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Nach dem Tod des Grafen von Klattenbach erträgt Gräfin Rita es nicht mehr, ihre Adoptivtochter Milena bei sich zu haben. Sie glaubt, dass das Mädchen der Beweis für einen früheren Seitensprung ihres Mannes ist. Deshalb jagt sie die Komtess unbarmherzig von dem Anwesen. In der Fremde versucht die junge Frau, sich eine neue Existenz aufzubauen. Milena von Klattenbach gibt sich als Lena Bach aus und findet eine Anstellung als Pferdepflegerin auf dem Gestüt Spreenhagen. Sie fühlt sich dort auf Anhieb wohl, und ihr Arbeitgeber Volkmar von Spreenhagen erfüllt sie mit einem bisher noch nie dagewesenen Kribbeln im Bauch.
Als Milena für ein wichtiges Geschäft eines Tages mit Volkmar nach Schloss Klattenbach fahren muss, bemerkt der junge Mann, dass seine Pferdepflegerin völlig verändert ist. Auch auf Klattenbach verhalten sich alle ihr gegenüber sehr seltsam. Da beginnt der junge Graf zu ahnen, dass Lena Bach ihm etwas Wichtiges aus ihrer Vergangenheit verschwiegen hat ...
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Seitenzahl: 176
Veröffentlichungsjahr: 2016
Cover
Impressum
Die Adoptivtochter des Grafen Klattenbach
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: shutterstock/Grigoriev Ruslan
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-2406-8
www.bastei-entertainment.de
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www.bastei.de
Die Adoptivtochter des Grafen Klattenbach
Welches Geheimnis bewahrt Komtess Milena vor ihrem Liebsten?
Anke Brinkmann
Nach dem Tod des Grafen von Klattenbach erträgt Gräfin Rita es nicht mehr, ihre Adoptivtochter Milena bei sich zu haben. Sie glaubt, dass das Mädchen der Beweis für einen früheren Seitensprung ihres Mannes ist. Deshalb jagt sie die Komtess unbarmherzig von dem Anwesen. In der Fremde versucht die junge Frau, sich eine neue Existenz aufzubauen. Milena von Klattenbach gibt sich als Lena Bach aus und findet eine Anstellung als Pferdepflegerin auf dem Gestüt Spreenhagen. Sie fühlt sich dort auf Anhieb wohl, und ihr Arbeitgeber Volkmar von Spreenhagen erfüllt sie mit einem bisher noch nie dagewesenen Kribbeln im Bauch.
Als Milena für ein wichtiges Geschäft eines Tages mit Volkmar nach Schloss Klattenbach fahren muss, bemerkt der junge Mann, dass seine Pferdepflegerin völlig verändert ist. Auch auf Klattenbach verhalten sich alle ihr gegenüber sehr seltsam. Da beginnt der junge Graf zu ahnen, dass Lena Bach ihm etwas Wichtiges aus ihrer Vergangenheit verschwiegen hat …
„Bettine braucht unbedingt ein neues Kleid für den nächsten Ball.“ Gräfin Rita sprach mit einer Entschiedenheit, die keinen Widerspruch duldete.
„Hat sie nicht erst im Frühjahr …“, begann ihr Gatte dennoch zaghaft zu protestieren.
„Bettine kann nicht immerzu in demselben Kleid herumlaufen“, schnitt Rita von Klattenbach ihm das Wort ab. „Außerdem können wir es uns ja erlauben, unsere Tochter ein bisschen zu verwöhnen.“
„Das schon“, räumte Graf Edgar widerstrebend ein. „Aber ich bin der Meinung, dass man es den Kindern nicht zu leicht machen darf. Sie gewöhnen es sich sonst an, ständig neue Ansprüche zu stellen. Doch geh meinetwegen mit den Mädchen in die Stadt und kaufe ihnen etwas.“
Die Frau runzelte die Stirn. „Milena könnte ihr Kleid noch gut ein wenig länger tragen.“
Der Graf schüttelte den Kopf. „Wenn Bettine ein neues Kleid bekommt, dann darf Milena nicht zurückstehen. So haben wir es doch immer gehalten, Rita. Schließlich ist sie unsere Tochter.“
„Adoptivtochter“, entgegnete seine Gattin leise.
„Ja, aber das weiß sie nicht. Sie glaubt, unser Kind zu sein. War sie dir nicht immer eine gute Tochter?“
„Das kann man nach allem, was wir für sie getan haben, wohl auch verlangen.“
Edgar von Klattenbach seufzte. „Du bist eine herzensgute Frau, Rita, und deshalb verstehe ich nicht, dass du ausgerechnet Milena gegenüber so wenig Verständnis zeigst. Es ist doch nicht ihre Schuld, dass ihre Eltern ums Leben gekommen sind, als sie noch ein Säugling war.“
Gräfin Rita trommelte mit den Fingerspitzen auf die Sessellehne. Sie wollte nichts mehr davon hören. So oft schon hatten sie sich über dieses Thema unterhalten. Angeblich war Milena die Tochter eines Freundes ihres Mannes, der bei einem Eisenbahnunglück zusammen mit seiner Frau ums Leben gekommen war. Gräfin Rita hatte diesen Freund niemals kennengelernt. Und, was noch merkwürdiger war, vor dem Unfall hatte Edgar ihr auch nie etwas von ihm erzählt. Eines Tages war er ganz plötzlich mit dem Säugling angekommen und hatte von ihr verlangt, sie solle Mutterstelle an ihm vertreten.
„Wenn du darauf bestehst, dass wir Milena so verwöhnen, meinetwegen“, gab die Gräfin widerwillig nach. Aus Erfahrung wusste sie, dass ihr Mann darauf bestand, dass sie beide Mädchen gleich behandelten. Er begriff einfach nicht, dass ihr eigen Fleisch und Blut ihrem Herzen naturgemäß näherstand.
Ja, wäre sie überzeugt, dass Milena wirklich die Tochter seines Freundes war, dann wäre für sie alles leichter gewesen. Aber diesen Glauben hatte Gräfin Rita nicht.
Früher einmal war Edgar von Klattenbach ein Mann gewesen, der gern nach anderen Frauen geschaut hatte. Die Gräfin wusste, dass viele Mädchen für ihn geschwärmt hatten. Edgar hatte oft landwirtschaftliche Versammlungen besucht und war manchmal eine ganze Woche fort gewesen. Was hat er in der Zeit getan?
Das war eine Frage, die Gräfin Rita auch heute noch bedrückte. Sie war überzeugt, dass Milena die Tochter einer Frau war, die Edgar einmal geliebt hatte. Eine unverheiratete Frau, die nichts von dem Kind hatte wissen wollen. Wie sonst war es zu erklären, dass Edgar so an Milena hing?
Die Gräfin war eifersüchtig auf das Kind, eifersüchtig auf jedes gute Wort, das Edgar ihm gönnte, eifersüchtig auf jede Minute, die er Milena widmete.
Rita von Klattenbach hatte es, ihrer eigenen Meinung nach, im Leben nicht leicht gehabt. Was für eine Zumutung, das Kind eines Fehltritts aufziehen zu müssen! Aber Männer hatten einfach kein Verständnis für die Gefühle einer Frau, war sie überzeugt.
„Was hast du eigentlich gegen Milena?“, fragte der Graf von Klattenbach. „Hat sie dir ein einziges Mal Kummer bereitet?“
„Nein. Das wäre ja auch noch schöner“, knurrte die Gräfin. Sie griff nach ihrer Handarbeit, um Edgar beim Sprechen nicht anschauen zu müssen.
Milena war zu einer sehr schönen jungen Dame herangewachsen, schöner als ihre eigene Tochter Bettine. Die Männer liefen ihr nach, während Bettine immer ein wenig in Milenas Schatten stand.
Und Edgar war stolz auf Milenas Erfolge. Alles im Haus drehte sich nur um sie. Edgars erste Frage galt stets ihr und nicht Bettine.
Hätte ich um ein neues Kleid für Milena gebeten, hätte er keine Einwände erhoben, dachte die Frau.
„Wo stecken die Mädchen eigentlich?“, fragte Graf Edgar.
„Bettine ist in ihrem Zimmer und liest. Milena wird sich wahrscheinlich draußen herumtreiben. Sie reitet ja gern.“
Das hat sie von Edgar geerbt, dachte die Gräfin.
Ihr Mann war ein leidenschaftlicher Reiter, und er hatte Milena ein Pony gekauft, als die Kleine kaum richtig laufen konnte. Ihr hatte er persönlich Reitunterricht erteilt. Bettine nicht … Sie war ungeschickt im Sattel, hatte Angst vor Pferden und ritt nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
„Sie ist wirklich ein Prachtmädchen geworden“, meinte der Graf versonnen. „Das hätten wir uns nicht träumen lassen, als ich sie damals brachte, Rita. Weißt du noch, wie sie uns angelacht hat?“
„Ja.“
Ritas Einsilbigkeit fiel Edgar von Klattenbach nicht auf. Er hing seinen schönen Erinnerungen nach.
„Und dann ihr erster Ball! Sie trug damals ein weißes Kleid und sah wunderschön aus.“
Was Bettine bei ihrem ersten Ball getragen hat, weiß er bestimmt nicht mehr, dachte die Gräfin. Sie ist ja auch bloß meine Tochter, und wir haben geheiratet, weil unsere Eltern es so wollten. Richtig geliebt hat er mich nie.
„Fühlst du dich nicht wohl?“, fragte der Graf mitleidig. „Du atmest so schwer. Du solltest dich einmal gründlich untersuchen lassen. Du bist so blass geworden, Rita, geh mehr an die frische Luft. Schade, dass du nicht reitest. Du hast keine Ahnung, was dir dadurch an Freude entgeht.“
Gräfin Rita hatte, genau wie ihre Tochter, Angst vor Pferden. Seit einem Sturz hatte sie ihren Schock nicht überwinden können und war niemals wieder in einen Sattel gestiegen.
„Ich denke, ich schaue einmal nach, wo Milena steckt.“ Der Graf von Klattenbach stand auf. „Dass du immer sticken musst. Verdirb dir nicht die Augen, Rita“, meinte er mit gutmütiger Nachsicht. „Wir haben doch schon so viele Decken. Du solltest lieber an die frische Luft gehen, das würde dir besser bekommen.“
„Danke, ich fühle mich ausgezeichnet“, gab die Gräfin knapp zurück. Sie stichelte nervös weiter.
Natürlich, Milena lief er nach. Auf den Gedanken, zu Bettine ins Zimmer zu gehen, kam er nicht. Seiner Meinung nach war Bettine wohl langweilig, ihr fehlte diese gewisse Ausstrahlung, die Milena zweifelsohne hatte.
Als Edgar von Klattenbach hinausging, ließ sie ihre Stickerei sinken und schaute ihm nach.
Wenn ich ihn doch nur nicht so lieben würde!, dachte sie. Er hat keine Ahnung, was er mir bedeutet. Er ist freundlich zu mir, denn ich bin seine Frau. Er weiß, was er mir schuldig ist. Er achtet und respektiert mich, aber lieben, nein, lieben kann er mich nicht. Er liebt nur Milena.
Hastig tupfte sich Gräfin Rita die feucht gewordenen Augen trocken. Es hatte ja keinen Zweck zu weinen. Sie musste sich damit abfinden, in Edgars Leben nur eine Nebenrolle zu spielen. Er brauchte sie nicht, er hatte ja Milena, die ganz genauso geworden war, wie er sich seine Tochter immer gewünscht hatte.
***
„Hier finde ich dich!“ Edgar von Klattenbach winkte Milena schon von Weitem zu.
Die junge Dame drehte sich im Sattel herum und lachte ihn an. Ihr Anblick war wirklich eine Augenweide. Sie trug einen Reitanzug, der ihre Figur vorteilhaft zur Geltung brachte, und ihr goldblondes Haar flatterte im leichten Sommerwind.
Lachend kam sie auf ihren Vater zugeritten.
„Ich wollte nur einmal sehen, wie es dir geht“, erklärte Graf Edgar. „Was hast du heute Morgen gemacht?“
„Mitgeholfen“, erklärte Komtess Milena stolz. „Sieh nur meine Hände an, Vater!“ Sie wies sie ihm mit den Innenflächen vor, und neben der schlanken Form konnte Graf Edgar die Schwielen bewundern, die sie hatte.
„Du sollst doch nicht immer so viel körperlich arbeiten“, mahnte er. „Du kannst zum nächsten Ball unmöglich mit solchen Händen gehen. Was sollen die jungen Herren von dir denken?“
„Die jungen Herren sollten selbst arbeiten, dann würden sie nicht über Schwielen die Nase rümpfen. Schließlich packst du ja auch noch tüchtig zu. Ich glaube, wir werden eine gute Ernte bekommen.“
„Es sieht ganz so aus“, bestätigte der alte Herr zufrieden. „Deine Mutter will übrigens mit dir und Bettine in die Stadt fahren. Ihr sollt neue Ballkleider bekommen.“
„Aber ich habe doch genug. Ein neuer Reitanzug wäre mir lieber. Kannst du nicht mit Mutter sprechen, ob …“
„Nein, du sollst ein neues Ballkleid bekommen“, bestimmte der Graf. „Wahrscheinlich hat die Mode inzwischen gewechselt, und ich will, dass du die hübscheste junge Dame bist.“
„Wozu? Du weißt, dass ich mir nichts aus Bällen mache. Viel lieber würde ich früh ins Bett gehen und richtig ausschlafen. In den nächsten Tagen wird Wirbelwind fohlen. Ich freue mich schon darauf.“
„Du mit deinen Pferden“, murmelte Graf Edgar gerührt. „Deine ganzen Gedanken kreisen nur um Pferde.“
„Immerhin haben wir eine Zucht, die sich sehen lassen kann und sogar noch gut Geld einbringt“, erinnerte Milena stolz. „Die meisten Züchter setzen bares Geld zu, aber wir verdienen es.“
„Weil du so tüchtig bist! Ich bin sehr stolz auf dich, Milena. Schade, dass sich Bettine nicht für Pferde interessiert.“
„Sie kocht lieber, das hat auch viel für sich, Vater. Mir kommt die Küche immer wie ein Gefängnis vor. Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich den hohen Himmel über mir habe.“
„Und einen Sattel unter dir“, ergänzte der Graf von Klattenbach lachend. „Was hältst du davon, wenn wir nach Hause reiten? Du musst dich zum Essen noch umziehen, und du weißt, wie ärgerlich deine Mutter wird, wenn wir sie warten lassen.“
„Also gut.“ Milena schickte ihrer Zustimmung einen Seufzer hinterher. „Morgen will ich die jungen Pferde trainieren. Hast du Lust, es dir anzuschauen? Ich werde die Hindernisse etwas schwieriger aufbauen.“
„Sei nur nicht zu wagemutig“, mahnte Graf Edgar. „Ich habe immer Angst, dass du dir eines Tages das Genick brichst.“
„Bestimmt nicht. Unkraut vergeht nicht, das weißt du doch. Dein Brauner braucht etwas mehr Bewegung, Vater. Wollen wir um die Wette nach Hause reiten? Du bekommst fünfzig Meter Vorgabe.“
„Ich verliere ja doch“, entgegnete der alte Herr resigniert.
„Versuche es doch wenigstens. Komm, wir nehmen den kürzesten Weg. Ich zähle bis zehn, dann reite ich dir nach. Einverstanden?“
Es gab nichts, was Graf Edgar seiner Adoptivtochter abschlagen konnte. Sie ritten häufig um die Wette, und jedes Mal siegte die Komtess. Es gab für den alten Herrn nämlich keine größere Freude, als sie vor sich auf dem Rücken eines schnellen Pferdes reiten zu sehen. Deshalb ließ er seine Tiere nie so rasch galoppieren, wie es vielleicht möglich gewesen wäre.
Auch heute überholte Komtess Milena ihren Vater schon nach wenigen hundert Metern. Ihr Gesicht war vom Wind gerötet, ihre Augen blitzten, ihr helles Haar flatterte um ihren Kopf.
Graf Edgar ließ sich Zeit, und als sich seine Adoptivtochter im Sattel herumdrehte und ihm zuwinkte, da hob er die Rechte und winkte zurück.
Das geschah gerade in dem Augenblick, in dem sein Wallach mit dem rechten Vorderfuß in ein Kaninchenloch trat und stürzte.
Der Graf von Klattenbach war ein ausgezeichneter Reiter, der schon manchen Sturz unbeschadet überstanden hatte, aber dieses Mal hatte er sich nicht auf sein Pferd konzentriert. Der Sturz kam für ihn völlig überraschend. Hätte er beide Hände an den Zügeln gehabt, vielleicht wäre es anders verlaufen.
Bevor er noch einen Schrei ausstoßen konnte, lag er schon auf dem Boden. Mit dem Kopf war er auf einen Feldstein gefallen, der am Rand des Ackers lag.
Auf der Hinterhand parierte Milena ihr Pferd und preschte zurück. Noch im Galopp sprang sie auf die Erde und ließ die Zügel einfach schleifen.
„Vater, hast du dir wehgetan?“, fragte sie erschrocken und kniete neben ihm nieder.
Seltsam verrenkt lag der alte Herr auf dem staubigen Weg. Er blutete nicht, aber er schien bewusstlos zu sein.
„Vater!“ Die Fingerspitzen des Mädchens glitten zart über seine fahlen Wangen. Behutsam bettete sie ihn bequemer.
Ich muss Hilfe holen, dachte sie. Wir werden Vater mit dem Wagen ins Schloss schaffen müssen.
Sie lief ihrem Pferd nach, sprang in den Sattel und galoppierte nach Schloss Klattenbach.
„Gustav, Heinz, kommt mit!“, rief sie zwei Knechten zu, die sich vor den großen Stallungen zu schaffen machten. „Kümmert euch nicht um mein Pferd, das hat Zeit. Vater ist gestürzt, wir müssen ihn holen!“ Sie lief zu der Garage, fuhr den Geländewagen hinaus und hielt nicht einmal an, als sie an den beiden verdutzten Knechten vorüberfuhr. „Aufspringen! Worauf wartet ihr noch?“
Die beiden jungen Leute waren es gewohnt, ihr aufs Wort zu gehorchen. Sie waren kaum im Wagen, da trat Milena das Gaspedal voll durch. Der Geländewagen machte einen Satz, der die Knechte nach hinten warf.
Ohne Rücksicht auf Schlaglöcher und Steine raste Milena zu dem Unfallort.
Ihr Vater hatte sich nicht gerührt, er lag genauso da, wie sie ihn verlassen hatte.
„Wie ist das gekommen?“, fragte der eine Knecht verwundert. „Ist er schwer verletzt?“
„Ich weiß es nicht. Nehmt ihn in den Wagen, aber seid vorsichtig.“
Sehr langsam fuhr Milena zurück, während die beiden Knechte den verletzten Grafen stützten.
„Ich glaube fast …“, sagte einer.
Der andere nickte. „Ich glaube auch“, bestätigte er das, was der andere nicht in Worte zu fassen gewagt hatte.
„Tragt meinen Vater ins Haus. Ich werde sofort den Arzt rufen. Aber seid vorsichtig, vermeidet Erschütterungen.“
„Jawohl, gnädiges Fräulein.“
Milena wählte hastig die Nummer des Arztes und bat ihn, sofort zu kommen.
„Und bringen Sie alles mit, was Sie eventuell brauchen, Doktor!“
Der Arzt versprach, sich sofort auf den Weg zu machen.
„Was ist los?“, fragte Bettine, die durch den Lärm auf dem Flur aus ihrem Zimmer gelockt worden war.
Die beiden Knechte trugen ihren Vater gerade vorbei.
„Er ist gestürzt. Der Arzt kommt sofort. Besorge kaltes Wasser und Tücher, Bettine“, ordnete Milena an. „Ich werde ihm Kompressen machen.“
„Steht es schlimm um ihn?“, fragte Bettine beklommen.
„Frag nicht so viel, hol Wasser und Tücher!“
Bettine lief davon, um die gewünschten Dinge zu holen, während Milena dem Vater die Schuhe auszog. Die beiden Knechte standen unbeholfen daneben. Sie wussten nicht, was sie tun sollten, und warteten auf weitere Befehle der Komtess. Gleich darauf kehrte Bettine mit Wasser und Tüchern zurück.
„Vater … Er ist doch nicht …“, begann sie flüsternd.
Milena stutzte. Sie krauste die Stirn, dann schüttelte sie den Kopf.
„Er ist ein erfahrener Reiter, ihm wird schon nichts Ernsthaftes passiert sein.“
„Man sieht keine Atembewegungen“, stellte einer der Knechte verlegen fest.
Milena beugte sich über Edgar von Klattenbach. Sie legte ihre Hand auf seine Stirn und schrak zusammen.
„Nein …“, flüsterte sie dann. „Vater!“
„Du glaubst doch nicht …“ Bettine schluckte, dann liefen ihr Tränen über das Gesicht. „Seid ihr wieder so wild geritten? Vater ist kein Jüngling mehr, das hättest du bedenken müssen. Aber er ist doch nicht tot, nicht wahr? Er ist nur ohnmächtig.“
Der Arzt, der wenig später eintraf, konnte nur noch den Tod des Grafen Klattenbach feststellen. Beim Sturz hatte sich der Mann das Genick gebrochen. Der Arzt drückte Gräfin Rita und den beiden Komtessen teilnahmsvoll die Hand.
„Wenn Sie noch irgendwelche Hilfe brauchen, sagen Sie es nur, ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung. Vielleicht ist es gut, wenn Sie sich mit dem Anwalt in Verbindung setzen, Frau von Klattenbach. Er kennt sich mit allen notwendigen Formalitäten aus.“
Rita von Klattenbach hatte seine Worte nicht gehört. Sie saß auf einem Stuhl neben dem Bett und schaute auf den geliebten Mann. Er war vom Pferd gestürzt, als er mit Milena zusammen ausgeritten war. Die Gräfin wusste, dass er dann stets versuchte, mit seiner Adoptivtochter zu konkurrieren. Er vergaß gern, dass er kein junger Mann mehr war. Und dabei war es passiert. Gräfin Rita senkte den Kopf noch tiefer. Ihre Hände hatte sie in ihrem Schoß gefaltet, aber sie sprach kein Gebet. In ihrem Herzen war eine ungeheure Erbitterung, die sich gegen Milena richtete.
Trug das Mädchen nicht indirekt die Verantwortung für das jähe Ende dieses Mannes?
Gräfin Rita konnte nicht weinen. Sie war innerlich wie erstarrt.
***
Es fiel Milena in den nächsten Tagen nicht auf, dass ihre Mutter kaum mit ihr sprach. Sie selbst war so in ihrem Schmerz vergraben, dass vieles, was um sie herum geschah, ihr Bewusstsein kaum erreichte. Alles in ihr weigerte sich zu begreifen, dass der geliebte Vater für immer von ihr gegangen war.
So manches Mal, wenn sie in ihrem Zimmer saß und draußen Schritte hörte, hob sie den Kopf, während der Schatten eines Lächelns über ihr Gesicht glitt.
Vater!, durchzuckte es sie dann, bis sich sofort darauf die Erinnerung meldete.
Am offenen Grab erlebte Milena den tiefsten Schmerz ihres Lebens, als man den Sarg in die feuchte Erde senkte. Eine Stunde zuvor hatte es angefangen zu regnen, und das Wetter passte genau zu der Stimmung der großen Trauergemeinde.
Die Zukunft des Gutes lag im Dunkeln, und es war kein Wunder, dass sich alle Angestellten und Arbeiter Sorgen darum machten, wie es weiterging. Zwei Mädchen und eine alt gewordene Frau trugen nun die Verantwortung für ein Werk, das für ihre Schultern zu schwer war. Man hatte es in den letzten Tagen zu spüren bekommen, was es hieß, dass der Mann fehlte, der die Arbeit einteilte und beaufsichtigte.
Auf dem Hof, auf dem sich die Leute morgens zu versammeln pflegten, wurde diskutiert, man war sich nicht einig über das, was als Nächstes getan werden musste. Die Ernte stand vor der Tür, in wenigen Wochen würde man mit Hochdruck arbeiten müssen, um sie einzubringen.
Gräfin Rita ging ihren Trauergästen voran ins Schloss. Sie machte einen sehr würdevollen Eindruck, aber wer sie gut kannte, erschrak vor ihrem wie versteinert wirkenden Gesicht. Dabei erfüllte die Gräfin von Klattenbach all ihre Pflichten vorbildlich. Sie hatte sich um jede Kleinigkeit der Beisetzung selbst gekümmert. Niemand hatte sie jemals weinen sehen.
Vielleicht hätten Tränen ihr Erleichterung verschafft, aber die frühzeitig alt gewordene Frau konnte nicht weinen. Sie sprach mit fast tonloser Stimme, und ihr Blick schien durch die Menschen, die sie anschaute, hindurchzugehen. Eine eisige Einsamkeit war um sie herum, die auch ihre Töchter nicht durchbrechen konnten.
Bettine hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen und ließ sich auch bei den Mahlzeiten nicht sehen.
Milena dagegen versuchte der Gräfin so viel wie möglich abzunehmen. Aber in Haushaltsfragen kannte sie sich nicht so gut aus, ihr Gebiet war das Gestüt.
Drei Tage lang hatte sie sich nicht um die Pferde gekümmert. Drei Tage lang hatte sie nicht im Sattel gesessen. Sie glaubte, nie wieder Freude am Reiten haben zu können. Ein Pferd hatte den Tod des geliebten Vaters auf dem Gewissen – musste sie da Pferde nicht hassen?
In seinem Testament hatte Graf Edgar seine Frau zur Alleinerbin eingesetzt. Er wusste, dass sie zu gegebener Zeit seine Töchter gerecht bedenken würde.
Vierzehn Tage nach der Trauerfeier war die Testamentseröffnung. Milena und Bettine fanden die Bestimmungen ihres Vaters vollkommen in Ordnung. Edgar hatte nicht gewollt, dass seine Gattin jemals von der Gnade ihrer Töchter oder Schwiegersöhne abhängig sein sollte.
In stummer Haltung ertrug Gräfin Rita die Verlesung des Testaments. Der Wagen, der sie nach Klattenbach zurückbrachte, wartete draußen vor dem Bürohaus. Es war ein heißer, schwüler Tag, als die drei schwarz gekleideten Damen zurückfuhren.
„Du musst bald heiraten“, wandte sich Gräfin Rita plötzlich an Bettine. „Ich verlange es von dir. Wir brauchen jemanden, der Vaters Platz einnimmt. Hast du schon gewählt?“
Bettine wurde dunkelrot vor Verlegenheit. „Ist das nicht pietätlos, was du vorschlägst?“, fragte sie leise. „Lass uns noch warten, Mutter. Milena ist auch ein Jahr älter als ich.“
„Ich spreche von dir und nicht von Milena. Für sie wird sich einiges ändern. Bist du nicht mit Rappenau befreundet?“
„Ja“, hauchte Bettine.
„Ist es etwas Ernstes oder nur ein Flirt?“
„Es ist uns ernst. Dietrich wollte im Herbst um meine Hand anhalten. Jetzt, nach Vaters Tod …“
„Sag ihm, dass ich mich freuen würde, ihn früher bei mir zu sehen. Rappenau ist ein guter Landwirt. Unsere Leute sind willig, er wird sich ohne Schwierigkeiten einarbeiten können. Die Hochzeit wird selbstverständlich in aller Stille stattfinden.“
„Ich weiß nicht, was Dietrich dazu sagen wird“, murmelte Bettine. „Bitte, überstürze nichts, Mutter.“
„Wir werden auch bestimmt einen tüchtigen Verwalter finden“, unterstützte Milena sie.
„Ich will keinen Verwalter auf Klattenbach haben“, widersprach die Gräfin. „Es ist die Pflicht meiner Tochter, einen guten Landwirt zu heiraten.“
„Wie du meinst, Mutter“, murmelte Bettine. Sie widersprach nur ganz selten.
Milena war ganz anders. Sie begehrte oft auf, sie hatte ihren eigenen Kopf.