Rory Shy, der schüchterne Detektiv - Das Rätsel um Schloss Eichhorn: Ausgezeichnet mit dem Glauser-Preis 2023 ("Rory Shy"-Reihe, Bd. 3) - Oliver Schlick - E-Book

Rory Shy, der schüchterne Detektiv - Das Rätsel um Schloss Eichhorn: Ausgezeichnet mit dem Glauser-Preis 2023 ("Rory Shy"-Reihe, Bd. 3) E-Book

Oliver Schlick

4,0

Beschreibung

Gewinner des GLAUSER-Preises in der Kategorie "Kinderkrimi" Ihr 3. Fall führt die 12-jährige Matilda und den berühmten schüchternen Detektiv Rory Shy in das piekfeine Internat Schloss Eichhorn. Dort tauchen seit Kurzem seltsame Nachrichten auf, die mit dem vermeintlichen Unfalltod einer Lehrerin vor 25 Jahren zusammenhängen: Jemand scheint mehr über den alten Fall zu wissen und nicht schweigen zu wollen. Im Auftrag der Direktorin beginnt das ungleiche Duo sofort zu ermitteln. Wer hat ein Interesse daran, die Vergangenheit aufzurühren? Für Matildas Hund Doktor Herkenrath wird der Fall besonders herausfordernd, denn das Schloss Eichhorn hat seinen Namen nicht von ungefähr.  Ein wunderbar witziger und herrlich cleverer Krimi ab 10 Jahren mit wichtiger Botschaft: Es ist völlig in Ordnung, schüchtern zu sein!

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Über dieses Buch

Ein neuer spannender Fall für die 12-jährige Matilda und den berühmten schüchternen Detektiv Rory Shy: In dem Internat Schloss Eichhorn tauchen seit Kurzem seltsame Nachrichten auf, die besagen, dass der vermeintliche Unfalltod einer Lehrerin vor 25 Jahren in Wahrheit Mord war. Im Auftrag der Direktorin beginnt das ungleiche Duo sofort zu ermitteln. Unterstützt werden sie wie immer von dem hasenfüßigen Cockerspaniel Dr. Herkenrath. Was geschah damals wirklich?

Ein wunderbar witziger und herrlich cleverer Krimi mit wichtiger Botschaft: Es ist völlig in Ordnung, schüchtern zu sein!

Inhalt

Ein Trauerfall

Ein kalter Fall

Ein Anfall von Schüchternheit

Mord oder Unglücksfall?

Eichhörnchen und Verdachtsfälle

Reiner Zufall?

Geister und ein Zwischenfall

Kein Normalfall

Fallobst

Hochmut kommt vor dem Fall

Ein Cockerspaniel-Notfall

Neue Erkenntnisse und ein Überfall

Blumenkübel im freien Fall

Zwei hoffnungslose Fälle

Eine Suche und ein Glücksfall

Ein plötzlicher Einfall

Ein Fall von Gemeinheit

Ins Wasser gefallen

Des Falles Lösung

Das Fallen einer Nadel

Lieferung von Firma Fäller

1

Ein Trauerfall

»Jetzt stell dich nicht so an!«, sage ich zu Doktor Herkenrath, der furchtsam winselt, während ich versuche, ihm eine schwarze Samtschleife ins Fell zu binden. »Wenn man eine Trauerfeier besucht, trägt man was Schwarzes. Das gehört sich so.«

Natürlich kann Doktor Herkenrath das nicht wissen. Als Cockerspaniel geht man nicht besonders häufig zu Trauerfeiern. Aber heute habe ich ihn zwangsverpflichtet. Zum einen, damit ich nicht die einzige Trauernde bin, und zum anderen, weil ihn sein wehmütiger Schiele-Blick zur Zierde jeder Trauerfeier macht.

Ich bin selbstverständlich auch dem Anlass entsprechend gekleidet: ein schwarzes luftiges Sommerkleid und schwarze Riemchensandalen. Für den nötigen Hauch von Eleganz sorgt das schwarze Hütchen, das Mama immer aufsetzt, wenn sie zu einer Beerdigung geht. Ich habe es mir aus ihrem Kleiderschrank geborgt.

Wüsste Mama davon, wäre sie nicht erfreut. Wir haben unsere Grundsätze: Ich verleihe keine Bücher, Mama verleiht keine Kleidung, Schuhe oder Hüte. Vor allem nicht an mich, nachdem ich mir mal (ohne zu fragen) ein Halstuch von ihr geliehen und mit Blaubeer-Marmelade bekleckert habe.

Aber Mama ist gerade zweitausendfünfhundert Kilometer entfernt. Sie und Papa sind Tierfilmer und befinden sich seit ein paar Tagen in Griechenland, wo sie eine Dokumentation über Oktopusse drehen. Nach Abschluss der Filmaufnahmen werden meine Eltern in Griechenland bleiben und ich werde zu ihnen fliegen, um einen Familienurlaub zwischen blauem Meer und antiken Baudenkmälern zu verbringen. Ich war noch nie in Griechenland und freue mich riesig darauf, das Land gemeinsam mit Papa und Mama kennenzulernen. Aber bis es so weit ist, sind es noch gute zwei Wochen. Heute war der letzte Schultag, seit knapp einer Stunde habe ich Sommerferien.

Viel heißer als hier kann es auch am Mittelmeer kaum werden. Eine undurchdringliche Hitzeglocke hängt über der Stadt und es weht nicht das geringste Lüftchen. Die Bäume lassen müde die Blätter hängen, das Pfeifen der Vögel in den Baumkronen wirkt matt und erschöpft, gelegentlich taumelt ein von der Sonne benommener Schmetterling durch die Luft. Man hat den Eindruck, als würde das gesamte Leben in Schneckentempo vor sich gehen. Draußen hat es mindestens fünfunddreißig Grad, aber in meinem Zimmer ist es, dank heruntergelassener Rollläden, halbwegs auszuhalten.

Ich höre, wie Frau Zeigler die Treppe hochgewatschelt kommt, ins Gästezimmer nebenan schlurft und sich ächzend aufs Bett sinken lässt. Um ihr Mümmelchen zu halten. So nennt sie aus unerfindlichen Gründen ihren Mittagsschlaf.

Frau Zeigler, eine kleine, resolute Person mit durchdringender Stimme, ist unsere Haushaltshilfe. Wie immer, wenn Papa und Mama beruflich unterwegs sind, ist sie bei uns eingezogen. Um mich im Auftrag meiner Eltern zu überwachen. Weswegen ich mit Mama vor ihrer Abreise eine kleine Diskussion hatte.

»Nicht überwachen, Matilda. Aufpassen. Frau Zeigler ist so nett, während unserer Abwesenheit hier einzuziehen und auf dich aufzupassen. Das hat rein gar nichts mit Überwachung zu tun.«

»Aufpassen muss man auf Vierjährige. Meinetwegen auch auf Achtjährige. Eine Zwölfjährige kann sehr gut auf sich selbst aufpassen. Ich brauche keine Aufpasserin. Das ist Freiheitsberaubung!«, habe ich leidenschaftlich protestiert.

Was Mama nicht sonderlich beeindruckt hat.

»Du kannst dich ja beim Jugendamt beschweren«, hat sie mit gleichmütiger Stimme gesagt und einen Stapel T-Shirts in ihrem Koffer verstaut.

»Ich bin ein wehrloses und rechtloses Opfer elterlicher Total-Überwachung!«

»Von mir aus«, hat Mama geseufzt und die Augen verdreht. »Nenn es, wie du willst. Aber solange wir weg sind, wird Frau Zeigler hier wohnen. Wie immer. Ende der Diskussion.«

Zum Glück funktioniert die Sache mit der Total-Überwachung nicht wirklich. Weil Frau Zeigler schon so häufig auf mich aufgepasst hat, dass ich genau weiß, wo die Schwachstellen ihres Überwachungs-Systems liegen. Eine davon ist die Zeit zwischen siebzehn und achtzehn Uhr. Da läuft die tägliche Doppelfolge Mörderische Ehefrauen im Fernsehen. Die lässt Frau Zeigler sich nie entgehen.

Während sie gebannt verfolgt, wie mörderische Gattinnen Bremsleitungen durchtrennen oder den Ehemann mit einer Armbrust erlegen, kriegt sie von ihrer Umgebung so gut wie nichts mit. Wenn ich wollte, könnte ich zwischen siebzehn und achtzehn Uhr jemanden abmurksen, in unserem Garten verscharren und gemütlich in Beton eingießen, ohne dass Frau Zeigler auch nur bemerken würde, dass ich das Wohnzimmer verlassen habe.

Manchmal, wenn sie so dasitzt, eine Nuss-Praline lutscht und wie hypnotisiert auf den Bildschirm starrt, mache ich mir einen Jux daraus, irgendwelchen Unfug zu behaupten. Frau Zeiglers halblaut gemurmelte Entgegnungen lassen vermuten, dass kein Wort davon in ihr Bewusstsein vordringt.

»Ich habe mich verlobt, Frau Zeigler.«

»Mhm? Schön, schön, Kind.«

»Mit dem Anführer einer Rocker-Gang.«

»Aha?«

»Wir wollen heiraten, sobald er aus dem Knast raus ist.«

»Mhm? Viel Spaß, Kind.«

»Ach, und … es wäre möglich, dass demnächst ein aufgebrachter Beamter der Jagd- und Forstverwaltung vor der Tür steht: Doktor Herkenrath hat beim Gassigehen im Flora-Park einen Hirsch gerissen.«

»Flora-Park. Hirsch gerissen. Ja, ja …«

Doktor Herkenrath würde panisch die Flucht ergreifen, wenn ihm ein röhrender Geweihträger gegenüberstünde. Und nicht nur dann. Er ist mindestens genauso viel Angsthase wie er Cockerspaniel ist, und geht vor allem stiften, was sich bewegt: vor Postboten, Eichhörnchen, Katzen, Insekten, Blättern im Wind … Einmal wäre er um ein Haar unter ein Auto geraten, als ihn ein Tausendfüßler erschreckt hat.

Die zweite Schwachstelle der Zeigler’schen Überwachung ist die Zeit zwischen halb eins und Viertel nach eins. Weil Frau Zeigler sich dann zu ihrem Mümmelchen hinlegt. Jeden Mittag das gleiche Ritual: Nachdem sie den Tisch abgeräumt und die Spülmaschine angeworfen hat, gähnt sie demonstrativ und verkündet: »Ich glaube, es ist Zeit für ein kurzes Mümmelchen. Falls ich um Viertel nach eins nicht wieder wach sein sollte, weck mich doch bitte, Matilda.«

Eine Trauerfeier braucht eine Urne. Da man so was nur selten auf Vorrat rumstehen hat, musste ich mich nach Ersatz umsehen, habe die Kaffeedose aus der Küche stibitzt und kurzerhand zur Urne ernannt. Bekäme Frau Zeigler mit, dass ich unsere Kaffeedose im Garten verbuddele, würde ein Donnerwetter auf mich niedergehen, das sich gewaschen hat. Deshalb ist mir daran gelegen, dass sie von der kleinen Trauerzeremonie nichts mitkriegt.

Schlauer Fuchs, der ich bin, habe ich die Veranstaltung in ihre Mümmelchen-Zeit gelegt und für Viertel vor eins angesetzt. Was ziemlich unproblematisch war. Weil ich nicht nur die einzige menschliche Teilnehmerin, sondern auch alleinige Organisatorin und Trauerrednerin der Feier bin.

Zwei Minuten nachdem Frau Zeigler sich hingelegt hat, ist durch die Wand ein lautes Schnarchen zu hören.

»Legen wir los«, flüstere ich Doktor Herkenrath zu, nehme die Kaffeedose unter den Arm und schleiche die Treppe runter.

Er spaziert mir mit wedelndem Schwanz in die Diele hinterher, wo ich mich kurz im Spiegel betrachte. Das schwarze Trauer-Hütchen bildet einen interessanten Kontrast zu meinen roten Haaren. Außerdem hat es einen Schleier aus Spitze, der bis über die Augen reicht und der Trägerin eine mysteriöse, geheimnisumwitterte Ausstrahlung verleiht.

In Kriminalfilmen ist diese Art von Kopfbedeckung häufig zu bewundern: Man sieht einen Friedhof mit verwitterten Grabsteinen. Es schüttet wie aus Eimern. Ein Mordopfer wird unter Schluchzen und Wehklagen der vielköpfigen Trauergemeinde zu Grabe getragen. Dicke Tropfen prasseln auf das Holz des Sarges – als plötzlich eine geheimnisvolle Fremde auf dem Friedhof erscheint. Natürlich mit Schleierhütchen.

Und während sich alle noch fragen, wer die verschleierte Unbekannte ist, ist sie schon wieder im Regen verschwunden. Wie ein Phantom. Von da an dauert es meist nicht mehr lange, bis ein zweites Opfer ins Gras beißt.

Ich rücke das Schleierhütchen ein wenig zurecht, husche durchs Wohnzimmer, öffne so leise wie möglich die Schiebetür zur Terrasse – und bekomme beinahe einen Hitzschlag, als ich ins Freie trete. Der reinste Glutofen!

Gut möglich, dass ich mir einen Sonnenstich hole. Aber schließlich geht es darum, sich würdevoll von einer alten Freundin zu verabschieden. Da muss man schon mal Opfer bringen. Während Doktor Herkenrath und ich uns gemessenen Schrittes über den Rasen bewegen, rupfe ich ein paar Gänseblümchen aus. Eine Trauerfeier ohne Blumen ist keine Trauerfeier.

Mein Cockerspaniel folgt mir hinter eine hohe Brombeerhecke, wo ich vorhin, während Frau Zeigler einkaufen war, eine kreisrunde Vertiefung ausgehoben habe.

Die heutige Zeremonie ist das genaue Gegenteil der klassischen Krimi-Beerdigung: sengende Sonne statt strömenden Regens, die vielköpfige Trauergemeinde besteht nur aus Doktor Herkenrath und mir, und einen Sarg gibt es auch nicht. Sondern eine Kaffeedosen-Urne. Und die enthält keine Asche, sondern nur einen winzigen Rest an Kaffeepulver.

Ich habe die ganze Zeit über bewusst von einer Trauerfeier und nicht von einer Beerdigung gesprochen. Eine Beerdigung benötigt nämlich vor allem eins: eine Leiche. Aber die gibt es nicht. Weil die Tote, um die wir heute trauern, nie gelebt hat.

Das klingt zugegebenermaßen verwirrend. Und vielleicht vermutet der ein oder andere, mich hätte bereits ein Sonnenstich ereilt und ich würde im Fieber faseln. Also – um die Verwirrung mal zu entwirren: Ich betrauere heute meine Freundin Caroline. Caroline hat es nie gegeben. Ich habe sie mir ausgedacht. Eine erfundene Freundin ist die beste Freundin, die man haben kann, wenn man etwas tut, von dem Erwachsene nichts mitbekommen sollen.

Jeder kennt das: Man will irgendwohin, wo man auf keinen Fall hindarf, oder man hat irgendwas vor, das strengstens untersagt ist. Und gerade als man sich aus dem Haus schleichen will, taucht wie aus dem Nichts eine erziehungsberechtigte Person auf und stellt die unvermeidliche Frage: »Wo willst du denn hin?«

Wer darauf nur mit einem lahmen Nirgendwo antworten kann, und wem auf die zwangsläufig folgende Frage: »Und was hast du vor?« nur ein fantasieloses Nichts einfällt, weckt sofort den Argwohn seines Gegenübers.

Also sollte man sich eine Freundin ausdenken. Als Alibi. Wobei es nicht reicht, einfach einen Namen zu erfinden. Damit das Ganze überzeugend wirkt, muss man sich genau überlegen, wie diese Freundin aussieht, welche Hobbys sie hat, was sie mag und was sie nicht mag, ob sie Einzelkind ist oder Geschwister hat …

Meiner fantasierten Freundin Caroline habe ich gleich eine ganze Familie angedichtet. Alle waren Mitglieder einer erfundenen, freudlosen Sekte, deren Glaube ihnen verboten hat, Telefone, Handys und Computer zu nutzen. Was es unmöglich gemacht hat nachzuprüfen, ob ich wirklich bei Caroline war, wenn ich sie als Alibi vorgeschoben habe.

Natürlich muss man wissen, wem man welchen Blödsinn erzählen kann – und wem nicht. Die leichtgläubige Frau Zeigler hat meine Caroline-Ausreden immer geschluckt. Aber dann hat Mama von meiner angeblichen Freundin Wind gekriegt, sofort Lunte gerochen und mich einem gnadenlosen Verhör unterzogen. Am Ende musste ich zerknirscht gestehen, dass es keine Caroline gab. Zwar hat Mama es nicht geschafft, mir zu entlocken, wo ich tatsächlich war, wenn ich behauptet habe, mit Caroline unterwegs zu sein (hätte sie es rausbekommen, hätte ich richtig dicken Ärger gekriegt), aber für alle zukünftigen Ausreden war meine erfundene Freundin damit natürlich gestorben.

Und wenn eine gute Freundin stirbt, dann trauert man um sie. Auch wenn es sie nie gab.

Doktor Herkenrath ist nicht so hundertprozentig klar, was vor sich geht, aber er verhält sich ausgesprochen rücksichtsvoll, gibt keinen Laut von sich und guckt wunderbar traurig.

Zeit für die Rede. Eine ergreifende Trauerrede ist das Herzstück jeder Trauerfeierlichkeit. Und wenn ich was kann, dann ist es reden. Ich rede gerne und viel und schnell. Was meine Gesprächspartner gelegentlich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs treibt.

Frau von Hakkefress, unsere Nachbarin, zum Beispiel. Ich habe ihr mal einen halbstündigen Vortrag über die Unterschiede zwischen Butter, Schmalz und Margarine gehalten und dabei nur Pausen gemacht, um Luft zu holen. Frau von Hakkefress hat sich anschließend ganz schwindelig gefühlt und musste sich hinlegen. Wobei ich den Verdacht hatte, dass ihr nicht alleine von meinem Wortschwall schwindelig war, sondern vor allem deshalb, weil sie schon am frühen Morgen ein paar Schnäpschen gezwitschert hatte.

Wie auch immer – hier und heute kann ich niemanden nerven. Mal abgesehen von Doktor Herkenrath. Aber der ist meine ausufernden Monologe gewöhnt.

»Wir haben uns heute versammelt, um von unserer guten Freundin Caroline Frömmel Abschied zu nehmen«, beginne ich, hefte meinen Blick auf die leere Kaffeedose und versuche, meiner Stimme das nötige Maß an Ergriffenheit zu verleihen. »Liebste Caroline: Du warst mir dein Leben lang die beste Freundin. Kein einziges Mal hatten wir Streit und nie gab es ein böses Wort zwischen uns. Immer wenn ich dich brauchte, warst du für mich da. Ich werde dich schmerzlich vermissen. Und deine Eltern und ihre trostlose Sekte auch.«

Als Einleitung ist das ganz gut, aber entscheidend dafür, ob die Trauernden wirklich bewegt sind, ist der Mittelteil der Rede. Im Mittelteil geht es darum, die einzigartige Persönlichkeit der oder des Verstorbenen herauszustellen. Nur blutige Anfänger leiern zu diesem Zweck irgendwelche Verdienste, Leistungen und Auszeichnungen runter. Die einfühlsame Trauerrednerin weiß, dass es viel wirkungsvoller ist, ein paar anrührende Anekdoten aus dem Leben der Toten zu schildern. Die man im Fall einer erfundenen Freundin natürlich auch erfinden muss.

»Caroline, du warst ein wunderbarer Mensch«, fahre ich in getragenem Ton fort. »Auch wenn du zum Lachen immer in den Keller gegangen bist. Ich erinnere mich oft an den schicksalhaften Moment, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind: Es war ein nasskalter und nebliger Novembertag. Du warst ganz in Grau gekleidet und hast mit deinen Eltern in der Fußgängerzone Broschüren verteilt, die vor der Sünde der Heiterkeit warnten. Ausgerechnet vor einem Geschäft für Scherzartikel. Was ich so erheiternd fand, dass ich gar nicht mehr aufhören konnte, zu kichern. Ja, wir waren sehr verschieden, aber seit diesem Moment waren wir die besten Freundinnen der Welt.

Und was haben wir nicht alles erlebt. Erinnerst du dich noch daran, wie wir gemeinsam dein Zimmer grau gestrichen haben? Ach, was war das für ein herrlich trübseliger Tag. Und dann unsere Ausflüge in den Aqua-Zoo … ›Ich mag Fische‹, hast du immer gesagt. ›Fische lachen nicht.‹«

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Doktor Herkenrath gähnt und alle viere von sich streckt. Es macht den Eindruck, als würde er das Interesse an der Zeremonie verlieren. Weswegen ich beschließe, auf weitere Anekdoten zu verzichten und zum Ende zu kommen.

»Mach es gut, Caroline«, sage ich und blicke traurig zu der improvisierten Urne. »Ich bin dankbar, dass sich unsere Lebenswege gekreuzt haben, und dass ich deine Freundin sein durfte. Es war mir eine Ehre.«

Auch wenn es keine Tote gibt – ich bin von meinen anrührenden Worten kurzzeitig so ergriffen, dass mir eine Träne über die Wange kullert.

Gütiger!, denke ich. Du könntest als Trauerrednerin echt Karriere machen. Selbst Doktor Herkenrath winselt traurig und sieht aus, als würde er gleich zu weinen beginnen.

Ich wische die Träne weg, nehme die Kaffeedose und versenke sie feierlich in der Vertiefung. Anschließend fülle ich das Loch mit Erde auf, lege die Gänseblümchen nieder und summe dabei Seasons in the Sun. Als musikalischen Abschiedsgruß an meine ausgedachte Freundin.

Danach trete ich einen Schritt zurück, verbeuge mich noch einmal vor der Kaffeedosen-Ruhestätte, mache kehrt, gehe über den Rasen zurück ins Haus – und atme erleichtert auf, als mich im Wohnzimmer wohltuende Kühle empfängt.

Doktor Herkenrath trottet weiter in die Küche, hockt sich vor den Kühlschrank und blickt mich mit schiefgelegtem Kopf an. Offenbar erwartet er eine Belohnung für sein vorbildliches Verhalten während der Trauerfeier.

Trauerzeremonien sind gut, denke ich, während ich ein Stückchen Fleischwurst aus dem Kühlschrank nehme und Doktor Herkenrath damit füttere. Weil einem so eine Zeremonie hilft, mit etwas abzuschließen. Um Vergangenes hinter sich zu lassen und sich wieder dem Leben und der Zukunft zuzuwenden.

Und das sollte ich allerschleunigst tun. Durch Carolines plötzliches Dahinscheiden habe ich nämlich ein massives Problem: Ich brauche dringend ein neues falsches Alibi.

Für meine Arbeit mit Rory Shy.

Dem schüchternen Detektiv.

2

Ein kalter Fall

Für eine ehrgeizige Nachwuchs-Detektivin wie mich ist es natürlich ein absoluter Glücksfall, mit dem berühmten Rory arbeiten zu dürfen. Der Detektiv ist für zwei Dinge bekannt: für seine ausgeprägte Schüchternheit, um die sich zahllose Legenden ranken (es gibt Menschen, die behaupten, er wäre beinah mal in einem Restaurant verhungert, weil ein Kellner seine Bestellung vergessen hatte und Rory zu schüchtern war, ihn darauf aufmerksam zu machen). Und für seine phänomenale Aufklärungsquote von einhundert Prozent. Es gibt keinen Fall, den Rory nicht knackt.

Und wer sich jetzt fragt, warum ein so erfolgreicher und genialer Ermittler mit einer zwölfjährigen Amateurdetektivin zusammenarbeitet: Letztes Jahr, im Dezember, bin ich ihm zufällig über den Weg gelaufen, als er in einer ziemlich misslichen Situation steckte. Nachdem ich ihm aus der Patsche geholfen und erzählt habe, dass ich völlig fasziniert von Kriminalfällen bin, hat er mir (überhöflich wie er ist) aus Dankbarkeit angeboten, gelegentlich mit ihm zusammenzuarbeiten.

Natürlich kann ich nur dann Detektivin spielen, wenn meine Eltern zu Dreharbeiten unterwegs sind. Wüssten sie, dass ich in echten Kriminalfällen ermittle, wäre damit im Handumdrehen Schluss. Frau Zeigler habe ich bisher immer weisgemacht, ich wäre bei der erfundenen Caroline, wenn ich mit Rory an einem Fall gearbeitet habe.

Was jetzt leider nicht mehr geht. Weil es natürlich auch zu Frau Zeigler vorgedrungen ist, dass ich mir Caroline und ihre fromme Familie nur ausgedacht habe.

Nachdem sie es erfahren hatte, war sie so sauer, dass sie eine Woche lang nicht mit mir gesprochen hat. Was bei Frau Zeigler einiges bedeutet, denn sie redet mindestens genauso gerne wie ich. Vor allem über Raimund, ihren tollpatschigen Gatten, der Stammgast in der Notaufnahme des Krankenhauses ist, weil er sich ständig den Kopf stößt, in Glastüren rennt oder über seine Schnürsenkel stolpert.

Mittlerweile hat Frau Zeigler sich glücklicherweise wieder beruhigt. Aber wenn sie mich erneut bei einem Schwindel ertappt, habe ich es mir auf immer und ewig mit ihr verscherzt. Und das will ich auf keinen Fall riskieren. Weil es auch bedeuten würde, dass ich nie mehr in den Genuss ihrer köstlichen Zimt-Pfannkuchen käme.

Unentwegt grübele ich darüber nach, wer die Funktion der verstorbenen Caroline übernehmen könnte. Für ein wirklich glaubhaftes Alibi muss es eine reale Person sein. Jemand, den Frau Zeigler kennt. Aber wie kann ich verhindern, dass sie bei dieser Person anruft und sich bestätigen lässt, dass ich wirklich dort bin?

Ich muss mir schnellstens was einfallen lassen. Schließlich will ich morgen früh um neun meinen detektivischen Dienst bei Rory antreten.

Um vier Uhr nachmittags ist es bei Frau Zeigler traditionell Zeit für ein Plunderteilchen und eine Tasse Kaffee.

»Merkwürdig …«, murmelt sie und blickt etwas ratlos auf die Küchenanrichte. »Du hast nicht zufällig die Kaffeedose gesehen, Kind? Heute Morgen stand sie doch noch da. Ich muss sie irgendwo hingeräumt haben. Wo habe ich nur meine Gedanken?«

»Keine Ahnung«, flöte ich mit Unschuldsmiene. »Diese Hitze … Macht einen völlig matschig in der Birne, oder?«

»Du sagst es, Kind. Du sagst es«, murmelt sie.

Eine Stunde später lassen wir uns vor dem Fernseher nieder, um gemeinsam die Mörderischen Ehefrauen zu schauen. Während ich zusehe, wie eine Gattin ihren Ehemann mittels eines Nasenhaarschneiders um die Ecke bringt, zermartere ich mir weiter den Kopf wegen eines brauchbaren Alibis. Ohne jeden Erfolg – bis mir beim abendlichen Wässern des Rasens der rettende Einfall kommt.

Als Frau Zeigler und ich kurz darauf auf der Terrasse zum Abendessen Platz nehmen, frage ich ganz beiläufig: »Mama hat Ihnen doch gesagt, dass ich ab morgen bei Doro Puderzucker im Café aushelfe, oder?«

Frau Zeigler verschluckt sich beinah an ihrem Schafskäse. »Nein, das hat deine Mutter nicht«, sagt sie in pikiertem Ton. »Sie hat nichts erwähnt von dieser Person.«

Sie nennt Doro nie beim Namen, spricht immer nur von ihr als diese Person, und rümpft dabei jedes Mal die Nase.

Doro Puderzucker ist Mamas beste Freundin und Besitzerin des Café Puderzucker, das vor allem für seine leckeren Windbeutel bekannt ist.

Letztes Jahr hat Papa seinen vierzigsten Geburtstag groß gefeiert. Bei der Gelegenheit sind Doro und Frau Zeigler aufeinandergetroffen. Die Sache lief von Anfang an ungut: Doro hat feuerrote Dreadlocks und ein Nasenpiercing. Frau Zeigler hält nichts von Dreadlocks. Und von Piercings erst recht nicht. Sie hat Doro mit einem Gesichtsausdruck bedacht, als wäre sie ein feindlicher Alien. Ihren Gatten Raimund hingegen hat die Haartracht überhaupt nicht gestört. Er hat Doro mit glänzenden Augen betrachtet und konnte den Blick gar nicht mehr von ihr wenden, bis Frau Zeigler drohend »Raimund!« gezischt und ihn in die Seite geboxt hat.

Danach schien sich die Lage zu entspannen. Doro und Frau Zeigler kamen ins Gespräch über ihre gemeinsame Leidenschaft: backen. Sie haben Rezepte ausgetauscht und sich halbwegs freundlich unterhalten – bis es beim Thema Käsekuchen zum Eklat kam. Frau Zeigler hat die Meinung vertreten, dass in jeden Käsekuchen Schmand gehört. Doro hat dagegengehalten und erklärt, dass nur ein Kuchen mit Schichtkäse ein richtiger Käsekuchen ist. Den Rest des Abends haben sie sich erbittert angeschwiegen und keines Blickes mehr gewürdigt.

»Schichtkäse statt Schmand. Und so was führt ein Café«, hat sich Frau Zeigler anschließend ereifert und erbost den Kopf geschüttelt. »Mit der Person rede ich kein Wort mehr!«

Was für meine Zwecke natürlich ideal ist.

»Doros Aushilfe ist in Urlaub«, flunkere ich. »Deswegen habe ich versprochen, sie ab morgen ein bisschen zu unterstützen. Sie wissen schon: Sahne schlagen, Früchte schnippeln, Milch schaumig rühren … Im Puderzucker ist in den Sommermonaten ja immer besonders viel los. Weil dann auch die Terrasse geöffnet ist. Ich werde wahrscheinlich von morgens bis abends beschäftigt sein.«

»Den ganzen Tag über? So was nennt sich Kinderarbeit. Und die ist verboten«, schimpft Frau Zeigler.

»Ach wo«, wiegle ich ab. »Ist doch bloß ein kleiner Freundschaftsdienst. Ich mache das gerne.«

»Moment mal!« Frau Zeigler stellt das Kauen ein und fixiert mich mit einem misstrauischen Blick. »Schwindelst du mich etwa an? Ist das wieder so eine Geschichte wie die mit deiner erfundenen frommen Freundin?«

»Natürlich nicht!«, entgegne ich so empört wie möglich und ziehe mein Ass aus dem Ärmel: »Wenn Sie mir nicht vertrauen, können Sie Doro gerne anrufen.«

»Diese Person? Auf keinen Fall!«, schnaubt Frau Zeigler.

»Tja … dann werden Sie mir wohl einfach glauben müssen«, entgegne ich mit bedauerndem Gesichtsausdruck.

Frau Zeigler presst die Lippen zusammen und stiert übellaunig auf ihren Teller, bevor sie grimmig knurrt: »Na schön. Wenn du dich unbedingt ausbeuten lassen willst von dieser Person. Aber spätestens um acht bist du zu Hause.« Sie wirft einen Blick auf Doktor Herkenrath, der gerade ängstlich vor einem Schmetterling zurückweicht, und fügt mürrisch hinzu: »Halte den Hund vom Schichtkäse fern!«

Als ich am nächsten Morgen aufwache, fühle ich mich ganz hibbelig und aufgeregt. Wie immer, wenn ich weiß, dass ich mit dem schüchternen Detektiv an einem Fall arbeiten werde. Während ich unter die Dusche hüpfe, frage ich mich, welche Art von Verbrechen uns heute erwarten könnte.

Bei unserem ersten gemeinsamen Auftrag ging es um eine verschwundene Perle, in einem weiteren Fall haben Rory und ich wegen eines gestohlenen Gemäldes ermittelt.

Eine zünftige Erpressung wäre mal interessant, denke ich.

Meinetwegen auch eine Entführung. Hauptsache, nicht irgendein total langweiliger Betrugsfall oder einer von den öden Aufträgen, wo man irgendwelche kleinkriminellen Büroklammerdiebe beschatten muss.

Zum Frühstück gibt es Tee. Weil die Kaffeedose zu Frau Zeiglers Verdruss weiterhin verschollen ist.

»Ich weiß nicht, wo ich noch suchen soll«, seufzt sie ratlos. »Das Ding ist wie vom Erdboden verschluckt.«

Womit sie richtiger liegt, als sie ahnt. Aber das muss ich ihr ja nicht auf die Nase binden.

»Nachher fahre ich mit Raimund einkaufen«, erklärt sie. »Dann besorge ich eine neue.«

»Ich bin dann mal bei Doro«, verabschiede ich mich, worauf Frau Zeigler säuerlich guckt und »diese Person« in sich reinbrummelt.

Gemeinsam verlassen Doktor Herkenrath und ich das Haus und machen uns auf den Weg zu Rorys Agentur.

Der schüchterne Detektiv ist momentan das, was Frau Zeigler als Strohwitwer bezeichnen würde: Charlotte, seine Freundin, ist auf Reisen. Die beiden haben sich kennengelernt, als wir im Fall der verschwundenen Sprudel-Perle ermittelt haben. Charlotte ist ebenso schüchtern wie Rory. Bei den beiden war es scheue Liebe auf den ersten verlegenen Blick.

Erwähnen sollte ich vielleicht noch, dass Charlotte nicht nur ausgesprochen schüchtern, sondern auch eine milliardenschwere Erbin ist und eine riesige Villa besitzt. Sie engagiert sich sehr für wohltätige Zwecke. Und genau deswegen gondelt sie gerade durch Europa. Um andere reiche Menschen davon zu überzeugen, ebenfalls Geld für die gute Sache zu spenden. Brüssel, Paris, London, Barcelona …

Rory arbeitet ununterbrochen und macht so gut wie nie Urlaub. Es hätte ihm gutgetan, sich mal zwei Wochen freizunehmen und Charlotte bei ihrem Europa-Trip zu begleiten. Was ihm aber leider unmöglich war. Der Detektiv hat neben seiner Schüchternheit noch jede Menge andere Schrullen und Marotten. Extreme Flugangst, zum Beispiel. So extrem, dass er nicht mal in einem Flieger sitzen muss, um Angst zu bekommen. Ihn ereilt schon beim Betrachten einer Luftaufnahme wilde Panik.

Vor ihrer Abreise hat Charlotte mich angerufen und schüchtern gebeten, mich ein bisschen um Rory zu kümmern: »Du, ähm, weißt ja, Matilda: Manchmal ist er so in seine Arbeit vertieft, dass er vergisst, zu essen. Sorg doch bitte dafür, dass er gelegentlich eine Kleinigkeit zu sich nimmt. Aber nicht nur Flips und Schokolinsen, sondern wenigstens ab und zu mal ein Rosinenmürbchen. Ach, und es wäre, öhm, nett, wenn du darauf achten könntest, dass er keine unnützen Versicherungen oder Zeitschriften-Abonnements abschließt. Wenn ihm so ein Vertreter auf die Pelle rückt, ist er einfach zu höflich, um Nein zu sagen. Neulich hat er sich von einem Verkäufer am Telefon fünfhundert Dosen Mauzi-Katzenfutter aufschwatzen lassen. Weil es ihm unangenehm war, den Mann darauf hinzuweisen, dass er überhaupt keine Katze hat.«

Ich habe versprochen, alles Menschenmögliche zu tun.

In den Gärten rechts und links der Kastanienallee zwitschern die Vögelein und zu dieser frühen Morgenstunde herrschen angenehme Temperaturen. Aber wahrscheinlich wird die Sonne in ein paar Stunden wieder vom Himmel brennen, als wollte sie einem das Hirn weichkochen.

Mit der Straßenbahn braucht man dreißig Minuten bis zu Rory. Auf dem Weg zur Haltestelle muss ich unbedingt noch was erledigen: mein Alibi wasserdicht machen. Noch hat es nämlich einen Schwachpunkt: Frau Zeigler glaubt, dass ich bei Doro bin. Und wenn Mama zu Hause anruft, wird sie ihr genau das berichten. Mama wird sich mit der Auskunft erst mal zufriedengeben und nicht weiter nachhaken. Bis dahin ist alles im grünen Bereich. Gefährlich wird es, wenn das Thema später mal zwischen Mama und Doro aufkommen sollte – und Doro ganz überrascht davon ist, dass ich eine Woche bei ihr ausgeholfen habe. Dann kann ich wieder zum Verhör antreten.

Dieses kleine Leck in meinem Alibi muss ich noch stopfen. Mit einem weiteren Schwindel.

Das Puderzucker hat gerade erst geöffnet. Doro spannt Sonnenschirme auf der Terrasse auf. Neben dem Eingang zum Café hat sie einen Napf mit Wasser hingestellt. Doktor Herkenrath stürzt sich wie ein Verdurstender darauf und schlabbert los, als hätte er eine dreiwöchige Wüstenwanderung hinter sich.

»Morgen, Doro.«

»Morgen, Matilda«, begrüßt sie mich und schüttelt ihre roten Dreadlocks. »Was führt dich so früh hierher?«

»Du hast nicht zufällig einen Milchkaffee übrig? Bei uns zu Hause gibt es momentan nur Tee.«

»Na klar«, sagt sie. »Ich mache uns zwei Caffè Latte.«

Ich nehme an einem der Tische auf der Terrasse Platz, lasse mir die Morgensonne auf die Nase scheinen und beobachte, wie sich die Gassen zwischen den bunten Marktbuden auf dem Boringer Platz mit Menschen füllen.

Doro kommt kurz darauf zurück, setzt sich zu mir und wirft mir über den Rand ihres Glases hinweg einen neugierigen Blick zu. »Du bist doch nicht nur wegen des Kaffees hier, Matilda. Irgendwas willst du. Ich kann es dir an der Nasenspitze ansehen. Also – raus damit!«

Ich beuge mich zu ihr vor und wispere geheimnistuerisch: »Ich brauche deine Unterstützung. Und vor allem deine Verschwiegenheit. Zu Mamas Geburtstag im September möchte ich sie mit einem Hundetanz überraschen.«

»Hundetanz?« Doro blickt mich ungläubig an.

»Ja. Hundetanz oder auch Dogdancing. Da tanzen Herrchen oder Frauchen gemeinsam mit ihrem Hund.«

»Im Ernst?«, kichert Doro. »Und was kommt als Nächstes? Karate mit der Katze? Hockey mit dem Hamster? Tiefseetauchen mit dem Goldfisch?«

»Das ist eine richtige Sportart«, kläre ich sie auf. »Dafür gibt es sogar internationale Meisterschaften und so was. Jedenfalls – diese Woche wird auf dem Hundeübungsplatz ein Dogdancing-Kurs angeboten. Und da habe ich Doktor Herkenrath und mich angemeldet. Damit wir einen schönen Tanz einüben und Mama damit an ihrem Geburtstag überraschen können.«

»Und du glaubst wirklich, dass ihr das gefallen wird?«, fragt Doro mit skeptischem Unterton.

»Bestimmt. Und für Doktor Herkenrath ist das auch eine gute Sache. Da kommt er mal wieder ein bisschen in Form.«

Doro wirft einen kurzen Blick auf meinen Cockerspaniel und raunt mir zu: »Der haut doch ab, sobald er Musik hört.«

»Ach, was«, sage ich. »Der kriegt das schon hin. Vielleicht wird er dadurch sogar ein bisschen selbstbewusster.«

»Und was habe ich mit dieser Hundetanzerei zu tun?«, will Doro wissen.

»Na ja, damit es eine Überraschung wird, darf Mama nichts von dem Kurs erfahren. Also, falls zwischen euch mal die Sprache darauf kommen sollte: Ich habe die erste Ferienwoche hier im Café verbracht und dir in der Küche geholfen. Frau Zeigler habe ich das auch erzählt. Weil sie sich dauernd verplappert und kein Geheimnis bewahren kann.«

»Tja …«, macht Doro und zuckt mit den Schultern. »Wer Schmand in den Käsekuchen tut, auf den ist auch sonst kein Verlass. Also gut: Ich werde deiner Mutter erzählen, dass du fleißig bei mir in der Küche gewerkelt hast.«

»Du bist ein Schatz, Doro«, sage ich und wische mir Milchschaum von der Oberlippe. »Und jetzt hätte ich gerne noch vier Rosinenmürbchen. Aber die bezahle ich natürlich.«

Doro erhebt sich, blickt noch einmal zweifelnd zu dem schlabbernden Doktor Herkenrath und flüstert mir ins Ohr: »Er ist ja wirklich ein lieber Kerl. Aber als Tänzer kann ich ihn mir beim besten Willen nicht vorstellen. Der hat sich doch nach zehn Takten alle vier Beine verknotet.«

Üblicherweise frühstücken Rory und ich gemeinsam, bevor wir uns an die Arbeit machen. Vorzugsweise Rosinenmürbchen, die so was wie das Lieblingsgebäck aller Schüchternen sind. Dazu trinkt der Detektiv ein entsetzlich schmeckendes, widerwärtiges Gebräu, das ich als schüchternen Kaffee bezeichne, weil es so dünn ist, dass man beinahe durchsehen kann.

Aber heute gibt es kein Frühstück, wird mir schlagartig klar, als Doktor Herkenrath und ich in der Sailenzer Straße eintreffen.

Rory ist so populär, dass er eine riesige Fangemeinde hat. Normalerweise drücken sich immer ein paar Fans vor der Agentur herum, in der Hoffnung, einen kurzen Blick auf den Detektiv zu erhaschen oder ein Autogramm zu ergattern. Momentan ist das Fan-Aufkommen aber eher gering bis nicht vorhanden. Was wohl an der Ferienzeit liegt. Auch Rory-Fans müssen mal Urlaub machen.

Dafür steht der schüchterne Detektiv höchstpersönlich vor dem Haus, blickt alle fünf Sekunden auf seine Armbanduhr und scheint mich ungeduldig zu erwarten. Rory ist eine große, dürre Erscheinung mit lockigem Haar. Wie fast immer trägt er einen tadellos sitzenden Anzug, Hemd und Krawatte. Ein Aufzug, in dem er im Laufe des Tages gehörig ins Schwitzen kommen dürfte.

»Morgen, Rory. Was ist los?«, frage ich verwundert. »Warum stehen Sie hier unten auf der Straße?«

»Guten Morgen, Matilda. Wir, öhm, wir haben einen Fall. Und es, ähm, eilt ein wenig«, entgegnet er, lächelt schüchtern und kratzt sich verlegen am Hals. »Ich, äh, habe Amadeus angerufen. Er müsste jeden Moment hier sein.«

Kaum hat er es ausgesprochen, biegt eine schwarze Elektrolimousine um die Ecke. Die Nobelkarosse hält direkt vor uns. Ein grauhaariger, gebrechlich wirkender Mann in weinroter Chauffeur-Uniform klettert ächzend aus dem Gefährt, öffnet die hintere Wagentür, deutet eine Verbeugung an und begrüßt uns kurzatmig: »Guten, Morgen, Frau Bond. Guten Morgen, Herr Shy. Guten Morgen, Herr Doktor Herkenrath.«

»Schön, Sie wiederzusehen, Amadeus«, sage ich und lächle ihn freudig an.

Die schwarze Limousine gehört Charlotte, Rorys Freundin. Amadeus ist ihr Chauffeur. Und da der schüchterne Detektiv über keinen Führerschein verfügt, hat Charlotte ihm angeboten, dass er Amadeus’ Dienste in Anspruch nehmen kann, wenn er sie benötigt. Amadeus ist sechsundachtzig und ein wenig zittrig, aber ein erstklassiger Fahrer.

Rory und ich nehmen auf der Rückbank Platz. Doktor Herkenrath springt auf meinen Schoß und guckt so bedröppelt, als wollte er sagen: »Muss das wirklich sein?« Autofahren gehört auch zu den Dingen, vor denen er Angst hat. Weil sein Magen dabei jedes Mal Salto schlägt.

»Wohin darf ich Sie bringen?«, fragt Amadeus mit knarzender Stimme.

»Wir, öhm, wir müssten zu Schloss Eichhorn«, antwortet Rory und räuspert sich nervös. »Wenn es Ihnen keine, ähm, wenn es Ihnen keine Umstände …«

Schloss Eichhorn? Überrascht runzle ich die Stirn. Das Schloss Eichhorn findet man ein paar Kilometer vor den Toren der Stadt, inmitten grüner Hügel und Wälder. Es wurde im achtzehnten Jahrhundert als Jagdschlösschen für einen Kurfürsten erbaut, der sich zeit seines Lebens genau einen (!) Tag dort aufgehalten hat. Dann stand es viele Jahre leer, bis es Mitte des vergangenen Jahrhunderts zu einem Internat für Kinder schwerreicher Eltern umfunktioniert wurde.

»Worum geht es?«, frage ich Rory neugierig, während Amadeus die schwarze Limousine in den Verkehr einfädelt.

Der schüchterne Detektiv scheint mich nicht zu hören und stiert sehnsuchtsvoll auf die Tüte mit Rosinenmürbchen, die ich aus dem Puderzucker mitgebracht habe. Wahrscheinlich hat er sich in den letzten Tagen ausschließlich von dünnem Kaffee ernährt.

»Greifen Sie ganz unschüchtern zu!«, sage ich und halte ihm die Tüte vor die Nase.

»Oh, äh, gerne. Wenn das nicht zu unverfroren …« Er nimmt sich ein Mürbchen und beginnt daran zu nagen wie eine Maus am Käse.

»Spannen Sie mich nicht auf die Folter, Rory. Was hat es mit Schloss Eichhorn auf sich?«, will ich wissen.

Der Detektiv pult eine Rosine aus dem Mürbchen. Seine Miene verfinstert sich und er wispert: »Es geht um eine Tote in der Schulbibliothek. Vielleicht ein Unfall. Vielleicht aber auch ein, hüstel, hüstel … ein Mord.«

Augenblicklich wird mir flau im Magen. Verschwundene Perlen und gestohlene Gemälde sind eine Sache. Aber … eine Tote? Ein Mord?

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt Rory und betrachtet mich mit einem besorgten Blick. »Du bist ja plötzlich ganz blass.«

»Ich habe noch nie eine Leiche gesehen«, krächze ich mit einem Kloß im Hals.

»Oh, keine Sorge«, beschwichtigt der Detektiv, während er auf dem Mürbchen herumkaut. »Es gibt keine Leiche.«

Begriffsstutzig glotze ich Rory an. Zugegeben – gestern hatte ich eine Trauerfeier ohne Verstorbene. Aber ein Mord ohne Leiche?

»Was soll das heißen: Es gibt keine Leiche?«, stammele ich perplex.

»Nun, äh, eine Leiche gibt es schon«, entgegnet der schüchterne Detektiv und zupft nervös an seinem Ohrläppchen. »Irgendwo … auf einem, öhm, Friedhof. Aber nicht in der Bibliothek. Weil die Tote, um die es geht, bereits vor fünfundzwanzig Jahren gestorben ist.«

»Vor fünfundzwanzig Jahren?«, wiederhole ich entgeistert. »Und warum haben wir es dann so eilig?«

»Heute Morgen hat mich Frau Dr. Franck angerufen, die Leiterin des Internats«, erklärt Rory und schluckt einen letzten Bissen hinunter. »Bei der Toten von vor fünfundzwanzig Jahren handelte es sich um eine Lehrerin der Schule. Sie wurde leblos am Fuß einer Wendeltreppe aufgefunden. Damals sind alle von einem Unfall ausgegangen. Aber gestern ist, laut Dr. Franck, ein mysteriöser Hinweis aufgetaucht, der besagt, dass der Tod der Lehrerin kein Unfall, sondern das Ergebnis eines Verbrechens war. Mord!«

»Echt?«, mache ich und spüre, wie mich mit einem Mal ein angenehmes Kribbeln durchläuft. »Sie meinen, wir ermitteln in einem Cold Case?«

Rory hüstelt verlegen. »Ich, öhm, ja ich … ich denke, das könnte man so sagen.«

»Wow!« Ich lasse mich in die Polster der Rückbank sinken und spüre, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet. Ich bin begeisterte Krimileserin. Und am spannendsten finde ich die Geschichten, in denen es um unaufgeklärte, geheimnisvolle Fälle aus der Vergangenheit geht. Um Cold Cases. Und jetzt werde ich selbst in einem ermitteln.

Und wenn man genauer darüber nachdenkt: An einem heißen Sommertag ist ein kalter Fall genau das Richtige!

3

Ein Anfall von Schüchternheit

Nachdem wir die Stadt hinter uns gelassen haben, folgen wir einer kurvigen Landstraße, die an einem träge fließenden Flüsschen entlangführt und sich bald darauf in zahlreichen Windungen durch eine hügelige Landschaft schlängelt.

Ich nehme mir eine Waldmeisterbrause aus dem Mini-Kühlschrank der Limousine, löchere Rory mit Fragen nach dem Fall und will Einzelheiten erfahren, aber mehr als das wenige, das er mir erzählt hat, weiß er bisher auch nicht. Der Detektiv blickt stumm und in Gedanken versunken auf die vorbeiziehende Landschaft, während Doktor Herkenrath vor allem damit beschäftigt ist, elend auszusehen. Die vielen Kurven bekommen ihm gar nicht. Wahrscheinlich betet er inbrünstig zu seinem Hundegott, dass wir unser Ziel so schnell wie möglich erreichen.

Woran mir auch gelegen ist. Schließlich geht es hier nicht um einen entspannten Ausflug aufs Land – sondern um die Aufklärung