Trügerische Stille - Andreas Steinhöfel - E-Book

Trügerische Stille E-Book

Andreas Steinhöfel

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Logo fährt mit seiner Familie drei Wochen an den Waldensee in die Ferien. Auf der Hinfahrt begegnen sie dem Mädchen Carla und ihren Eltern. Und auch wenn Logo Carla nur kurz gesehen hat, geht ihm das Mädchen nicht mehr aus dem Sinn. Er macht sich auf die Suche nach ihr, doch als er sie endlich findet, gibt sie sich verschlossen und unnahbar und verhält sich seltsam, wirft Blumen in den See oder legt sie auf ein imaginäres Grab. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, das spürt Logo genau. Als die beiden dann doch einmal gemeinsam schwimmen gehen, entdeckt er die bittere Wahrheit: Carla wird von ihrem Vater geschlagen. Doch als Logo ihn zur Rede stellen will, wehrt Carla massiv ab. Was Logo nicht wissen kann: Carlas Eltern sind vor ein paar Tagen, kurz nach ihrer ersten Begegnung, bei einem Autounfall ums Leben gekommen, ihr Wagen ist in den Waldensee gestürzt. Und trotz allem sehnt sich Carla danach, ihnen nahe zu sein ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 171

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dieses eBook wurde von der Plattform libreka! mit der Transaktions-ID 4636617 erstellt und ist ausschließlich zum persönlichen Gebrauch bestimmt; jede anderweitige Nutzung bedarf der vorherigen schriftlichen Bestätigung durch den Rechtsinhaber. Eine über den persönlichen Gebrauch hinausgehende Nutzung (insbesondere die weitere Vervielfältigung oder öffentliche Zugänglichmachung) verstößt gegen das Urheberrecht und ist untersagt.

Außerdem von Andreas Steinhöfel bei Carlsen lieferbar:Beschützer der DiebeDavid Tage Mona NächteDefenderDer mechanische PrinzDie Mitte der WeltDirk und ichEs ist ein Elch entsprungenFroschmaul-GeschichtenMy Brother and IO Patria Mia!Paul Vier und die SchrödersRico, Oskar und die TieferschattenRico, Oskar und das HerzgebrecheRico, Oskar und der Diebstahlstein

CARLSEN Newsletter Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!www.carlsen.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Veröffentlicht im Carlsen Verlag 2004 Copyright © 1993, 2004 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg Titel der Originalausgabe: »Glatte Fläche« Umschlagbild: plainpicture/Arcangel/Mark Owen Umschlaggestaltung: formlabor E-Book-Umsetzung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-646-92013-0

Alle Bücher im Internet:www.carlsen.de

Dieses eBook wurde von der Plattform libreka! mit der Transaktions-ID 4636617 erstellt.

Autor

© Joachim Boepple

Andreas Steinhöfel wurde 1962 in Battenberg geboren, arbeitet als Übersetzer und Rezensent und schreibt Drehbücher - vor allem aber ist er Autor zahlreicher, vielfach preisgekrönter Kinder- und Jugendbücher. Sein Bestseller "Die Mitte der Welt" wurde 1999 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und ist mittlerweile in vielen Ländern der Welt erschienen. Nach Peter Rühmkorf, Loriot, Robert Gernhardt und Tomi Ungerer hat Andreas Steinhöfel 2009 den Erich Kästner Preis für Literatur verliehen bekommen. Außerdem erhielt er 2009 mehrere Preise für "Rico, Oskar und die Tieferschatten" u. a. den Deutschen Jugendliteraturpreis, den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis und die Auszeichnung "Lesekünstler 2009", verliehen vom Sortimenterausschuss des Börsenvereins Deutscher Buchhandel.

Dieses eBook wurde von der Plattform libreka! mit der Transaktions-ID 4636617 erstellt.

Widmung

Für Hiltrud und Margarethe Asbach

Dieses eBook wurde von der Plattform libreka! mit der Transaktions-ID 4636617 erstellt.

Vorwort

Die Sonne hatte seit Wochen von einem wolkenlosen blauen Himmel herab gebrannt. Niemand konnte sich daran erinnern, wann es zum letzten Mal geregnet hatte oder so unglaublich heiß gewesen war. Unter der Hitze hatte sich alles Leben verlangsamt oder war ganz erstarrt. Später sprachen die Menschen von einem Jahrhundertsommer.

Für mich war es immer der Sommer am Waldensee.

Ich habe oft überlegt, warum ich von dem, was damals dort geschah, nie geträumt habe. Aber ich muss nicht träumen um die Bilder jener Tage vor mir zu sehen. Ich muss nur die Augen schließen.

Es wäre nicht richtig zu behaupten, die Dinge hätten damit ihren Anfang genommen, dass ich das Mädchen kennen lernte. Denn alles begann etwas früher. Es begann an dem Tag vor unserer Fahrt in den Urlaub, als ich mit Paps in der Küche stand und abspülte und als plötzlich Oma unangemeldet bei uns auftauchte. Und geendet . . . ich glaube, wirklich geendet hat es für mich nie.

Aber das ist eine andere Geschichte.

Dieses eBook wurde von der Plattform libreka! mit der Transaktions-ID 4636617 erstellt.

1

Natürlich fiel Mami erst einen Tag vor der Abreise und kurz vor Ladenschluss ein, dass die Zwillinge für den bevorstehenden Urlaub unbedingt neue Klamotten brauchten. Sie schnappte sich die beiden, fuhr mit ihnen in die Stadt und ließ Paps und mich vor einem meterhohen Abwaschberg in der Küche zurück.

»Typisch Mami!«, sagte Paps mit einem missmutigen Blick auf das schmutzige Geschirr. Er steckte den Stöpsel in den Ausguss, drehte den Wasserhahn auf und griff nach dem Geschirrspülmittel. »Da plant man hin und her und sie schmeißt alles über den Haufen. Dass ich selber noch genug zu tun habe, interessiert deine Mutter nicht die Bohne.«

Er hatte Recht, aber ich gab ihm keine Antwort. Mami erledigte tatsächlich alles auf den letzten Drücker, während für Paps das Prinzip der Planung heilig war. Der daraus resultierende Krieg zwischen Chaos und Ordnung war mir letzten Endes egal, denn unser Leben funktionierte trotzdem. Aber wenn im Verlauf der Kampfhandlungen aus Mami deine Mutter oder aus Paps dein Vater wurde, war das die unmissverständliche Aufforderung, Stellung zu beziehen – und ein Gefallen, den ich weder Paps noch Mami jemals tat.

»Andererseits«, sagte Paps und warf die erste Ladung Teller und Tassen in das dampfende Spülwasser, »hätte es auch schlimmer kommen können.«

Das hätte es allerdings. Mami beim Einkaufen zu begleiten war nicht nur in meinen Augen eine Zumutung. Menschenmengen und das Gedränge in Kaufhäusern waren ihr ein Gräuel und sie verhielt sich entsprechend gereizt. Wie ein Schlachtschiff auf Kollisionskurs zog sie durch die Regale, rempelte dabei andere Kunden an und beleidigte die Verkäufer. Das endete meistens ziemlich peinlich.

Die Zwillinge ließ das kalt und das lag nicht nur daran, dass sie erst vier Jahre alt waren. Husch war in Ordnung. Er war ruhig und ausgeglichen und eines dieser Kinder, die von allen Leuten angegrinst werden, weil sie so niedlich sind. Er konnte einen geradezu umwerfenden Charme entwickeln und meistens war es ihm zu verdanken, wenn die Wogen sich glätteten, die das Schlachtschiff hinterließ.

Margarethe war temperamentvoll, sprunghaft und in vielen Dingen das genaue Gegenteil von Husch. Neuerdings hatte sie eine Vorliebe dafür entwickelt in Kaufhäusern so zu tun, als habe sie sich verlaufen. Dann ließ sie sich von wildfremden Menschen aufgabeln und nach einem vorgetäuschten, aber äußerst wirkungsvollen Schreikrampf von der Marktleitung ausrufen.

»Achtung, eine Durchsage. Die kleine – wie heißt du denn, du Schätzchen?«

»Ich will ein Eis!«

»Deine Mami kann dir nachher ein Eis kaufen. Sag mir deinen Namen.«

»Erst das Eis. Sonst heul ich wieder.«

»Also gut, gut, du kriegst ja ein Eis.«

»Mit Vanille und Kirsch?«

»Von mir aus auch mit Vanille und Kirsch!«

»Margarethe Färber.«

»Achtung, eine dringende Durchsage! Die kleine Margarethe Färber sucht ihre Mami. Die kleine Margarethe . . .«

Abspülen war weniger nervenaufreibend.

Schillernde Seifenblasen zerplatzten und Gläser klirrten, als Paps die zweite Ladung Geschirr versenkte. Ich trocknete gerade die letzten Tassen ab, als mein Blick durch das weit geöffnete Küchenfenster nach draußen fiel. Vor unserem Haus hatte ein Taxi angehalten.

Paps nahm die Hände aus dem Spülwasser. »Ich glaube, da will jemand zu uns.«

»Scheint so.«

Ich legte das Geschirrtuch beiseite und trat ans Fenster. Es war unübersehbar Oma, die sich dort aus der Beifahrertür des Taxis zwängte. Sie trug ein gelbes Kleid und den riesigen Panamahut, den Mami ihr vor Jahren geschenkt hatte.

Als ich ihr die Haustür öffnete, bemerkte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihr rundes Gesicht mit den humorvollen blauen Augen, das normalerweise Gutmütigkeit in alle Himmelsrichtungen ausstrahlte, glich einer düsteren Gewitterfront. Der völlig demolierte Panamahut sah aus, als hätten ein paar wahnsinnig gewordene Hühner darin genistet.

»Guck nicht so!«, schnaubte sie. »Ich hab mich mit Luise geprügelt.«

Sie rauschte in einer Wolke aus gelbem Stoff und Kölnisch Wasser an mir vorbei in den Flur.

»Du hast . . . was?«

Ich dachte, ich hätte mich verhört. Oma und Luise Rössner waren die besten Freundinnen. Sie kannten sich schon ewig und waren ein Herz und eine Seele, was die meisten Leute kaum für möglich hielten, weil Luise so schrecklich konservativ und Oma für ihr Alter eher unkonventionell war – nicht besonders, aber mindestens im Hinblick auf ihre Kleidung.

Sie nahm den Hut ab und eine Flut silbergrauer, lockiger Haare kam zum Vorschein. Die Haare und ein tiefer Kratzer, der sich quer über ihre linke Wange zog.

»Ist Ingrid zu Hause?«

Ich schüttelte benommen den Kopf und schloss die Tür. »Nur Paps.«

»Auch gut.«

Sie warf den Hut achtlos in Richtung Garderobe und folgte mir in die Küche, wo sie sich schwer auf einen der vor dem Esstisch stehenden Stühle fallen ließ.

Als Paps den Kratzer sah, gingen in seinem Gesicht sofort alle Alarmleuchten an. Er und Oma kannten sich seit zwanzig Jahren, aber in dieser langen Zeit waren sie einander nicht näher gekommen als zwei Ringkämpfer, die sich unablässig umkreisen und von denen jeder auf eine passende Gelegenheit wartet, den anderen in die Knie zu zwingen. Für ihre gegenseitige Abneigung gab es meines Wissens keinen richtigen Grund, außer vielleicht der Tatsache, dass Oma Paps für einen unerträglichen Langweiler und er sie für eine Krawallschachtel hielt. Immerhin hatten es beide geschafft, einen mehr oder weniger stabilen Waffenstillstand zu schließen. Ab und zu kam es sogar zu zaghaften Annäherungsversuchen. Paps und Mami hatten lange darüber debattiert, ob wir Oma in den Urlaub mitnehmen sollten oder nicht. Mami hatte sich durchgesetzt, wie es bei solchen Streitereien fast immer der Fall war. Aber falls Oma jetzt Mist gebaut hatte, würde die Diskussion sofort wieder aufflammen.

Paps deutete auf den Kratzer. »Hast du dich . . . verletzt?«, fragte er vorsichtig.

»Nein. Ich habe Luise zwei Zähne ausgeschlagen. Krieg ich was zu trinken?«

Der Triumph in ihrer Stimme war aufgesetzt und verbarg kaum die darunter liegende Unsicherheit. Paps fiel trotzdem darauf herein. Sein Kinn klappte herab.

Ich reichte Oma ein Glas Mineralwasser.

Sie sahen komisch aus – meine kleine und zu dick geratene Großmutter, die auf dem Stuhl thronte wie die Statue einer griechischen Fruchtbarkeitsgöttin, und daneben Paps, groß, dunkelhaarig und gut aussehend, in einer mit bunten Herzen bedruckten Kittelschürze, unter der seine nackten, kreideweißen Beine herausschauten. Ich kam mir vor wie der Zuschauer eines absurden Theaterstücks.

Paps erholte sich schnell. Lang um den heißen Brei herumzureden war nicht seine Sache, in seinem Leben zählten Fakten. Er trocknete sich die Hände an der Schürze ab und wurde sachlich.

»Warum hat Luise die Prügelei angefangen?«

»Hat sie nicht«, erwiderte Oma trocken.

Paps schloss die Augen, öffnete die Augen und starrte aus dem Fenster hinaus in den sonnenüberfluteten Vorgarten, wo die Bäume ihre trockenen Zweige und Blätter hängen ließen.

»Das heißt, ich habe zuerst zugeschlagen. Aber den Streit vom Zaun gebrochen hat Luise.«

»Ach so . . . Und das war Grund genug für eine Schlägerei?«

»Meine Güte, es war ja keine Absicht!« Oma zupfte trotzig an ihrem Kleid. »Sie hat mich eben provoziert.«

»Das will ich auch hoffen! Ich wäre nämlich mehr als beunruhigt, wenn du ihr nur so zum Spaß eine verpasst hättest. Was nicht heißen soll, dass es für diesen Blödsinn eine Entschuldigung gibt. Ganz und gar nicht!«

Paps schwieg um seiner Kritik mehr Gewicht zu verleihen. Oma zuckte nur die Achseln und warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu.

Ich konnte selber Hilfe gebrauchen. Ich lehnte mit dem Rücken am Kühlschrank und versuchte mein Weltbild neu zu ordnen. Alte Menschen waren nett. Alte Menschen prügelten sich nicht. Alte Menschen saßen friedlich im Park und fütterten irgendwelche blöden Tauben. Oma hatte da bisher keine Ausnahme gebildet.

»Also, womit hat sie dich denn nun provoziert?«

Es war die einzige Frage, die mir einfiel, aber Oma kam nicht dazu, sie zu beantworten. Pola betrat die Küche, ging wortlos ans Spülbecken, kramte ein halbwegs trockenes Glas aus dem Abwasch und füllte es mit Leitungswasser. Sie warf ihre verschwitzten roten Haare in den Nacken und trank ohne abzusetzen aus. Erst dann schien sie uns zu bemerken. Ihr gelangweilter Blick wanderte von Paps zu Oma und von Oma zu mir.

»Ist was?«

»Oma hat Luise Rössner zusammengeschlagen!«

»Oh. Wie aufregend.«

Ich hätte wissen müssen, dass ich sie damit nicht beeindrucken konnte. Pola war fünfzehn, ein Jahr älter als ich, und zur Zeit gab es für sie nur ein Thema: Michael Berg, ein Typ aus dem Jahrgang über ihr, der aussah wie Tom Cruise.

»Hat sie wirklich!«, bekräftigte Paps. »Und allem Anschein nach ist sie darauf auch noch mordsmäßig stolz.«

Oma ignorierte ihn einfach.

Pola hatte wunderschöne grüne Augen. Eben hatten sie noch ironisch gefunkelt. Jetzt glimmte darin ein Funke von Neugier auf. Sie stellte das Glas ab, wischte sich über den Mund und sah Oma interessiert an.

»Warum?«

»Weil sie dumm ist!«, schnappte Oma. »Und weil sie euren Großvater beleidigt hat«, fügte sie etwas leiser hinzu.

Das war es also. Mit ein wenig Nachdenken wäre ich vielleicht von selbst darauf gekommen. Es gab nicht viel, womit man Oma wirklich gegen sich aufbringen konnte, aber wenn es um Opa ging, musste man sich vorsehen. Auf ihn ließ sie nichts kommen.

Ich hatte meinen Großvater nie kennen gelernt, dazu war er viel zu früh gestorben. Ich kannte ihn nur von einigen vergilbten Fotos – ein großer Mann mit kräftigen Gesichtszügen und weichen, weit auseinander liegenden Augen. Er hatte Lehrer werden wollen, aber bevor er anfangen konnte zu studieren und kurz nachdem er Oma geheiratet hatte, schickten ihn die Nazis an die Front. Anfang 1945 war das gewesen, kurz vor Ende des Krieges. Er verbrachte sechs Jahre in russischer Gefangenschaft. Als er endlich heimkam, hatte er diesen trockenen Husten und wenige Monate später starb er an Lungenentzündung. Ein halbes Jahr darauf wurde Mami geboren.

Wie für alle Menschen, die nicht auf die eine oder andere Weise vom Krieg profitiert hatten, war die Zeit danach für meine Großmutter schlimm gewesen. Sie musste ihre Tochter allein durchbringen und schuftete auf den Feldern wie ein Ackergaul. Später, als sie in einer Schuhfabrik arbeitete, machte sie wie eine Besessene Überstunden um Mami eine ordentliche Ausbildung zu ermöglichen. Ab und zu ließ sie ein Paar Schuhe mitgehen. Sie heiratete nie wieder. »Womit hat Luise ihn beleidigt?«, fragte Pola.

»Sie hat behauptet, er wäre im Krieg geblieben.«

»Nun ja«, warf Paps ein. Er wusste, dass das ein empfindliches Thema war, und hielt sich entsprechend zurück. »In gewisser Weise ist er das doch, oder?«

»Quatsch!«, brauste Oma auf. »Wie hört sich das denn an? Das klingt doch, als wäre der Krieg ein Ort, an dem man sich aufhält wie in einem Ferienlager. So ein Quatsch!«

Ich bemerkte, dass sie versuchte das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie aufgebracht sie war, und plötzlich hatte ich den unbestimmten Eindruck, als ginge es ihr um viel mehr als nur um Opa. Sie nippte nachdenklich an ihrem Glas, bevor sie leise weitersprach.

»Als er aus der Gefangenschaft zurückkam, war er ein anderer geworden. Ich erkannte ihn kaum wieder. Früher war er lebenslustig, las gerne und er spielte Geige. Danach . . . Er hatte entsetzliche Dinge gesehen. Aber Luise behauptete, er habe es sich nicht anders ausgesucht. Woher will sie das wissen? Und ich war so wütend . . . Wahrscheinlich lag es an der Hitze.«

»Aber«, sagte Paps, »da ist doch was dran an Luises Worten. Wenn dein Mann ein anderer geworden war, wie du gesagt hast, dann ist ein Teil von ihm doch tatsächlich im Krieg geblieben. Ich meine, symbolisch gesehen.«

Oma schüttelte den Kopf. »Nein. Du verstehst es nicht. Du verstehst es ganz und gar nicht. Der Krieg ist bei ihm geblieben. Deswegen ist er gestorben.«

Sie schwieg und blickte gedankenverloren nach draußen in den blassblauen Himmel. Pola schaute betreten zu Boden, dann verließ sie ohne etwas zu sagen die Küche. Paps räusperte sich, sagte aber ebenfalls nichts. Ich hatte das unangenehme Gefühl, etwas verstehen zu müssen, das ich nicht verstehen konnte, und fragte mich, ob es Luise Rössner vielleicht genauso gegangen war. Ich fuhr langsam mit der Zunge über meine Schneidezähne.

Paps brachte Oma nach Hause, und als er wiederkam, erwähnte er die Angelegenheit nicht mehr. Er erzählte mir nie, was er dachte. Dafür wusste er auch so gut wie nichts über mich, obwohl er sicher das Gegenteil geschworen hätte.

Wir erledigten gerade den Rest des Abwaschs, als Mami in die Küche geschossen kam wie ein schweißnasser Wirbelwind aus Sommerluft und rotblonden Stoppelhaaren. Unter den linken Arm hatte sie eine riesige Einkaufstasche geklemmt. Unter ihrem rechten Arm zappelte Husch. Sein Gesicht war totenbleich und auf seiner Stirn standen feine Schweißperlen. Margarethe trottete hinter den beiden her wie ein anhängliches Hündchen.

»Husch hat ins Auto gekotzt«, keuchte Mami, »und ich werde auf der Stelle verrückt, wenn nicht heute noch der Rasen gemäht wird!«

Sie wuchtete die Tasche auf den Tisch, ließ den unglücklichen Husch zu Boden gleiten und drückte ihm das Glas Mineralwasser in die Hand, das Oma stehen gelassen hatte.

»Hier, Schatz, trink was! Und gib Margarethe was ab.«

Keiner hätte Husch und Margarethe für Zwillinge gehalten. Abgesehen von ihren unterschiedlichen Temperamenten waren sich die beiden auch äußerlich nicht ähnlich. Husch war blond und hellhäutig, Margarethe war eher der dunkle Typ. Als Husch durstig das halbe Glas geleert und es ihr gegeben hatte, kippte sie sich den Rest des Wassers ohne eine Miene zu verziehen über den Kopf. Es tropfte von ihren langen Haaren zu Boden.

»Und?«, fragte ich sie.

»Vanille und Kirsch.«

Mami beachtete sie nicht. Sie hatte sich erschöpft in einen Stuhl fallen lassen, war aus ihren Sandalen geschlüpft und massierte sich die Füße.

»Ich hab Harald Rössner getroffen. Er war auf dem Weg ins Krankenhaus. Jemand hat seiner Mutter ein paar Zähne ausgeschlagen oder so was. Ist das nicht ein Ding?« Sie streckte die Beine von sich und wackelte mit den Zehen. »Die Leute flippen bei dieser Hitze einfach aus. Mama wird Zustände kriegen, wenn sie das erfährt.«

Ich trocknete weiter ab, als hätte ich nichts gehört. Paps murmelte etwas Unverständliches und schrubbte heftig einen nicht besonders stark verschmutzten Teller. Wir hatten Oma versprochen es ihr zu überlassen, Mami von dem Zwischenfall mit Frau Rössner zu berichten.

Mami fächelte sich Luft zu, zerrte an ihrer nassen Bluse und ließ die Augen besorgt über die tadellos saubere Küche schweifen. Vor jedem Urlaub ergriff ein geradezu zwanghafter Putztrieb von ihr Besitz, der sie auch dann noch auf Trab hielt, wenn längst alles gereinigt war.

Sie erhob sich ächzend. »Also, dann mal weiter.«

Husch rülpste laut. Rülpsen war seine neueste Entdeckung und wurde bei jeder sich bietenden Gelegenheit begeistert praktiziert. Für ihn war es eine der wenigen Möglichkeiten, Töne von sich geben zu können.

»Nur Wutzen rülpsen!«, tadelte ihn Margarethe.

Paps warf Mami einen unsicheren Blick zu. Sie presste die Lippen zusammen, schob Husch zur Seite und begann den Inhalt der Einkaufstasche über den Tisch zu verteilen – bunte Shirts und Hemden, Turnschuhe, zwei winzige rote Badehosen, auf die blaue Delphine gestickt waren.

Vor zwei Jahren hatte Paps ein Radio repariert und dabei vergessen vorher den Netzstecker zu ziehen. Husch lernte gerade laufen und bei einem seiner Gehversuche fasste er in das offene Gehäuse. Vielleicht dachte er, das Ding mit den vielen bunten Knöpfen und Drähten sei ein neues Spielzeug. Jedenfalls katapultierte ihn der elektrische Schlag in die gegenüberliegende Ecke des Zimmers. Als Paps sich zu Tode erschrocken über ihn beugte, flüsterte mein kleiner Bruder nur ein einziges erstauntes Wort: »Husch!«

So kam er zu seinem Spitznamen – eigentlich hieß er Christian – und meine Eltern zu einem Problem. Seit dem Unfall redete Husch nicht mehr. Paps und Mami hatten mehrere Ärzte mit ihm konsultiert, die bei ihren Untersuchungen jedoch alle zu demselben Ergebnis gekommen waren: Husch war vollkommen gesund. Geistig war er sogar weiter entwickelt als andere Kinder seines Alters. Wenn ihm überhaupt etwas fehlte, dann war es die Lust zum Sprechen. Für Mami und Paps war es kein besonders großer Trost, aber immerhin hörte er leidenschaftlich gerne Radio.

Es war noch ein weiteres Problem aufgetaucht: Im Lauf der Zeit hatte Mami Paps für den Unfall verantwortlich gemacht, und obwohl das Unglück schon lange zurücklag, ließ sie es ihn in Momenten wie diesem immer noch spüren.

Sie hatte die Kleidungsstücke ordentlich gestapelt und nahm mir das Geschirrtuch ab. »Logo, tu mir einen Gefallen und mäh den Rasen. Das Gras steht sonst meterhoch, wenn wir wiederkommen.«

Logo war die unauffällige Abkürzung für Lobegott. Den Namen verdanke ich einer Sektlaune von Paps und Mami, für die ich beide schon oft genug heimlich verflucht habe.

»Nun geh schon, bitte! Und nimm die Zwillinge mit.«

Ich seufzte. Rasenmähen bei dieser Hitze kam einem Todesurteil gleich und Husch und Margarethe dabei zu beaufsichtigen machte die Sache nicht angenehmer.

»Na los, ihr Zwerge«, scheuchte ich die zwei widerwillig vor mir her. »Ab nach draußen!«

Es war nicht ganz so schlimm, wie ich erwartet hatte. Die Zwillinge hatten sich bereits beim Einkaufen ausgetobt und auch die Hitze ließ sich aushalten. Die Sonne stand auf der anderen Seite des Hauses und warf lange Schatten über den Garten.

Ich mochte unser Haus nicht besonders. Mit seinem Giebeldach, den beiden Stockwerken und dem nach hinten gelegenen Garten entsprach es einem Baustil, der typisch war für die Zeit des Wirtschaftswunders und typisch für unsere Straße. Wann immer ich es von außen betrachtete, kam es mir vor wie ein zu enger Käfig. Innen verwischte sich dieser Eindruck. Die meisten Zimmer hatten zwar nur kleine Fenster, waren dafür aber hell tapeziert. Außerdem hatte Paps einige Wände durchbrochen und die Fensterscheiben im Wohnzimmer waren durch eine riesige Glasfront ersetzt worden, hinter der der Garten lag. Es war immer noch ein Käfig, aber einer mit Aussicht.