Romana Extra Band 85 - Marion Lennox - E-Book

Romana Extra Band 85 E-Book

MARION LENNOX

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Beschreibung

HEISSE LEIDENSCHAFT IN FLORENZ von LUCY FOXGLOVE
Wie soll er sie für sich gewinnen? Restaurantbesitzer Matteo Esposito kann seine Augen nicht von der zauberhaften Alexandra abwenden. Doch die stolze Griechin weist ihn ab. Sie ist auf der Suche nach ihrem Vater. Für Liebe scheint in ihrem Leben kein Platz zu sein …

DEINE LIEBE IST MEIN GRÖSSTES GLÜCK von Marion Lennox
Nach einem tragischen Unglück hat Julie sich von ihrem Ehemann Rob getrennt. Ein Buschfeuer, das ihr einstiges Zuhause bedroht, bringt sie wieder zusammen. Erneut flammen die alten Gefühle auf. Können Julie und Rob die Vergangenheit überwinden und noch einmal beginnen?

FEURIG SIND DEINE KÜSSE von JULIA JAMES
Der südamerikanische Millionär Diego Saez ist hingerissen von der kühlen Schönheit der reichen Erbin Portia Lanchester. Doch obwohl sie ihn offensichtlich begehrt, lehnt sie seine Einladungen ab. Um sie zu erobern, schmiedet Diego einen Plan …

SEI MEIN FÜR IMMER! von ALLISON LEIGH
Eine Scheinehe! Das verlangt Rourke Devlin von Lisa, um die marode Klinik ihres Vaters zu retten. Der sexy Milliardär wünscht sich unbedingt einen Erben. Vergeblich versucht Lisa, sich seinem Charme zu entziehen. Doch was wird sein, wenn sich Rourkes Hoffnung erfüllt hat?

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Seitenzahl: 704

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Lucy Foxglove, Marion Lennox, Julia James, Allison Leigh

ROMANA EXTRA BAND 85

IMPRESSUM

ROMANA EXTRA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2019 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg für Lucy Foxglove: „Heiße Leidenschaft in Florenz“

© 2014 by Marion Lennox Originaltitel: „Christmas Where They Belong“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Susann Rauhaus

© 2010 by Harlequin Books S. A. Originaltitel: „The Billionaire’s Baby Plan“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto in der Reihe: SPECIAL EDITION Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Anne Herzog

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANA EXTRABand 85 - 2019 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2004 by Julia James Originaltitel: „Bedded by Blackmail“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Gudrun Bothe Deutsche Erstausgabe 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA EXTRA, Band 243

Erste Neuauflage by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg in der Reihe: ROMANA EXTRA, Band 85 (9) 2019

Abbildungen: CoffeeAndMilk / iStock; Alex_Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 09/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733744830

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, HISTORICAL, TIFFANY

LUCY FOXGLOVE

Heiße Leidenschaft in Florenz

Der attraktive Restaurantbesitzer Matteo Esposito weckt leidenschaftliche Gefühle in Alexandra. Doch sie ist auf der Suche nach ihrem Vater, Liebe wäre da nur ein Hindernis. Kann sie Matteo widerstehen?

MARION LENNOX

Deine Liebe ist mein größtes Glück

Auch vier Jahre nach ihrer Trennung kann Architekt Rob McDowell seine Ex-Frau Julie nicht vergessen. Als ein Buschfeuer ihr altes Zuhause bedroht, will Rob nicht nur um das Haus, sondern auch um Julie kämpfen!

JULIA JAMES

Feurig sind deine Küsse

Portia, Tochter aus vornehmem Hause, ist entschlossen, dem Millionär Diego Saez eine Lektion zu erteilen. Unerschütterlich wehrt sie seine Annäherungsversuche ab. Bis die Liebe ins Spiel kommt …

ALLISON LEIGH

Sei mein für immer!

Milliardär Rourke Devlin will unbedingt einen Erben. Deshalb macht er der attraktiven Lisa ein unmorali-sches Angebot: Er wird die Klinik ihres Vaters vor dem Ruin retten, wenn sie ihn heiratet …

Heiße Leidenschaft in Florenz

1. KAPITEL

Platanias, Kreta

Der Mond stand bereits hoch am Himmel, ein warmer Wind wehte über die Terrasse, raschelte in den Blättern des Oleanders und zerzauste Alexandras Haar. Sie spürte die Arbeit des Tages in ihren Knochen und massierte sich die Nackenmuskeln, dann legte sie ihre Füße auf einen Stuhl und schloss die Augen. Die Pension war ausgebucht, obwohl es bereits September und die Hauptferiensaison fast vorbei war. Aber seit dem letzten Jahr hatte sich „Alexandra’s House“ zum Geheimtipp gemausert. Zu einem Geheimtipp, über den jeder sprach: angesagte kleine Pension mit Herz am Meer, leckeres Essen und Nähkurse für Gäste und jeden, der Lust darauf hatte.

Alexandra stand noch einmal auf, brachte den Gartenschlauch in Position und goss die Kräuter und Blumen. Ihre Mitarbeiterin und beste Freundin Eve war bereits nach Hause gegangen, und die Gäste waren nach dem köstlichen Essen noch auf einen Abendspaziergang in die Nacht verschwunden oder lagen längst in ihren Betten, um am nächsten Tag die Sonne wieder früh begrüßen zu können. Alexandra strich mit der Hand über die Lavendelzweige, durch den Thymian und den Oregano. Zum Schluss zupfte sie ein paar Pfefferminzblätter ab und kaute sie gedankenverloren. Das frische Aroma breitete sich auf ihrer Zunge aus und schien auch ihre Gedanken zu beleben.

Sie hörte eine Tür klappen und kurz darauf das vertraute Schlurfen ihres Großvaters. Angelos hielt sich meistens in seiner kleinen Wohnung auf oder er saß auf einer Bank und blickte aufs Meer. Manchmal bot er Alexandra seine Hilfe in der Pension an, aber sie lehnte meistens ab oder gab ihm nur leichte Aufgaben. Sie wollte, dass er sich schonte. Alexandra gab auch noch den letzten Blumen Wasser, dann ging sie auf die Terrasse und rückte ihrem Großvater einen Stuhl zurecht. Er setzte sich hin und schenkte ihr ein warmes Lächeln.

„Geht’s dir gut?“, fragte sie.

„Natürlich“, antwortete er. Wie jeden Abend. Alexandra konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr Großvater je krank gewesen wäre oder sich je beklagt hätte. Das schien allerdings in der Familie zu liegen, auch sie beschwerte sich nie, sollten ihre Sorgen auch noch so groß sein.

„Und dir? Bist du glücklich?“, fragte er.

„Ja, natürlich“, antwortete Alexandra wie immer. Sie machte sich selten Gedanken darüber, ob sie wirklich glücklich war, denn sie hatte Angst, dass die Antwort nicht so ausfallen würde, wie sie es gerne hätte.

Sie lehnte sich zurück und seufzte leise. Schloss die Augen und lauschte auf das sanfte Rauschen der Wellen, die nur wenige Meter entfernt langsam auf den Strand krabbelten.

„Das Leben ist nicht immer leicht, was?“, fragte ihr Großvater plötzlich.

Erstaunt schlug Alexandra die Augen auf und musterte ihn. Es war ungewöhnlich, dass er so etwas sagte. Schon seit Wochen war sie sich nicht mehr sicher, ob er noch in der Lage war, mehr als zwei zusammenhängende Sätze zu sagen, die über Standardfragen und – antworten zum gegenseitigen Befinden hinausgingen. Seit dem Tod seiner Frau hatte Großvater sich immer mehr in seine eigene Welt zurückgezogen, hatte in die Sonne gelächelt, aber manchmal war ihm auch eine Träne über die sonnengebräunte Wange gelaufen und in seinem weißen Bart verschwunden.

„Nein, nicht immer“, sagte sie schließlich. „Aber ich bin froh, dass ich Eve habe. Und dich.“ Alexandra war dankbar, dass sie mit der Arbeit und den Sorgen um die kleine Pension im Schatten einer riesigen Fünf-Sterne-Hotelanlage nicht alleine dastand. Seitdem Eve ihr half, war alles besser geworden. Gemeinsam hatten sie gute Ideen in die Tat umgesetzt, und mittlerweile sah es finanziell auch sehr viel besser aus. Beinahe hatte Alexandra keinen Grund mehr sich zu sorgen.

Warum war sie dann nicht glücklich? In letzter Zeit hatte sie oft einen Druck auf ihren Schultern gespürt. Vielleicht die viele Arbeit? Nein, sie wusste genau, was es war. Das, was sie seit ihrem fünfzehnten Geburtstag versucht hatte zu verdrängen.

Ihr Blick fiel wieder auf den hellgelben Umschlag, der mitten auf dem Terrassentisch lag. Garantiert befand sich darin die obligatorische Geburtstagskarte. Sie war pünktlich angekommen, schon letzte Woche, aber an ihrem Geburtstag hatte Alexandra nicht den Mut oder die Kraft gehabt, sie zu lesen.

Großvater Angelos legte seine warme Hand auf ihre Finger. „Sie liebt dich auf ihre Weise“, sagte er leise. Er hatte den Umschlag also auch schon bemerkt. Und dass Alexandra ihn noch nicht geöffnet hatte.

Alexandra nickte, obwohl sie sich nicht sicher war, wie sehr man Liebe verstecken konnte. Müsste man sie nicht ein bisschen spüren können? Die einzige Liebe, die sie in ihrer Kindheit bekommen hatte, war von ihren Großeltern ausgegangen. Nicht von ihrer Mutter und nicht von ihrem Vater. Sie hob den Umschlag hoch, drehte ihn in den Händen. Auf der Rückseite stand der Absender. Wie leichtfertig, dachte sie. Aber sie wusste auch, dass ihre Mutter es nur tat, damit Alexandra auch ihr zum Geburtstag oder zu Weihnachten eine Karte schicken konnte. Sie befürchtete ganz gewiss nicht, dass Alexandra sie besuchen kam. Das hatte sie schließlich noch nie getan. Dabei wäre es so einfach, einen Flug zu nehmen. Nicht mal zwei Flugstunden entfernt lebte ihre Mutter, aber die geografische Entfernung war nichts gegen die Entfernung der Herzen.

Mit einem Seufzen riss Alexandra den Umschlag auf. Darin steckte eine dieser banalen Karten, die man vielleicht einer entfernten Tante schicken würde, nicht aber der eigenen Tochter, die man eigentlich von allen Menschen am besten kennen sollte. Ein etwas farbloses Foto einer Blumenvase, darunter die Worte „Alles Gute zum Geburtstag“. Alexandra schluckte alle Gefühle herunter, bevor sie die Karte aufklappte. Dann las sie das, was dort stand. Es war nicht viel. Drei Sätze, was für ihre Mutter schon beinahe ungewöhnlich geschwätzig war. Darunter hatten beide unterschrieben, Alexandras Eltern. Stefanía und Kostas.

„Gibt es Neuigkeiten?“, fragte Angelos.

„Sie sind erfolgreich im Job, wünschen mir alles Gute und schicken Küsse. Wie immer.“ Alexandra ließ die Karte auf den Tisch sinken und schob sie von sich weg. Schriftliche Küsse – mehr nicht. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie je echte Küsse oder Umarmungen von ihren Eltern bekommen hatte. Auch damals nicht, als sie noch zusammengewohnt hatten wie eine ganz normale Familie.

„Warum tut es immer noch weh?“, fragte sie. Noch nie hatte sie mit Großvater darüber gesprochen, aber jetzt war sie in einer eigentümlichen Stimmung, und außerdem hatte Angelos bereits mit diesem ungewöhnlichen Gespräch begonnen. Warum es nicht weiterführen? „Es ist fünfzehn Jahre her, seit ich die beiden zum letzten Mal gesehen habe. Jetzt müsste es doch einfacher sein. Ich weiß doch genau, dass sie sich nicht für mich interessieren.“

Angelos stand umständlich auf und stellte sich hinter sie. Wie früher streichelte er ihr über das Haar und begann, einen Zopf zu flechten. Eine Träne kullerte über Alexandras Wange, und sie ärgerte sich darüber. Als Kind und Jugendliche hatte sie immer gedacht, dass es ihre Schuld sei, dass ihre Eltern sie nicht mochten. Für die beiden hatte es immer Wichtigeres gegeben, als sich mit Alexandra zu beschäftigen, mit ihr zu spielen oder auch nur mit ihr zu reden. Als Alexandra fünfzehn war, verließen sie Kreta und zogen endgültig in die Hauptstadt Athen – ohne ihre Tochter. Sie hatten offenbar entschieden, dass Alexandra alt genug war, um im Internat und in den Ferien bei den Großeltern ohne ihre Eltern klarzukommen.

In der Post, die sie seitdem zum Geburtstag schickten, hatte nie eine Erklärung gestanden. Und wenn Alexandra ihre Großeltern gefragt hatte, hatten auch die nichts gewusst.

„Stefanía hat schon immer ihre Freiheit gebraucht“, hieß es manchmal. „Nimm es ihr nicht übel, sie liebt dich trotzdem.“ Aber das hatte Alexandra nie geglaubt, und sie hatte es ihrer Mutter sehr wohl übelgenommen. Sehr sogar. Es war ein riesiges Glück, dass Alexandra damals im Internat eine Freundin gefunden hatte, die ihr auch heute noch so nahestand. Eve. Sie war das genaue Gegenteil von Alexandras Mutter, denn sie war herzlich, erzählte viel, fragte nach und liebte es, jede freie Minute mit Alexandra zu verbringen. Und mittlerweile lebte Eve hier auf der Insel. Sie hatte sich mit ihrem Mann Daniel ein kleines Haus gekauft und arbeitete in Alexandras Pension.

„Vielleicht ist es an der Zeit zu vergeben“, flüsterte Angelos, als er den Zopf fertig geflochten hatte.

Vergeben. Sie dachte nicht lange nach, bevor sie antwortete. „Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich weiß nicht, was ich vergeben soll. Ich weiß nicht, warum sie so sind.“ Alexandra staunte über ihre ruhige Stimme.

„Es wäre wichtig für dich“, sagte Großvater. „Deine Eltern waren alt genug, sie haben damals die Entscheidung getroffen, sie kommen offensichtlich auch heute damit klar. Aber du nicht. Vielleicht ist es an der Zeit, an das Wichtigste zu denken, nämlich an dich.“

Alexandra nickte stumm. Sie wusste, was ihr Großvater meinte.

„Sonst verlierst du dich“, sagte er schlicht. „Und niemand kann dich mehr finden.“

Alexandra vergaß weiterzuatmen. Ihr Großvater hatte schon immer eine treffsichere Auffassungsgabe gehabt, er bemerkte oft Dinge, die andere nicht sahen. Und er hatte meistens recht. So wie jetzt.

„Was meinst du?“, fragte sie, obwohl sie es genau wusste. Sie erinnerte sich sehr genau an das Gefühl, sich selbst zu verlieren, denn sie hatte sich in ihrer Kindheit oft so gefühlt.

Er räusperte sich und trank einen Schluck Wasser. Das Glas stellte er behutsam zurück auf die Tischplatte. „Du hast dein Leben lang versucht, es ihnen recht zu machen. Du wolltest immer allen helfen. Es ist schön, wenn man sich um andere kümmert. Du kannst das gut. Aber wenn man glücklich sein will, muss man manchmal auch an sich denken.“ Seine Finger tasteten nach dem Lederband mit dem kleinen bronzefarbenen Schlüssel, das er immer um den Hals trug. Großmutter Evgenia hatte ihm den Schlüssel in die Hand gelegt, kurz bevor sie gestorben war. Alexandra war dabei gewesen und hatte die Tränen nur mit Mühe zurückhalten können, vor allem, weil der Blick ihrer Großmutter sanft und weich geworden war, als sie Alexandra angesehen hatte.

In den Tagen nach dem Schlaganfall hatten Alexandra und ihr Großvater sich abgewechselt, am Bett von Evgenia gesessen, ihr Geschichten erzählt. Ausgedachtes und kleine Begebenheiten aus dem Alltag in der Pension. Es hatte immer so ausgesehen, als hätte Evgenia noch einiges verstanden, aber sie konnte nicht mehr sprechen. Trotzdem hatte Alexandra ihr alles erzählt: Eves romantische Verlobung, von besonders netten Gästen, von einem streunenden Hund, der beinahe verträumt am Lavendel auf der Terrasse geschnuppert hatte.

Alexandras Blick fiel auf den Schlüssel in den Fingern ihres Großvaters. „Was steht denn da drauf?“, fragte sie plötzlich, als sie einen Schriftzug entdeckte. Die Gravur schien relativ neu zu sein, weil das Metall an dieser Stelle viel heller war. Vielleicht hatte man den Schlüssel kurz vor Großmutters Tod graviert? Alexandra hatte bisher geglaubt, der Schlüssel sei das Symbol für die Liebe der Großeltern. Evgenia hatte immer gesagt, dass Angelos den Schlüssel zu ihrem Herzen besitze. Als Kind hatte Alexandra das kitschig gefunden, später wunderschön. Das Geschenk der Großmutter an ihren geliebten Mann hatte sie gerührt. Er hatte sich offenbar keine weiteren Gedanken darüber gemacht und es einfach angenommen.

Angelos hielt sich den Schlüssel vor die müden Augen, aber es hatte keinen Sinn. Es war schon viel zu dunkel. Er beugte sich zu Alexandra und hielt ihr den Schlüssel hin. Sie kniff die Augen zusammen, dann schlug ihr Herz auf einmal schneller. Auf dem Schlüssel stand ihr Name. Sonst nichts.

„Alexandra“, flüsterte sie.

„Es ist dein Schlüssel?“, fragte der Großvater und betrachtete den kleinen Gegenstand.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, sie hat ihn dir gegeben. Den Schlüssel zu ihrem Herzen.“

Sie schwiegen eine Weile und betrachteten den Schlüssel.

„Gut“, sagte Angelos irgendwann. „Komm.“

„Wohin?“

„Zum Schloss. Ein Schlüssel hat immer ein Schloss. Dann wissen wir vielleicht mehr. Deine Großmutter war eine kluge Frau, und sie wollte dir immer helfen. Vielleicht ist der Schlüssel für mich der zu ihrem Herzen, aber für dich hat er eine andere Bedeutung, eine weitaus realere.“

Alexandra starrte ihren Großvater an, dann sprang sie ebenfalls auf. Sie wollte sagen, dass es schon viel zu spät war, dass sie schlafen gehen sollten, aber sie tat es nicht. Der Schlüssel war auf einmal das Allerwichtigste auf der Welt für sie. Er war ein Geschenk ihrer Großmutter. Und er trug ihren Namen. Für eine Tür war der Schlüssel zu klein, aber wozu konnte er sonst gehören?

Gemeinsam gingen die beiden durch jeden Raum in der unteren Etage der Pension, sahen sich um nach kleinen Truhen, Schranktüren und anderen Dingen, die ein Schloss hatten. Nirgends passte der Schlüssel.

„Warte“, sagte Angelos plötzlich.

Dann schlurfte er voraus. Er verließ die Pension durch die Seitentür, und seine Schritte wurden ein bisschen schneller, als er die privaten Zimmer von sich und seiner verstorbenen Frau ansteuerte. Mit leicht zittrigen Fingern öffnete er die Wohnungstür und blieb im düsteren Flur stehen. Zuerst gingen sie in das kleine Wohnzimmer, aber hier gab es nur ein einziges Schloss an der Vitrine mit den schönen Weingläsern, und darin steckte der passende Schlüssel. Eine eigene Küche besaß die kleine Wohnung nicht, weil es schließlich die große Küche im Haupthaus gab und Evgenia entschieden hatte, dass eine Küche reichte.

Alexandra hatte ihre Großmutter immer bewundert. Willensstark und als Fels in der Brandung war sie bis zum Schluss für Alexandra da gewesen. Gleichzeitig liebevoll und resolut war sie bereit gewesen, die Wünsche anderer Menschen zu erfüllen. Und dabei wirkte sie immer so, als täte sie es auch für sich selbst.

„Warum bin ich nicht eher darauf gekommen?“, sagte Angelos auf einmal und ging zielstrebig an Alexandra vorbei in sein Schlafzimmer. An der Wand gegenüber vom Fenster blieb er vor einer alten Holzkommode stehen, die mit Malereien an den Seiten versehen war. Er zeigte auf die oberste der vier Schubladen, die ein verziertes Messingschloss hatte, das vom Alter bräunlich angelaufen war.

„Mach du“, sagte er und hielt Alexandra den kleinen Schlüssel hin. Behutsam streifte sie ihm das Lederband über den Kopf und hielt den Schlüssel in der Hand. Er war ganz warm, oder bildete sie sich das nur ein? Sie zögerte nur kurz, dann schob sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Mit einem leisen Klicken öffnete sich der Mechanismus.

Florenz

Matteo rührte einen Moment lang gedankenverloren im Topf mit der Kerbelsuppe und warf dann einen Blick auf die Uhr. Er wusste, dass bereits jetzt ein paar Gäste im Restaurant saßen, doch die meisten würden erst in einer Stunde kommen. Das war immer so. Dienstag war der „Tag für Jedermann“, da bot Matteo besondere Speisen an. Keine Haute Cuisine wie sonst, sondern ein Essen, das glücklich machte. Viele dieser ausnahmslos eigenen Kreationen standen auch in leicht veränderter Form auf der Speisekarte, die an allen anderen Tagen galt. Aber diese Gerichte waren heute auch für nicht ganz so gut betuchte Gäste bezahlbar.

Der unvergleichliche Duft von Wildkräutern stieg ihm in die Nase, und Matteo warf einen Blick zu Nino hinüber, einem seiner drei Köche. Nino war irgendwann als Gast ins Restaurant gekommen und hatte das Basilikumsorbet mit Granatapfel gelobt. Matteo hatte sich mit ihm unterhalten, und Nino hatte in einem Nebensatz erwähnt, dass er selbst Koch sei. Sofort hatte Matteo dem älteren Italiener einen Job in seiner Küche angeboten, und Nino hatte nur eine Woche überlegt, bis er zugesagt hatte. Das war jetzt fünf Jahre her. Matteo hatte es nie bereut. Nino liebte seine Arbeit, ging behutsam mit den Zutaten um und kochte genau so, wie Matteo es schätzte.

„Könntest du?“, fragte Matteo an Maria gewandt. Die dienstälteste Köchin in seiner Küchenbrigade nickte, nahm dann lächelnd seinen Platz am Herd ein, und kümmerte sich weiter um die Suppe und die Soße für das Hühnchen, das im Backofen in Honig und Sahne eingelegt duftend vor sich hin schmorte.

Matteo rückte seine Kochmütze zurecht und trat an das kleine Fenster zum Gastraum. Er verschränkte seine Hände auf dem Rücken und sah hinaus zu den Besuchern. Ein paar Familien saßen in dem schummrig beleuchteten Raum, den er an den Dienstagen immer ein bisschen behaglicher dekorierte als an anderen Tagen. Auf den Tischen standen Kerzen in kleinen Tongefäßen, daneben jeweils ein Tonkrug mit blühenden Zweigen oder Blumen. Ganz wichtig war ihm, dass die Blumen auf den Tischen keinen Eigengeruch hatten, denn sonst konnten die Gäste die Kräuter in den Speisen nicht richtig herausschmecken. Matteo lächelte, als er ein kleines Mädchen entdeckte, das sich die Hühnchen-Frikadellen mit Salbei schmecken ließ und sogar den Wildkräutersalat mit glücklichem Lächeln verspeiste. Sie war vielleicht sieben oder acht Jahre alt und erinnerte ihn an seine Nichte Nicolina.

Auch im Innenhof des Restaurants saßen bereits Gäste. Umgeben von Weinranken, Buchsbaumkugeln und ausgewählten antiken Skulpturen aus Marmor waren diese Plätze sowohl bei Liebespaaren als auch bei Geschäftsleuten beliebt. Einige von ihnen schienen sich mehr auf die Gespräche oder aufeinander zu konzentrieren als auf das Essen. Matteo seufzte und wandte sich ab.

„Da ist ein Herr an Tisch sieben“, sagte Paula, die hereinkam, um die nächste fertig angerichtete Bestellung abzuholen. Wie immer sah Paula tadellos aus in ihrem knielangen Kleid und der farblich passenden Schürze. Grün und weiß standen ihr hervorragend. „Er sieht aus wie ein Restaurantkritiker.“

Die Kellnerin stemmte ihre Hände in die Hüften. Wie oft habe ich diese Pose an ihr schon gesehen, überlegte Matteo schmunzelnd. Schon als Zwölfjährige, als sie häufig mit seiner Schwester nach Hause gekommen war, hatte sie diese Aura gehabt. Ein bisschen streng, sehr selbstsicher und stark, aber er hatte sie von Anfang an gemocht. Und weil sie als beste Freundin seiner Schwester so oft bei ihnen zu Hause gewesen war, sah Matteo sie fast schon wie ein Familienmitglied an. Jetzt kniff sie streng die Augen zusammen, die unter ihren dunklen Locken aufblitzten. „Träumst du?“

Ach ja, der vermeintliche Restaurantkritiker. Matteo zuckte mit den Schultern und blieb ganz ruhig. „Was hat er bestellt?“

„Die Kerbelsuppe und danach die Pizza mit vier Kräutern.“

„Eine gute Wahl“, sagte Matteo lächelnd. Die Pizza gehörte insgeheim zu seinen Lieblingsgerichten, auch wenn man sie an normalen Restauranttagen höchstens als Vorspeise in Miniaturform servieren konnte, denn sonst war sie den anspruchsvollen Gästen nicht fein genug. „Ich bin gespannt, ob er etwas dazu sagen wird.“

„Bestimmt. Spätestens in der nächsten Ausgabe des Restaurantführers ‚Il Gusto‘ wird er etwas dazu sagen. Schreiben, natürlich. Wenn nicht dort, dann in irgendeiner anderen Lifestyle-Kolumne.“

Matteo war entspannt. Er wusste, dass seine Gerichte gut waren. Die Leute liebten sie, und er liebte seine Speisen, war stolz auf neue Kreationen, genauso wie seine Schwester stolz war auf jedes Bild, das ihre Kinder malten. Die Bilder gefielen vielleicht nicht jedem, der sie bei ihrer Familie im Flur hängen sah, aber so war es immer mit der Kunst. Auch seine Gerichte schmeckten natürlich nicht jedem, aber das war in Ordnung. Niemand konnte etwas kochen, das jeder mochte.

Erneut warf Matteo einen Blick ins Restaurant. Er musterte den Mann an Tisch sieben und fand ebenfalls, dass er ein Restaurantkritiker sein könnte. Allerdings einer, den Matteo noch nicht kannte. Die Prüfung zum zweiten Stern stand erst in drei Wochen an, zum Vortesten kamen diese Prüfer bestimmt nicht, da war er sich sicher. Matteo kehrte wieder an die Arbeitsfläche zurück und begann, Auberginen und Zucchini fein zu würfeln. Während Nino ihm gegenüber Tomaten häutete, erzählte Matteo ihm von dem kleinen Mädchen und dessen Begeisterung für den Salat und die Hühnchen-Frikadellen.

„Man könnte meinen, du sprichst von deiner eigenen Tochter“, witzelte Nino.

„Manchmal fühlt es sich so an, als wären die Leute da draußen meine Freunde und meine Familie“, sagte Matteo und meinte es als Scherz.

Doch Nino legte das Messer zur Seite und sah ihn ernst an. „Echte Freunde sind wichtiger als zahlende Gäste, die du eigentlich gar nicht kennst.“

„Ich habe Freunde“, verteidigte sich Matteo. „Ich habe nur wenig Zeit für sie.“

Nino nickte, und Matteos Gedanken schweiften ab zum letzten Abendessen, das er für seine Freunde bei sich zu Hause gegeben hatte. Das war drei Jahre her. Seitdem er den ersten Michelin-Stern bekommen hatte, rannten ihm die Leute die Bude ein. Er hatte zwar einen Ruhetag, aber den nutzte er meistens dazu, neue Rezepte auszuprobieren, einzukaufen und andere Erledigungen zu machen. Und er besuchte seine Familie. Seine Eltern oder seine Geschwister. Für Freunde war wenig Zeit. Matteo warf einen Blick zum Fenster, und in dem Moment küsste sich draußen ein Liebespaar, lachte und fütterte sich dann gegenseitig mit Kirschtomaten, Brotstückchen und Nudeln. Er seufzte.

„Wann hast du dich das letzte Mal mit einer Frau getroffen?“, fragte Nino in seine Gedanken hinein.

Matteo warf die Gemüsewürfel versonnen in die vorbereitete Pfanne. Er dachte nach. Sein letztes Date war mehr als vier Jahre her. Er winkte ab. „Ich kann so was nicht. Alle Frauen, die ich kennenlerne, sind auf Diät und wollen noch nicht einmal meine neuen Kreationen probieren. Eine Frau und jemand, der professionell und leidenschaftlich gerne kocht, das passt einfach nicht zusammen.“ Er lachte, aber es war mehr als nur ein Scherz.

„Essen und Kochen ist nicht alles. Es ist mehr dran an einer Frau als das. Andere Dinge sind wichtiger. Man kann nicht immer seine Leidenschaft für den Beruf mit einer Partnerin teilen.“ Nino sah ihn lange an, und Matteo stellte erstaunt fest, dass in seinen Augen nicht nur Neugier und leichter Tadel zu sehen war, sondern auch Trauer. Bildete er sich das ein? „Du wartest doch nicht etwa darauf, dass deine große Liebe einfach so in dein Restaurant hereinspaziert, oder?“

„Natürlich nicht“, entgegnete Matteo. Aber irgendwie hatte Nino dennoch recht. Darauf wartete Matteo. Zumindest wollte er, dass seine zukünftige Frau seine Liebe für das Kochen verstehen und teilen würde. Er musterte Nino erneut. Doch, da war eindeutig noch etwas in seinen Augen. Er sah traurig aus und so, als verweilte er gerade irgendwo weit weg in der Vergangenheit.

2. KAPITEL

Bevor Alexandra die Schublade aufzog, atmete sie tief durch und warf einen Blick zu ihrem Großvater. Er nickte ihr zu, aber sie konnte sehen, dass er genauso nervös war wie sie.

Das Holz knarrte leise, und die Schublade leistete etwas Widerstand, sodass Alexandra stärker ziehen musste. Das reibende Geräusch von Holz auf Holz ging ihr durch Mark und Bein, sodass Alexandra das Flüstern ihres Großvaters zunächst nicht hörte. Sie öffnete die Augen und blinzelte. Die Schublade war einen Spaltbreit geöffnet, und im Inneren konnte sie etwas liegen sehen. Einen zarten Spitzenstoff in Weiß, etwas Weiches, das aussah wie der Fuß eines Teddybären und eine kleine Holzkiste. Daneben lag ein Buch. Das war eine … Erinnerungsschublade. Ein Kästchen voller Vergangenheit.

„Lass dir Zeit“, flüsterte Großvater.

Alexandra sog den Duft des dunklen Holzes ein, das ihre Großmutter alle paar Monate mit Bienenwachs abgerieben hatte. Sie glaubte auch, einen leichten Geruch nach Staub wahrzunehmen, aber das bildete sie sich sicher nur ein. Diese Schublade war lange verschlossen gewesen, der Inhalt geschützt vor Licht und Staub. All diese Geheimnisse. Alexandra zog die Schublade noch ein Stückchen weiter auf. Das pelzige Bein gehörte tatsächlich zu einem Teddybären. Vorsichtig berührte Alexandra das filzige Fell mit den Fingerspitzen.

„Früher wart ihr unzertrennlich“, flüsterte Großvater. „Der Bär und du.“

Alexandra konnte das Lächeln in seiner Stimme hören, und als sie ihn ansah, hatte er Tränen in den Augen. Er wischte sie nicht weg, legte seine Hand auf ihren Unterarm und lächelte noch immer. „Deine Großmutter hat ihn dir genäht. Damals.“

Es war ein schöner Teddy, behutsam hob Alexandra ihn heraus und bewunderte die schwarzen, leicht abgewetzten Knopfaugen, das freundliche Bärengesicht. „Weißt du noch, wie er heißt?“, fragte sie Angelos und musste schlucken, um das enge Gefühl in ihrem Hals loszuwerden. Sie konnte sich an den Bären nicht wirklich erinnern, aber er weckte in ihr die Sehnsucht nach einer wohlbehüteten Kindheit mit liebenden Eltern. Immerhin hatte sie ihre Großeltern gehabt.

Angelos schüttelte den Kopf. „Doch“, sagte er plötzlich. „Er hieß Herr Braun.“ Er lächelte, als Alexandra den Namen flüsternd wiederholte. Ja, das klang vertraut. Sie hielt den Bären in einer Hand fest, während sie mit den Fingern nun über die weiße Spitze fuhr.

„Dein Taufkleidchen“, sagte Großvater.

Alexandras Finger wanderten weiter zu der Holzkiste. Sie war verziert, hatte ähnliche Malereien wie die Kommode, in deren Schublade sie lag. Was mochte darin sein? Behutsam setzte Alexandra den Teddy auf die Kommode zwischen das gerahmte Foto ihrer Großmutter und einem von ihr, als sie noch klein war. Dann hob sie die Kiste heraus. Sie ließ sich nicht sofort öffnen, der Deckel klemmte, aber nach einem Moment schaffte sie es doch. Fotografien. Schwarz-Weiß-Aufnahmen, manche leicht vergilbt und obenauf ein paar Farbfotos.

„Oh“, sagte Alexandra und starrte auf das Gesicht ihrer Mutter, das sie aus dem Kästchen heraus anlächelte. Sie konnte sich nicht erinnern, dass dieses Lächeln je ihr gegolten hatte. Das Bild verschwamm vor ihren Augen, und sie musste mehrere Male blinzeln, ehe sie wieder klar sehen konnte. Es mussten beinahe hundert Fotos sein.

„Komm“, sagte ihr Großvater und zog Alexandra ein Stück zurück, sodass sie sich auf das Bett setzen konnte. Behutsam nahm er ihr das Kästchen ab und stellte es auf die Tagesdecke, dann setzte er sich dazu, und sie sahen sich gemeinsam die Fotos an. Auf einigen war ihre Mutter selbst noch ein Kind, und Großvater erzählte zu vielen der Bilder eine Anekdote. Etwas Lustiges, was jemand gesagt hatte, Dinge, die man auf dem Foto nicht sehen konnte. Er erinnerte sich gut, und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Alexandra lauschte seiner Stimme und verlor sich in den Bildern der Vergangenheit.

Auf den Schwarz-Weiß-Fotos sah Alexandra ihre Großeltern als Brautpaar, später mit einem altmodischen Kinderwagen und bei der allerersten Renovierung der Pension kurz nachdem sie das Anwesen gekauft hatten. Irgendwann kamen die Fotografien, die aktueller waren und doch fremd schienen. Sie zeigten Alexandras junge Eltern und sie selbst als Kleinkind. Fotos von ihr als Baby gab es nur zwei Stück. Auf dem einen hielt ihre Mutter sie im Arm und blinzelte in die Sonne. Sie sah nicht so aus, als fühlte sie sich wohl in ihrer Haut. Man hätte annehmen können, dass zu diesem Zeitpunkt das Muttersein für sie noch neu gewesen war, aber Alexandra wusste, dass es sich in den Jahren danach auch nicht geändert hatte.

Alexandra legte das letzte Foto neben sich auf die Decke und schaute in die leere Holzschachtel. Sie fühlte sich beinahe genauso leer, wusste aber nicht genau, warum. Natürlich war ihre Mutter nicht so gewesen, wie sie es sich immer erträumt hatte, aber das war nicht neu. Und das Gesicht ihrer Großmutter noch einmal zu sehen, hatte ihr Herz für kurze Zeit mit Liebe, wenn auch gleichzeitig mit Schmerz erfüllt.

„Da lag noch ein Buch in der Schublade“, sagte Großvater plötzlich.

Alexandra musste sich schütteln, um wieder das Gefühl zu bekommen, in der Wirklichkeit zu sein. Im Hier und Jetzt. Sie sammelte die Fotos zusammen und legte sie allesamt wieder in die Schachtel. Als der Deckel zuklappte, fühlte sie sich nicht mehr so beobachtet. Allein die Abbildung ihrer Mutter auf einer Fotografie hatte dieses Gefühl in ihr ausgelöst. Denn das war es, was ihre Mutter immer getan hatte, wenn sie Alexandra überhaupt beachtet hatte: Sie hatte ihre Tochter beobachtet, stumm gemustert. Und Alexandra hatte immer das Gefühl gehabt, nicht gut genug zu sein. Nicht das zu tun oder zu sagen, was die Mutter von ihr erwartete. Und deswegen, so dachte sie, hatte ihre Mutter sie nicht lieben können. Jetzt war sie erwachsen und hätte darüber hinweg sein müssen, aber die Ablehnung tat immer noch weh.

Langsam stand Alexandra auf, ging zu der offenen Schublade. Großvater hatte recht. Neben dem Taufkleidchen lag ein in dunkelrotem Leder eingebundenes Buch. Alexandra fuhr mit den Fingerspitzen über die eingeprägten Olivenblätter. Vielleicht war es eine alte Speisekarte? Ein Rezeptbuch?

„Komisch, all diese Jahre habe ich nicht gewusst, was in dieser Schublade war. Evgenia bewahrte darin Wäsche auf und Tischtücher, nichts worum ich mich kümmern musste“, sagte Großvater. „Jetzt gehört es dir. Das Buch und alles andere aus der Schublade. Evgenia hat es so gewollt.“ Er lächelte wehmütig.

Die Worte ihres Großvaters gaben Alexandra den Mut, den sie brauchte, um das Buch aus der Schublade zu nehmen. Sie wendete es in ihren Händen, aber von außen konnte man nicht erkennen, was in dem Buch geschrieben stand. Also schlug sie die erste Seite auf.

„Für Alexandra“ stand dort in der feinen, aber energisch wirkenden Handschrift ihrer Großmutter geschrieben. Die nächste Seite begann mit einem Datum. Es war ein Tagebuch. Großmutters Tagebuch. Der erste Eintrag war datiert auf wenige Tage nach dem Tag von Alexandras Geburt.

„Meine ganze Kindheit“, flüsterte Alexandra, denn was sollte es sonst sein? Schon beim Überfliegen des Textes entdeckte sie mehrmals ihren und den Namen ihrer Mutter.

„Lies es in Ruhe und erzähl mir davon, wenn du möchtest“, sagte Angelos und versteckte ein Gähnen hinter seiner Hand. Alexandras Blick fiel auf den altmodischen Wecker auf dem Nachtschränkchen. Es war beinahe Mitternacht. Höchste Zeit, ins Bett zu gehen, denn der nächste Tag fing schließlich wieder früh an.

„Gute Nacht, Großvater“, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Schlaf gut. Tut mir leid, dass ich dich so lange wachgehalten habe.“

„Nicht doch“, widersprach er. „Endlich wissen wir mehr über diesen geheimnisvollen Schlüssel. Schlaf gut.“

Alexandra nickte, nahm das Kästchen mit den Fotos sowie den Teddy und ging.

Den ganzen Weg hinüber bis zu ihrem Zimmer fühlte sich das Buch an, als würde es in ihrer Hand glühen. So viele Geheimnisse waren vielleicht da drin, so viele Dinge würde Alexandra erfahren, die sie nicht wusste. Oder auch nicht. Vielleicht hatte ihre Großmutter all das ohnehin schon erzählt.

Am nächsten Morgen lag das Tagebuch auf Alexandras Nachttisch. Sie hatte es nicht mehr angerührt. Zum einen, weil sie so müde gewesen war, und zum anderen, weil sie nicht wusste, ob sie das lesen wollte, was ihre Großmutter ihr darin verriet. Eilig machte Alexandra sich fertig und ging hinunter in die Küche. Sie brauchte noch etwas mehr Mut, noch hatte die Neugier ihre Angst nicht besiegt.

„Oh, guten Morgen!“, sagte Eve. Ihr Lächeln verschwand, als sie ihren Blick vom Obstsalat hob und Alexandra ansah. „Was ist passiert?“ Sie legte das Messer zur Seite, wusch sich in Windeseile die Hände und kam dann zu Alexandra, die reglos in der Küchentür stand.

„Alex?“, fragte Eve erneut und deutete zur Kaffeemaschine. „Kaffee?“

Alexandra nickte. „Gerne.“

Eve machte sich daran, ihr eine Tasse einzuschenken und ließ Alexandra die ganze Zeit kaum aus den Augen. Als sie an den Tisch kam, und Alexandra die Tasse vor die Nase hielt, sah sie nachdenklich aus. Sie seufzte und setzte sich zu ihr.

„Komm, erzähl.“

„Es gibt doch so viel zu tun“, protestierte Alexandra schwach. Ihr üblicher Arbeitseifer wollte sich heute einfach nicht einstellen. Sie konnte kaum an ihre Aufgaben denken, das Einzige, woran sie denken konnte, war das Tagebuch. Großmutters Worte, die sie lesen musste, um vielleicht zu verstehen, warum alles so gekommen war. Nach den wenigen Stunden Schlaf von letzter Nacht wusste sie, dass sie es lesen musste. Sie musste so vieles wissen. Warum ihre Mutter sie nie richtig geliebt hatte, nicht so wie andere Mütter ihre Kinder lieben. Weshalb sie einfach weggegangen war. All das konnte in Großmutters Tagebuch stehen. Aber sollte sie wirklich darauf hoffen?

„Das schaffe ich schon“, sagte Eve und sah Alexandra ernst an. „Du solltest dich wieder hinlegen, wenn es dir nicht gut geht. Wobei … eigentlich siehst du eher so aus, als wärst du weit weg.“ Eve musterte sie noch eine Weile. „Du solltest mal Urlaub machen.“

„Aber das geht doch nicht“, widersprach Alexandra und schüttelte sich, um in ihrem normalen Alltag anzukommen. Sie sollte sich wirklich zusammenreißen! Sie hatte so lange auf Antworten gewartet, da würde es jetzt auch noch für ein paar weitere Stunden möglich sein. Heute Abend konnte sie mit dem Lesen beginnen. Sobald die Arbeit getan war.

„Wirklich, Alex, ich weiß, dass dir das schwerfällt. Aber du lässt mich damit nicht im Stich. Du lässt niemanden im Stich. Außer dich selbst, manchmal.“ Eve lächelte und drückte Alexandras Schulter.

Natürlich wusste Alexandra es besser, auch wenn sie die lieb gemeinten Worte ihrer Freundin zu schätzen wusste. Alexandra hatte ihre Aufgaben, und die musste sie auch erfüllen, und wenn noch Zeit blieb, warum nicht anderen helfen? Das tat ihr gut. Sie mochte das. Und sie konnte es gut, das hatte Großvater doch gestern erst gesagt.

Alexandra schaffte es während des ganzen Tages, aufmerksam zu sein, sich ihren normalen Aufgaben zu widmen, mit Gästen zu sprechen und zwei neue Buchungen entgegenzunehmen. Doch nachdem Eve sich am Abend verabschiedet hatte, legte sie das Küchentuch weg, räumte das letzte Geschirr in den Schrank und schaltete die Küchenlampe aus. Im Flur blieb sie kurz stehen, dann ging sie betont langsam in die Eingangshalle, schaltete auch dort das Licht aus und ging nach oben. Großvater war schon früh zu Bett gegangen, also fiel ihr abendliches Treffen auf der Terrasse aus.

Das Tagebuch lag noch immer dort, wo Alexandra es zurückgelassen hatte. Sie warf nur einen flüchtigen Blick darauf, dann nahm sie Herrn Braun mit ins Badezimmer und machte sich für die Nacht bereit. Ihr Herz pochte heftig, während sie sich die Zähne putzte, weil ihre Gedanken längst wieder beim Tagebuch und seinem möglichen Inhalt weilten. Als sie ihr Nachthemd angezogen hatte, atmete sie tief durch, bevor sie in ihr Schlafzimmer ging. Der Wind wehte durch das offene Fenster, bauschte die Vorhänge und zerzauste Alexandras Haar. In der Nacht würde es ein Gewitter geben. Aber noch konnte sie das Fenster offen lassen, damit sich das Zimmer etwas abkühlte.

Sie setzte sich aufs Bett, stopfte sich das Kopfkissen hinter den Rücken und streckte die Beine aus. Dann nahm sie das Buch und schlug es auf. Sie las die erste Seite und erfuhr, dass sich Großmutter direkt nach Alexandras Geburt um sie gekümmert hatte, da ihre Mutter Stefanía zunächst zu erschöpft und später zu traurig war. Natürlich hatte sie Alexandra oft in die Arme ihrer Mutter gelegt, aber …

Zuerst habe ich es nicht bemerkt, und ich dachte, es würde vorübergehen, aber Stefanías Herz ist nicht mit ihr nach Hause zurückgekehrt. Es schlägt noch immer für Nino, obwohl sie ihn nicht sehen will. Sie hat sich heimlich von ihm scheiden lassen, und ich habe es nur zufällig erfahren. Es ist ein Jahr her, dass Milena gestorben ist, und mein Herz schlägt auch noch für sie, aber jetzt ist da doch dieses kleine Wesen, das für nichts davon etwas kann. Süße kleine Alexandra, so ein zartes Mädchen, und schon jetzt erinnert sie mich an Milena. Ich bin mir sicher, dass Stefanía es schaffen wird. Sie wird Alexandra genauso liebhaben wie Milena, und vielleicht kann dieses kleine Geschöpf Stefanías Herz heilen. Ich wünsche es ihr so sehr.

Alexandra spürte erst, dass ihr die Tränen in den Augen standen, als der Wind erneut ins Zimmer wehte und kühl über ihre Wangen strich. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie beinahe den ersten Donner überhört hätte. Wer war Nino? Wenn sie es richtig verstanden hatte, war ihre Mutter Stefanía mit diesem Nino verheiratet gewesen. Aber wer war Milena, die gestorben war?

Florenz

Erst am nächsten Abend, als die Gäste gegangen waren und Nino ihm noch beim Aufräumen half, stellte Matteo die Frage, die ihn den ganzen Tag bewegt hatte. Seine Gedanken hatten sich um die Liebe gedreht, um die geheimnisvolle Frau, von der er hoffte, dass sie eines Tages sein Restaurant betreten würde. Aber Nino, was war mit ihm? Da war etwas in seinen Augen gewesen, ganz kurz, und Matteo musste es jetzt wissen. Vielleicht konnte er Nino trösten. Er schien niemanden sonst zu haben.

„Du hast deine große Liebe bereits gefunden, habe ich recht?“ Matteo hielt die Luft an. Er war sich nicht sicher, ob er damit nicht zu weit gegangen war. Nino war sein Mitarbeiter, nicht sein bester Freund. Außerdem war Nino einige Jahre älter, und vielleicht empfand er Matteos Frage neugierig und respektlos. Aber jetzt war es zu spät. Jetzt hatte er die Worte bereits laut ausgesprochen. Matteo blieb nichts anders übrig, als Nino zu beobachten und auf eine Antwort zu warten.

„Gefunden und verloren“, sagte Nino schließlich und putzte viel zu stark an einer Stelle im Topf, die schon längst sauber war.

„Das tut mir leid“, sagte Matteo ehrlich.

„Ach“, sagte Nino. „Es ist jetzt so viele Jahre her. Ich sollte längst darüber hinweg sein und das Leben weiterleben, oder? Das sagt man doch immer. In der Gegenwart leben, nicht in der Vergangenheit.“

Matteo nickte. „Es gibt Dinge, die vergisst das Herz nicht so leicht.“

Nino lachte kurz und freudlos. „Ja, du hast recht. Mein Herz hat sie nicht vergessen. Beide nicht.“

Beide? Matteo horchte auf. „Du hast schon zweimal deine große Liebe verloren?“

„Ja“, bestätigte Nino. „Meine Frau und meine Tochter.“ Er seufzte schwer, hängte dann den Lappen auf und sah sich um. Die Küche war aufgeräumt, eigentlich hätten sie jetzt nach Hause gehen können. Aber Matteo hatte das Gefühl, dass Nino darüber reden wollte.

„Hast du die Mousse au Chocolat mit Minze schon probiert?“, fragte er. „Oder das Zitronenmelissen-Tiramisu?“ Er zwinkerte Nino zu, weil er wusste, wie sehr dieser die Süßspeisen liebte.

„Heute noch nicht.“ Nino lächelte und schien schon viel entspannter.

Matteo holte zwei Glasschalen und richtete von beiden Desserts zwei Portionen an. Selbst jetzt, privat und nach Feierabend, konnte er nicht anders und dekorierte seine Speisen mit genauso viel Liebe wie für seine Restaurantgäste. Er zupfte einige Blättchen Minze und Zitronenmelisse von den Kräutertöpfen am Fenster und garnierte alles mit seiner geheimen Schokoladensauce. Nino sah ihm lächelnd dabei zu.

„Was?“, fragte Matteo ebenso lächelnd. „Du bist ja wohl ein wichtiger Gast.“

„Und du auch.“ Sie grinsten sich an und nahmen ihre Desserts mit nach draußen in den Patio.

Sie setzten sich und aßen für einige Momente schweigend, dann begann der ältere Italiener zu erzählen: „Stefanía hat mich vor dreißig Jahren verlassen. Wir haben hier zusammen gewohnt, am anderen Ende der Stadt. Ursprünglich stammte Stefanía aus Griechenland von der Insel Kreta. Dort haben wir uns auch kennengelernt. Ihre Eltern hatten eine kleine Pension, in der ich damals Urlaub gemacht habe. Aus diesem Urlaub bin ich mit wunderschönen Erinnerungen und einer Frau an meiner Seite heimgekehrt. Ich war unglaublich verliebt. Und das hat sich in den Jahren danach auch nicht geändert. Wir haben nach einem Jahr geheiratet, und kurz darauf ist sie schwanger geworden. Mit Milena war unser Glück perfekt, unsere Eltern und meine Geschwister haben unsere Tochter abgöttisch geliebt. Sie war so ein Sonnenschein.“ Nino seufzte und stellte seine Dessertschale auf einen Tisch. Für einen Moment schloss er die Augen, und Matteo ahnte Schlimmes. Sie war ein Sonnenschein. Was war aus Milena geworden? Und aus Ninos Frau Stefanía? Aber er fragte nicht, wollte Nino nicht verschrecken.

Als die Pause zu lange dauerte, fragte Matteo dennoch: „Du vermisst sie noch immer, richtig? Was ist damals passiert?“

Nino schien in Gedanken weit weg zu sein. Zuerst dachte Matteo, er habe ihn nicht gehört, aber dann sprach Nino weiter: „Ja, ich vermisse Stefanía manchmal immer noch. Milena werde ich für immer vermissen. Sie ist bei einem Autounfall gestorben, auf dem Weg zum Kindergarten. Natürlich war sie nicht allein unterwegs, Stefanía war bei ihr. Das Auto kam aus dem Nichts. Der Fahrer hatte einen Herzinfarkt. Er war bereits tot, als sein Wagen Milena erfasste. Stefanía hat auch etwas abbekommen, ihr Arm war gebrochen, aber Milena wurde mit voller Wucht getroffen. Der Rettungswagen kam schnell, aber für Milena kam er zu spät. Wahrscheinlich hätte man sie auch in der Sekunde nach dem Unfall nicht mehr retten können.“ Nino brach ab und räusperte sich.

Matteos Herz krampfte sich zusammen. Er mochte sich gar nicht vorstellen, wie es war, ein Kind zu verlieren. Für Ninos Frau musste es der schrecklichste Moment in ihrem Leben gewesen sein.

„Stefanía war danach nicht mehr sie selbst. Es kam mir so vor, als wäre ein Teil von ihr zusammen mit Milena gestorben. Getrauert haben wir beide lange, aber Stefanía ist nie wieder aus ihrer Trauer aufgewacht, nicht solange sie hier war. Fünf Monate nach dem Unfall ist sie zu ihren Eltern nach Kreta zurückgekehrt. Sie kam nie wieder zurück. Als ihr Brief mich erreichte, in dem sie nur schrieb, dass sie Florenz für immer verlassen würde, bin ich natürlich zu ihr geflogen. Sie wollte mich nicht sehen, aber am zweiten Tag habe ich es geschafft, sie am Strand abzupassen. Ich hatte mich an ihre frühere Lieblingsstelle erinnert. Sie hat mich angesehen, und in ihren Augen lag so viel Schmerz. Aber sie wollte meinen Trost nicht.

Sie hat nur gesagt, ich solle gehen. Ihr Leben in Florenz sei vorbei, und auch meinen Vorschlag, stattdessen woanders mit ihr zu leben, hat sie mit einem einzigen Wort abgeschmettert. Niemals. Sie hat mir einen Brief geschrieben, mich gebeten nach Hause zurückzukehren, und sie wollte sich melden, wenn sie so weit wäre, wieder mit mir zu sprechen. Wenig später bekam ich Post von einem Anwalt. Sie wollte die Scheidung. Was blieb mir anderes übrig? Ich habe ihr noch einige Wochen Zeit gelassen, sie mehrmals besucht, ihr Briefe geschrieben, angerufen. Es hatte keinen Sinn. Ich habe sie nicht mehr zu Gesicht bekommen.“

Matteo schwieg. Mit einer solch dramatischen Geschichte hatte er nicht gerechnet. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Schließlich blieb er bei seinem ersten Gedanken. „Es tut mir sehr leid, dass du das durchmachen musstest. Mein herzliches Beileid.“ Einem Impuls folgend legte er seine Hand auf Ninos und drückte sie kurz. „Möchtest du etwas trinken?“

Nino schüttelte den Kopf. „Ich sollte nach Hause gehen.“

„Sicher?“

„Ja, danke.“ Er sah Matteo ernst an und lächelte. „Es tut weh, wenn ich darüber spreche, aber ein bisschen hilft es auch. Und weh tut es sowieso fast jeden Tag, noch immer. Ich habe Stefanía geliebt und vermisse sie noch manchmal. Ich weiß jedoch, dass es nicht mehr funktioniert hätte mit uns. Aber die Trauer über Milenas Verlust werde ich wohl nie überwinden.“

„Das verstehe ich“, sagte Matteo. „Das würde wohl niemand schaffen.“

„Nein“, sagte Nino und stand auf. „Es tat trotzdem gut, darüber zu sprechen. Irgendwie. Meine Freunde vermeiden das Thema immer. Meine Familie auch, seitdem sie alle beschlossen haben, dass eine sinnvolle Trauerzeit irgendwann vorbei sein sollte. Vielleicht haben sie auch recht.“ Er seufzte. „Ich gebe mein Bestes.“

„Die schönen Erinnerungen kann dir niemand nehmen.“

„Das stimmt.“

Eigentlich hatte Matteo die Frage stellen wollen, ob Nino nicht noch einmal einer neuen Liebe eine Chance geben wollte, aber er wusste nicht, ob es eine gute Frage war. Wie würde er in dieser Situation fühlen? Der Schmerz musste unermesslich sein. Erst die kleine Tochter, aber dann auch noch die Frau zu verlieren, so plötzlich und so endgültig …

Gemeinsam verließen sie das Restaurant, und Matteo schloss ab.

„Bis morgen“, sagte Nino, und seine Stimme klang wieder wie immer.

„Bis morgen. Schlaf gut.“ Matteo fand es irgendwie nicht richtig nach so einem Gespräch so zu klingen wie immer, aber für Nino war das normal. Er trug diesen Schmerz bereits seit dreißig Jahren mit sich herum. Ob es jemals besser werden würde? Matteo hoffte es sehr, er mochte Nino von Anfang an, und er war froh, dass er bei ihm arbeitete.

„Matteo?“

„Ja?“

„Dass du es jetzt weißt, ändert nichts, okay?“

„Okay“, bestätigte Matteo, aber er war sich nicht sicher, ob das stimmte. Er wollte versuchen, sich Nino gegenüber so zu verhalten wie sonst, aber er wünschte sich sehr, dass irgendjemand in Ninos Leben treten würde, der diesen Schmerz lindern konnte.

3. KAPITEL

„Darf ich fragen, was du da liest?“ Eve lächelte.

Alexandra schrak hoch. Sie hatte sich nur eine kurze Pause gönnen wollen, aber als sie jetzt auf die Uhr sah, hatte sie schon eine halbe Stunde hier gesessen. „Oh Gott, das tut mir leid!“, rief sie und sprang auf. Sie vernachlässigte ihre Arbeit und ließ alles an Eve hängen.

Doch Eve zog sich einen Stuhl zurecht und setzte sich zu ihr an den Terrassentisch. „Pausen sind wichtig“, sagte sie, lehnte sich zurück und hielt ihr Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne.

Auch Alexandra setzte sich wieder hin. Sie war so in die Lektüre vertieft gewesen, dass sie die Zeit völlig vergessen hatte. Aber was sie herausgefunden hatte, war spannender als jeder Krimi.

„Das ist das Tagebuch meiner Großmutter“, sagte Alexandra in die Stille hinein. „Sie hat es mir vererbt.“

Eve schlug die Augen auf und sah das Buch an. „Wie lieb“, meinte sie. Natürlich konnte sie die Tragweite dessen, was da darin stand, nicht erahnen. Aber Eve war Alexandras allerbeste Freundin, und sie musste jetzt endlich darüber sprechen, was sie bis jetzt gelesen hatte.

„Ich bin fast durch“, begann sie. Dann holte sie tief Luft und sprach ihre nächsten Sätze ganz schnell, damit sie es sich nicht anders überlegen konnte. „Ich weiß jetzt, warum meine Mutter immer so distanziert und abweisend mir gegenüber war. Ich hatte eine Schwester, sie ist vor meiner Geburt gestorben, und Kostas ist nicht mein leiblicher Vater. Mein richtiger Vater heißt Nino und wohnte damals in Florenz.“

Eve schlug eine Hand vor ihren Mund und sah Alexandra mit großen Augen an. „Das gibt’s doch nicht“, murmelte sie. „Oh, Alex, es tut mir so leid, dass du all das erst jetzt erfährst.“ Sie schob ihren Stuhl zurück und kam zu Alexandra herüber. Sie nahm die Freundin fest in den Arm, und Alexandra spürte eine Welle der Verzweiflung in sich aufsteigen. Sie klammerte sich an Eve und schluchzte leise.

„All die Gefühle von früher kommen wieder hoch. An jedem Geburtstag und an jedem Weihnachtsfest, wenn die Karte von meiner Mutter hier ankommt. Eine Karte! Sie ruft nicht an, sie besucht mich nie. Jetzt weiß ich, dass es an damals liegt. An meiner großen Schwester, die ich nie kennenlernen durfte. Und an der zerbrochenen Liebe zu meinem leiblichen Vater vielleicht auch.“

„Oh, Alex …“, flüsterte Eve, und es klang so, als hätte sie ebenfalls Tränen in den Augen. Die beiden Freundinnen standen eine ganze Weile eng umschlungen im Sonnenschein und gaben sich gegenseitig Halt.

„Mach Urlaub“, sagte Eve plötzlich und schob Alexandra ein Stück von sich weg. „Du brauchst eine Auszeit, um all das zu verarbeiten.“

„Aber ich kann doch nicht …“, sagte Alexandra halbherzig. Die Arbeit würde sie ablenken, ja, aber eigentlich wollte sie sich nicht länger ablenken. Ihr ganzes Leben hatte auf einen Schlag eine ganz andere Bedeutung. Die Art, wie ihre Mutter sie behandelt hatte und ihr Vater Kostas, der ja überhaupt nicht ihr Vater war! Kostas hatte immer zu Stefanía gehalten, natürlich. Er war nicht unfreundlich zu Alexandra gewesen, aber meistens ähnlich distanziert wie Stefanía. Aber ging das? Einfach wegfahren, Urlaub machen? Sie hatte doch die Pension!

„Ich übernehme den Betrieb für die Zeit, die du brauchst. Wenn du einverstanden bist“, versuchte Eve, ihr die Zweifel zu nehmen. „Es ist doch jetzt nicht mehr so viel los, die Hauptsaison ist vorbei, und wenn ich Hilfe brauche, wird Daniel mich sicherlich unterstützen. Du kennst ihn doch.“

Alexandra nickte, dann schüttelte sie den Kopf. „Das kann ich nicht verlangen.“

„Doch, das kannst du“, beharrte Eve. „Jeder braucht Erholung, du hast doch bestimmt keinen Urlaub mehr gehabt, seitdem du die Pension übernommen hast, oder? Bis auf das eine Wochenende in London, damals bei der Hochzeit deiner Cousine.“

„Wenn man selbstständig ist, hat man eben keinen Urlaub.“

„Und genau das ist das Problem. Du brauchst eine Auszeit, gerade jetzt.“ Eve legte ihren Zeigefinger auf Alexandras Lippen, bevor sie protestieren konnte. „Denk darüber nach. Jetzt ziehst du dich für den Nachmittag zurück, liest weiter, gehst am Strand spazieren und morgen früh sagst du mir, wie du dich entschieden hast. Den Nachmittag schaffe ich spielend allein.“

„Okay“, sagte Alexandra und umarmte ihre Freundin erneut. „Danke, du bist ein Schatz.“

Wenig später saß Alexandra auf ihrem Bett und las die letzten Seiten. Ihre Großmutter hatte zu allem etwas geschrieben. Ihre Gefühle geschildert, als Stefanía ihre Tochter Alexandra ins Internat geschickt hatte und Stefanías merkwürdige Erleichterung beschrieben, als Alexandra ihre Freundin Eve das erste Mal in den Ferien mitgebracht hatte. Beide Mädchen hatten der Großmutter in der Pension geholfen, den Gästen das Frühstück zubereitet, die Betten gemacht und manchmal auch die Buchungen verwaltet. Alexandra fand den Job toll, aber Eve war vollkommen fasziniert davon. Ihre Augen hatten immer geleuchtet, wenn sie in der Pension angekommen waren.

Vielleicht war Eves Vorschlag wirklich nicht schlecht. Alexandra könnte für ein paar Tage Abstand gewinnen. Ganz kurz überlegte sie, zu ihrer Mutter nach Athen zu reisen, um sie zu alldem zu befragen. Aber das würde nur in Vorwürfen enden und das bisschen Verbindung zerstören, das noch zwischen ihnen bestand. Jetzt war mit Sicherheit nicht der richtige Zeitpunkt, aber früher oder später würde Alexandra ihrer Mutter mitteilen, dass sie alles wusste. Auch wenn das alte Wunden aufreißen würde. Aber vielleicht konnte das endlich die Mauer zwischen ihnen wegräumen oder wenigstens ein bisschen verkleinern. Vielleicht würde ihre Mutter dann endlich mit Alexandra über die Vergangenheit sprechen können.

Den restlichen Tag verbrachte Alexandra in ihrem Zimmer und las das Tagebuch noch einmal von der ersten bis zur letzten Seite. Dann stand sie auf und ging an den Strand. Das Meer war aufgewühlt vom Wind, und die Wellen schlugen mit solcher Wucht an Land, dass sie sogar das Kreischen der Möwen übertönten. Alexandra lief barfuß und fühlte den warmen Sand unter den Zehen. Schon lange war sie nicht mehr zu ihrem Vergnügen am Strand gewesen. Wenn sie sich nicht um die Gäste kümmerte, machte sie die Buchhaltung oder unterhielt sich mit Großvater. Oder mit Eve. Die Zeit für einen gemeinsamen Kaffee nahmen sie sich trotz der vielen Arbeit regelmäßig.

Alexandras Gedanken wanderten zurück in ihre Kindheit. Sie erinnerte sich an Momente, in denen ihre Mutter seltsam still geworden war, wenn sie Alexandra beim Spielen beobachtet hatte. Die Fotos! Alexandra musste sie sich noch einmal genauer ansehen. Vielleicht gab es ein Foto ihrer Schwester oder ihres Vaters! Sie rannte zurück zur Pension und eilte in ihr Zimmer. Mit zitternden Händen holte sie die Holzschachtel aus dem Kleiderschrank und setzte sich damit aufs Bett.

Es gab viele Bilder von ihrer Mutter und Alexandra zusammen, aber plötzlich stieß sie auf ein Foto, auf dem Stefanía wie ein anderer Mensch wirkte. Sie hielt Alexandra im Alter von ungefähr drei Jahren in den Armen und schwang sie durch die Luft. Sie lachte und sah unglaublich glücklich aus. Alexandra konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal so fröhlich gesehen zu haben. Sie sah sich das Bild genauer an.

Sie konnte ihr Babygesicht im Profil erkennen. Doch dann stutzte sie, denn das Gebäude im Hintergrund kannte sie nicht. Das war mit Sicherheit nicht hier auf der Insel. Auf dem Bild befand sich hinter ihrer Mutter ein kleiner Brunnen, der mit einer Statue bekrönt war. Natürlich hätte er auch irgendwo auf Kreta stehen können, aber irgendetwas ließ Alexandra daran zweifeln. Sie entdeckte eine schwarze Katze auf einer Mauer, dahinter ragten schmale dunkle Silhouetten von Zypressen empor. An der Mauer hing ein Straßenschild, aber es war zu klein, um es richtig erkennen zu können. Alexandra war sich ganz sicher, dass sie später nie wieder an diesem Ort gewesen war.

Sie sprang auf, griff sich das Foto und rannte nach unten. Zuerst sah sie auf der Terrasse nach, dann lief sie weiter zur Wohnung ihres Großvaters. Sie klopfte laut an, bevor sie eintrat. Angelos saß im Wohnzimmer in einem Sessel und las mit einer Lupe die Zeitung.

„Großvater“, sagte Alexandra außer Atem. „Guten Abend. Kann ich … darf ich die Lupe mal leihen?“ Sie wedelte mit dem Foto.

Er sah erstaunt auf und gab ihr die Lupe.

Alexandra ließ sich auf den zweiten Sessel fallen und vergrößerte den Straßennamen mithilfe der Lupe. „Via di Novoli“, las sie und flüsterte: „Ist das in Italien? Wann war ich denn in Italien?“ Erstaunt blickte sie ihren Großvater an.

„Nie, soweit ich weiß. Zeig mal.“

Sie reichte ihm das Foto, und er nickte langsam. „Das bist auch nicht du, das ist Milena. Deine Schwester. Das muss in Florenz gewesen sein. Dort haben sie damals gewohnt.“ Er sprach leise, aber Alexandra hatte jedes Wort verstanden. Sie hörte auch die Tränen in seiner Stimme. Eine Gänsehaut lief ihr über Arme und Beine, und sie starrte auf das kleine Mädchen auf dem Foto. Ihre Schwester Milena. Das Bild verschwamm vor Alexandras Augen. Sie hatte ihre Schwester nie kennengelernt. Und durch einen furchtbaren Unfall war nicht nur ihre Schwester gestorben, sondern auch das Lächeln ihrer Mutter.

Die folgende Nacht war geprägt von Albträumen, die ihr den Schlaf raubten. Alexandra spürte fast körperlich, wie das frühere Leben ihrer Mutter und die Existenz einer bislang unbekannten Schwester sie berührten. Sie dachte an den einen Tag, an dem sie nach dem Ende des Schuljahres nach Kreta gekommen war, und das Zimmer ihrer Mutter leer vorgefunden hatte. Die Möbel waren noch da, aber schon auf den ersten Blick hatte sie erkannt, dass die Mutter fort war. Alle persönlichen Sachen waren weg, kein Foto mehr an der Wand und die Schranktüren standen zum Lüften offen. Die Kleiderbügel schlugen im leichten Durchzug gegeneinander. Auf dem Bett lag eine Tagesdecke, die Alexandra noch nie gesehen hatte.

Sie hatte fassungslos im Zimmer gestanden und lange nicht begriffen, was los war. Irgendwann war Großmutter mit einem Brief in der Hand und Tränen in den Augen zu ihr gekommen und hatte sie wortlos in die Arme genommen. Vor Beginn des Schulhalbjahres hatte Alexandra ihre Mutter zum letzten Mal gesehen. Es hatte keinen Abschied gegeben.

Am nächsten Morgen waren die Erinnerungen noch deutlicher, und Alexandra schaffte es kaum aufzustehen. Ihre Beine fühlten sich schwer an, und sie spürte mit jeder Bewegung, was ihr fehlte. Sie kannte die Wahrheit, jetzt kannte sie alle Geheimnisse von damals, aber es änderte nichts daran, dass sie ihre Mutter verloren hatte. Genau wie ihren Vater Kostas, der, wie sie jetzt wusste, gar nicht wirklich ihr Vater war. Und den leiblichen Vater, den sie nie hatte kennenlernen können, hatte sie auch verloren.

Eve kam gerade durch die Tür, als Alexandra die Brotkörbe für das Frühstück vorbereitete. „Hast du alles gelesen?“, fragte Eve und hielt Alexandra einen kleinen Strauß Wildblumen hin. „Für dich. Für ein kleines Lächeln.“

Alexandra musste sofort an das ungekannte Lächeln ihrer Mutter auf dem Foto denken und schluckte. „Ja, alles“, sagte sie schließlich.

„Hast du schon mal daran gedacht, zu deinem Vater Kontakt aufzunehmen?“

„Was? Nein. Er hat sich doch all die Jahre nicht gemeldet.“ Alexandra wusste genau, warum. Am Anfang hatte ihr Vater noch versucht, ihre Mutter zu besuchen. Aber sie hatte ihn nie erhört, und die Großeltern hatten ihn schließlich weggeschickt. Es hatte einfach keinen Sinn gehabt. „Er kennt mich nicht“, sagte Alexandra traurig.

„Dann wird es höchste Zeit.“ Eve lächelte und schien so aufgeregt, dass ein kleiner Funken auf Alexandra übersprang. Auf einmal wünschte sie sich nichts mehr, als Florenz zu sehen. Und ihren Vater. Sie musste sich ja nicht zu erkennen geben, aber sie wusste, dass sie mit ihm sprechen wollte. Herausfinden, wie er war.

„Aber ich kann nicht weg“, sagte Alexandra.

„Doch, das kannst du. Ich übernehme so lange, ich habe doch gesagt, dass du Urlaub brauchst. Warum machst du ihn nicht in …“

„Florenz?“, sagten Eve und Alexandra gleichzeitig und mussten lachen. Den Namen der Stadt auszusprechen, wo ihre Eltern gewohnt hatten, wo ihre Schwester gelebt hatte, löste etwas in Alexandra aus. Einen Sturm und eine seltsame Ruhe gleichzeitig. Eine Sehnsucht, unaufhaltsam und stärker als Ebbe und Flut.

„Du hast recht“, sagte Alexandra, umarmte ihre Freundin stürmisch und rannte nach oben. „Ich muss packen“, rief sie und hörte, wie Eve glücklich lachte.

Es war komplizierter als erwartet von Kreta nach Florenz zu fliegen. Alexandra hatte einen Zwischenstopp in Athen, und sie versuchte, nicht daran zu denken, dass ihre Mutter irgendwo in dieser Stadt war. Endlich in Florenz angekommen, gönnte Alexandra sich eine Taxifahrt ins Zentrum. In ihrer Hand hielt sie einen zerknitterten alten Briefumschlag mit der Adresse ihres Vaters. Es war der letzte Brief, den sie gefunden hatte, eingeschlagen in das Taufkleidchen ihrer Schwester Milena, das sie anfangs irrtümlicherweise für ihr eigenes gehalten hatte.

Alexandras Herz begann immer schneller und lauter zu klopfen, je näher sie der Gegend kamen, in der die Straße ihres Vaters liegen musste. Der Taxifahrer sprach etwas Englisch und erklärte ihr die Sehenswürdigkeiten, an denen sie vorbeifuhren. Alexandra versuchte zuzuhören, fand es aber schwierig an den richtigen Stellen zu lachen, sodass er irgendwann aufgab.

„Da sind wir“, sagte er schließlich und warf ihr einen neugierigen Blick zu.

Mit zitternden Fingern nahm sie Geld aus ihrem Portemonnaie und stieg aus. Der Fahrer gab ihr ihren Koffer und brauste davon. Alexandra sah sich aufgeregt um. Die Wohnung ihres Vaters musste ganz in der Nähe sein. Die Häuser hatten vier Stockwerke mit schmalen Balkonen, über denen gestreifte und einfarbige Stoffmarkisen im Wind flatterten. Es roch nach heißem Asphalt. Alexandra holte tief Luft und versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen.

Sie war sich nicht sicher, was sie tun wollte, wenn sie die Wohnung gefunden hatte. Würde sie klingeln? Wie sollte sie ihr plötzliches Auftauchen erklären? Nein, sie wollte nur auf dem Klingelschild seinen Namen lesen. Für den Rest würde sie Zeit brauchen. Und einen Plan.

Langsam machte sie sich auf den Weg zu der Adresse und blieb schließlich vor einer hellbraunen Holztür stehen. Die Klingelschilder waren in Messing eingefasst, und Alexandra las die Namen leise flüsternd vor. Fontana, De Luca, Romano. Leider war der Nachname ihres Vaters nicht dabei. Arcuri. Alexandra sah auf das vergilbte Papier in ihrer Hand. Der Brief war mit Sicherheit dreißig Jahre alt. Ihr Vater war vermutlich längst weggezogen. Wie sollte sie ihn jetzt nur finden?

„Scusi“