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Als hätte Romy nicht schon genug Stress! Ständig Stromausfall, überall Holzwürmer, alles wie vor hundert Jahren. Gut, wer in einem Museum wohnt, darf ruhig in der Vergangenheit leben, sagt ihr Vater, aber der würde auch sagen, echte Zeitreisen wären zu gefährlich für eine Vierzehnjährige. Wenn der wüsste! Bei den ersten Zeitportalen dachte sie noch, sie hätte geträumt. Bis einmal Valle mit dabei war. Was also machen mit Tunneln, die zu vergangenen Ereignissen führen? Für Romy ganz klar: Einsteigen! Nebenbei noch vergessene Verbrechen verhindern und wieder zurück. Doch in die Vergangenheit reisen kann Folgen haben. Da ist guter Rat teuer, wenn unangenehmer Besuch aus der Zukunft kommt. Und dass sich jetzt noch die Polizei für Romy interessiert, ist von allen Problemen noch das geringste.
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Seitenzahl: 325
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Sven Schrader mag zwar ein ITler sein, der tagsüber Datenbanken quält oder Hackern das Leben schwer macht. Doch wenn die letzte Codezeile geschrieben ist, mutiert er zum schreibwütigen Erzähler, der in die Tiefen seiner Fantasie eintaucht. Der ehemalige Neurophysiker könnte einfach weiter über Hirnzellen oder Netzwerke schreiben, aber nein! Er entschied sich dafür, seine Leser:innen mit seinem Debütroman „Romys Kreise“ durch Zeit und Raum zu schleudern, einem verwirrend vielschichtigen Werk, das ebenso vor- wie zurückgeblättert werden will. Also viel Vergnügen, aber Vorsicht! In dieser Erzählung verschwimmen nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch Traum und Realität.
KAPITEL: 1 DER TAG DER RATSCHE
KAPITEL: 2 PERFEKT!
KAPITEL: 3 IM KINO
KAPITEL: 4 REIHE VIER, PLATZ DREIZEHN
KAPITEL: 5 BESUCHER
KAPITEL: 6 EBENE ROT
KAPITEL: 7 NACHRICHT VON ROMY
KAPITEL: 8 HAPPY HOUR
KAPITEL: 9 REGEN
KAPITEL: 10 REISE INS MITTELALTER
KAPITEL: 11 VERHÖRE
KAPITEL: 12 DER FALL
KAPITEL: 13 REGEL NULL
KAPITEL: 14 KAPITEL EINS
Jeden Kieselstein, den sie aufnahm, betrachtete sie genau.
So rund und alt, alle Sorgenfalten geglättet von tausendjahrelangem Herumliegen. Und jeder Kieselstein, den sie warf, dieses kleine, runde, perfekte Stück Welt, erzählte eine Geschichte.
Weißt du, was ich daran so mag? Die Sache ist die : Kaum lässt man so einen Stein los, weiß man doch genau, wo im See er später landen wird. Klar, auf dem Weg nach unten könnte er noch ein paar Karpfen erschrecken, aber wo der Stein ankommen wird, steht von Anfang an fest. Wie ein reservierter Tisch in einem vollen Restaurant. Keiner weiß, wie und warum, aber Schlüters sind heute um achtzehnuhrdreißig an Tisch sechs, und nicht um 19 Uhr, oder vorgestern, oder Tisch fünf. Niemand würde behaupten, einer würde Schlüters dorthin zwingen. Und der Hunger allein kann sie auch nicht treiben, denn dann wären Schlüters doch jeden Tag um achtzehnuhrdreißig an Tisch sechs. Irgendwas lässt sie das machen, vielleicht ist dieses irgendwas auch schon vor tausend Jahren passiert.
Schlüters, die Kieselsteine.
Vielleicht bestellen sie ja Karpfen, wer weiß. Wenn der See tief genug ist, sind die Wellen bei mir angekommen, ehe noch der Stein den Grund berührt. Das ist dann, als könnte man ein wenig in die Zukunft schauen. Man hat schon die Welt ein wenig verändert, bevor es überhaupt eintritt, und dann? Dann läuft wieder tausend Jahre lang nichts.
Romy wusste, dass man mit Kieselsteinen die Welt nicht groß verändern konnte, oder hellsehen. Sie ahnte auch, dass sie mit dreizehn zu jung für Sorgenfalten war. Und sie wusste, dass auch sie um achtzehnuhrdreißig an einem bestimmten Ort sein musste, nämlich zu Hause – an Tisch eins. Gut, einer geht noch. Und für diesen Tag, den ersten warmen Tag im Frühling, sollte der letzte Stein fliegen. Dabei vollführte sie immer diese Handbewegung, die so geheimnisvoll aussehen sollte, bei der sie ihre Finger spreizte, ihr Handgelenk schwang und ganz erhaben dreinblickte. Wie aus der Hand der mächtigen Zauberin erhob sich der Kieselstein, und bevor dieser noch auf dem Wasser seine Kreise zeichnen konnte, drehte sich Romy auch schon zu ihrem Fahrrad. Ist ja egal, dachte sie, der findet schon seinen Platz, und wollte sich ebenso elegant auf ihr Rad schwingen, als ihr wieder klar wurde, dass sie mit den Beinen nicht so geschickt war wie mit ihren Händen. Und so schepperte sie mit der Anmut eines schlaftrunkenen Gorillababys in die kniehohe Wiese neben dem See. Als würde es sich zu ihr legen wollen, kippte auch ihr Fahrrad um und untermalte Romys Landung auf ihren Hintern mit dem schadenfreudigen Schellen seiner Klingel. Toll, seufzte sie und hörte hinter sich ihren Stein in den See platschen.
Ob sie schon Sommersprossen hatte, fragte sich Romy auf dem lang gezogenen Schotterweg, der vom See nach Hause führte. Rauschend zeichnete ihr Fahrrad eine Perlenkette an Staubwolken in die Landschaft, die noch kilometerweit zu sehen sein musste. Der Sonnenuntergang strahlte ihr direkt ins Gesicht, das eine Auge braun, das andere blau, und tauchte alles in ein herrliches Gold. Im Schatten der alten Fabrikhalle, an der sie vorbeifuhr, begannen die Sonnenstrahlen durch die riesigen Fenster und zwischen den Pfeilern hindurch zu flackern, als lieferten sich Hell und Dunkel einen erbitterten Kampf – hell, dunkel, hell, dunkel, Fenster, Pfeiler, Fenster, Pfeiler. Vorhin hatte sie wieder darin Zeit verbracht, obwohl es verboten war, sie zu betreten.
Der Fahrtwind strich an Romy vorbei und wirbelte ihr dunkles, fast schwarzes Haar auf. Endlich Frühling! Ein wohliges Kribbeln durchzog ihren Körper. Fenster, Pfeiler, Fenster, Pfeiler, Mist! In der Halle lag noch ihre Sporttasche! Romy bremste scharf und sah hinter sich die mächtige Staubfahne, die sie in der windstillen Landschaft hinterließ. Sie überlegte. Sport war erst wieder am Montag, und sie musste jetzt wirklich nach Hause. Gut, entschied sie, dann eben morgen. Sie fuhr weiter.
Am leeren Parkplatz zum Freilichtmuseum war der Schotterweg zu Ende, hier riss die Staubfahne ab. Romy hielt auf den Eingang zum Museumsgelände zu – ein ehemaliges Stadttor, das trotz seines Alters blendend weiß dastand. Sie wusste, dass jetzt keine Besucher mehr anstanden, daher trat sie in die Pedale und raste durch das Steintor.
»Hallo Diana!«, rief sie in das Kassenhäuschen, das an der Seite des Tors stand. Die rasante Fahrt über das Kopfsteinpflaster ließ ihre Stimme vibrieren.
»Dianaaaaa!«, lachte Romy wieder, und das Zittern ihres Rufes klang, als hätte sie eine Quietscheente zwischen ihren Fahrradspeichen. Die Fahrradklingel schepperte versöhnungsvoll mit.
»Roomyyyy!«, sang Diana fröhlich zurück, während sie das kleine Rolllädchen von innen herunterzog. Diana, die treue Seele. Seit Romy denken konnte, arbeitete sie im Kassenhäuschen und verkaufte Eintrittskarten.
Romy bretterte quer über den Marktplatz, der von Fachwerkhäusern und anderen alten Gebäuden umsäumt war. Sie raste zwischen den Geschäften hindurch. Gäste waren um diese Zeit ohnehin so gut wie keine unterwegs. Bergab ging es zur Pferdescheune, vorbei am Puppenmacher, durch die verlassenen Straßen. Durch die Jahrhunderte. Das herrliche Gold vom See gab noch einmal alles und ließ das sonst weiße Fachwerkhaus rostrot strahlen. Es war achtzehn Uhr fünfundzwanzig, und Romy war zu Hause.
Bis ich neun Jahre alt war, habe ich immer geglaubt, blauäugige Menschen sehen alles blauer und ich mit meinen braunen Knopfaugen alles ein wenig goldener. Bis zu dem Unfall. Danach wurde mein linkes Auge blau. Die andere Seite blieb „knopfig“, hatte mein Papa immer gescherzt. Er macht immer Witze, und manche davon sind sogar lustig. Du wirst ihn mögen, wenn du mal zu Besuch kommst. Sein Name ist Jonas, das bedeutet „der Friedliche“.
Warst du schon mal in einem Freilichtmuseum? Aus ganz Deutschland hat man alte Gebäude hergebracht. Die wurden abgebaut und hier wieder aufgebaut, Stein für Stein, Ziegel für Ziegel. Die Metzgerei von 1950 aus dem Hunsrück, der Bäcker von 1938 aus dem Westerwald, daran ein Briefkasten, der noch immer geleert wird! Sogar die Mäuse haben sie mitgenommen, erkläre ich manchmal den Besuchern, weil ich auch ab und zu Führungen mache. Die Besucher lachen dann, aber ab und zu fangen ihre Kinder an, die Mäuse zu suchen. Das bringt sie erst recht zum Lachen.
Mein Vater arbeitet hier als Hausmeister. Aber weil es ja so viele Gebäude gibt, nenne ich ihn Häusermeister. Bei den alten Bauwerken gibt es immer so viel zu tun, dass ich auch mal mithelfe, deswegen kenne ich mich schon gut mit Werkzeugen aus. Weißt du zum Beispiel, was eine Ratsche ist? Da bin ich sicher die Einzige in meiner Klasse, die weiß, wie man damit Schrauben und Muttern aufbekommt oder was für Knackgeräusche sie macht, wenn man sie hin und her hebelt. Vor ein paar Wochen habe ich die Ratsche mit in der Schule gehabt, weil ich in der Fabrikhalle eine Stahltür zum Treppenhaus aufschrauben wollte. Im Obergeschoss ist, glaube ich, nämlich noch eine weitere Halle. Zumindest sieht es von außen so aus. Leider war die Tür total verrostet, und ich musste aufgeben. Dann habe ich sie wieder dorthin zurückgelegt, wo sie hingehört. Wenigstens dürfen Papa und ich im großen Bauernhaus wohnen, und zwar umsonst, das hat mein Vater mit dem Museumsdirektor ausgemacht. Das Haus soll aber Besuchern offenstehen, wenn auch nur im Erdgeschoss. Kannst Du Dir das vorstellen? Ständig wildfremde Leute um einen herum! Aber man gewöhnt sich an alles.
Schnaufend stand Romy mit dem Fahrrad zwischen den Beinen vor ihrem alten Bauernhaus. Ihre verschwitzen Strähnen klebten ihr wirr am Gesicht. Gemütlich stieg aus dem Schornstein etwas Rauch kerzengerade auf. Ihr Vater hatte es ihnen wieder lauschig gemacht, freute sie sich und stieg ab.
»Nur keine Eile«, rief es von drinnen. »Die Pfannkuchen brauchen noch etwas, wir hatten heute wieder keinen Strom.«
»Na großartig«, nölte Romy. Für sie begann das Gold mit einem Mal stark auszubleichen. Sie strich sich die meisten Haare aus dem Gesicht, doch ein paar tanzten ihr noch immer in den Wimpern herum. »Wie lief das Bewerbungsgespräch?«
Die schwarze Holztür öffnete sich, und verlegen stand Jonas im Eingang. Seine schmutzige Jeans und der fleckige Wollpulli verrieten Romy, dass es wieder viel zu tun gab.
»Bin nicht hin.« Er versuchte zu lächeln.
»Mensch, Papa, willst du für immer Häusermeister bleiben?« Sie seufzte und schob ihr Fahrrad in Richtung eines alten Schuppens, der an das Bauernhaus angrenzte.
Romys Vater lief ihr ein Stück hinterher. »Ich habe uns ein neues Telefon besorgt.« Er hielt kurz inne. »Na ja, was heißt neu – weißt du überhaupt noch, was eine Wählscheibe ist?«
Romy lehnte ihr Fahrrad an den Holzschuppen und nickte. »Muss natürlich auch ein Museumsstück sein, unser neues Telefon!« Sie sah sich um. Auf dem Kiesweg vor dem Haus ruhte ein Rasenmäher, umringt von allerlei Werkzeug. »War wieder viel Arbeit heute, was?«
Ihr Vater nickte, als sein Gesicht sich mit einem Mal aufhellte. Fröhlich lief er zum Rasenmäher. »Schau mal, was ich gemacht habe«, rief er aufgeregt und begann, an ein paar Hebeln an dem Gerät zu drehen. Dann zog er mehrmals ruckartig an einer Leine, um den Motor zu starten. »Ich habe ihn so umgebaut, dass er auch die Räder mit dreht. Hier, schau!« Er zog weiter an der Leine, doch vom Motor war nur ein Gluckern zu hören. Etwas Rauch stieg auf.
Romy runzelte die Stirn. »Also, der fährt von allein?«
Ihr Vater nickte begeistert. »Genau! Das wird mir einiges an Arbeit ersparen.« Er zog ein weiteres Mal, und in diesem Moment heulte der Motor auf. »Na endlich!«, jubelte er.
Romy musste fast schreien, um die knatternde Maschine zu übertönen. »Du meinst wie so ein Mähroboter, wie es ihn überall zu kaufen gibt?«, rief sie. »An jeder Ecke? Und gar nicht teuer?«
Auch Romys Vater musste gegen den Motorenlärm ankämpfen. »Ach die, die haben doch keine Power!«, brüllte er zurück. »Außerdem haben Roboter hier nichts zu suchen. Das ist ein Museum hier!«
Er lachte laut auf und schob das Gerät zum Rand des Kiesweges auf eine Wiese, die sich entlang des gesamten Museums erstreckte und fast bis zum Eingang führte.
»Jetzt pass auf«, rief er. »Ich muss vielleicht noch etwas an der Drehzahl arbeiten.« Er setzte den Rasenmäher ab und schaute stolz zu Romy. »Bereit?«
Unbeeindruckt verschränkte sie die Arme. Jonas drückte einen Knopf oben am Rasenmäher. Nichts tat sich. Romy verdrehte die Augen.
»Jetzt müsste doch eigentlich …«, grübelte er, als der Motor plötzlich aufheulte und die kleinen Räder durchdrehen ließ. Mit einem Ruck machte sich das Gefährt auf den Weg.
»Ach, du liebe Güte!«, rief Romys Vater und beobachtete mit offenem Mund, wie der Rasenmäher über die gewaltige Wiese preschte und ratternd alles wegmähte, was ihm in den Weg kam. Einen Augenblick schien ihr Vater zu überlegen, was als nächstes zu tun wäre, dann rannte er los.
Romy sah ihm nach und dachte für einen kurzen Moment darüber nach hinterherzulaufen, doch der Rasenmäher war schon ein ganzes Stück in Richtung Sonnenuntergang gefahren. Ihr Vater hechtete dem Gefährt nach und konnte den Vorsprung kaum einholen.
Romy musste jetzt doch lachen.
»Verdammt, du sollst rasenmähen und nicht mähend rasen!«, kreischte er dem außer Kontrolle geratenen Gerät hinterher.
Romy prustete los und rieb sich die Augen. Vor Lachen standen ihr Tränen in den Augen. Sie beobachtete das Wettrennen, bis ihr Vater und sein Rasenmäher hinter einer Biegung verschwanden. Einzig das Rattern des Motors und ein paar Flüche waren noch in der Ferne zu hören.
Romy seufzte, drehte sich zur Eingangstür und betrat ihr Bauernhaus. Schon unter dem ersten ihrer Schritte knarzte der Dielenboden, und trotz der vielen kleinen Fenster war es bereits dämmrig im Wohnzimmer. Sie sah sich um. Die Wohnstube, ein weitläufiger Raum, breitete sich über fast das gesamte Erdgeschoss aus. Das Feuer im Kamin gegenüber spendete wohlige Wärme. In dem alten Haus musste oft bis tief in den Frühling geheizt werden. Es war mitsamt der Einrichtung von der Mosel hierher transportiert worden, von der Wanduhr bis zum Essbesteck war alles mitgekommen. Links vom Kamin, wo das flackernde Licht ein Schauspiel aus Licht und Schatten auf sein Polster zauberte, thronte ein kleines Sofa. An seiner Lehne glänzte eine feine Plakette, die mit gravierter Eleganz mahnte: Bitte nicht berühren. Wie oft sie es sich schon darin bequem gemacht und Bücher verschlungen hatte, dachte Romy. Wenn das der Museumsdirektor wüsste. Genau so musste es früher ausgesehen haben, ohne Strom. Die Menschen hätten Kerzen angezündet und Essen für die Bauern zubereitet, die den ganzen Tag draußen im Feld waren und ihre Arbeit verrichteten. Zur Mittagszeit hätte man sich gemeinsam an den Esstisch an der Wand zur Küche gesetzt, um dann nach dem Essen einen Augenblick im anderen Teil des Wohnzimmers zu verweilen, wie heutzutage mancher Museumsbesucher. Ab und zu sehnte sie sich nach einer normalen Wohnung mit normalen Möbeln und immer Strom, wo auch mal Freunde zu Besuch kämen, wenn sie denn welche hätte. Doch manchmal, so wie heute, genoss sie die Stimmung, welche die alten Holzmöbel im Dämmerlicht verbreiteten. Noch nicht mal die riesige Ledercouch, die Mitten im Wohnzimmer stand und über dreihundert Jahre jünger sein musste als der Rest der Einrichtung, störte dieses Bild. »Strom geht wieder«, freute sich Jonas, als er den Herd einschaltete und eine Pfanne aufstellte. An seiner Stirn klebte ein Pflaster. Von seiner Jagd nach dem Rasenmäher, der mittlerweile wieder gezähmt im Schuppen stand.
»Und was baust du als Nächstes?« Romy saß am Küchentisch und sah mit aufgestütztem Kopf zum Fenster hinaus.
»Weiß nicht«, antwortete ihr Vater verschämt. »Wahrscheinlich etwas ohne Motor und Messern dran. Morgen würde ich gerne etwas am Boot schrauben, hast du vielleicht die Ratsche gesehen? Du weißt schon, dieser silberne Metallgriff mit so einem Kopf oben …«
»Ja, ich weiß«, unterbrach Romy. »Keine Ahnung!«. Hatte sie die Ratsche doch nicht zurückgelegt? Sie nahm sich vor, später in ihrem Zimmer danach zu schauen.
»Hm«, antwortete er, während er eine Schöpfkelle durch die Luft schwang. »Dann suche ich mal weiter. Ach ja, du hast Post bekommen. Sie da drin.« Dabei deutete er mit der Kelle zur geschlossenen Wohnzimmertür.
»Wer schreibt mir denn?«, fragte Romy.
Mit einem breiten Grinsen blickte er auf. »Keine Ahnung!«, ahmte er Romy nach. »Mach erst mal Hausaufgaben, bevor du irgendwelche Briefe liest.«
»Die habe ich schon vorhin in der Halle …«, Romy biss sich auf die Lippen, »… sind schon alle erledigt«, verbesserte sie sich und lächelte verlegen.
»Was nehmt ihr denn so durch?« Zischend goss Jonas einen Schwung Pfannkuchenteig in die Pfanne. »In der Schule, meine ich.«
»In Deutsch machen wir gerade Zeitformen. Futur eins: ‚Ich werde tun.‘ Futur zwei: ‚Ich werde getan haben.‘ Aber der Deutschlehrer behauptet, ich verstehe es nicht.«
Romys Vater hob die Augenbrauen.
»Musst du auch nicht.« Er überlegte einen Moment. »Gibt es auch das Futur drei? Ich werde tun, was getan wurde?«
»Ha-ha, saukomisch«, nörgelte Romy. »Darüber wird nicht gelacht werden.« Ihr Blick wanderte zur Wohnzimmertür. »Ist noch jemand da?«
»Alles gut, alle gegangen«, antwortete er. »Kein Besucher mehr, keine Mäuse und seit einer Woche nicht mal mehr Holzwürmer.«
Romy stand auf, sah hinaus in den Sonnenuntergang und erkannte ihr Spiegelbild im Fenster. Während der paar Stunden Sonne hatte sie tatsächlich Sommersprossen bekommen.
13.03
Hallo du,
mein Name ist Valentina, aber du kannst mich gerne Valle nennen. Ich bin genau wie du dreizehn Jahre alt. Ich habe mich sehr über deine Post gefreut. Damit habe ich gar nicht gerechnet. Jetzt, da wir wohl Brieffreunde sind, könnten wir das Ganze doch vielleicht mit einem kleinen Spiel verbinden, was meinst du? Kennst du Schiffe versenken? Wie wäre es, wenn wir eine Brief-Variante davon versuchen? Ich male zehn mal zehn Kästchen auf und setze die Schiffe ein, und beim nächsten Brief gehts los, okay? Aber nicht schummeln!
Deine Valle
Aha. Romy schaute auf. Verdutzt legte sie den Brief auf ihren Schoß. Im Schneidersitz saß sie auf dem alten Sessel neben dem Kamin. Draußen dämmerte es. Durch eines der Fenster sah sie einen Mann und eine Frau mit zwei Jungs, die auf dem Kiesweg auf ihr Haus zu liefen. Die letzten Museumsbesucher. Das Feuer knisterte sanft, und seine behagliche Wärme kroch ihr bis zu den Füßen hinauf. Ob die Familie mit den Jungs gleich hereinkam, fragte sich Romy und wandte sich zur dunklen Eingangstür, durch die immer wieder Besucher eintraten und unvermittelt in der Wohnstube standen. Nebenan in der Küche bereitete Romys Vater das Abendessen vor und summte dabei zum Takt der quietschenden Bodendielen. Romy hatte einen Riesenhunger. Sie sah sich noch einmal den Brief von dieser Valle an und beschloss, ihn sorgfältig von vorne zu lesen. Hatte sie etwas übersehen? Der Brief war recht knapp geschrieben, da konnte einem eigentlich nichts entgehen, dachte sie, als sich mit einem Quietschen die Eingangstür öffnete. Langsam und bedächtig neigte der Mann seinen Kopf ins Wohnzimmer und ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Von ihrem Sofa aus beobachtete Romy, wie er das Zimmer betrat und weiter die Einrichtung betrachtete, ohne ihre Anwesenheit zu ahnen. Romy versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken und hielt die Luft an. Der Mann stand nun mitten im Raum, nur wenige Meter vor Romys Sofa und schaute verdutzt zum Kamin, als würde er sich fragen, welcher Besucher dort wohl ein Feuer gemacht haben mag.
Schließlich bemerkte er Romy, die auf ihrem behaglichen Sofa saß und ihn mit durchdringendem Grinsen fixierte. Er zuckte unwillkürlich zurück. »Huch, hier ist doch auch für Besucher, oder?«
»Ja, klar, wir haben noch eine halbe Stunde geöffnet. Schauen Sie sich nur um, wir sind das einzige Haus mit lebendigen Ausstellungsstücken.« Mit der Bitte nicht berühren-Plakette neben ihr fühlte sie sich, als wäre sie selbst eines der Exponate hier. Es fehlte nur noch die richtige Kleidung., ein Kleid und eine Schürze, um die Illusion vollkommen zu machen.
Der Rest der Familie trat nun auch ins Wohnzimmer ein und schaute sich um.
Romy vertiefte sich erneut in den Brief. Würde sie dieser Valentina antworten?
Die vier Gäste verteilten sich in der geräumigen Wohnstube.
»Aus welcher Zeit stammt das Haus?«, erkundigte sich die Frau mit neugierigem Unterton. Aber was, wenn der Brief gar nicht für Romy bestimmt gewesen war?
»1668«, murmelte Romy und starrte auf den Umschlag, der ja an sie adressiert war.
»Boah, und wer hat hier gewohnt?«, fragte der ältere der Jungs. Auf dem Brief selbst stand aber nur Hallo Du, nicht Hallo Romy. Da konnte jeder mit gemeint sein.
»Ein wohlhabender Vollbauer«, antwortete sie abwesend. Romy sah wieder auf. Zur Tür kam noch ein Besucher herein, ein stämmiger Mann mit Glatze und riesigen Armen. Der Schrank von einem Menschen quetschte sich mit seinen Schultern geradezu durch die Tür und ließ den schmalen Durchgang wie einen zu klein geratenen Tunnel erscheinen. Er starrte Romy an.
»Vollbauer waren Landwirte, die eine ganze Hufe bewirtschaften konnten«, erklärte sie weiter, wobei sie ihren Blick nicht von dem wuchtigen Mann abwandte, der anfing, sich wortlos im Wohnzimmer umzusehen.
»Also dann Pferde!«, rief der Mann triumphierend.
Romy verdrehte die Augen. Nein, keine Pferde. »Eine Hufe war eher so etwas wie ein großer Bauernhof.«
Jeder Schritt des Riesenkerls ließ den gesamten Dielenboden beben und die Tässchen im Esszimmerschrank klappern. Dabei rasselten zusätzlich kleine Ketten, die wie Cowboysporen hinten an seinen Stiefeln befestigt waren.
Von der oberen Etage durchbrach plötzlich ein donnernder Schlag die Stille. Irgendetwas musste im Obergeschoss umgefallen sein und ließ alle zur Wohnzimmerdecke starren, Romy, die Familie und das Muskelpaket. Kein Tässchen war mehr zu hören.
»Ich muss hoch«, sagte Romy schüchtern, stand auf und schlich mit Valles Brief zur Treppe, an der Privat stand. »Auf Wiedersehen.« Und weg war sie.
9. April
Liebe Valle,
fast einen Monat kennen wir uns schon! Ich muss immer noch daran denken, wie Dein Brief mich überrascht hat und wie ich überlegt habe, ob ich Dir antworten soll. Das kam mir alles ganz schön spanisch vor. Weißt Du eigentlich, was die Spanier dazu sagen? Ich meine, wenn denen etwas spanisch vorkommt? Die können das ja schlecht „spanisch“ nennen. Die nehmen dafür griechisch! Und die Griechen? Die sagen auch nicht griechisch, die nehmen türkisch. Und die Türken sagen, etwas komme ihnen arabisch vor, und die Araber chinesisch. Und die Chinesen? Tja, wenn Leute in China einen Brief bekommen, von dem sie nichts verstehen, dann sagen die, das kommt ihnen vor wie Hühnereingeweide!
Na dann, guten Appetit!
Jedenfalls, an diesem Abend gab es Pfannkuchen, und Du wirst nicht glauben, was danach geschehen ist!
Mit knurrendem Magen und Valentinas Brief in der Hand stand Romy vor ihrer Zimmertür. Hallo Du. Suchend trat Romy ein, denn das Geräusch von vorhin musste aus ihrem Zimmer gekommen sein.
»Essen fertig!«, hallte die Stimme ihres Vaters aus dem Erdgeschoss herauf. Doch bevor sie sich den Pfannkuchen ihres Vaters widmen konnte, musste sie zuerst herausfinden, was da in ihrem Zimmer umgefallen war.
Hier oben war Besuchern der Zutritt eigentlich verwehrt, dennoch verirrten sich hin und wieder Personen hierher, die das Privat-Schild an der Treppe übersahen – oder übersehen wollten. Deshalb hatte Romy zusätzlich eines mit der Aufschrift Heizraum an ihre Zimmertür gehängt, damit sich wirklich niemand für ihr Schlafzimmer interessierte. Sonderlich interessant für die Öffentlichkeit fand Romy ihr Zimmer ohnehin nicht, schließlich standen hier stinknormale Möbel, nicht so dunkle und alt riechende wie unten. Ein Bett, ein Schreibtisch mit einem Holzglobus darauf. Gut, der war original, aber Romy hatte ihn in ihr Zimmer verbannt, weil sich Besucher unten ständig darüber beschwert hatten, dass die Menschen von damals sicherlich glaubten, die Erde sei flach. In deren Augen hatte solch ein Globus in einem alten Bauernhaus, bewohnt von schlichten Bauern, keinen Platz. Anfangs hatte Romy immer erklärt, dass niemand jemals, noch nicht mal im tiefsten Mittelalter, an so etwas geglaubt hatte, aber die ständigen Belehrungen waren ihr und ihrem Vater irgendwann auf die Nerven gegangen.
Als Romy auf ihren Schreibtisch zu ging, entdeckte sie ein feines braunes Pulver unter dem Globus. Oh, nein, stöhnte sie und hastete näher. Die Viecher sollen bloß das Foto in Ruhe lassen! Prüfend nahm sie den Bilderrahmen auf, der direkt neben dem Globus stand. Dieses Stück Holz schien unbewohnt. Nach einem Haustier sehnte sie sich zwar schon lange, aber bitte schön keine Holzwürmer! Ein Hund wäre da deutlich entspannter. Der könnte auf das Haus aufpassen, statt es anzuknabbern. Sie sah auf das Foto. Schwarz-weiß lachte ihr eine neunjährige Romy entgegen, damals noch mit zwei dunklen Knopfaugen. Oft lächelte Romy zurück, bis ihr Blick von Romy über Papa bis zu Mama schweifte. Alle lachten. Fünf Jahre, in denen so viel passierte, schrumpften zu einem Augenblick, als wäre die Zeit stehen geblieben, wie bei einem Holzglobus, den man so eben mit der Hand anhalten konnte, damit keine Zeit mehr verginge. Oder sogar zurückdrehen, um Vergangenes wieder zu erleben. Vielleicht war ihr Zimmer doch interessant für Besucher. Dafür würde sie aber kräftig Eintritt verlangen. Romy atmete tief durch, stellte den Bilderrahmen wieder auf ihren Schreibtisch zurück, weit weg vom Globus und griff nach ihren Schreibsachen. Sie hatte gerade beschlossen, dieser Valle zu antworten. Nicht aus Langeweile oder Neugier. Sie spürte, dass sie diese Angelegenheit jetzt gleich erledigen musste. Sonst brauchte sie doch ewig, um sich zu etwas durchzuringen. Ihre rechte Hand fing an zu kribbeln. Sie spreizte die Finger. Was sollte schon passieren? Wenn der Brief nicht für sie bestimmt war, würde sich Valle schon melden. Oder auch nicht, egal. Romy ging zum Bett, um dort loszulegen. Dabei trat sie gegen etwas Hartes. Ein silberner Gegenstand schoss vor ihren Augen über den Boden und rutschte bis zur Tür. Romy hielt inne. Die Ratsche. Das war es, das gleiche Scheppern wie vorhin. Nur ohne den dumpfen Schlag. Die Ratsche musste von irgendwo heruntergefallen sein. Hatte Romy sie auf den Nachttisch gelegt und dort vergessen?
Doch wie war sie nur herabgestürzt? Könnte es sein, dass der Muskelmann unten so energisch aufgetreten war, dass sie dadurch von irgendwo heruntergefallen war? Dort, wo sie eben noch gelegen hatte, erkannte Romy ein paar Steinchen und etwas Sand, wie vom Kiesweg. Sie blickte nach oben. So ein Quatsch! Von der Decke wird sie schon nicht gefallen sein. Zögernd nahm sie die Ratsche und platzierte sie zurück auf den Nachttisch. Dann gab sie sich einen Ruck, setzte sich an ihren Nachttisch und fing an zu schreiben.
Als sie einige Zeit später vom Geklapper mit Pfannkuchen beladener Teller hochschreckte, merkte Romy, dass sie beim Schreiben eingeschlafen war. Sie schlug die Augen auf. Die Heizraumtür stand einen Spalt offen und ließ Licht vom Treppenhaus ins Schlafzimmer. In der Tür stand ihr Vater. »Hast du denn keinen Hunger?«, wisperte er vorsichtig, als Romy sich hastig mit etwas an ihrem Mund klebend aufrichtete.
»Ich habe jetzt eine Brieffreundin!«, verkündete sie strahlend und kniff die Augen zusammen. Das Licht blendete sie.
»Sind Brieffreundschaften nicht altmodisch? Für so was gibt es doch Mails oder Chats oder was weiß ich«, merkte ihr Vater an, während er sich mit einem Tablett voll beladener Teller näherte. Er stellte es an den Rand des Schreibtisches und setzte sich auf einen Hocker neben Romy hin. Sanft pflückte er das Etwas von ihren Lippen. Es war eine Briefmarke, die eigentlich am Umschlag statt in Romys Gesicht kleben sollte.
Romy schnappte sich zwei kalte Pfannkuchen, rollte sie zusammen und schob sie sich in den Mund. Ihr Vater setzte sich zu ihr.
»Wir wohnen ja auch in einem Bauernhaus aus dem siebzehnten Jahrhundert. Wenn das nicht altmodisch ist!«, mümmelte sie mit vollem Mund. »Und wie soll ich denn mit Leuten chatten, bei den vielen Stromausfällen?«
»Wie heißt sie denn, deine Brieffreundin?«
Im Zimmer war es nun dunkel geworden, und beide wurden ganz leise.
»Valle«, schmatzte Romy stolz.
»Valle«, wiederholte ihr Vater. Seine Stimme sank fast zu einem Flüstern herab. »Und was schreibt ihr euch so?«
»Na ja, erst mal«, begann sie aufzuzählen, »wie wir heißen, wo wir wohnen und was so unsere Hobbys sind. Und dass ich mich freue, jetzt eine Freundin zu haben.«
»Du wirst auch hier Freunde finden, Schatz.«
»Ach, und wo sollen die herkommen? Nach den drei Jahren, die wir hier wohnen. Aus meiner Klasse? Oder soll ich mir vielleicht eine beste Freundin herzaubern? Aus dem Zauberland der besten Freundinnen öffnet sich ein Portal und plötzlich steht sie da? Am Ende wird noch von irgendwo ein Brief herbeigezaubert!«, Romy war jetzt nicht mehr leise.
Ihr Vater blieb ruhig. »Du bist doch ganz gut in der Schule und beliebt, warum rufst du nicht mal ein paar Mitschüler an? Die kommen bestimmt gerne mal vorbei.«
»Weiß nicht«, Romy sah auf Valles Brief.
»Gut«, sagte ihr Vater. »Weißt du, mit manchen Sachen ist es wie mit Türen. Da öffnet sich etwas unerwartet, und du gerätst einfach so rein.« Er stand auf und ging zur Schlafzimmertür. »Und jetzt geh Zähneputzen, es ist schon spät!«
Romy hörte seine Schritte auf der Treppe nach unten. Müde sah sie zur Ratsche auf dem Nachttisch.
»Hier, ich habe sie gefunden, vergiss sie nicht!«
»Aha, dann hast du sie also doch gehabt«, rief es von unten. »Danke, dann ist ja mein Tag morgen mit Cassandra gerettet! Und Zähneputzen nicht vergessen.«
»Ja, mach ich … sofort …«
Im Licht des Vollmonds sah die Cassandra II richtig beeindruckend aus. Viel mächtiger als bei Tage, fast schon majestätisch, wie sie lautlos über den See daher geschwebt kam und in die Bucht einbog. Sonst stand sie immer nur verstaubt in der Scheune herum, und der Segelmast lag traurig daneben. Doch in dieser Nacht machte die Cassandra II voll besegelt Fahrt und hielt Kurs auf Romy. Barfuß stand sie am Ufer und ließ ihren Blick über das spiegelglatte Wasser schweifen. Der Mond stand tief und ähnelte mit seinem rötlich-braunen Licht viel mehr einem Holzglobus. Obwohl Wind wehte, zeichnete der glatte See die karge Landschaft kopfüber spiegelgleich nach: schroffe, schwarze Berge, den Holzmond, die Cassandra II. Das spärliche Licht ließ die Gegend wie ein Schwarz-Weiß-Foto wirken. Auf dem Schiff schlug jemand die Nebelglocke, als Romy ihren Namen hörte. An Deck stand eine weiß gekleidete Frau, die nur schemenhaft zu erkennen war und die winkte, während sie nach ihr rief: »Bist du das, Kind?«
Romy stand wie angewurzelt da und wollte antworten, doch als das Signalhorn ertönte, wurde sie aufgeschreckt und die Cassandra II hielt weiter Kurs auf das Seeufer. Das Dröhnen des Horns ließ Romy erstarren, es klang wie eines dieser albernen Plastikrohre, die man im Spielzeugladen kaufen konnte, und die beim Umdrehen so ein röhrendes Geräusch machten, nur viel lauter. Das Schiff war in voller Fahrt und hielt weiter auf Romy zu. Trotz des auffrischenden Windes blieb die Oberfläche des Sees so spiegelglatt wie eine Schlittschuhbahn. Keine Welle war zu sehen. Wie konnte das sein? Romys Haare wirbelten auf. Zu dem unheimlichen Röhren kam nun das dumpfe, mahlende Geräusch von Steinen dazu, als die Cassandra II auf Grund lief und dicht vor Romy zum Stehen kam. Das Röhren wurde unerträglich.
Romy schlug die Augen auf. Da war was. Der See, die Cassandra, okay, das war ein Traum gewesen, aber das Geräusch war echt, und es schien von draußen zu kommen. Romy richtete sich auf. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich in ihr Bett gelegt hatte. Verdammt, Zähneputzen vergessen, murmelte sie und streckte sich. Sie war in einer ungünstigen Haltung eingeschlafen, und nun schmerzte jeder Muskel in ihrem Körper. Ihre rechte Hand kribbelte, als sie zum Fenster schlurfte. Von draußen drang ein Licht durch ihre Vorhänge. So künstlich grün. Romy überlegte. Besucher hatten schon alles Mögliche auf dem Museumsgelände verloren, einmal hatte sie ein Handy gefunden, auf dem gerade ein Kinderfilm gelaufen war. Das hatte jemand drüben beim alten Metzger liegen gelassen. So sehr Romy und ihr Vater sich auch bemüht hatten, sie bekamen weder diesen Film aus, noch das Gerät stumm. Also schauten sie sich gemeinsam Lea Piratenkönigin 2 an, und zwar gleich zweimal, weil das blöde Ding auf Dauerschleife stand. Seitdem wartete das Gerät in Dianas Fundkiste im Kassenhäuschen auf ihre Besitzer – mit leerem Akku.
Was da draußen lag, glimmte auch ein wenig wie ein Handy, oder wie eines dieser Armbänder, die man knicken musste, um sie zum Leuchten zu bringen, nur viel heller. Hatte diese Familie vielleicht draußen ein Handy fallen gelassen? Die Jungs vielleicht? Der Muskelmann war sicher nicht der Typ für Knicklichter.
Die Uhr auf dem Schreibtisch zeigte halb drei. Romy zögerte. Der Museumsdirektor machte ihnen immer Ärger, wenn Fundsachen nicht gleich eingesammelt wurden.
Also gut, ich hol jetzt dieses Ding rein, putze mir die Zähne, und dann gehts wieder ins Bett, beschloss sie und schleppte sich zur Tür. Auf dem Nachttisch lag noch die Ratsche. Die musste mit runter. Gähnend schnappte sich Romy das Werkzeug und ging zur Treppe.
Auch unten schimmerte es grün zu den Fenstern herein. Im Wohnzimmer versuchte Romy das Licht einzuschalten, doch es blieb finster. Toll, wieder kein Strom. Sie öffnete die Haustür und sah auf dem Kiesweg vor dem Haus etwas Rundes liegen. Nein, ein Handy konnte es nicht sein, auch kein Tablet. Sie trat näher und entdeckte auf dem Erdboden einen leuchtenden Ring, der in seiner Größe an einen Hula-Hoop-Reifen erinnerte. Auch das Innere des Rings gab ein schwaches, grünes Licht ab, als würde von unten etwas aus dem Boden leuchten. Immer noch mit der Ratsche in der Hand beugte sie sich über das runde Etwas. Irgendwie ging es da hinab. Träumte sie noch? Hatte das Haus etwa einen Keller, von dem sie nichts wusste? Romy beugte sich noch weiter darüber. Kein Zweifel, da ging es rein, das Ding war ein Loch! Seine Kante war so rund, als hätte jemand mit etwas Messerscharfem einen Kreis in den Boden geschnitten. Sogar einzelne Steinchen vom Kiesweg, die am Rand der Öffnung lagen, schienen in der Mitte durchtrennt. Aus dem sauber ausgestanzten Loch brummte es leise, wie aus einem alten Radio. Romy versuchte zu erkennen, was sich dort unten befand. Da ist … ein Holzboden, hauchte sie, als sie plötzlich ein lautes Knacken hinter ihr zusammenzucken ließ. Als sie aufschreckte, ließ sie die Ratsche aus der Hand gleiten, die an den Rand der Öffnung fiel, hinein kippte und schließlich mit einem Krachen auf hartem Grund aufkam. Romy erstarrte. Um sie herum war es jetzt totenstill, auch das merkwürdige Brummen verstummte. Mit einem Mal war da wieder dieser Ton, dieses Röhren, und der Kreis begann zu schrumpfen. Entsetzt beobachtete Romy, wie sich das Ding schloss und dann mitsamt seinem grünen Licht verschwand. Träumte sie? Was würde jetzt geschehen? Im Dunkeln stand Romy auf einem gewöhnlichen Schotterweg, durch den täglich hunderte Menschen hindurch knirschten. Von einem Loch keine Spur. Sie ging in die Hocke und strich mit ihrer Kribbelhand langsam durch den feinen Kies. Der Grund schien fest, keines der Steinchen war angeschnitten. Romy horchte in die Stille, vernahm nichts außer ihrem Puls. Sie richtete sich wieder auf. Was nun? Dann … geh ich mal wieder rein, murmelte sie verloren, sah sich noch einmal um und torkelte barfuß durch den Kies zurück ins Haus.
Strom geht wieder!«, rief es von unten. Romy schlug die Augen auf. Nun aber wirklich. Was für ein Traum! Erst dieser Spiegelsee, dann noch der komische Kreis, in den Zeug hineinfiel. So ein Albtraum konnte einem fast den ganzen Tag vermiesen, obwohl der Morgen gerade erst angefangen hat. Aber heute nicht. Nicht mit mir! Romy lächelte und sprang auf. Sie würde gleich den Brief an Valle einwerfen – perfekt! Vorher wollte sie auf jeden Fall noch Zähne putzen. Dieser Tag würde ihr Leben verändern.
»Dianaaaa!« Romys Stimme zitterte durch das Stadttor, als sie über das Kopfsteinpflaster flitzte. Ihre Schultasche hoppelte wie wild im Fahrradkorb herum und drohte fast herauszufallen.
»Romyyyy!«, rief Diana zurück. Wie jeden Morgen. Sie war eine gute Freundin von Romys Mutter gewesen, gehörte praktisch zur Familie. Sie betrat gerade das Kassenhäuschen und mühte sich mit ihrem Blindenstock die beiden Holzstufen hinauf. »Einen schönen Tag dir!«
Romy hatte nicht wirklich Mitleid mit Diana wegen ihrer Blindheit, da sie seit Jahren stets bestens gelaunt im Kassenhäuschen saß. Im Gegenteil, sie hegte sogar etwas Bewunderung für ihre Art, das Rückgeld genau abzuzählen oder Besucher, die sich als Kinder ausgaben, um Geld zu sparen, zu entlarven. Einmal hatte sie sogar einer Familie ein günstigeres Gruppenticket verkauft, weil sie allein an ihren Schritten hören konnte, dass sie zu sechst waren. Romy radelte weiter. Der perfekte Tag beginnt – jetzt.
Der perfekte Tag dauerte genau acht Minuten – bis ich auf dem Schulweg Nork traf, der wieder mal einen Viertklässler in der Zange hatte. Er trug das T-Shirt, das er immer trägt. Früher hatte da mal New York drauf gestanden. Aber das Shirt ist schon seit Jahren so verwaschen, dass man nur noch N…ork lesen konnte, weshalb ihn alle nur noch Nork nennen. Was sogar ein wenig passt, da Nork eigentlich Norbert heißt. Aber niemand spricht ihn mit Nork an, deshalb weiß er nichts von seinem Spitznamen. Jedenfalls lässt Nork gerne jüngere Kinder seine Schultasche tragen. Er ist älter als ich, in der neunten Klasse, dürr und hat langes, glattes braunes Haar. Meistens trägt er über seinem N…ork-Shirt noch eine schwarze Lederjacke.
Sein Opfer lief betreten mit seinem und Norks Ranzen auf seinen Armen in Richtung Schule vor. Das passt jetzt aber gar nicht zu meinem perfekten Tag, flüsterte Romy und bremste. Sie stand ein Stück entfernt und zögerte. Ihr Blick verfinsterte sich. Sollte sie eingreifen? Aber Nork war doch älter. Romys Hand kribbelte. Gestern wäre ich noch weggeradelt. Sie atmete durch, stieg vom Fahrrad und schob es zu den beiden.
»Was guckst du so, Romy?«, bellte Nork schon von Weitem. Romy blieb kurz stehen. Er kannte ihren Namen, obwohl sie doch kaum miteinander sprachen.
Sie holte tief Luft. »Also … kannst du vielleicht damit aufhören, Kleinere so zu ärgern?« Sie wartete. Wie würde Nork nun reagieren? Lachen? Brüllen?
Er wütete nicht herum. Lachte nicht, brüllte nicht. Er machte überhaupt nichts. Seine Ruhe beunruhigte Romy. Wie in Zeitlupe schritt er auf sie zu. In seiner Hosentasche klapperten Münzen oder Schlüssel mit.
»Meinst du, ich lasse mir von irgendjemandem vorschreiben, was ich tun soll?«, zischte er durch seine Zähne. Grimmig stand Nork direkt vor Romy und schaute ihr in die Augen. Er schien ihre unterschiedlichen Augenfarben zu erkennen, denn er wich ein Stück zurück. Für einen winzigen Moment entspannten sich seine Gesichtszüge.
»Gut, dann bist du jetzt dran«, forderte er schließlich und zeigte auf den Jungen, ohne Romy dabei aus den Augen zu lassen. Der Arme hatte die ganze Zeit mit zwei Ranzen dagestanden.
»Dran, womit?«, fragte Romy. Nork drehte sich weg.
Romy ging vor. Hinter ihr der bedröppelte Junge, der Romys Fahrrad schob, am Schluss Nork. Romy schleppte nun drei Taschen: Norks, die des Jungen und ihre eigene. Ihre Arme schmerzten. Als sie in die Straße zur Schule einbog, machte die traurige Karawane halt.
»Ich muss noch ’nen Brief einwerfen«, stöhnte sie und ging zu dem Briefkasten an der Ecke.
Hätte ich doch deinen Brief gleich zu Hause eingeworfen, im Museum. Dann hätte ich nicht Nork getroffen, der Brief wäre schonmal unterwegs gewesen, und der Tag wäre ganz anders gelaufen. Außerdem wäre der Brief nicht so zerknittert angekommen!
Hätte.
Weißt Du, das Dumme an hätte-wäre-wenn ist ja, dass man sich nur ärgert, weil man hinterher schlauer ist. Würde man es noch mal erleben, wäre natürlich alles besser, und man würde sich richtig entscheiden, aber man kann die Zeit nicht zurückdrehen und erwarten, dass alles beim zweiten Mal perfekt läuft. Schließlich ist der Stein schon in den See gefallen. Das hätte-wäre-wenn reitet dann auf den Wellen in alle Richtungen und wartet darauf, dass sich darüber geärgert wird. Ich kann auch nicht meine alten Briefe nehmen und durchstreichen, was mir nicht passt, und dir einfach noch mal schicken. Was drinsteht, steht – Punkt! Gut, wenn ich dir mal über etwas nicht schreibe, kann ich mich zurückerinnern und einfach ein früheres Datum hinschreiben. Ist trotzdem keine Zeitreise, weil der Tag schon vorbei ist, nur das Datum ist ein anderes, daher spielt das Datum keine Rolle, verstehst Du? Ich sage Dir, heute wäre so ein Kandidat! Zum noch mal schicken, meine ich. Denn einiges würde ich da streichen und neu schreiben! Übrigens: Platsch, und mein nächster Zug ist B-6!
Deine Romy!