht aufmachen, um Essen rauszuwerfen.

Ich ließ mich ins Haus ein, zischte durch das gelbgetünchte Treppenhaus rauf in den Dritten und klingelte bei Frau Dahling. Sie trug große bunte Lockenwickler im Haar, wie jeden Samstag.

»Könnte ’ne Rigatoni sein. Die Soße ist auf jeden Fall Gorgonzola«, stellte sie fest. »Lieb von dir, mir die Nudel zu bringen, Schätzchen, aber ich hab sie nicht aus dem Fenster geworfen. Frag mal Fitzke.«

Sie grinste mich an, tippte sich mit dem Finger an den Kopf, verdrehte die Augen und guckte nach oben. Fitzke wohnt im Vierten. Ich kann ihn nicht leiden und eigentlich glaubte ich auch nicht, dass die Nudel ihm gehörte. Frau Dahling war meine erste Wahl gewesen, weil sie öfters mal was aus dem Fenster wirft, letzten Winter zum Beispiel den Fernsehapparat. Fünf Minuten später schmiss sie auch noch ihren Mann raus, den allerdings nur aus der Wohnung. Danach kam sie zu uns, und Mama musste ihr ein Schlückchen Gutes einschenken.

»Er hat eine Geliebte!«, hatte Frau Dahling verzweifelt erklärt. »Wenn die blöde Kuh wenigstens jünger wäre als ich! Schenken Sie mal nach!«

Weil die Glotze jetzt im Eimer und der Mann weg war, hatte sie sich am nächsten Tag zum Trost einen todschicken Flachbild-Fernseher und einen DVD-Player gekauft. Seitdem gucken wir uns zusammen manchmal einen Liebesfilm an oder Krimis, aber nur an den Wochenenden, wenn Frau Dahling ausschlafen kann. Unter der Woche steht sie bei Karstadt am Hermannplatz hinter der Fleischtheke. Sie hat immer ganz rote Hände, so kalt ist es da.

Während des Fernsehens essen wir Müffelchen mit Wurst und Ei oder Lachs. Bei Liebesfilmen schnieft Frau Dahling mindestens zehn Tempos voll, aber am Schluss schimpft sie dann immer los, von wegen, nun hätten der Kerl und die Frau sich also gekriegt und jetzt ginge das Elend erst richtig los, aber das würden die natürlich nie zeigen in den Filmen, so ein total verlogener Scheiß – noch ein Müffelchen, Rico?

»Bleibt es bei heute Abend?«, rief Frau Dahling mir nach, als ich rauf in den Vierten rannte, immer zwei Stufen auf einmal.

»Klar!«

Ihre Tür schlug zu und ich klopfte bei Fitzke. Man muss immer bei Fitzke klopfen, seine Klingel ist nämlich kaputt, vermutlich schon seit 1910, als das Haus gebaut wurde.

Warten, warten, warten.

Schlurf, schlurf, schlurf hinter der dicken Altbautür.

Dann endlich Fitzke in Person, wie üblich in seinem dunkelblauen Schlafanzug mit den grauen Längsstreifen. Sein Knittergesicht war voller Bartstoppeln und in alle Richtungen standen ihm die strähnigen grauen Haare vom Kopf ab.

Echt, so was Ungepflegtes!

Ein dumpfer, muffiger Geruch schlug mir entgegen. Wer weiß, was der Fitzke da drin lagert. In seiner Wohnung, meine ich jetzt, nicht in seinem Kopf. Ich versuchte, unauffällig an ihm vorbeizugucken, aber er versperrte die Sicht. Mit Absicht! Ich war schon in jeder Wohnung im Haus, nur in Fitzkes nicht. Er lässt mich nicht rein, weil er mich nicht leiden kann.

»Ah, der kleine Schwachkopf«, knurrte er.

Ich sollte an dieser Stelle wohl erklären, dass ich Rico heiße und ein tiefbegabtes Kind bin. Das bedeutet, ich kann zwar sehr viel denken, aber das dauert meistens etwas länger als bei anderen Leuten. An meinem Gehirn liegt es nicht, das ist ganz normal groß. Aber manchmal fallen ein paar Sachen raus, und leider weiß ich vorher nie, an welcher Stelle. Außerdem kann ich mich nicht immer gut konzentrieren, wenn ich etwas erzähle. Meistens verliere ich dann den roten Faden, jedenfalls glaube ich, dass er rot ist, er könnte aber auch grün oder blau sein, und genau das ist das Problem.

In meinem Kopf geht es manchmal so durcheinander wie in einer Bingotrommel. Bingo spiele ich jeden Dienstag mit Mama im Rentnerclub Graue Hummeln. Die Hummeln haben sich in den Gemeinderäumen der Kirche eingemietet. Ich hab keine Ahnung, warum Mama so gern dorthin geht, da treiben sich nämlich wirklich fast nur Rentner herum. Manche gehen, glaube ich, nie nach Hause, denn sie haben jeden Dienstag dieselben Klamotten an, so wie der Fitzke seinen einzigen Schlafanzug, und ein paar von ihnen riechen komisch. Vielleicht findet Mama es einfach nur toll, dass sie beim Bingo so oft gewinnt. Jedes Mal strahlt sie, wenn sie auf die Bühne geht und zum Beispiel so eine billige Plastikhandtasche abholt – eigentlich sind es fast immer billige Plastikhandtaschen.

Die Rentner kriegen das selten mit, viele von denen pennen nämlich irgendwann über ihren Bingokärtchen ein oder sind sonst wie nicht richtig bei der Sache. Erst vor ein paar Wochen saß einer von ihnen ganz ruhig am Tisch, bis die letzten Zahlen durch waren. Als die anderen gingen, stand er nicht auf, und als schließlich die Putzfrau ihn zu wecken versuchte, war er tot. Mama hat dann noch überlegt, ob er vielleicht schon den Dienstag zuvor gestorben war. Mir war er auch nicht aufgefallen.

»Tach, Herr Fitzke«, sagte ich, »ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«

Fitzke sieht noch älter aus als der Rentner, den es beim Bingo erwischt hat. Und echt schmuddelig. Angeblich lebt er selber auch nicht mehr lange, deshalb trägt er immer nur seinen Schlafanzug, sogar zum Einkaufen bei Edeka. Falls er mal aus den Latschen kippt, hat er dann immerhin gleich die passenden Klamotten an. Seit er klein war, habe er es schon am Herzen, hat Fitzke mal zu Frau Dahling gesagt, deshalb käme er total schnell aus der Puste und irgendwann dann PENG! Ich finde, auch wenn er bald stirbt, könnte er sich ruhig ordentlich anziehen oder wenigstens ab und zu den Schlafanzug waschen, zum Beispiel an Weihnachten. Ich würde jedenfalls nicht gern zusammengebrochen bei Edeka vor der Käsetheke liegen und total eklig riechen, obwohl ich erst seit einer Minute tot bin.

Fitzke stierte mich nur an, also hielt ich ihm die Nudel unter die Nase. »Ist das Ihre?«

»Woher hast du die?«

»Gehsteig. Frau Dahling meint, es könnte eine Rigatoni sein. Die Soße ist jedenfalls Gorgonzola.«

»Lag die da nur so«, fragte er misstrauisch, »oder lag sie in irgendwas drin?«

»Wer?«

»Kauf dir mal ein Gehirn! Die Nudel, du Schwachkopf!«

»Wie war noch mal die Frage?«

Fitzke verdrehte die Augen. Gleich würde er platzen. »Ob sie da nur so lag auf dem Gehsteig, deine beknackte Nudel, oder in irgendwas drin! Hundekacke, weißt schon.«

»Nur so«, sagte ich.

»Dann zeig mal genauer.«

Er nahm mir die Nudel ab und drehte sie zwischen den Fingern. Dann steckte er sie sich – meine Fundnudel! – in den Mund und schluckte sie runter. Ohne zu kauen.

Tür zu, WUMMS!

Der hat sie doch nicht alle! Die nächste Fundnudel, das ist mal klar, werde ich extra in Kacke wälzen und Fitzke bringen, und wenn er dann fragt, lag die irgendwo drin, sage ich, nein, das ist Hackfleischsoße.

Mann, Mann, Mann!

Eigentlich hatte ich das ganze Haus abklappern wollen mit der Nudel, aber nun war sie ja mal weg, verschwunden hinter Fitzkes schlechten Zähnen. Ich trauerte ihr nach. Das ist ja immer so, wenn man was verloren hat: Vorher findet man es gar nicht so dolle, aber hinterher war es auf einmal die beste Nudel der Welt. Frau Dahling ging es ähnlich. Erst hatte sie letzten Winter auf ihren Mann geschimpft, weil er ein verdammter Ehebrecher war, und inzwischen guckt sie sich einen Liebesfilm nach dem anderen an und hätte ihren Mann gern zurück.

Ich wollte schon von Fitzke runter in den Zweiten laufen, aber dann überlegte ich es mir anders und klingelte erst noch an der Wohnung gegenüber. Da wohnt der Neue, der vor zwei Tagen eingezogen ist. Gesehen hab ich ihn noch nicht. Jetzt hatte ich zwar die Fundnudel nicht mehr, aber es war eine gute Gelegenheit, um Hallo zu sagen. Vielleicht ließ er mich zu sich rein. Ich bin sehr gern in anderen Wohnungen.

Diese hier stand lange frei, weil sie so teuer war. Mama hat mal überlegt, sie zu mieten, im vierten Stock gibt’s nämlich mehr Licht als im zweiten und sogar ein Stückchen Aussicht, weil man durch die Bäume über das flache alte Urban-Krankenhaus auf der anderen Straßenseite gucken kann. Aber als Mama erfuhr, was die Wohnung kosten sollte, hat sie es gelassen. Was ein Glück ist, sonst wäre Fitzke unser direkter Nachbar. Dieser Fresssack.

Der Neue heißt Westbühl, so steht es auf seinem Klingelschild. Er war nicht zu Hause, und ein bisschen war ich jetzt doch erleichtert. Das gibt Stress, wenn ich den mal mit seinem Namen anreden muss. Wegen Westen und Osten und so weiter. Ich bringe nämlich links und rechts immer durcheinander, auch auf dem Kompass. Wenn es um links und rechts geht, startet automatisch die Bingotrommel in meinem Kopf.

Ich ärgerte mich, als ich die Treppen runterlief. Hätte Fitzke nicht mein Beweismittel vernichtet, wäre es ein prima Tag gewesen, um Detektiv zu spielen. Der Kreis der Verdächtigen war nämlich sehr klein. Den fünften Stock mit den beiden schicken Dachwohnungen zum Beispiel konnte ich mir zurzeit komplett sparen. Runge-Blawetzkys sind gestern abgezischt in die Ferien, und der Marrak, der neben ihnen wohnt, hat sich gestern und heute noch nicht blickenlassen. Wahrscheinlich hat er wieder bei seiner Freundin übernachtet, die ihm auch die Wäsche macht. Alle paar Wochen sieht man den Marrak nämlich mit einem riesigen Sack voller Klamotten durch die Gegend rennen, raus aus dem Haus und wieder rein, und wieder raus und wieder rein und so weiter. Frau Dahling hat mal gesagt, es sei schrecklich mit den jungen Männern von heute, früher hätten sie zum Ausgehen nur eine Zahnbürste mitgenommen, heute wäre es der halbe Wäscheschrank. Der Marrak war jedenfalls nicht zu Hause. In seinem Briefkasten, unten im Hauseingang, steckte noch die Werbung von gestern. Ich gucke Krimis lieber als Knutschfilme, da fallen einem solche Sachen sozusagen ganz von selbst auf.

Okay, fünfter Stock abgehakt. Im vierten wohnen Fitzke und der Neue mit der Himmelsrichtung im Namen. Im dritten Stock, gegenüber von Frau Dahling, wohnt der Kiesling. Bei dem hätte ich sowieso erst abends klingeln können, weil der den ganzen Tag auf Maloche ist, als Zahntechniker in einem Labor in Tempelhof.

Im Stockwerk darunter: Mama und ich, und uns gegenüber die sechs Kesslers, aber die sind auch schon in den Ferien. Aus Kesslers Eigentumswohnung im Zweiten führt eine Treppe in die darunter liegende Wohnung, die gehört ihnen nämlich auch. Herr und Frau Kessler brauchen viel Platz für ihre vielen Kinder.

Am meisten gefreut hatte ich mich auf die Wohnung im Ersten gegenüber von Kesslers, also unter der von Mama und mir. Da wohnt nämlich Jule mit Berts und Massoud. Die drei sind Studenten. Aber ohne vorzeigbare Nudel fiel der Besuch bei ihnen leider aus. Berts ist ganz in Ordnung. Massoud kann ich nicht leiden, weil Jule in ihn statt in mich verliebt ist. So viel schon mal dazu. Hätte ich bloß mal dort angefangen mit meiner Befragung, oder beim alten Mommsen, unserem Hausverwalter – der wohnt parterre.

Alles Fehlanzeige.

Also ab in den Zweiten, nach Hause.

Als ich in unsere Wohnung kam, stand Mama vor dem goldenen Spiegel mit den vielen kleinen Dickebackenengeln dran im Flur. Sie hatte ihr himmelblaues T-Shirt hochgezogen bis unters Kinn und guckte besorgt ihre Brüste an, wer weiß wie lange schon. Ich konnte ihr nachdenkliches Gesicht im Spiegel sehen.

Viele Leute, vor allem Männer, gucken Mama auf der Straße nach. Da läuft sie natürlich nicht mit raufgezogenem T-Shirt rum, aber sie sieht eben einfach toll aus. Immer trägt sie superkurze enge Röcke und ein knappes Oberteil mit tiefem Ausschnitt. Dazu hochhackige silberne oder goldene Sandalen mit Riemchen. Die Haare blond und offen und lang und glatt, und außerdem jede Menge tingelige, klingelige Armbänder und Halsketten und Ohrringe. Am liebsten mag ich ihre Fingernägel, die sind sehr lang. Mama klebt jede Woche was Neues drauf, zum Beispiel winzige schillernde Zierfische oder auf jeden Nagel einen einzelnen kleinen Marienkäfer. Sie sagt immer, es gebe einen Haufen Männer, die das mögen, und deswegen sei sie bei ihrer Arbeit so erfolgreich.

»Irgendwann werden das Hängemöpse«, sagte Mama zu ihrem Spiegelbild und zu mir. »Ich geb ihnen noch zwei, drei Jahre, dann werden sie Opfer der Schwerkraft. Das Leben ist ein verdammter Abreißkalender.«

Schwerkraft kannte ich nicht, das musste ich nachgucken. Ich gucke immer alles im Lexikon nach, was ich nicht kenne, um schlauer zu werden. Manchmal frage ich auch, Mama oder Frau Dahling oder meinen Lehrer, den Wehmeyer. Was ich rausgefunden habe, schreibe ich dann auf. So in etwa:

SCHWERKRAFT: Wenn was schwerer ist als man selbst, zieht es einen an. Zum Beispiel ist die Erde schwerer als so ziemlich alles, deshalb fällt keiner von ihr runter. Entdeckt hat die Schwerkraft ein Mann namens Isaac Newton. Sie ist gefährlich für Busen und Äpfel. Womöglich auch noch für andere runde Sachen.

»Und dann?«, sagte ich.

»Dann gibt’s neue«, sagte Mama entschlossen. »Hier geht’s schließlich um mein Betriebskapital.« Sie seufzte, zog das T-Shirt wieder runter und drehte sich zu mir um. »Wie war’s denn in der Schule?«

»Ging so.«

Sie sagt nie Förderzentrum, weil sie weiß, wie sehr ich das hasse. Der Wehmeyer versucht dort seit Jahren vergeblich, die Bingokugeln in meinem Kopf zu ordnen. Ich hab mal überlegt, ihm vorzuschlagen, dass er vielleicht erst die Maschine anhalten soll, bevor er sich mit den Kugeln beschäftigt, aber dann hab ich es gelassen. Wenn er nicht selber drauf kommt, hat er eben Pech gehabt.

»Warum hat der Wehmeyer dich denn noch mal antanzen lassen?«, sagte Mama. »Ich dachte, gestern war schon der letzte Schultag?«

»Wegen einem Ferienprojekt. Was schreiben.«

»Du und schreiben?« Sie runzelte die Stirn. »Was denn?«

»Nur einen Aufsatz«, murmelte ich. Die Sache war komplizierter, aber ich wollte Mama noch nicht einweihen, bevor ich es erfolgreich ausprobiert hatte.

»Verstehe.« Ihre Stirn wurde wieder glatt. »Schon was gegessen, ein Döner oder so?« Sie wuschelte mir mit einer Hand durch die Haare, beugte sich vor und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

»Nee.«

»Also Hunger?«

»Klar.«

»Okay. Ich mach uns Fischstäbchen.« Sie verschwand in der Küche. Ich warf meinen Rucksack durch die offene Tür in mein Zimmer, dann folgte ich ihr, setzte mich an den Esstisch und guckte zu.

»Ich muss dich mal was fragen, Rico«, sagte Mama, während sie Butter in der Pfanne zerließ.

Mein Kopf rutschte automatisch zwischen die Schultern. Wenn Mama mich was fragt und dabei meinen Namen benutzt, bedeutet das, dass sie sich vorher Gedanken gemacht hat, und wenn sie sich Gedanken macht, hat das meistens einen ernsten Hintergrund. Mit ernst meine ich schwierig. Mit schwierig meine ich die Bingokugeln.

»Was denn?«, fragte ich vorsichtig.

»Es geht um Mister 2000.«

Ich wünschte mir, die Fischstäbchen wären schon fertig. Selbst ein Dummkopf konnte ahnen, worauf dieses Gespräch hinauslief. Mama öffnete den Kühlschrank und kratzte und hebelte mit einem Messer im Tiefkühlfach rum, wo unter einem Mantel aus blauem Eis die Packung mit den Fischstäbchen festgefroren war. »Er hat wieder ein Kind freigelassen«, fuhr sie fort. »Diesmal eins aus Lichtenberg. Schon das fünfte. Das davor war aus –«

»Wedding, ich weiß.«

Und die drei davor aus Kreuzberg, Tempelhof, Charlottenburg. Mister 2000 hält seit drei Monaten ganz Berlin in Atem. Im Fernsehen haben sie gesagt, er sei vermutlich der schlaueste Kindesentführer aller Zeiten. Manche nennen ihn auch den ALDI-Kidnapper, weil seine Entführungen so preisgünstig sind. Er lockt kleine Jungen und Mädchen in sein Auto und fährt mit ihnen davon, und danach schreibt er den Eltern einen Brief: Liebe Eltern, wenn Sie Ihre kleine Lucille-Marie wiederhaben wollen, kostet Sie das nur 2000 Euro. Überlegen Sie sich genau, ob Sie für einen so lächerlichen Betrag die Polizei verständigen wollen. Dann erhalten Sie Ihr Kind nämlich nur nach und nach zurück.

Bis jetzt haben alle Eltern die Polizei erst verständigt, nachdem sie bezahlt haben und ihr Kind am Stück wieder bei ihnen eingetrudelt ist. Aber ganz Berlin wartet auf den Tag, an dem eine kleine Lucille-Marie oder irgendein Maximilian nicht vollständig zu Hause ankommt, weil die Eltern Mist gebaut haben. Könnte ja sein, manche von denen sind ganz froh, dass ihr Kind entführt worden ist, und rücken deshalb nicht mal einen Cent als Lösegeld raus. Oder sie sind arm und besitzen nur fünfzig Euro oder so. Wenn man Mister 2000 nur fünfzig Euro gibt, bleibt von einem Kind womöglich nur eine Hand übrig. Die spannende Frage ist, was er dann wohl zurückschickt, die Hand oder den Rest. Vermutlich die Hand, das ist unauffälliger. Außerdem würden für ein Riesenpaket mit Restkind drin die 50 Euro bestimmt komplett fürs Porto draufgehen.

Ich finde jedenfalls, 2000 Euro sind total viel Geld. Aber in der Not, das hat Berts mir mal erklärt, kriegt die Kohle jeder zusammen, wenn er nur will. Berts studiert Beh-Weh-Ell, das hat was mit Geld zu tun, also weiß er wohl Bescheid.

»Hast du 2000 Euro?«, fragte ich Mama. Man konnte ja nie wissen. Für den Notfall könnte ich ihr erlauben meinen Reichstag zu knacken. Die Münzen wirft man oben in die Glaskuppel ein, die hat einen Schlitz. Den Reichstag habe ich schon, seit ich denken kann, und wenigstens für einen Arm oder so müsste mein Gespartes inzwischen reichen. Für zwanzig oder dreißig Euro hätte Mama dann wenigstens eine kleine Erinnerung an mich.

»2000 Euro?«, sagte sie. »Seh ich so aus?«

»Würdest du sie zusammenkriegen?«

»Für dich? Und wenn ich dafür töten müsste, Schatz.« Es knackte und ein dicker Brocken Eis landete auf dem Küchenboden. Mama hob ihn auf, machte so ein Geräusch wie Puhhh oder Pfff und warf ihn ins Spülbecken. »Das Gefrierfach muss dringend mal abgetaut werden.«

»Ich bin nicht so klein wie die anderen Kinder, die bis jetzt entführt worden sind. Und ich bin älter.«

»Ja, ich weiß.« Sie pfriemelte die Packung auf. »Trotzdem hätte ich dich in den letzten Wochen jeden Tag zur Schule bringen und auch wieder abholen sollen.«

Mama arbeitet bis frühmorgens. Wenn sie nach Hause kommt, bringt sie mir eine Schrippe mit, gibt mir einen Kuss, bevor ich ins Förderzentrum abzische, und dann legt sie sich schlafen. Sie steht dann meistens erst nachmittags auf, wenn ich längst wieder daheim bin. Es hätte nie geklappt, mich wegzubringen und wieder abzuholen.

Sie hielt kurz inne und kräuselte die Nase. »Bin ich eine verantwortungslose Mutter, Rico?«

»Quatsch!«

Einen Moment lang sah sie mich nachdenklich an, dann kippte sie die tiefgefrorenen Fischstäbchen aus der Packung in die Pfanne. Die Butter war so heiß, dass es spritzte. Mama machte einen kleinen Hüpfer zurück. »Kackdinger! Jetzt stink ich nach dem Zeugs!«

Sie würde sowieso noch duschen, bevor sie heute Abend in den Club ging. Nach Fischstäbchen duscht sie immer. Das teuerste Parfüm der Welt, hat sie mal gesagt, klebt nicht so sehr an einem dran wie der Geruch von Fischstäbchen. Während die Dinger in der Pfanne brutzelten, erzählte ich ihr von meiner Fundnudel und dass Fitzke sie vernichtet hatte, weshalb ich jetzt nicht mehr rauskriegen konnte, wem sie gehört hatte.

»Der alte Saftsack«, murmelte sie.

Mama kann Fitzke nicht ausstehen. Vor ein paar Jahren, als wir in die Dieffe 93 eingezogen waren, hatte sie mich durchs ganze Haus mitgeschleppt, um uns den Nachbarn vorzustellen. Ihre Hand war ganz schwitzig gewesen, voll der Klammergriff. Mama ist mutig, aber nicht kaltblütig. Sie hatte Angst gehabt, die Leute könnten uns nicht leiden, wenn sie rauskriegten, dass sie keine Dame war und ich ein bisschen behindert. Fitzke hatte auf ihr Klopfen geöffnet und im Schlafanzug vor uns gestanden. Im Gegensatz zu Mama, die sich nichts anmerken ließ, hatte ich gegrinst. Das war wohl der Fehler gewesen. So in etwa hatte Mama dann gesagt, Tach, ich bin also die Neue hier, und das ist mein Sohn Rico. Er ist ein bisschen schwach im Kopf, aber da kann er nichts für. Wenn er also mal was anstellt …

Fitzke hatte die Augen zusammengekniffen und das Gesicht verzogen, als hätte er einen schlechten Geschmack im Mund. Dann hatte er, ohne ein Wort, uns die Tür vor der Nase zugeknallt. Seitdem nennt er mich Schwachkopf.

»Hat er Schwachkopf zu dir gesagt?«, fragte Mama.

»Nee.« Es bringt ja nichts, wenn sie sich aufregt.

»Der alte Saftsack«, sagte sie noch mal.

Sie fragte nicht, warum ich unbedingt hatte rausfinden wollen, wem die Nudel gehörte. Für sie war das eine von Ricos Ideen, und das stimmte. Nachfragen hatte da keinen Zweck.

Ich guckte ihr zu, wie sie die Fischstäbchen wendete. Sie dudelte dabei ein kleines Lied vor sich hin, verlagerte ihr Gewicht von dem linken auf den rechten Fuß und dann wieder zurück. Zwischendrin deckte sie den Tisch. Die Sonne fiel durchs Fenster und die Luft roch lecker nach Sommer mit Fisch. Ich fühlte mich sehr wohl. Ich mag es, wenn Mama kocht oder irgendwas anderes Kümmeriges macht.

»Blutmatsche drauf?«, sagte sie, als sie fertig war.

»Klar.«

Sie stellte die Ketchup-Flasche auf den Tisch und schob mir meinen Teller hin. »Also keine Begleitung zur Schule?«

Ich schüttelte den Kopf. »Jetzt sind ja erst mal Ferien. Vielleicht schnappen sie ihn in der Zeit.«

»Ganz sicher?«

»Ja-haa!«

»Gut.«

Sie schaufelte die Fischstäbchen förmlich in sich rein. »Ich muss bald los«, erklärte sie auf meinen fragenden Blick. »Will mit Irina zum Friseur.« Irina ist Mamas beste Freundin. Sie arbeitet auch im Club. »Erdbeerblond, was meinst du?«

»Ist das rot?«

»Nein. Blond mit einem ganz leichten Stich ins Rötliche.«

»Was hat das mit Erdbeeren zu tun?«

Und was für ein Stich?

»Die haben auch so einen Stich.«

»Erdbeeren sind knallrot.«

»Nur, wenn sie reif sind.«

»Aber vorher sind sie grün. Was für ein Stich?«

»Sagt man halt so.«

Mama mag es nicht, wenn ich nachbohre, und ich mag es nicht, wenn sie so redet, dass ich sie nicht verstehe. Manche Sachen haben ziemlich bescheuerte Namen, da wird man ja wohl mal fragen dürfen, warum sie so heißen, wie sie heißen. Ich frage mich zum Beispiel, warum Erdbeeren Erdbeeren heißen, obwohl man sie nicht aus der Erde buddeln muss.

Mama schob den leeren Teller von sich. »Uns fehlen ein paar Sachen fürs Wochenende. Ich könnte den Krempel selber einkaufen, aber …«

»Ich mach das schon.«

»Bist ein Schatz.« Sie grinste erleichtert, stand auf und kramte eilig in ihrer Hosentasche rum. »Ich hab ’ne Liste gemacht, warte mal …«

Mamas Hosen sind immer so eng, dass ich manchmal Angst habe, sie eines Tages rausschneiden zu müssen. Ich frag mich, warum sie trotzdem alles in die Hosentaschen stopft. Sie hat schon mindestens zehn Plastikhandtaschen beim Bingo gewonnen, aber die benutzt sie nie. Sie hebt sie nicht mal auf, sondern versteigert sie bei eBay.

»Ist nicht viel.« Endlich hielt sie mir den zerknitterten Zettel entgegen. »Geld liegt in der Schublade. Am wichtigsten ist die Zahnpasta. Butter steht noch nicht drauf, die ist jetzt auch alle. Kannst du dir die auch so behalten, oder soll ich –«

Ich spießte das erste Fischstäbchen auf die Gabel und tunkte es superlässig in die Blutmatsche. »Kann ich mir behalten«, sagte ich.

Hoffentlich.