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Dichten und Reisen waren für Rilke immer untrennbar miteinander verbunden. Zu Paris hatte er eine vielschichtige lebenslange Beziehung. 1902 reist er erstmals in die Stadt an der Seine, um eine Monografie über Rodin zu verfassen, bis 1925 folgen zahlreiche Aufenthalte. Paris wird ihm Inspiration, Lebens- und Schaffensort und beeinflusst sein Oeuvre maßgeblich. Viele seiner bekanntesten Werke entstehen hier und nehmen explizit Bezug auf die Stadt und die dort gemachten Erfahrungen, u. a. »Der Panther«, »Das Karussell« und natürlich »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. Daneben geben Tagebucheinträge und Briefe des Dichters faszinierende Einblicke in das Alltagsleben sowie die Pariser Kunst und Kultur des letzten Jahrhunderts.
Der vorliegende Band präsentiert eine Auswahl aus Rilkes Werk, ergänzt um Aussagen des Dichters selbst. Eine Einladung, auf Rilkes Spuren, Paris neu zu entdecken ebenso wie das Werk des Dichters.
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Seitenzahl: 223
Veröffentlichungsjahr: 2025
Rainer Maria Rilke
RilkeinParis
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Raoul Walisch
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5132.
Originalausgabe© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025
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Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: Freepik
eISBN 978-3-458-78462-3
www.insel-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Rilke in Paris
An Rodin
An Clara Rilke
An die Mutter
An Rodin
An die Mutter
28. October
29
. October
1
. November
2
. November
3
. November
4
. November
5
. November
6
. November
Der Panther
Der Löwenkäfig
An Clara Rilke
Die Gazelle
Die Flamingos
Pont Du Carrousel
Herbsttag
Herbst
La Dame À La Licorne
Das Einhorn
An Clara Rilke
Der Schwan
An Clara Rilke
An Paula Modersohn-Becker
An Clara Rilke
Früher Apollo
Morgue
Die Treppe Der Orangerie
Der Marmor-Karren
Das Karussell
[Aus Dem Kathedralen-Kreis:]
Herbst-Abend
Archaïscher Torso Apollos
Adam
Eva
Eine von den Alten
Der Blinde
An Mathilde Vollmoeller
An Karl von der Heydt
An Marie Taxis nach Lautschin
An Gide
An Anton Kippenberg
Aus einem Frühling
An Lou Andreas-Salomé nach Dresden
Der Fremde
Die Gruppe
An Gide
Die Rückkehr des verlorenen Sohnes
Der verlorene Sohn
An Münchhausen
Die fünfte Elegie
Aus einem Brief an Anton Kippenberg
Aus André Gides Tagebuch
An Nanny Wunderly-Volkart
An Baladine Klossowska
An die Mutter
An Lou Andreas-Salomé nach Göttingen
An Nanny Wunderly-Volkart
An die Mutter
An Marie Taxis nach Wien
An Anton Kippenberg
An die Mutter
An Anton Kippenberg
An Nanny Wunderly-Volkart
An Anton Kippenberg
An Münchhausen
An Münchhausen
An Gide
29
29
[Robinson nach der Heimkehr]
[Fontaine De Medicis]
Notre-Dame [1]
Notre-Dame [
1
]
Notre-Dame [2]
Notre Dame [
2
]
Saint-Sulpice
Saint-Sulpice
An Margot Sizzo
Der Dichter und die Stadt – oder Rilke und sein Paris
Auf dem Weg zu »seinem« Paris (oder von den Anfängen)
Exkurs: Paris als ein konstanter Faden in Rilkes Werk
Auf dem Weg zu »seinem« Paris (oder von Rodin bis zum Ersten Weltkrieg)
Auf dem Weg zu »seinem« Paris (oder Paris, wieder und erneut, 1920 und 1925)
Anhang
Übersicht über Rilkes Aufenthalte in Paris
Verwendete Abkürzungen und Siglen
Werksiglen und Werkausgaben
Werkausgaben
Literaturverzeichnis/Quellen
Briefausgaben (ohne Abdruck der Briefe der Empfänger und Empfängerinnen)
Briefwechsel
Weitere Literatur/Quellen
Fußnoten
Informationen zum Buch
RilkeinParis
An Rodin
Schloß Haseldorf (Holstein)
(Deutschland.) den 28.Juni 1902
Verehrter Meister,
ich habe es unternommen, für die neuen [1] Kunst-Monographien, die Professor Richard Muther herausgibt, den Band zu schreiben, der Ihrem Werk gewidmet ist. Einer meiner sehnlichsten Wünsche ist damit in Erfüllung gegangen, denn die Gelegenheit, über Ihre Werke zu schreiben, ist für mich eine innere Berufung, ein Fest, eine Freude, eine große und vornehme Aufgabe, auf die sich meine Liebe und mein ganzer Eifer richten.
Sie werden verstehen, mein Meister, daß ich alles tun werde, um diese Arbeit so gewissenhaft und gründlich wie möglich auszuführen. Dazu bedarf es keiner geringeren Sache als Ihres großherzigen Beistands. Ich werde mich in diesem Herbst nach Paris begeben, um Sie zu besuchen und um mich mit Ihren Werken zu beschäftigen und mich dabei besonders in die Zeichnungen zu vertiefen, von denen im Ausland noch so wenig bekannt ist. Aber, da ich schon jetzt an die Vorarbeiten gehen muß, hätte ich bald Ihre wertvollen Ratschläge nötig, die zu erbitten der Zweck meines Briefes ist.
Vor allem möchte der Herausgeber so rasch als möglich die Reproduktionen in Händen haben (der Band soll acht bis zehn Reproduktionen enthalten); deshalb erlaube ich mir, Sie zu fragen, an wen ich mich wenden könnte, um sie zu erhalten.
Meine andere Bitte wäre, mir gütigst sagen zu wollen, ob es eine einigermaßen zutreffende Würdigung Ihres Werks gibt, und mir vielleicht die Titel der Bücher zu nennen, die sich darauf beziehen; vor allem wären mir Essays, die biographische Angaben enthalten, am nötigsten, und ich wäre Ihnen, mein Meister, sehr dankbar, wenn Sie mir in diesem Sinne Ihre Unterstützung gewähren würden.
Es muß Ihnen zudringlich erscheinen, daß ich es wage, mich wegen solcher Kleinigkeiten an Sie zu wenden, aber es ist von großer Wichtigkeit für mich, über diesen Punkt die besten Auskünfte und Ratschläge zu erhalten, die außer Ihnen mir niemand sonst geben kann.
Ich betrachte es als einen großen Verlust, daß ich Ihre Ausstellung in Prag, wohin mich die Vereinigung Manes eingeladen hatte, nicht habe besuchen können. Aber ich hoffe, im Herbst in Paris alles das zu sehen, was in Prag versammelt gewesen ist. Sollte bis dahin ein größerer Teil Ihrer wichtigen Werke in einer anderen Stadt ausgestellt werden, so bitte ich Sie inständigst, mein Meister, es mir mitzuteilen, damit ich mich in diesem Fall dorthin begeben kann, bevor ich nach Paris gehe, denn mir ist ganz besonders daran gelegen, alle Ihre Werke zu sehen, bevor ich mich an die Arbeit setze.
Ehe ich diesen Brief schließe (ich bitte Sie, den Stil zu verzeihen: Französisch zu schreiben, bereitet mir große Mühe), erlaube ich mir, Ihnen meine junge Frau in Erinnerung zu rufen (die Bildhauerin Clara Westhoff in Worpswede bei Bremen, die 1900 das große Glück hatte in Paris nicht fern von Ihnen und all dem Unvergänglichen, das Sie umgibt, zu arbeiten). Sie hat Ihnen (vor zwei Monaten) Proben ihrer jüngsten Arbeiten sowie einen Brief geschickt, der ihr sehr am Herzen lag, und jetzt wartet sie (ich ahne es) voll Angst und Ungeduld, lieber Meister, auf ein einziges Wort von Ihnen, auf Ihre Ratschläge, die ihr so wichtig sind und über ihre Zukunft entscheiden werden und ohne die sie sich vorwärts tastet wie eine Blinde.
Es bleibt mir noch, Sie zu bitten, erlauchter Meister, alle Zudringlichkeiten dieses ungestalten Briefes zu entschuldigen und zu glauben, daß ich mich sehr glücklich fühle, Ihnen meine Bewunderung und die tiefste Ergebenheit ausdrücken zu können:
Rainer Mar. Rilke
Meine Adresse: Schloß Haseldorf, Holstein, Deutschland.
(aus: RMR/Rodin, S.28-29)
•
Schloß Haseldorf in Holstein,
den 8.Juli 1902.
Mein hoch verehrter Meister,
Sie haben mich mit Ihrem Brief sehr glücklich gemacht. Ich danke Ihnen unendlich für all die Auskünfte und Hinweise, und ganz besonders für das gute Gedenken und die guten Worte, die Sie an Frau Clara Westhoff richten.
Ich fahre in diesen Tagen nach Worpswede und werde meiner Frau Ihren Brief bringen, der ihr eine große Freude bereiten wird.
Ich habe mir, vor allem anderen, das Buch von Léon Maillard bestellt – meine Hauptarbeit aber wird erst in Paris beginnen, wohin ich mich schon im September begeben werde, da Sie im Oktober nicht dort sein werden. Dann werde ich Ihre Hilfe brauchen wie Brot und in vielen Fällen auch Ihre guten Ratschläge, um meine Arbeit zu einem guten Ende zu führen. Doch vor allem freue ich mich voller Ungeduld darauf, einige Tage bei Ihnen und Ihren Werken zu verbringen.
Vielleicht wird es Frau Clara Westhoff möglich sein, mich nach Paris zu begleiten (sie hat Ihnen geschrieben – glaube ich, wie sie das wünscht!).
Ich werde mir erlauben, mein Meister, Ihnen jedenfalls mitzuteilen, wann ich ankomme, um sicher zu sein, Sie anzutreffen.
Ich sage Ihnen nochmals innigen Dank für Ihren guten Brief, und ich grüße Sie, erlauchter Meister, mit all meiner Bewunderung:
Rainer Maria Rilke
P.S: – Ich werde Herrn Richard Muther die Grüße ausrichten.
(aus: RMR/Rodin S.32)
•
Worpswede bei Bremen, den 1.August 1902
Mein Meister,
ach! wenn ich Ihnen alles sagen könnte, was wir gedacht und gesprochen haben, als wir das Buch von M. Maillard lasen und vor allem, als wir die Abbildungen betrachteten, die es enthält. Wieviel Trost und Hoffnung haben wir daraus geschöpft, und ein Gefühl der Unruhe erfüllt uns, eine heilige und jugendliche Ungeduld, ein Arbeitsleben zu beginnen, das sich, durch Geräusch und Geröll der Gegenwart, auf das Unbekannte zubewegt.
Das betrifft Frau Clara Westhoff wie mich.
Ich habe Ihnen aus Haseldorf geschrieben, daß ich im September in Paris sein werde, um mich auf das Ihrem Werk gewidmete Buch vorzubereiten. Was ich Ihnen aber noch nicht gesagt habe, ist, daß es für mich selbst, für meine Arbeit (die Arbeit des Schriftstellers oder besser des Dichters), ein großes Ereignis sein wird, mich Ihnen zu nähern. Ihre Kunst ist von der Art (ich habe es seit langem empfunden), daß sie den Malern, den Dichtern, den Bildhauern Brot und Gold zu geben vermag: all den Künstlern, die ihren Leidensweg gehen, nach nichts anderem sich sehnend als nach diesem Funken von Ewigkeit, der das höchste Ziel des schöpferischen Lebens ist.
Ich habe (ganz jung noch) zu schreiben begonnen, und es gibt schon acht oder neun Bücher von mir: Verse, Prosa und einige Dramen, denen, als sie in Berlin aufgeführt wurden, nur die Ironie jenes Publikums entgegengekommen ist, das die Gelegenheit liebt, seine Verachtung gegenüber einem einsamen Menschen zu zeigen.
Es betrübt mich, daß es keine Übersetzung von meinen Büchern gibt, so daß ich Sie bitten könnte, einen einzigen Blick hineinzuwerfen; dennoch werde ich Ihnen, wenn ich komme, das eine oder andere in der Originalsprache mitbringen, denn es ist mir ein Bedürfnis, einige meiner Konfessionen unter Ihren Dingen, in Ihrem Besitz, nahe bei Ihnen zu wissen, – wie man ein Herz aus Silber auf den Altar einer wundertätigen Märtyrerin legt.
Mein ganzes Leben hat sich verändert, seit ich weiß, daß es Sie gibt, mein Meister, und daß der Tag, an dem ich Sie sehen werde, einer meiner Tage ist (und vielleicht der glücklichste).
Denn darin bestand die unbestimmte und grenzenlose Traurigkeit meiner Jugend, daß es mir schien, als seien alle großen Männer seit langem tot und als gäbe es in dieser fremden Welt weder Mutter, noch Meister, noch Helden. Ich erinnere mich sehr gut, wie ich (vor fünf oder sechs Jahren), als ich zum erstenmal ein unvergeßliches Buch eines großen dänischen Dichters (Jens Peter Jacobsen) las, mir vornahm, diesen Menschen zu suchen und alles zu tun, um würdig zu werden, sein Schüler zu sein, der demütigste, und der Prophet seines Herzens vor all denen, die ihn noch nicht gefunden hatten. Aber, am Tag danach, vernahm ich, er sei schon gestorben, ganz jung, ganz einsam, in einem kleinen und traurigen Dorf, getötet vom grausamen Klima seiner düsteren Heimat. – Da schien meine Einsamkeit (diese Einsamkeit eines Kindes, das auf einer unermeßlichen Ebene ohne Baum und ohne Vogel erwacht) noch größer, noch hoffnungsloser zu werden. Es ist das tragischste Schicksal, wenn junge Menschen, die ahnen, daß sie nicht werden leben können, ohne Dichter oder Maler oder Bildhauer zu sein, tief hinabgesunken in einen Abgrund von Verlassenheit, nicht den richtigen Rat finden können; denn indem sie einen starken Meister suchen, suchen sie ja weder Worte noch Zeichen, sie verlangen nach einem Vorbild, einem leidenschaftlichen Herzen, nach Händen, die Großes schaffen. Nach Ihnen verlangen sie.
Nun können Sie ermessen, wie glücklich ich bin, am 1. September nach Paris zu kommen. Ich mußte es Ihnen sagen, und ich muß hinzufügen, daß meine Frau, die Bildhauerin, empfindet wie ich: daß sie den einzigen Wunsch hat, in Paris in Ihrer Nähe, mein lieber Meister, zu arbeiten. Und damit komme ich zur Frage, mit der dieser Brief schließen soll:
Sie hat vor, sich im Herbst für mehrere Jahre in Paris niederzulassen. Aber sie wagt diesen Schritt (der sie zwingt, vieles zurückzulassen) nicht zu tun, ohne im voraus gefragt zu haben, ob Sie zustimmen? Die Worte, die Sie mir über ihre Arbeiten geschrieben haben, diese Worte ernster und wahrer Ermutigung, lassen sie hoffen, daß sie in Paris, wenn sie hingebungsvoll arbeitet, eines Tages vielleicht würdig sein wird, Ihre Schülerin zu werden, was sie sich mit allen Kräften wünscht.
Mein Meister, glauben Sie, daß sie dieses, so hoch gesteckte, Ziel wird erreichen können?
Wir können nicht anders, als Sie bitten, uns ein einziges Wort in dieser Sache zu schreiben. Denn es wird Frau Clara Westhoff schwerfallen zu warten, bis ich im September Ihre Antwort abholen kann, die über ihr Schicksal entscheiden wird. Sie muß bald schon ihre Pläne festlegen und ihre Angelegenheiten regeln. Ich schulde Ihnen noch tausend Dank für Ihren so guten Brief vom 16.Juli; verzeihen Sie mir, daß der meinige allzu lang geworden ist; außerdem schreibe ich kaum je auf Französisch, und ich kann mich nicht anders ausdrücken als in recht banalen und ungeschickten Wendungen. Aber Sie werden das entschuldigen: Denn es war ein tiefes Bedürfnis, das mich zwang, Ihnen dies alles zu sagen …
Empfangen Sie, mein Meister, unsere Bewunderung, diese Bewunderung, die uns eint wie ein großes Glück, wie ein Wunder, dessen Zeugen wir gewesen sind.
Ihr: Rainer Maria Rilke
Worpswede bei Bremen, Deutschland.
Bücher von mir] Bis und mit 1902 sind erschienen: Leben und Lieder (1894), Larenopfer (1896), Wegwarten (1896), Traumgekrönt (1897), Advent (1898), Ohne Gegenwart (1898), Am Leben hin (1898), Zwei Prager Geschichten (1899), Mir zur Feier (1899), Vom lieben Gott und Anderes (1900), Die Letzten (1902), Das tägliche Leben (1902), Das Buch der Bilder (ausgeliefert im Juli 1902).
(aus: RMR/Rodin, S.34-37)
•
(Westerwede) Worpswede bei Bremen.
Den 23.August 1902
Ihr Brief, mein Meister, hat uns mit Freude erfüllt und mit Dankbarkeit. Frau Clara Westhoff erwartet mit Ungeduld den Augenblick, wo sie nach Paris kommen wird; dies ist erst in zwei oder drei Wochen möglich: Dann aber wird sie lange bleiben.
Sie ist sehr glücklich darüber, daß sie Ihnen ihre Arbeiten zeigen darf; das ist für sie ein Traum, dessen Erfüllung ihrem jungen Leben Tiefe geben wird.
Was mich betrifft, so werde ich um den ersten September in Paris sein. Ich zähle die Tage, die mich noch von Ihnen trennen: Manchmal in der Nacht, wenn unser einsames Haus schläft, sage ich mir die Zahl vor, um zu hören, daß sie schon sehr klein ist.
Empfangen Sie, erlauchter Meister, unseren Dank und unsere tiefe Verehrung:
Rainer Maria Rilke
Westerwede] Nach einem längeren Aufenthalt in Haseldorf war Rilke Mitte Juli nach Westerwede zurückgekehrt.
(aus: RMR/Rodin, S.38-39)
An Clara Rilke
Paris, 11, rue Toullier,
31 août (Sonntag) 1902
(6 Uhr nachmittag)
Meine Liebe und Gute: daß Deine Briefe so rasch zu mir kommen: ich kann Dir nicht sagen, wie mich das freut. Eben trifft jener vom 30. ein mit seinen Beilagen. Es ist 4, da ich ihn erhalte, aber ich war seit früh nicht zu Hause, und vielleicht hat er schon mehrere Stunden auf mich gewartet. Gestern war er noch in Deinen lieben, lieben Händen, und es geht auf diesem raschen Wege zu mir nichts von dem verloren, was Du ihm anvertrauest … Ich danke dir und denke und lebe nahe bei Dir Tag um Tag. – Es ist ein Sonntag. Es regnet, langsam, leise und herrlich. Auf den Boulevards werden schon große Haufen nasser welker Blätter zusammengekehrt: wir sind diesmal um allen Sommer betrogen worden …
Weißt Du, wo ich eben war? Ich habe die Ecke des Boulevard Montparnasse und des Boulevard Raspail aufgesucht, den Platz, wo Du gewohnt hast. Nun weiß ich es genau: es ist eine helle hohe Ecke, und ganz gut ist dort zu wohnen. Dann bin ich durch die rue Bréa zum Jardin du Luxembourg gegangen, und nun bin ich in meiner stillen Stube, einsam und also nahe bei Dir.
Ich beginne, meine Stube schon etwas heimatlich zu empfinden. Die Leute im Hause sind freundlich und dienstfertig (ohne noch ein Trinkgeld erhalten zu haben). Ich habe mir für die silbernen Leuchter auf dem Kamin Kerzen gekauft, die abends wie auf einem Altar brennen. Von heute an bekomme ich auch eine Lampe: denn so von ½9 oder 9 an bin ich immer zu Hause, auch um 7 schon oft; – abends werden meine Stunden sein: Lesen einiger Bücher, Schreiben von Notizen, Nachdenken, Ruhe, Einsamkeit: alles, wonach ich mich sehnte. Bei Tage such ich mir die Dinge, die ich sehen will, mühsälig genug (denn die Omnibusse sind für meine Unbeholfenheit nicht eingerichtet; auch geht es mit der Sprache schwer …) in der Stadt zusammen. Gestern war ich im Louvre: Ganz groß erschien mir da nur Lionardo (die Gioconda). Plastik des Mittelalters: die acht Nonnen mit dem sénéchal … (es ist bemalter Stein!). In einem Saal, wo Neuankäufe stehen, entdeckte ich kleine Ton-(oder Plastilin-)Skizzen von Carpeaux. Recht interessant. Stofflich mit Rodin verwandt (z.B. Ugolin … etc.), formell sehr weit entfernt von ihm, vielleicht manchmal in seiner Linie, aber ganz weit weg. Alle Geschlossenheit, die er hie und da anstrebt, ist noch die alte »Gruppierung«, das Aufbauen, das Rodin nie gekannt hat … Auch Notre-Dame de Paris habe ich gesehen. Adam und Eva, die an der Hauptfronte rechts und links auf der Balustrade aus Königen stehen, allein und weit voneinander, scheinen mir besonders fein und schlicht empfunden. Auch die Gesamtwirkung groß, besonders wenn man sich erinnert, daß früher mehrere Stufen zu dem Portal hinaufführten. – Heute vormittag Musée du Luxembourg: Seltsam, seltsam, all dieses zum ersten Mal und doch wiederzusehen. Enttäuschungen so mit Überraschungen vermengt, daß man sie nicht trennen kann. Gestern im Louvre der merkwürdige Courbet: Begräbnis von Ornans (siehe Deinen Muther), wie anders hatte ich mir das gedacht! Und heute im Luxembourg: stark und mächtig: Manets »Olympia«. Das ist ein kühnes Malerstück; Renoir, Degas und Besnard. (Kurz salle caillebotte.) Sonst ärgerlich viel Unsinn. Bastien-Lepage, wie langweilig, die Baschkirtschew ebenso. Viel zuviel Carolus-Duran und Verwandtes. Interessant von den neuesten: Intérieur, Dämmerung, heißt: »Lied« (deutsch), Maler: Lomont. De la Gandara, ganz Modemaler, nicht denkbar neben Zuloaga. Leider nur zwei Daumiers. Plastik, auch Dampt, nicht viel – Falguière nichts – alle anderen noch weniger – Rodin alles, – wie man erwarten konnte. Die Danaide: wunderschön. Age d’airain, in schwarzer matter Bronze, sehr besonders; am herrlichsten: Porträtbüste J.P. Laurens! – Die Peruvianerin mit den Herbstblumen auf dem Sockel, jedenfalls auch irgendeine Absicht enthaltend, – mag diese auch nur wenig in Erfüllung gegangen sein. Jedenfalls wirkt sie teilweise sehr künstlerisch: einmal im ganz Großen, dann in einzelnen Details. – Nachmittag: einen ganz großen Eindruck von der Dekorationskunst des Puvis im Panthéon. Die Gesamtwirkung ist unnachahmlich schön – ein Ereignis für mich. – Etwas, was ich mir, ohne es zu wissen, gewünscht habe, lange. Was macht diese fast mißfarbigen, jedenfalls unfarbigen Graus in Segeln und Kleidern so mächtig? Ich denke an einen Raum, groß und einfach wie das Panthéon, ganz von Puvis ausgemalt: es hätte ein Lebenswerk sein müssen.
Nun hat er so böse Nachbarn, aber so böse, – die allerbösesten, die man finden konnte. Selbst J.P. Laurens (obwohl noch der beste) wirkt abstoßend mit der Kraft seiner Wandmalerei. Fett, schwer und schwanger von Farben. Und daneben Puvis, unendlich gütig, unendlich milde, Herrscher über endlose Harmonien, unstofflich, still und schweigsam: es ist eine Reife ohnegleichen.
Nun bleibt mir noch, um es über die nächsten Tage zu verteilen: das Musée Cluny, das ja mein Nachbar ist, das Musée Gustave Moreaus. (Die Moreaus im Luxembourg sind teilweise sehr merkwürdig, die Skizzen meine ich.)
Und dann kommt nur noch Rodin. Und zwischendurch immer wieder das Louvre. Es wird sich alles auf ihn beziehen und um ihn stellen. Vielleicht auch Paris, das wirklich eine große fremde Stadt ist, mir sehr, sehr fremd. Mich ängstigen die vielen Hospitäler, die hier überall sind. Ich verstehe, warum sie bei Verlaine, bei Baudelaire und Mallarmé immerfort vorkommen. Man sieht Kranke, die hingehen oder hinfahren, in allen Straßen. Man sieht sie an den Fenstern des Hôtel Dieu in ihren seltsamen Trachten, den traurigen blassen Ordenstrachten der Krankheit. Man fühlt auf einmal, daß es in dieser weiten Stadt Heere von Kranken gibt, Armeen von Sterbenden, Völker von Toten.
Ich habe das noch in keiner Stadt gefühlt, und es ist seltsam, daß ich es gerade in Paris fühle, wo (wie Holitscher schrieb) der Lebenstrieb stärker ist als anderswo. Lebenstrieb ist das – Leben? Nein, – Leben ist etwas Ruhiges, Weites, Einfaches. Lebenstrieb ist Hast und Jagd. Trieb, das Leben zu haben, gleich, ganz, in einer Stunde. Davon ist Paris so voll und darum so nahe am Tod. Es ist eine fremde, fremde Stadt.
Aber wir meinen ja nicht sie, diese Stadt … Sondern nur ihn, Rodin. Und darum bin ich doch nicht bange und manchmal sogar schon froh, über alles. Nun sehe ich ihn bald. Vielleicht morgen, vielleicht übermorgen …
Vogüé ist, wie Du gelesen hast, in Versailles, – so besuche ich vorläufig nur noch Meier-Graefe aus praktischen Gründen. Mit dem Aufsuchen einzelner Franzosen will ich warten, bis meine Sprache sich ein wenig bessert. Gott, ich drücke mich ganz erbärmlich aus, viel schlechter als bei Madame Meuris in der Berlitz-School. Mir fehlt fast immer alles, was ich gerade sagen will … Wie wird das bei Rodin werden? Er muß mich, glaub ich, doch verstehen! Und wenn ein Wunder dazu nötig ist, so gehe ich ins Panthéon und bitte um ein Wunder. Das hat etwas Kirchliches für mich, dieses Panthéon. Ich mußte auf der Schwelle den Hut abnehmen, obwohl ich sah, daß alle Leute nachlässig mit bedecktem Kopfe darin herumgingen. (Dort ist auch jenes Fresko, in dem J.P. Laurens Rodin als Krieger angebracht hat, ganz oben nahe an der Decke und sehr schrecklich.) Aber das Panthéon ist doch still, lieb und weit … ein guter Ort. – … In Paris möchte ich Ruth nicht gerne wissen, die Luft ist dick, und man hat, wenn man ½ Stunde aus war, schwarze Nüstern … Auch ist es doch teuer. Ich wohne so billig und muß doch sehr, sehr sparen: das Essen, so sehr man es beschränkt, kostet so viel. Man könnte für Mittag, abends und Kaffee bei ganz bescheidenem Essen leicht zehn Frank täglich brauchen. Und ich esse kein Fleisch und trinke keinen Wein! –
… Und nun Ende! Das war so schön, daß Dein Brief heute kam, – er hat mir einen Sonntag gebracht; viele gute, liebe heimatliche Gedanken, nach denen ich voller Sehnsucht war.
Unserer lieben kleinen Ruth und Dein:
Rainer Maria
(aus: Die Bildhauerin Clara Rilke-Westhof, S.98-100)
An die Mutter
Paris, 11, rue Toullier,
am 9.Sept. 1902
Meine liebe gute Mama, ich danke Dir herzlich für Deinen lieben Brief, den ich gestern empfing; verzeih, daß ich Dir nicht früher geschrieben habe: aber Du kannst Dir denken was es zu thun und zu schauen giebt den ganzen Tag.
Paris ist eine sehr große und eigenthümliche Stadt. Wien ist mir in vieler Beziehung lieber, Petersburg in anderem Sinne auch. – Der Ton auf dem hier alles gespielt wird, ist mir äußerst unsympatisch und ich wäre gewiß schon wieder abgereist, wenn nicht die Aufgabe wäre, die mich herberufen hat, wenn nicht Rodin wäre und sein großes, großes Werk. Dieses Werk ist von einer Erhabenheit: Paris wird ganz klein daneben. In diesem Werke aufzugehen ist mein Bestreben, und ich nehme alles andere nur eben mit, wo es nicht anders geht, und vertiefe mich vor allem in die große Arbeit dieses einsamen Mannes, der so gut und mild und ernst ist und nur die Arbeit kennt, die große, strenge, rastlose Arbeit. Rodin selbst führt mich zu dem Verständnis seiner Dinge mit einer sehr lieben Art. Ich bin fast jeden Tag bei ihm. Bald draußen auf seinem Landsitz in Meudon, bald in der Stadt, in einem seiner Ateliers, deren er mehrere hat. So habe ich nicht Zeit und auch nicht Lust, mich nach anderen Bekanntschaften momentan umzusehen. Die Zeit, die mir bleibt, verbrauche ich, um das Louvre und das Luxembourg, das Musée Cluny und einzelne Kirchen zu besuchen oder ich sitze in der Nationalbibliothek und lese. Dabei geht der Tag hin wie in ein Augenblick und man kommt abends totmüde nachhause. – Meine Wohnung ist ganz nett, allerdings 4.Stock, mitten im Quartier Latin, dem berühmten und berüchtigten Studenten-Viertel. Von dessen Leben ich aber (da es zur Zeit beginnt, wenn ich schlafen gehe) sehr wenig merke. – Das Leben ist theuer, man muß furchtbar auf der Hut sein, die kleinen Frankstücke springen ab wie Knöpfe. Ich schränke mich auf das äußerste ein und es ist gut, daß es mir nicht schwerfällt, tagelang von Cacao und etwas Obst zu leben. Das ist im Sommer sogar ganz angenehm, ich wünsche mir gar nichts anderes. – Die Saison hat noch nicht begonnen, übrigens: die Sorbonne hat Ferien. Mehrere Theater sind noch geschlossen, trotzdem ist das Leben auf den Boulevards und auf dem Weg ins Bois grandios. Der Schah ist da und hilft die Menge der Nichtsthuer dekorativ vermehren. Automobils sind bei diesen Fahrten ins Bois schon sehr verbreitet und man sieht solche in allen möglichen Formen. Wie verrückt rasen sie an den Wagen vorbei und zwischen dem Gedränge durch. Dazwischen giebt es natürlich immer noch schöne Equipagen und Kutschierwagen: Gottseidank. Denn wenn es nur Automobile geben wird, wird man es vor Angst, Gestank und Gefahr kaum in so einer großen Stadt aushalten können. –
Ein großes Glück ist es, das Louvre zu sehen mit seinen großen Meisterwerken; wie es ja überhaupt ungeheuer viel Schönes hier giebt, was ich denn auch genieße; aber ich freue mich, daß eine so schöne Arbeit der Zweck meines Hierseins ist und verehre in Rodin einen der größten Künstler und einen der gütigsten und einsamsten Menschen. –
