Gertrude grenzenlos - Judith Burger - E-Book

Gertrude grenzenlos E-Book

Judith Burger

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Beschreibung

Wer heißt denn schon Gertrude?! Gertrude ist neu in Inas Klasse und sie ist anders als alle Mädchen, die Ina kennt: Sie trägt Westklamotten, ihr Lächeln haut einen um und niemand hat so klare blaue Augen. Aber Gertrude ist auch deshalb anders, weil ihr Vater Dichter ist und die Familie einen Ausreiseantrag gestellt hat. Damit sind sie in den späten 70er-Jahren in der DDR Staatsfeinde. Nicht nur die Schule ist gegen ihre Freundschaft, auch Inas Mutter macht sich große Sorgen. Alles gerät aus den Fugen. Was soll man machen, wenn man die Freundin fürs Leben gefunden hat, aber alles so kompliziert ist? Ina und Gertrude schmieden einen Plan: Kommando Rose, um ihre Freundschaft gegen alle Widerstände leben zu können. Eine Geschichte über eine große Freundschaft – einfühlsam, direkt und mitreißend erzählt.

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GERTRUDEgrenzenlos

Judith Burger

GERTRUDEgrenzenlos

Mit Bildernvon Ulrike Möltgen

Für meine Freundinnen

INHALT

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

NACHWORT

GLOSSAR

1

Ich renne. Ich bin zu spät. Hab bestimmt schon ganz rote Wangen, so heiß, wie die sich anfühlen. Noch einmal um die Ecke, da ist das Schulhaus. Das Tor steht offen. Ich bin zum Glück nicht die Letzte, es gibt noch ein paar andere Auf-den-letzten-Drücker-Kommende. Schnell die Treppen hoch. Eilig nehme ich zwei Stufen auf einmal. Meine Hände habe ich unter die Ranzenriemen geklemmt, vorn, kurz unter der Schulter. Plötzlich verschätze ich mich mit dem Abstand einer Stufe. Oder ist diese Stufe höher als die anderen? Ich rutsche mit dem Fuß ab, stolpere und bekomme meine Hände nicht so schnell aus den Riemen heraus. Schon passiert. Aua. Das gibt nicht nur blaue Flecken am Schienbein, sondern auch an den Unterarmen. Hinter mir lachen alle. Kümmert euch um euer eigenes Zuspätkommen! Ich rappele mich wieder hoch und renne weiter.

»Guten Morgen«, rufe ich hastig. Frau Wendler sitzt schon vorn an ihrem Schreibtisch und guckt sauertöpfisch. Wie immer. Schnell packe ich aus, setze mich neben Kathrin. Kathrin hat ihre Sachen natürlich schon längst superordentlich auf ihren Platz gelegt, auf Kante. Als ich eilig meine Federtasche aus dem Ranzen ziehe und sie mit Schwung auf den Tisch lege, fliegt der ganze Inhalt durchs Klassenzimmer. Ich hatte vergessen, die Federtasche aufzuräumen und zu schließen. Auch das noch. Frau Wendler guckt schon.

»Immer kommst du auf den letzten Drücker!«

Kathrins Stimme klingt schneidend. Wie es aussieht, hat Kathrin genauso schlechte Laune wie Frau Wendler. Dabei sind die beiden nicht auf der Treppe hingefallen.

»Und du mal wieder zu früh«, sage ich und bereue es gleich. Ist ja nicht Kathrins Schuld, wenn ich zu spät komme.

»Das ist jetzt schon das achtzehnte Mal in diesem Schul…«

»Du zählst, wie oft ich zu spät komme?«

»Als Gruppenratsvorsitzende ist es meine Pfli…«

»Ich bin im Treppenhaus hingefallen, schau mal.« Ich reibe mir die schmerzenden Unterarme. Aber Kathrin guckt jetzt demonstrativ zur Seite. Ach so. Ich bin ihr wieder ins Wort gefallen, das kann sie nicht leiden. »Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst andere Leute ausreden lassen«, sagt Mutti immer. Mit so hochgezogenen Augenbrauen, dass sie aussehen wie zwei Sicheln.

Gerade will ich eine Entschuldigung murmeln, da klingelt es zur Stunde. Wie immer begrüßen wir uns mit dem Pioniergruß. Frau Wendler sagt: »Seid bereit!« – und wir antworten: »Immer bereit!« Dabei legen wir die flache Hand hochkant auf den Kopf. Dann beginnt Frau Wendler mit dem Unterricht.

Ich neige meinen Kopf rüber zu Kathrin und flüstere:

»Tut mir leid. Ich hab wieder reingequatscht, ich weiß. Ich gelobe Besserung.« Ich grinse, aber Kathrin grinst nicht zurück. Sie ist eine echte Streberin, ihre Mutter ist Staatsbürgerkundelehrerin an unserer Schule.

»Bin ich wirklich schon achtzehn Mal zu spät gekommen?«

Ich frage lieber noch mal nach. Kathrin sagt nichts.

»Aber du musst zugeben«, fahre ich fort, »ich sitze zumindest immer auf meinem Platz, wenn es zur Stunde klingelt. Ist also eigentlich kein richtiges Zuspätkommen. Also bin ich achtzehnmal Mal beinahe zu spät gekommen.«

Kathrin guckt weiterhin demonstrativ zur Seite und antwortet nicht, obwohl ich mich inzwischen weit zu ihr rübergelehnt habe. Na, dann eben nicht. Dumme Kuh. Ich setz mich wieder gerade hin und schau nach vorn – direkt auf Frau Wendlers Bauch. Denn sie steht genau vor meinem Platz. Wie lange schon? Sicher hat sie alles gehört. Heute geht aber auch alles schief. Ich murmele eine Entschuldigung, aber Frau Wendler bleibt stehen und fixiert mich.

»Ina Damaschke! Offensichtlich bist du mal wieder der Meinung, dass für dich andere Regeln gelten?«

»Äh, nein. Denk ich nicht«, sage ich. Und das stimmt auch.

»Wenn du deine Mitschüler mutwillig davon abhältst, dem Unterricht zu folgen, dann muss ich dich entfernen.«

Mutwillig! Frau Wendler benutzt immer solche komischen Wörter. Und jetzt will sie mich auch noch entfernen.

»Nimm deine Sachen und setz dich in die leere Bank dort hinten. Da kannst du darüber nachdenken, was du falsch gemacht hast.«

Stumm packe ich meine Federtasche wieder in den Ranzen. Meine Wangen fangen wieder an zu brennen wie vorhin beim Rennen. Bestimmt bin ich knallrot. Aber hier hinten sieht das keiner. Nur Matze schaut sich zu mir um und zeigt mir ’ne lange Nase. Normalerweise hätte ich ihm auch eine Fratze geschnitten, aber jetzt bin ich lieber vorsichtig. Immerhin bin ich nun die Einzige in der Klasse, die allein sitzen muss. Was für ein blöder Tag! Der kann ja nur noch besser werden.

Frau Wendler macht weiter mit ihrem Deutsch-Unterricht. Das mach ich eigentlich gern. Aber jetzt hab ich Mühe, mich zu konzentrieren. Da klopft es an der Tür. Sie öffnet sich, der Direx steht da. Er wechselt einen bedeutsamen Blick mit Frau Wendler und schiebt wortlos ein fremdes Mädchen herein. Der Direx geht zu Frau Wendler und raunt ihr etwas ins Ohr. Dann verschwindet er wieder, die Klasse würdigt er mit keinem Blick.

Einen Moment lang steht das Mädchen ganz allein da vorn, mit gesenktem Kopf. Schließlich geht Frau Wendler zu ihr, aber nicht etwa, um sie zu begrüßen. Sie geht hin, schießt einen Blick einmal rund um das Mädchen, hoch und runter. Jeder kann sehen, dass sie Westklamotten anhat. Vielleicht guckt Frau Wendler deshalb noch strenger als sonst?

Dann wendet sich Frau Wendler an die Klasse:

»Das ist eure neue Mitschülerin: Gertrude Leberecht.«

GERTRUDE!!! Soll das ein Witz sein? Wieso heißt ein Mädchen in meinem Alter Gertrude? Wollten ihre Eltern sie damit bestrafen? In der Klasse gackern gleich alle los. Frau Wendler schielt nur einmal über ihre Brille und schon sind alle mucksmäuschenstill. Sie sagt zu Gertrude: »Du setzt dich am besten …« Frau Wendler schaut sich um: »… neben Ina.«

Ach, das ist ja interessant, diese Gertrude darf also neben mir sitzen. Es scheint, als wäre es in Ordnung, diese Gertrude vom Unterricht abzulenken.

Gertrude setzt sich neben mich, aber schaut mich nicht an. Und ich krieg erst einmal ’nen Schock. Diese Gertrude hat nicht nur Westklamotten an, die riecht auch noch so. Nach Westwaschmittel. Ich schnüffele den betörenden Duft ein.

Ich war einmal mit Mutti im Intershop, da hat es so ähnlich gerochen. Verheißungsvoll. Mutti hat sich ganz komisch benommen. Ich weiß nicht, wo sie das Westgeld herhatte damals, wir haben nämlich keine Westverwandtschaft. Aber einmal waren wir also in diesem Laden: Intershop. Der war versteckt in einem alten Gebäude, man musste über den Hof in ein Hintergebäude rein und dann die Treppen hoch. Der Laden an sich war klitzeklein, aber mir sind trotzdem fast die Augen übergegangen bei dem Anblick: So viel Bunt hatte ich noch nie gesehen. Und wie das geduftet hat da drin! Ich hab mich gleich gar nicht mehr wie ich gefühlt. Dann war Mutti dran und hat die ganze Zeit geflüstert, als ob wir was Verbotenes täten. Ich habe an diesem Tag die tollsten Sachen bekommen: einen Tintenkiller, eine Stange Maoam und Aufkleber. Ich war so glücklich! Und gleich darauf unglücklich. Denn Mutti hatte mir verboten, die Sachen mit in die Schule zu nehmen, weil sie niemand sehen sollte. Wozu sind die dann gut, wenn ich die Freude mit niemandem teilen kann? Aber dabei blieb es.

Und nach diesem Intershop-Laden duftet nun meine neue Banknachbarin. Ich schiele zu ihr rüber. Gertrude, denke ich. Wieso heißt die Gertrude? Sieht sie aus wie eine Gertrude? Wie sieht denn eine Gertrude aus? Ich würde sagen, eine Gertrude trägt einen Dutt. Oder nein, sie hat eine Perücke auf. Eine pechschwarz gefärbte Perücke mit Wellen drin. Tief in die Stirn gezogen. Und eine Kittelschürze und braune, unförmige Schuhe. So sieht eine Gertrude aus. Aber die Gertrude neben mir, die sieht ganz anders aus. Sie hat todschicke Jeans an und eines von diesen bunten Sweatshirts. Und schicke weiße Turnschuhe. Solche Klamotten hat nur jemand mit Westverwandtschaft. Solche Sachen gibt es nicht in unseren Läden zu kaufen. Ich wette, dass sich alle Jungs auf der Stelle in diese Gertrude verlieben.

Vorn beginnt Frau Wendler mit der Deutschstunde, wir behandeln ein stinklangweiliges Gedicht. Es geht darin um den Sozialismus und die DDR. Es geht darum, dass die Menschen in der DDR es gut haben, weil wir kein imperialistisches Land, sondern ein friedliebendes Land sind, dass es hier keinen Kapitalismus gibt und niemand ausgebeutet wird. Eigenlob stinkt, hat Oma immer gesagt. Aber das kann ich natürlich nicht sagen. Ich weiß schon, wie das funktioniert. Man muss alles, was wir lernen, gut finden und wiederholen und dann bekommt man eine gute Zensur. So einfach ist das.

Gertrude sitzt derweil neben mir, als säße sie schon immer da. Ich beobachte sie entgeistert. Schließlich schickt sie mir einen Seitenblick. Ich schau sie an. Ich lächle, ich kann nicht anders, denn diese Gertrude sieht aus, als wäre sie nicht ganz blöd. Gertrude lächelt zurück. Aber mehr auch nicht.

Da brüllt Frau Wendler sofort: »Gertrude Leberecht! Hier vorn spielt die Musik! Du weißt wohl schon alles über unser Gedicht?«

Gertrude schüttelt langsam den Kopf. Aber sie schaut Frau Wendler dabei so fest an, dass die sich plötzlich abwendet und weiter über ihr Gedicht redet. Irgendwie auch unheimlich, diese Gertrude.

Den ganzen Tag bleibt diese Gertrude still. In der Stunde schaut sie nach vorn. In den Pausen bleibt sie sitzen und schaut auf die Bank. In der Hofpause bleibt sie allein in der Nähe des Schultors stehen. Kaum klingelt es zum Ende der Pause, ist sie verschwunden. Als ich hoch ins Klassenzimmer komme, sitzt sie schon wieder in der Bank, als wäre sie nie fort gewesen. Als ich sie frage, ob sie mit mir die Schulbrote tauschen will, schüttelt sie entsetzt den Kopf. Ja, sie ist entsetzt, das kann ich in ihrem Gesicht sehen. Dabei tauschen wir oft in der Klasse die Schulbrote. Sie scheint das nicht so gern zu machen.

Als ich auf dem Heimweg bin, geht Gertrude genau vor mir. Ich finde, es reicht jetzt mit dem Schweigen. Ich schiebe ein paar Hüpfer zwischen meine Schritte, sodass ich meine neue Banknachbarin bald eingeholt hab.

»Na?«, sag ich.

Gertrude lächelt.

»Wie gefällt dir deine neue Schule?«

Gertrude zuckt mit den Schultern und lächelt.

»Nun musst du auch noch neben mir sitzen.«

Gertrudes Lächeln ist verschwunden.

»Na, so schlimm wirst du schon nicht sein.« Es ist das Erste, was Gertrude heute sagt.

Und leider weiß ich keine Antwort darauf. Ich glaube, ich gucke nicht gerade intelligent. Ich weiß nichts über diese Gertrude. Aber ich wär gern auch so geheimnisvoll.

Wir gehen schweigend weiter. Ich starre auf den Fußboden und suche krampfhaft nach einer Strategie, Gertrude davon zu überzeugen, mir etwas von sich zu erzählen. Ich verfolge unsere Schritte auf dem Kopfsteinpflaster.

»Schicke Schuhe«, sage ich und deute auf ihre Turnschuhe.

Gertrude lächelt.

Oh Mann! Immer dieses Lächeln. Das könnte ich nie. Einfach nur lächeln, wenn mich jemand was fragt. Gertrude lässt sich nicht gern auf Gespräche ein. Wieder presche ich vor:

»Ich frage mich, wieso du so einen merkwürdigen Vornamen hast?«

Peng! Jetzt bleibt sie stehen und schaut mich erstaunt an.

»Du findest meinen Namen komisch?«

»Äh … ja. Heute heißt doch kein Mensch mehr Gertrude. Heute heißt man Kathrin, Katja, Simone, Torsten, Marco, Andrea … äh … na, du weißt schon.«

Gertrude geht immer noch nicht weiter. Und ich auch nicht. Sie legt den Kopf schief und schaut mich an. Ich muss sie die ganze Zeit anstarren.

»Ich heiße wie eine berühmte Dichterin. Gertrude Stein. Also eigentlich Görtrud Ssstein. Sie hat in Amerika gewohnt.«

Zack! Der erste Preis fürs Blödgucken geht an mich.

»Wer?«

»Gertrude Stein. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose … Kennst du das nicht?«

Hab ich noch nie im Leben gehört. Und Rosen, die Rosen sind, die Rosen sind … Ehrlich gesagt, habe ich noch nie so über Blumen nachgedacht. Ich bin völlig ratlos. Verflixt, ich will diese Gertrude kennenlernen, aber dieses Mädchen fegt mich mit wenigen Sätzen völlig beiseite.

»Ich muss jetzt hier abbiegen. Wir sehen uns ja morgen.« Und dann verschwindet sie lächelnd. Gertrude. Ist Gertrude ist Gertrude ist Gertrude. Ratlos trotte ich nach Hause.

Zu Hause liegt ein Zettel von Mutti. »Mach dir’s gemütlich, aber vergiss den Pioniernachmittag nicht. Kuss Mutti«

Am Mittwoch haben wir oft Pioniernachmittag. Ich habe selten Lust dazu, aber heute kann ich es kaum abwarten, zum Pioniernachmittag zu gehen, denn sicher wird Gertrude dort sein.

Mama hat mir ein paar Zwiebäcke hingelegt. Sie weiß, dass ich die gern esse, wenn ich Butter draufschmiere. Nach einer Weile werden die Zwiebäcke unter der Butter weich und bekommen so ein Aroma … hmm … Ich mag Zwiebäcke. Vielleicht, weil sie zweimal gebacken sind, wie der Name schon sagt. Wer nach einmal Backen noch nicht fertig ist, kommt noch mal in den Ofen.

Ich hole Leo und Lieschen, meine Meerschweine, aus dem Käfig, lasse sie in meinem Bett herumlaufen und esse meine Zwiebäcke. Natürlich wollen sie etwas abhaben, Leo und Lieschen essen einfach alles. Schrab, schrab, schrab, so klingt es immer aus ihrem Käfig. Allerdings muss ich aufpassen, dass die Schweine und ich keine Krümel hinterlassen. Mutti hasst Krümel und Staub und Schmutz. Deshalb gibt es bei uns zu Hause einen Schmutzvermeidungs-Plan. Und ich muss natürlich mit ran: regelmäßig wischen, Staub wedeln und so weiter. Macht keinen Spaß, muss aber sein. Aber erst mal starre ich in die Luft. Das mache ich oft. Ich bin meistens am Nachmittag allein. Mutti arbeitet als Chefsekretärin in einem Betrieb und ihr Chef »lässt ihr keine Luft«, wie sie immer sagt. Einen Vati gibt’s bei uns nicht.

Ich gehe ins Wohnzimmer. Es ist immer aufgeräumt. Immer. Mutti will das so. Ich stehe vor Muttis Bücherregal und lese die Buchrücken. Es gibt einige weibliche Namen auf den Buchrücken: Sarah Kirsch, Brigitte Reimann, Eva Strittmatter. Ich kenne keine Einzige. Hatten wir in der Schule noch nicht. Aber eine Gertrude Stein ist nicht dabei.

Als ich meinen leeren Zwiebackteller in die Küche räume, sehe ich Muttis Einkaufszettel. Neben Staubwischen zählen Abwaschen und Einkaufen zu meinen festen Aufgaben. Das muss ich vor dem Pioniernachmittag noch erledigen. Zum Glück brauchen Mama und ich nicht so viel Geschirr, zumindest in der Woche. Der Abwasch ist schnell gemacht. Beim Staubwischen mache ich zugegeben ein bisschen husch, husch. Dann schnappe ich mir das Einkaufsnetz und renne zum Konsum an der Ecke. Brot, Limonade, Butter, Quark. Ich stelle mich an der Kasse an. Nebenan packen die Frauen, und es sind im Moment tatsächlich nur Frauen im Laden, ihre eingekauften Sachen ein.

Eine alte Frau guckt ein wenig ängstlich. Frau Speckmantel, die im Konsum an der Kasse sitzt, beäugt sie misstrauisch. Frau Speckmantel wohnt auch bei uns im Haus und ist eine doofe Kuh.

Artig grüße ich sie: »Guten Tag, Frau Speckmantel.«

»Wen haben wir denn da? Die Ina. Und bekommst du auch immer gute Zensuren?«

»Ja, Frau Speckmantel.« Und ich frage mich, was es sie angeht, was ich für Zensuren kriege?

»Immer schön lernen, das ist eines jeden Pionier seine Pflicht.«

Beinahe hätte ich sie berichtigt: »Es ist die Pflicht eines jeden Pioniers« klingt mir doch besser, aber ich weiß, dass ich das lieber sein lasse. Innerlich verdrehe ich genervt die Augen, äußerlich grinse ich Frau Speckmantel an. Mutti kann sie auch nicht leiden, sie sagt, die Speckmantel hat ihre Augen und Ohren überall. Schnell bezahle ich und fliehe aus dem Konsum.

Zu Hause stell ich mich vor den Spiegel. Ich will heute ein bisschen schicker aussehen, denn beim Pioniernachmittag sehe ich diese Gertrude wieder. So tolle Turnschuhe wie sie hab ich natürlich nicht, ich besitze nur die Essengeldturnschuhe aus blauem Stoff, die jedes Kind in der DDR besitzt. Ich muss also meine Sandalen anbehalten. Aber dafür ziehe ich heute einen Lederrock an, der vorn mit Druckknöpfen zu schließen ist. Das ist was Besonderes. Ich hab nämlich nicht oft Röcke an, weil ich selten das Rockgefühl habe. Aber heute, heute hab ich das Rockgefühl.

Ich stehe eine halbe Stunde vor dem Spiegel und binde meine Haare zu einem Zopf, mache sie wieder auf, wieder zusammen. Am Ende lass ich den Pferdeschwanz, man muss ja nicht übertreiben.

Ich bin eine der Ersten beim Pioniernachmittag, was mir die Aufgabe einbringt, alle Stühle in einen Halbkreis zu schieben. Heute leitet Frau Wendler den Pioniernachmittag, und wie es scheint, hat auch sie heute das Rockgefühl gehabt. Allerdings hat sie sich für einen ausgesprochen hässlichen Rock entschieden. Nach und nach trudeln alle ein und setzen sich in den Halbkreis. Aber wo bleibt Gertrude? Keine Gertrude weit und breit, als Frau Wendler den Pioniernachmittag eröffnet. Und es scheint sie überhaupt nicht zu stören. Wenn sonst jemand unentschuldigt fehlt, wird er gleich eingetragen. Dass Gertrude nicht da ist, scheint dagegen niemandem aufzufallen. Das ist so merkwürdig, dass ich beschließe, lieber nicht nachzufragen. Ist nur so ein Gefühl.

Der Pioniernachmittag ist genauso langweilig wie immer. Wir reden über den nächsten Bastelnachmittag, es wird verglichen, wer das meiste Altpapier in die Schule geschleppt hat. Die fleißigsten Sammler werden dann beim Schulfahnenappell ausgezeichnet und kommen an die Straße der Besten. Dann planen wir unsere Klassenfahrt. Es soll nach Weimar gehen. Meinetwegen, mir ist heute alles egal. Ich habe andere Sorgen. Wieso kommt Gertrude nicht zum Pioniernachmittag? Ich beuge mich leicht zu Kathrin rüber und raune ihr zu: »Du, die Neue ist gar nicht da.«

Kathrin zuckt mit den Achseln und zieht ein Gesicht, als hätte ich sie darauf hingewiesen, dass in dem Moment, wo wir hier sitzen, draußen die Blumen weiter wachsen. Denn da wir das eh nicht beeinflussen können, ist es auch egal. Aber ich bin hartnäckig.

»Interessiert es dich überhaupt nicht, wo sie steckt?«, frage ich nun und beuge mich noch ein bisschen weiter vor. Aber Kathrin schaut stur nach vorn. Oh Mann, was ist die heute zickig. Ich beuge mich noch ein Stückchen weiter und stupse sie in die Seite. Nichts passiert, dann schaue ich nach vorn … na klar! Frau Wendler beobachtet mich schon die ganze Zeit. Ich setze mich kerzengerade hin und murmele eine Entschuldigung. Frau Wendler verschränkt schnippisch die Arme vor der Brust.

»So, Ina, offensichtlich hast du nicht begriffen, wofür wir uns hier versammeln? Meinst du nicht, dass es einen Grund dafür gibt?«

»Ja«, sage ich.

»Es würde dir nicht schaden, dich ein bisschen mehr ins Kollektiv einzubringen.«

Autsch, jetzt kommt das ganz große Besteck. Da hilft nur Vorpreschen und ich platze heraus:

»Ich war gerade dabei, mir etwas zu überlegen, Frau Wendler.«

Frau Wendlers Augen werden sehr schmal.

»Überlegen kannst du zu Hause. Hier kommt es auf Taten an.«

Autsch!

»Als Pionier bist du ein Vorbild, also benimm dich auch so!«

Ich sinke tiefer in meinen Stuhl und erkläre diesen Tag heute endgültig für gescheitert. Kathrin schaut triumphierend herüber. Der Rest des Pioniernachmittags ist noch langweiliger. Melanie, die Wandzeitungsredakteurin im Gruppenrat unserer Klasse, enthüllt die neu gestaltete Wandzeitung. Es geht schon wieder um Ernst Thälmann. Dabei hatten wir erst im April eine Wandzeitung mit Ernst Thälmann, denn er hat am 16. April Geburtstag. Also, hätte Geburtstag gehabt, denn die Nationalsozialisten haben ihn 1944 ermordet. Er ist einer unserer Helden, ich kann seinen Lebenslauf im Schlaf hersagen.

Endlich ist der Pioniernachmittag vorbei. Endlich! Ich bin völlig bedient und packe meinen Block in die Tasche. Draußen laufe ich zu Kathrin. Ich ziehe sie am Ärmel, damit sie stehen bleibt.

»Weißt du, warum die Neue nicht zum Pioniernachmitttag gekommen ist? Diese Gertrude. Das ist ein komischer Name, was?«

»Hör mal, lass mich mit der Neuen zufrieden.« Kathrin schüttelt meine Hand ab. »Das sind doch die Leberechts. Ihr Vater, das ist dieser komische Dichter. Mutti sagt, der hat in seinen Gedichten unsere Republik schlechtgemacht.«

Ich muss wohl ziemlich blöd gucken, denn Kathrin verleiert die Augen und sagt schließlich:

»Du kapierst auch gar nichts. Ich will mit denen nichts zu tun haben. Mutti sagt, es ist besser, wenn ich mich mit der nicht abgebe. Außerdem sind die in der Kirche. Die hat doch ihre Kirchenfreunde.«

Ich schleiche nach Hause. Gertrude ist also eine von der Kirche. Und ihr Vater schreibt Gedichte. Na, das hätte mal einer ahnen sollen. Ich kenne niemanden, der in die Kirche geht. Leute, die an Gott glauben. Thälmannpioniere gehen nämlich nicht in die Kirche. Und deswegen ist Gertrude sicher auch kein Pionier und kommt nicht zum Pioniernachmittag.

»Was ziehst du denn für ein Gesicht?«

Mutti nimmt mein Gesicht in beide Hände und zwingt mich, sie anzusehen. Ich war völlig in Gedanken und habe meine Bratschnitte auf dem Teller vergessen. Dabei liebe ich Bratschnitten, in der Pfanne in Butter angeröstet, mmh! Schnell beiß ich hinein und beginne sofort zu reden. Mama sieht mich belustigt an und schüttelt den Kopf. Ach so, ich soll nicht mit vollem Mund reden. So was vergesse ich immer. Schnell runterschlucken, jetzt ist mein Mund leer.

»Mutti, stell dir vor, du würdest in die sechste Klasse gehen und eines Tages kommt ein neues Mädchen in die Klasse. Sie ist ein bisschen anders als die anderen, sie hat einen komischen Vornamen, zieht sich anders an und ist wahrscheinlich sehr schüchtern. Sie bleibt lieber allein und sagt nicht viel. Was würdest du tun?«

Mutti lächelt mich an und streicht mir übers Haar. Das macht sie oft.

»Aber Ina«, sagt sie. »Natürlich musst du dich um das neue Mädchen kümmern! Versetz dich doch nur in ihre Lage, wenn sie neu ist und keinen kennt. Das ist eure Pflicht als Klasse, sie bei euch aufzunehmen.«

Ich schweige. Es klingt logisch, was sie sagt.

»Ihr Vater schreibt Gedichte, die unsere Republik schlechtmachen, sagt Kathrin. Und sie ist in der Kirche.«

Da verändert sich das Gesicht von Mutti. »Ach so. Das ist natürlich etwas anderes.«

»Warum ist das anders, Mutti?«

»Ach, Ina, das weißt du doch.«

»Sie ist nett, weißt du.«

»Sicher, Liebes, auch Leute von der Kirche können nett sein. Aber es ist eben so, dass jeder in seiner Welt lebt, verstehst du? Dieses Mädchen lebt in ihrer Welt und wir beide, wir leben in unserer Welt.«

Mutti ist Chefsekretärin im VEB Fortschritt, und so ein sozialistischer Betrieb ist natürlich eine andere Welt als die Kirche. Mutti ist eine »vorbildliche Bürgerin«, das hab ich mal von Frau Speckmantel gehört. Sie hat es im Konsum zu einer anderen Kundin gesagt. Ich war schon draußen, hab es aber noch gehört. Ich hatte vergessen, Frau Speckmantel laut und deutlich zu grüßen, und da hörte ich beim Rausgehen, wie eine Kundin sagte: »So ein unhöfliches Mädchen.« Und Frau Speckmantel erwiderte: »Dabei ist ihre Mutter eine vorbildliche Bürgerin.« Das hab ich mir gemerkt, weil es so bescheuert klingt.

»Sie heißt Gertrude«, erkläre ich Mutti.

»Was?« Mutti stutzt. »Wer?«

»Na, das neue Mädchen.«

»Gertrude? Wer heißt denn heutzutage Gertrude?«

Ich lache. »Hab ich mich auch gefragt. Aber sie sagt, sie hat den Namen bekommen, weil eine berühmte Dichterin so heißt. Gertrude Stein.«

»Noch nie gehört«, sagt Mutti. »Und wie weiter?«

»Leberecht. Gertrude Leberecht.«

Mutti überlegt. Plötzlich werden ihre Augen heller. »Der Leberecht!«, ruft sie aus. »Der hatte doch mal diese hübschen Gedichte über unsere kleine Stadt in der Zeitung …« Sie überlegt wieder. »Ach so … und jetzt macht der … Also, Ina … na ja, sie ist ja nicht deine beste Freundin. Also, ich meine, du musst dich ja nicht in deiner Freizeit mit ihr treffen.«

Ich will gerade was sagen, da steht sie auf und dreht das Radio lauter. Das heißt für mich, das Gespräch ist beendet. Eine merkwürdige Luft bleibt stehen. Natürlich kann Luft nie stehen bleiben, weil sie immer in Bewegung ist. Aber jetzt, hier in unserer Küche, hab ich das Gefühl, als stünde die Luft im Raum.

Ich packe meinen Ranzen, füttere Leo und Lieschen und wasche mich. Als ich Mutti Gute Nacht sagen will, gehe ich ins Wohnzimmer. Ich höre, dass sie in der Küche telefoniert und dass der Name »Leberecht« fällt.

Als ich am nächsten Morgen das Klassenzimmer betrete, ist Gertrude schon da. Der Rest der Klasse ist laut, alle reden durcheinander, Mark rennt hinter Matze her, Matze hat ihm was geklaut, was er nicht wiedergeben will. Melanie erzählt allen, was sie gestern im Fernsehen gesehen hat. Alles wie immer. Nur eins ist anders. Gertrude sitzt kerzengerade in unserer gemeinsamen Bank und starrt auf ihre Federtasche. Irgendwie sieht sie aus, als gehöre sie nicht hierher. Das morgendliche Rumoren der Klasse hält Abstand zu Gertrude. Kathrin würdige ich ganz betont keines Blickes und setze mich. Übertrieben laut und deutlich sage ich: »Guten Morgen, Gertrude.«

Gertrude blickt langsam auf, dreht sich zu mir und schaut mich prüfend mit zur Seite gelegtem Kopf an. Sie überlegt, runzelt die Stirn, dann lächelt sie plötzlich und erwidert: »Guten Morgen, Ina.«

Die erste Stunde haben wir wieder Deutsch bei Frau Wendler. Alles, was ich in dieser Stunde mitbekomme, ist Gertrudes Handschrift. Sie schreibt, als ob sie malen würde! Gertrude scheint nichts davon zu merken, dass ich nun auch noch ihre Handschrift bewundere. Und sie schreibt natürlich mit einem Westfüller.

Es klingelt zur großen Pause. Ich sehe, wie Gertrude zusammenzuckt. Das macht sie oft, sich ein bisschen erschrecken, sie zuckt dann immer so zusammen, nur ganz sachte. Als ob ihr alles zu laut wäre. Und die Schulklingel ist laut. Wenn ich die Klingel für Gertrude leiser stellen könnte … Plötzlich wendet sich Gertrude zu mir. Erst lächelt sie, das hätte ich auch nicht anders erwartet, aber dann sagt sie etwas.

»Könntest du mir das Schulgebäude zeigen?«

»Klar«, sage ich und verschlucke mich dabei und muss husten.

»Ich weiß überhaupt nicht, wo der Speiseraum ist, die Sporthalle, die Toiletten … Weißt du?«

Ich nicke heftig. Und im nächsten Moment schreiten wir den langen Schulkorridor entlang. Ich bin ein bisschen gewachsen, gerade. So ist das. Ich zeige Gertrude alles. Das Chemiekabinett, das Lehrerzimmer, die Milchausgabe. Der zweite Teil der großen Pause spielt sich eigentlich im Hof ab. Ganz weit weg von mir habe ich auch den Lärm gehört, als alle Schüler auf den Schulhof geströmt sind. Nur wir beide nicht.

»Wenn du aufs Klo musst«, sage ich und Gertrude lächelt, »dann nimm nicht das im Erdgeschoss, sondern in der ersten Etage. Das stinkt nicht so doll.«

Ich führe Gertrude in die Schultoilette. Die Wände sind bekritzelt. Vom Fenster aus können wir den ganzen Schulhof, den Sportplatz mit der Aschenbahn und die Weitsprunggrube sehen. An der Seite der Sporthalle stehen die Schüler aus der Zehnten. Da traut sich keiner hin.

Gertrude und ich lächeln uns an. Plötzlich geht die Tür hinter uns auf und Frau Wendler steht im Raum.

»Darf ich fragen, was ihr in der Hofpause im Gebäude macht? Ich glaube nicht, dass ihr dafür eine Erlaubnis habt.«

Sie schaut böse aus.

Jetzt liegt es an mir, ich muss die Situation retten.

»Ich zeige Gertrude die Schule, wo alles ist, damit sie sich zurechtfindet und sich gut ins Kollektiv einfügen kann.« Ich weiß, was Frau Wendler hören will, und gegen diese Erklärung kann sie nichts sagen. Sie nickt stumm.

»Das ist eine Ausnahme, damit das klar ist.«

Gertrude und ich nicken eifrig.

Den Rest des Tages lächelt mich Gertrude noch häufiger an. Und ich lächle jedes Mal zurück. In Geschichte darf ich mit ihrem Füller schreiben. Im Schulspeisesaal sitzen wir an einem Tisch, und als Gertrude viel eher fertig ist als ich, bleibt sie sitzen. Sie wartet auf mich, damit wir zusammen die Schule verlassen können. Ist das jetzt Eine-Freundin-Haben?

»Wo wohnst du denn?«, fragt mich Gertrude auf der Straße.

»Im Fritz-Heckert-Neubaugebiet. Das ist nur zehn Minuten entfernt. Und du? Kannst ja mitkommen, ich zeig dir meine Meerschweinchen.«

»Geht heute nicht, Ina. Ich hab nachher Chorprobe. Ich wohne am Domplatz, im Zentrum.«

»Du singst im Chor?«

»Ja, bei den Domspatzen.«

»Ach so, im Dom«, antworte ich. Ist ja klar, wenn sie in der Kirche ist.

Jetzt sind wir schon an der Stelle angelangt, wo ich eigentlich eine andere Richtung einschlagen muss. Aber so kann der Beginn unserer Freundschaft doch nicht enden!

»Weißt du was, ich begleite dich noch ein Stückchen.«

Gertrude lächelt.

»Eure Schule gefällt mir ganz gut«, sagt Gertrude und lächelt traurig.

»Nur ganz gut? Also doch nicht richtig?«

Gertrude schaut mich an, direkt in die Augen: »Seit ich dich kenne, wird es immer besser.«

Und jetzt lächle ich.

Gertrude ist noch aus einem anderen Grund stehen geblieben: Wir haben den Domplatz erreicht. Sie ist zu Hause. Jetzt muss ich allein zurück. Aber da sagt Gertrude:

»Weißt du was, jetzt begleite ich dich noch mal ein Stück zurück.«

Ich kichere und wir drehen um. Gertrude henkelt sich ein.

»Und wenn wir da vorn an der Straßenlaterne ankommen, geh ich wieder ein Stück mit dir in deine Richtung!«

Gertrude lacht.

»Aber wir können uns nicht gegenseitig hin und zurück begleiten, dann kommt nie eine von uns an.«

»Aber wir sind immer zusammen.«

Wir lächeln beide. Ich kann mir nicht vorstellen, mit einem anderen Mädchen aus meiner Klasse so eine merkwürdige Unterhaltung zu führen.

2

Es fühlt sich an, als hätte ich eine Freundin. Alles ist anders als vorher. So war es noch nie. Bei Gertrude habe ich immer das Gefühl, richtig zu sein. Sie ist himmlisch. Ich weiß, das hört sich bescheuert an. Aber es ist so. Mit Gertrude ist es einfach so. Wir tauschen unsere Frühstücksbrote, laufen eingehenkelt die ganze Hofpause umher, lesen uns Sachen vor, schreiben uns Briefe, obwohl wir nebeneinander sitzen. Einmal hat sie mir einen französischen Zopf geflochten. Und eben – es ist gerade Schulschluss – hat mich Gertrude gefragt, ob ich mit zu ihr nach Hause komme auf einen Besuch. Ich geh natürlich mit. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als zu sehen, wie Gertrude wohnt. Es kommt ein bisschen plötzlich und ich habe auch nicht um Erlaubnis gefragt, aber ich bin ja wieder zu Hause, bevor Mutti heimkommt.

Als ich mit Gertrude geradewegs den Domplatz ansteuere, wird es mir fast ein bisschen mulmig. Dabei mache ich gar nichts Schlimmes. Ich besuche einfach eine Freundin. Da ist ja wohl nichts Schlimmes bei? Aber als ich plötzlich auf der anderen Straßenseite Frau Wendlers erstauntes Gesicht sehe, die dort mit zwei Einkaufsbeuteln steht, weiß ich, dass es nicht selbstverständlich ist, Gertrude zu besuchen.

»Ich frage mich, ob wir Ärger bekommen?«, sage ich zu Gertrude, als sie die Tür öffnet.