Ringo, ich und ein komplett ahnungsloser Sommer - Judith Burger - E-Book

Ringo, ich und ein komplett ahnungsloser Sommer E-Book

Judith Burger

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Beschreibung

Draußen fliegt die Welt vorbei. Asta sitzt im Zug und vor ihr liegt der schönste Sommer aller Zeiten, bestimmt! Denn in Geschrey, am Ende der Welt, scheint die Sonne länger, der Regen ist weniger nass, die Zeit läuft langsamer – und hier wohnt Ringo. Mit ihrem besten Freund will Asta im See baden, abhängen, Eis essen, Blödsinn machen. Und Theater spielen: In diesem Sommer kriegt sie das erste Mal eine kleine Rolle im Sommertheater, das ihre Eltern jährlich in Geschrey inszenieren. Doch dann kommt alles ganz anders. Plötzlich ist Ringo der Star und Asta ist abgehängt. Hält das ihre Freundschaft aus?

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

1

Draußen fliegt die Welt vorbei. Wie ein Taschentuch, das man aus dem Zugfenster hält und dann loslässt, damit der Wind es fortträgt. Loslassen, und zack, weg ist das Taschentuch. Rausgucken, und zack, ist wieder ein Stückchen Welt vorbeigezogen. Es stört mich nicht im Geringsten, denn ich fahre nach Geschrey, da brauche ich die Welt nicht, denn dort ist sie zu Ende. Dort läuft die Zeit langsamer und ich werde dort lauter schöne Dinge machen. Und das Schönste: Ich bin die ganze Zeit mit Ringo zusammen, meinem besten Freund. Der Sommer gehört uns. Und dieses Jahr wird alles noch schöner. Ganz unheimlich wunderbar großartig schön. Von mir aus könnte der Zug noch schneller fahren.

Draußen sieht alles noch genauso aus wie vor einem Jahr und wie in dem Jahr davor und in dem Jahr davor … Dort, hinter den Bäumen, ist das Seeufer, an dem ich letztes Jahr das Wort Mosaikjungfer gelernt hab. Eine Mosaikjungfer ist eine Libelle. So was weiß Ringo, er ist der klügste Junge der Welt. Der wird Augen machen, wenn er meine Neuigkeiten hört! Ich muss jetzt schon durch die Fensterscheibe grinsen, so als würde er auf der anderen Seite sitzen. Eigentlich voll peinlich, einfach so ins Fenster grinsen, aber egal, es ist sowieso fast niemand mehr im Abteil außer mir, es fahren ja nicht so viele Leute nach Geschrey. Aber bald, wenn endlich Premiere ist, dann werden sie kommen. Ich kann es kaum erwarten! Ich auf der Bühne! Hammer!

Doch trotz der Vorfreude ist da noch ein blödes Gefühl. Wahrscheinlich, weil ich meinen Text immer noch nicht richtig auswendig kann. Aber das krieg ich schon hin.

Doch, ich weiß, warum dieses Gefühl da ist, es ist, weil Ringo die letzten Tage nicht mehr auf meine Nachrichten geantwortet hat. Das fühlt sich irgendwie an wie ein Schatten vor der Sonne. Er schreibt sonst immer zurück! Immer! Keine Ahnung, was los ist. Ach, alles wird sich klären und sowieso wird es der tollste Sommer. Und ich werde berühmt! Quatsch, natürlich nicht, oder vielleicht doch, ein klitzekleines bisschen.

Dahinten in der Landschaft fließt die Wipper, eigentlich gurgelt sie nur vor sich hin, statt zu fließen, weil sie ein kleines Flüsschen ist. Komisch eigentlich, dass es »Geschrey an der Wipper« heißt, als ob man Geschrey ohne den Fluss nicht finden würde. Gut, die Wipper ist schon ein paar Meter breit, aber eben niemals im Leben so groß wie die Elbe. Ich weiß noch, wie ich letztes Jahr mit Ringo in der Wipper stand, an einer besonders flachen Stelle, und wie wir kleine Dämme gebaut haben. Das Wasser ging mir gerade bis zum Knie. So was mache ich nur in Geschrey, zu Hause würden mich Wanda und Hayet bestimmt auslachen. Aber hier kriegt es keiner mit, außer Ringo, der findet alles normal. Mit Ringo ist nichts blöd. Wir streiten uns überhaupt nie.

In Geschrey ist einfach alles anders. Die Abende dauern länger und es ist nicht schlimm, wenn man dann doch irgendwann ins Bett muss. Und früh aufstehen muss man gleich gar nicht, denn ich wache meist von allein früh am Morgen auf und es fühlt sich trotzdem nicht an wie früh aufstehen. Die Sonne scheint wärmer, ein Lagerfeuer knistert lauter, der Regen ist nicht so nass wie anderswo und ich muss Mama und Papa nicht immer sagen, wo ich hingehe und wann ich wiederkomme. In Geschrey darf ich mehr als zu Hause. Ich darf nun auch schon das zweite Mal allein mit dem Zug nach Geschrey fahren. Mama und Papa sind schon längst dort und proben das Stück, aber ich hab erst seit heute Ferien. Die letzten vier Wochen musste ich bei Oma wohnen.

Der Zug fährt am Wald vorbei. Auf irgendeinem der großen Findlinge in dem Wald hab ich mal Asta war hier reingeritzt, total peinlich, würde ich heute niemals machen! Kann man eigentlich die Waldbühne vom Zug aus sehen? Ich stelle mich hin. Nein, die Bäume sind zu hoch, aber irgendwo da hinten muss sie sein, mitten im Wald. Dort werde ich in diesem Sommer auf der Bühne stehen! Asta Hennemann auf der Waldbühne in Geschrey an der Wipper! Das klingt gut! Schließlich heiße ich ja auch nach Asta Nielsen. Das war eine berühmte Stummfilm-Schauspielerin, ich hab sie mir mal auf Youtube angeguckt.

»Nächster Halt: Geschrey an der Wipper.« Die Tonbandstimme säuselt, als würde der Zug geradewegs ins Schlaraffenland einfahren. »Ausstieg in Fahrtrichtung links.«

Der Zug ruckelt und beinahe berührt meine Nase die Fensterscheibe, die ganz eklig verschmiert ist. Wenn ich ein Stück abrücke, kann ich mich in der Scheibe sehen, meine langen lockigen Haare, auf die Wanda immer neidisch ist. Heute trag ich sie offen. Ob man noch mehr von der Landschaft sieht, wenn man die Augen ganz weit aufreißt? Asta Nielsen konnte ihre Augen auch ganz groß machen, das sieht manchmal gruslig aus in diesen uralten Schwarz-Weiß-Filmen.

Nee, geht nicht. Das sieht komisch aus, Ringo würde jetzt bestimmt lachen.

Da ist sie ja, die große Streuobstwiese, die irgendwie aussieht wie ein Bild aus den Bilderbüchern, die ich als kleines Kind hatte.

Halt! Dort ganz am Rand, das ist er doch! Das ist Ringo! Jetzt presse ich meine Nase doch an die Scheibe und hebe den Arm, als ob ich winke. Aber der Zug ist schon vorbei, die Gestalt wird immer kleiner. War das wirklich Ringo? So dünn und so lang! Aber sicher! Ich erkenne doch Ringo Bode, selbst aus einem vorbeifahrenden Zug! Sah er traurig aus? Bestimmt nicht, der wartet nur auf mich.

Einige Minuten später hält der Zug mit einem Ächzen. Mein riesiger Rucksack lässt mich zum Ausgang torkeln, so schwer ist der. Und da steht auch schon Papa!

»Astalavista«, brüllt er über den Bahnsteig. Ich muss kichern, lasse den Rucksack fallen und springe Papa in die Arme. Hinter ihm steht Mama, die leicht die Augenbrauen nach oben zieht.

»Christian, nicht so doll!«

Dann nimmt Mama mich in die Arme.

»Schön, dass du endlich da bist.«

»Aber keine Angst«, sagt Papa. »Geprobt wird erst morgen. Jetzt wird erst mal angekommen.«

In Geschrey kommt es mir immer so vor, als ob hier gar keine Leute wohnen, weil kaum jemand auf der Straße ist. Vielleicht, weil die Fußwege so schmal sind. Viele Menschen haben dort nicht Platz. Es reicht nicht mal für mich, Papa und Mama in einer Reihe. So laufe ich hin und her, mal neben Papa, mal neben Mama.

Die Eisdiele gibt es noch. Ich brauch bloß zu gucken und Papa zieht schon das Portemonnaie aus der Hose.

»Aber wunder dich nicht, in der Eisdiele sind moderne Zeiten angebrochen«, sagt er und grinst.

Gleich darauf sehe ich, was er meint: Es gibt Eissorten mit Salbeigeschmack, Rose-Minze, Gurke-Joghurt oder Lavendel-Quinoa. Puh.

»Gibt’s kein Schlumpfblau?«

Die Eisverkäuferin verzieht das Gesicht. »Nein, so was haben wir nicht.«

»Letztes Jahr gab’s das noch«, protestiere ich und nehme Schoko und Vanille, das wurde zum Glück noch nicht abgeschafft. Sie gibt mir mein Eis und dreht sich dann einfach um, sie sagt nicht »Auf Wiedersehen« und dann merke ich, sie hat nicht mal »Guten Tag« gesagt. Das ist völlig untypisch für Leute aus Geschrey. Eigentlich laufen immer alle über vor lauter Freundlichkeit, vor allem bei Papa und Mama. Sie sagen dann so was wie: »Einen wunderschönen guten Tag, Herr Hennemann«, oder: »Wie schön, dass Sie wieder bei uns sind, Frau Hennemann«. Ich fand das immer sehr übertrieben, aber Papa hat gesagt, das ist, weil es in Geschrey sonst niemanden gibt, der als Musiker oder Regisseurin arbeitet.

Auf dem schmalen Fußweg kommt uns eine bekannte Gestalt entgegen: Uli. So ist das in Geschrey: Trifft man mal jemand, dann kennt man ihn meistens.

»Nein, die Asta! Die wird immer länger«, ruft Uli und umschließt meine rechte Hand ganz vorsichtig mit seinen beiden großen, schwieligen Händen. Ich muss auf seine buschigen Augenbrauen gucken, einzelne lange Haare hängen aus ihnen herunter, aber selbst die sind freundlich. Uli riecht wie immer nach Pfeifentabak, ein Geruch, den ich nur aus Geschrey kenne.

»Tolle Sachen machen deine Eltern wieder«, sagt Uli, ohne Mama und Papa anzugucken, und deutet mit der Hand in die Richtung, wo der Wald liegt.

»Und ich mache mit«, sage ich, ein bisschen zu laut und zu schnell. Uli nickt lächelnd. Natürlich weiß er längst schon alles und war bei den Proben, denn er ist eigentlich immer da. Ich rücke noch ein Stück näher an Uli heran, sodass ich auch seine weißen Bartstoppeln auf dem faltigen Hals sehe.

»Ach, der Uli, der hat noch ganz andere Zeiten auf der Waldbühne erlebt«, seufzt Mama, als Uli weitergegangen ist.

»Welche denn?«

»Uli hat, glaube ich, sein ganzes Leben auf der Waldbühne verbracht. Er hat sich schon immer um alles gekümmert, dass die Bühne und der Zuschauerraum in Schuss sind, dass abends genug Licht da ist und die Schauspieler pünktlich auf die Bühne kommen. Er ist die gute Seele der Waldbühne.«

»Und weil er immer da war, konnte er irgendwann jede Rolle in- und auswendig«, erzählt Papa weiter.

»Ja!«, ruft Mama und ihre Augen leuchten. »Wenn ein Schauspieler krank geworden ist, so ganz kurz vor einer ausverkauften Vorstellung, dann ist er einfach eingesprungen, egal welche Rolle. Und das Publikum raste jedes Mal vor Begeisterung.«

»Besonders putzig war das, wenn er für eine Frau einspringen musste. Musst du dir vorstellen: Uli im Kleid mit verstellt hoher Stimme, das ging natürlich nur bei lustigen Stücken.«

Meine Augen gehen hin und her, von Mama zu Papa, die in Erinnerungen schwelgen.

»Ich weiß gar nicht, wie so was heute ankommen würde …«

Mama wird nachdenklich.

»Wieso?«, frage ich.

»Ach, heute beschweren sich die Leute ja immer gleich, wenn etwas anders ist als erwartet. Da geht dann gleich das große Geschimpfe los: Das hätte es früher nicht gegeben, und so weiter.«

Darüber muss ich nachdenken. Wieso freuen sich Menschen in einer früheren Zeit über etwas und später nicht mehr? Das ist eine Frage, wie sie Ringo hätte stellen können. Ringo ist ein großer Frager.

»Jetzt geht’s erst mal in die Pension«, bestimmt Mama.

Die Fenster von Geschrey sind alle geputzt. Die meisten sind von innen mit Gardinen verhangen. In den Blumenkästen vor den Fenstern wachsen überall dieselben Blumen, rosafarbene und rote. Nirgends gibt es so viele Gartenzwerge wie in Geschrey. In einem der Vorgärten stehen Gartenzwerge, die Jeanshosen anhaben und Sonnenbrillen auf. Papa zeigt mit dem Finger auf sie und muss lachen. Mama schüttelt den Kopf. »Jeder, wie er mag«, murmelt sie in sich hinein und muss grinsen. Sie fängt einfach so an, ein Lied zu singen. Nach ein paar Takten fällt Papa mit ein. Jetzt denken die Leute in Geschrey bestimmt, dass die Hennemanns komplett bescheuert sind.

Alle aus dem Ensemble wohnen während der Proben und Vorstellungen in der Pension Herrlich. An der Rezeption steht schon Frau Müller und strahlt Papa und Mama an. Sie ist immer noch genauso überfreundlich wie letztes Jahr.

»Willkommen, Asta! Hast du jetzt endlich Ferien?«

Ich nicke und lächele.

»Und wie war das Zeugnis?«

Dass Zeugnisse für Erwachsene immer so wichtig sind! Sie interessieren sich selbst für die Zeugnisse fremder Kinder. Mir würde es im Traum nicht einfallen, nach den Zeugnissen von Frau Müller zu fragen.

»Du hast natürlich wieder dein altes Zimmer, direkt neben deinen Eltern«, sagt sie dann und gibt mir feierlich den Schlüssel. Mama legt den Arm um mich und ich lege meinen Arm um ihre Hüfte und wir gehen hinauf. Die Treppe knarrt zum Umfallen, und als ich aufschließe, ist da gleich dieser Geruch, eine Mischung aus Weichspüler und altem Sofa. Zuerst ziehe ich alle Gardinen vor den Fenstern beiseite, sofort weckt die Sonne tausend Staubpartikelchen aus ihrem Sommerschlaf. Papa stellt den Rucksack in mein Zimmer und Mama will sich gleich daranmachen, ihn auszupacken.

»Oh nee«, rufe ich. »Zuerst muss ich zu Ringo!«

Mama runzelt die Brauen.

Doch Papa grummelt versöhnlich.

»Hau schon ab«, sagt er. »Aber zum Abendbrot bist du da!«

Ich renne die Straße, die wir gerade raufgestapft sind, wieder runter, wieder vorbei an der Eisdiele. Ich weiß nicht, wie oft ich diese Straße in den ganzen Sommern rauf und runter gelaufen bin, jedenfalls muss ich gar nicht mehr nach rechts oder links gucken. Und wo ich Ringo zuerst suchen muss, weiß ich ja. Eine ältere Frau kommt mir entgegen.

»Guten Tag«, sage ich lachend und laufe weiter.

Die Frau bleibt stehen und schaut mir kopfschüttelnd nach.

Ich renne an der Buchhandlung vorbei, doch nun muss ich kurz stehen bleiben: Es hängt schon ein Plakat von uns im Schaufenster!

Der glückliche Prinz

Nach dem Märchen von Oscar Wilde

Eine Produktion von Freie Bühne e.V.

Regie: Gesa Hennemann

Musikalische Leitung: Christian Hennemann

Mit: Lutz Bloch, Lena-Marie Pinkert,

Lavinia Menkemeyer, Marc Reincke

Waldbühne Geschrey an der Wipper

Premiere am 29. Juli

Karten im Vorverkauf erhältlich

Mir wird ganz heiß. In wenigen Tagen ist es so weit! Dann ist Premiere. Mein Name steht nicht mit auf dem Plakat, weil es anfänglich gar nicht geplant war, dass ich mitspiele. Die Idee kam erst später. Die Rolle ist ja eigentlich ganz klein, erst wollte Mama die nämlich streichen! Ich stelle mir vor, wie es ist, wenn irgendwann mal mein Name ganz groß auf so einem Plakat steht.

Ich mache mich vor dem Schaufenster ganz lang und atme tief in den Bauch, so wie es Mama mir gezeigt hat. Die Füße fest in den Boden gestemmt und der Rest ganz lang in die Höhe gestreckt, als ob ich mich auseinanderziehe. Körperspannung. Doch jetzt: weiterrennen! Kleine Schweißperlen laufen mir den Rücken hinunter. Wenn Ringo nicht auf der Streuobstwiese ist, dann gehe ich zu ihm nach Hause.

Doch als ich endlich die Streuobstwiese sehe, werden meine Schritte langsamer. Die ganze Zeit freue ich mich wie verrückt auf Ringo und jetzt, wo ich da bin, fang ich an zu trödeln. Merkwürdig! Das Gras kitzelt an den Beinen, einige Halme sind so borstig, dass sie stechen. Ich bleibe stehen und leck mir über die trockenen Lippen. Wo war die Stelle, an der ich Ringo gesehen habe? Vielleicht ist er längst gegangen? Doch, da hinten bewegt sich doch etwas im Gras. Ringo. Das ist er! Er liegt dort lang ausgestreckt. Typisch Ringo, voll die Ruhe weg! Ich hole drei Mal tief Luft und dann gehe ich zu ihm.

»Hallo Ringo«, sage ich, als ich vor ihm stehe. »Haste schon auf mich gewartet?« Ich grinse. Umständlich richtet Ringo sich auf und ich muss einen Schritt zurücktreten: Ringo ist einen halben Kopf größer als ich. Das ist neu. Im letzten Jahr waren wir gleich groß. Ob es daran liegt, dass er ein kleines bisschen älter ist als ich? Er wird im August dreizehn. Ich erst im Winter.

»Du bist ja total dünn geworden! Und groß!«, platzt es aus mir raus.

Ringo sieht, wie ich ihn von oben bis unten anschaue, und guckt nun auch an sich runter. Wir stehen einfach nur so da. Und dann guckt Ringo ganz komisch an mir rauf und runter, dabei bin ich nicht gewachsen. Ein Zug fährt vorbei. Genauso einer wie der, in dem ich vorhin saß. Wenn die Reisenden jetzt zum Fenster hinausschauen, sehen sie zwei Gestalten am Rand der Streuobstwiese stehen. Wenn sie überhaupt gucken und wenn überhaupt jemand in dem Zug sitzt, weil eben selten jemand nach Geschrey fährt.

»Vor ungefähr zwei Stunden bin ich mit dem Zug an dir vorbeigefahren«, sage ich.

»Echt?«, fragt Ringo.

2

Ringo hat die Hände tief in die Taschen gestopft.

»Bist du also wieder hier«, sagt er.

Ringo braucht immer eine Weile, bis er warm wird, das kenn ich schon. Vor einem Jahr hätte ich ihn jetzt in die Seite gezwickt. Aber irgendwie geht das jetzt nicht. Das ist so ein Gefühl, ich kann es nicht erklären. Weil Ringo jetzt größer ist als ich? Ich kann es nicht leiden, wenn ich nicht weiß, warum sich irgendwas plötzlich anders anfühlt.

»Ja, da bin ich wieder«, sage ich. »Was machst du hier?« Ich gucke auf das platt gedrückte Gras an der Stelle, wo er gerade lag.

»Hab nur so gelegen.« Ringo nickt und geht langsam los und guckt so, als erwartet er, dass ich mitkomme. Irgendwie ist es, als ob jemand eine große Käseglocke über ihn gestülpt hat, und ich renne immer dagegen. Kann mal jemand die Käseglocke wieder von ihm runternehmen?

Wenn Ringo läuft, sieht es anders aus als letzten Sommer, irgendwie lustig. Erst bewegt er seine langen Beine, dann kommt der Rest von ihm hinterher. Wie eine Giraffe.

»Hier geht’s lang«, sagt er über seine Schulter hin zu mir.

»Das weiß ich doch!«, rufe ich nun empört. Also ehrlich! Als ob ich nicht mehr wüsste, wo Ringo wohnt!

Ringo dreht sich zu mir um und jetzt, auf einmal, macht es klick wie bei einem Fotoapparat. Jetzt ist er endlich richtig da, bei mir und nicht mehr unter einer Glocke. Als ob ihm endlich eingefallen ist, dass ich es bin, die gerade angekommen ist.

»Na klar weißt du das.« Und dann grinst Ringo. Endlich!

Jetzt kann ich weiterreden.

»Sag mal, wieso antwortest du mir nicht auf meine Nachrichten?«

»Ach, das Handy. Hab ich nicht mehr.« Wieder verfinstert sich Ringos Gesicht. »Haben meine Eltern eingezogen, auf unbestimmte Zeit.«

»Warum?«

»Dicke Luft bei mir zu Hause, das kann ich dir sagen.«

»Dann ziehst du eben zu mir in die Pension.«

Ringo lacht.

Nebeneinander latschen wir über die Wiese und den angrenzenden Acker. Ich lasse meinen Blick schweifen.

»Hier bei euch gibt’s echt Gegenden, wo einfach nichts ist«, sage ich und jetzt wage ich doch einen kleinen freundschaftlichen Stoß in Ringos Seite.

»Es gibt nicht nichts«, sagt Ringo.

Typisch Ringo, er muss alles auf die Goldwaage legen.

»Doch«, beharre ich. »Stell dir einen Ort vor, der ganz schwarz ist, wo es kein Licht gibt, sodass nichts wachsen und leben kann. Dann gibt es dort nichts.« Triumphierend bleibe ich stehen.

Ringo bleibt auch stehen und überlegt.

»Das ist doch etwas. Das Schwarz ist da. Das ist doch was! Solange man das Nichts beschreiben kann, wie es aussieht, ist es nicht nichts.«

Stimmt. Ringo ist einfach unglaublich.

Wir gehen weiter.

»Es gibt kein Schlumpfblau mehr in der Eisdiele. Aber wenigstens noch Vanille.«

»Besser als nichts«, sagt Ringo. »Das Lavendeleis schmeckt übrigens wie Seife, nimm das bloß nicht.«

Dahinten fängt die Straße an, in der Ringo wohnt. Ein kleines gelbes Haus mit einem Garten drumherum, in dem Blumen in allen Farben blühen. Draußen hängt Ringos Mama gerade Wäsche auf.

»Hallo Frau Bode«, sag ich.

»Ach, hallo Asta«, sagt sie. »Schön, dass du wieder da bist.« Und zu Ringo: »Hast du heute schon gelernt?«

»Ja, heute früh im Bett.«

»Das reicht aber nicht. Das weißt du.«

»Ja, ich mach heute noch mal.«

Die Eltern von Ringo sind ganz anders als meine, vor allem Herr Bode. Er ist selten da, sagt nie viel und guckt immer streng. Frau Bode ist eigentlich nett, aber manchmal auch ein bisschen streng, finde ich. Ringo hat auch viel mehr Aufgaben als ich. Ich muss eigentlich nur mein Zimmer aufräumen, aber auch wenn ich das so gut wie nie mache, meckern Mama und Papa selten.

Dann dringt ein Weinen aus dem Haus und Frau Bode geht hinein. Ringo ist jetzt wieder ein bisschen so wie vorhin auf der Streuobstwiese.

»Wieso sollst du lernen?«, frage ich entgeistert. »Es sind doch Ferien.«

Er kickt mit dem Fuß einen Stein weg.

»Wegen meinem Zeugnis. Es ist das schlechteste, das ich je hatte.«

Eigentlich unvorstellbar, dass Ringo ein schlechtes Zeugnis haben soll, denn er ist doch der klügste Junge, den ich kenne. Er hat in den letzten Monaten mal geschrieben, dass er keine Lust auf Hausaufgabenmachen hat, aber deshalb gleich ein schlechtes Zeugnis? Früher hat Ringo immer alles ganz pünktlich und ordentlich erledigt, deshalb sagt Mama öfter mal: »Wenn du nur halb so ordentlich wie Ringo wärst.«

Hinter ihm erscheint eine kleine Gestalt in der Tür, Lucy, Ringos kleine Schwester. Mann, die ist auch ganz schön gewachsen.

»Hallo Lucy«, sage ich und winke. Sie guckt mich skeptisch an und stopft sich den Daumen in den Mund. »Ringo essen kommen!« Sie presst die Wörter rechts und links neben dem Daumen hervor, stampft mit ihren kleinen Beinchen auf und verschwindet wieder im Haus.

Ein Lieferwagen fährt vor und parkt. Klempnermeister Uwe Bode steht auf dem Auto. Laute Musik dringt heraus, die Beatles, auf die steht Ringos Papa. Deswegen heißt Ringo auch Ringo, früher hatten die Bodes einen großen Hund, der hieß Paul, also englisch ausgesprochen: Pol. Wegen Ringo Starr und Paul McCartney.

Ringos Papa steigt aus, er hat einen breiten Rücken und dicke Oberarme voll mit Muskeln, ganz anders als Papa. Er kneift die Augen zusammen, genau wie Ringo, und kommt auf mich zu.

»Ach, die Astrid!«

»Asta«, sag ich und bin ein bisschen empört. Ich weiß nicht, ob Ringos Papa sich wirklich nicht gemerkt hat, wie ich heiße, oder ob er mich veräppelt. Das weiß ich bei ihm einfach nicht. Jedenfalls lacht er jetzt.

»Macht ihr wieder brotlose Kunst?« Er lacht, klopft mir auf die Schulter. »Nichts für ungut. Aber halt unseren Ringo bloß nicht vom Lernen ab, der muss sich nämlich auf den Hosenboden setzen.«

Dann geht er ins Haus. Seine schweren Schuhe hinterlassen Abdrücke auf dem feinen Kies der Einfahrt. Plötzlich bleibt er stehen und starrt auf die Wiese am Haus.

»Au Backe«, murmelt Ringo. »Jetzt hat er Mamas neues Bienenhotel entdeckt.«

»Na und? Ist doch gut.«

Herr Bode seufzt und verschwindet im Haus. Die Tür knallt zu. Kurze Zeit später dringen laute Stimmen aus dem Haus. Frau und Herr Bode reden laut miteinander, sehr laut.

»Was ist bei euch denn los?«, frage ich.

Ringo winkt ab. »Ach, beachte sie nicht, meine Eltern spinnen.«

»Das hört sich ja alles super an«, sage ich. »Heißt das, du hast überhaupt keine Zeit in diesem Sommer?«

»Lass mal. Krieg ich schon hin.«

Jetzt, jetzt muss ich es ihm sagen. Es kann ja nicht sein, dass ich Ringo die beste Nachricht in diesem Sommer noch nicht erzählt hab!

»Weißt du was?«

»Nee.«

»Es gibt super Neuigkeiten!«

»Sag schon.«

»Ich werde dieses Jahr auf der Bühne stehen! Ich werde mitspielen, Ringo! Was sagste?«

Ringo guckt mich an und sieht aus, als würde er überlegen, ob er lächeln soll.

»Okay. Ist das gut?«

»Machst du Witze! Das ist Wahnsinn, das hab ich mir schon immer gewünscht. Schauspielerin, dann hast du eine Schauspielerin als Freundin.«

Urgs, hab ich grad »Freundin« gesagt? Schnell weitersprechen.

»Also, es ist nur eine kleine Rolle, aber ich hab ein bisschen Text und soll sogar ein Lied singen. Ich muss den aber noch richtig lernen, den Text, der sitzt noch nicht. Vielleicht kannst du mich mal abhören.«

Ringo guckt so, als ob er rein gar nichts kapiert.

»Kannst du so was?«, fragt er ungläubig.

»Na klar, sonst hätten Mama und Papa das doch nicht erlaubt. Wir haben das zu Hause schon ausprobiert und jetzt darf ich.«

»Toll«, sagt Ringo und nickt und wiederholt: »Echt toll. Bin gespannt.«

Mehr nicht? Steht der auf dem Schlauch? Versteht der nicht, was das für mich bedeutet?

Ich will gerade weiterreden, da öffnet sich das Fenster.

»Kommst du jetzt endlich, Ringo!«

Peng, Fenster wieder zu.

»Puh«, entfährt es mir.

»Ich sag ja, dicke Luft bei mir. Aber mach dir nichts draus. Sehen wir uns morgen am See?«

»Na klar«, ruf ich. »Aber erst nach dem Mittag. Morgen früh hab ich meine erste Probe!«

Dann trottet Ringo ins Haus, ohne sich umzudrehen.

Auf dem Nachhauseweg sehe ich keinen einzigen Menschen. Aber aus den offenen Küchenfenstern tönt das Klappern von Geschirr. Hinter einzelnen Häusern steigt eine Grillfahne auf. Ein Mann kniet im Vorgarten und zupft Unkraut aus der Erde. Er summt vor sich hin. Durch ein geöffnetes Fenster kann ich eine Frau in ihrer Küche beobachten, die Gardinen sind beiseitegeschoben. Sie steht da wahrscheinlich an der Spüle und wäscht etwas ab. Dann streicht sie sich mit dem Unterarm Haare aus der Stirn, oder Schweiß, sie stützt sich mit beiden Händen auf der Spüle ab, tritt zurück und streckt den Rücken durch. Bestimmt tut ihr der Rücken weh.

»Du bist ja schon da«, sagt Papa, als ich auf die Terrasse komme. Es gibt Abendbrot. Der große Sonnenschirm ist aufgespannt und die Grillen zirpen mörderisch laut. Da kommt auch schon Frau Müller mit den Getränken. In Geschrey darf ich sogar manchmal Cola zum Abendbrot trinken.

»Setzen Sie sich doch zu uns«, sagt Mama zu Frau Müller.

»Gleich, gleich«, flötet sie. Frau Müller liebt es, mit allen im Garten zu sitzen. Lutz singt ihr manchmal Lieder aus alten Operetten vor und spielt dazu Ukulele. Dann kriegt sie immer einen komischen Gesichtsausdruck und wiegt sich auf ihrem Stuhl hin und her.

Mama redet weiter mit Papa. Sie reden über das Stück. Mamas Regieassistentin ist kurzfristig ausgefallen. Jetzt will sie alles allein machen.

»Das wird noch stressiger, Gesa«, sagt Papa.

Dann versteh ich nichts mehr, denn hinter mir wird es laut. Die anderen kommen auf die Terrasse: Lutz, Lena-Marie und Lavinia. Marc war wohl schon mal da und kommt in ein paar Tagen wieder. Lutz kenne ich am besten, der ist am längsten dabei. Die anderen, die die Technik und das alles machen, kenne ich nicht so gut, weil sie nie so lange vor Ort sind. Die Bühnenbildnerin, mit der Mama zusammenarbeitet, kommt immer mal tageweise vorbei. Bis natürlich auf die Premiere, da sind alle da und Frau Müllers Pension ist rammelvoll.

»Hey, unser neuer Star ist da!« Lutz hebt mich einmal in die Höhe und ich finde das absolut überflüssig. Ich bin doch kein Kleinkind mehr.

»Wir zwei werden ein super Team auf der Bühne abgeben, oder?«

Lutz spielt die Hauptrolle, er ist der glückliche Prinz.

»Zeig mal, hast du geübt? Mach mal ein trauriges Gesicht.«

Ich gucke, so traurig ich kann. Lutz muss lachen.

»Und jetzt mach mal ein verblüfftes Gesicht.«

»Häh?«, frage ich.

»Verblüfft, erstaunt, komm schon, das muss eine Schauspielerin draufhaben. Und du brauchst mehr Stütze in der Stimme, leg mal die Hände aufs Zwerchfell und atme dort hinein.«

»Och Lutz«, sage ich genervt und bin ganz froh, dass wir nun von Lena-Marie und Lavinia gestört werden, Lena-Marie