Rosengarten - Lars Brede - E-Book

Rosengarten E-Book

Lars Brede

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Beschreibung

Ein Ritualmord, ein psychisch kranker Ermittler und ein intriganter Chef. Hauptkommissar Ben Bischoff wird direkt an seinem ersten Arbeitstag mit seiner düsteren Vergangenheit konfrontiert, als an einem Tatort in Düsseldorf das Lied "Rose Garden" erklingt und in ihm einen quälenden Verdacht heraufbeschwört. Schnell finden er und sein Partner sich in einem Netz von Eitelkeiten und Intrigen wieder. Dabei kämpfen sie nicht nur gegen einen wahnsinnigen Mörder, sondern auch gegen Widersacher aus den eigenen Reihen an, denen jedes Mittel recht zu sein scheint, um Ben Bischoff zu stoppen. Sein Leben droht einmal mehr aus den Fugen zu geraten, denn er steht vor der schwierigsten Aufgabe seines Lebens. Es gilt nicht nur alte Rechnungen zu begleichen, sondern dabei den stärksten aller Gegner zu besiegen: Sich selbst.

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Seitenzahl: 465

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Für meine Familie

Das Buch

Ein Ritualmord, ein psychisch kranker Ermittler und ein intriganter Chef. Hauptkommissar Ben Bischoff wird direkt an seinem ersten Arbeitstag mit seiner düsteren Vergangenheit konfrontiert, als an einem Tatort in Düsseldorf das Lied “Rose Garden” erklingt und in ihm einen quälenden Verdacht heraufbeschwört. Schnell finden er und sein Partner sich in einem Netz von Eitelkeiten und Intrigen wieder. Dabei kämpfen sie nicht nur gegen einen wahnsinnigen Mörder, sondern auch gegen Widersacher aus den eigenen Reihen an, denen jedes Mittel recht zu sein scheint, um Ben Bischoff zu stoppen. Sein Leben droht einmal mehr aus den Fugen zu geraten, denn er steht vor der schwierigsten Aufgabe seines Lebens. Es gilt nicht nur alte Rechnungen zu begleichen, sondern dabei den stärksten aller Gegner zu besiegen: Sich selbst.

Der Autor

Lars Brede wurde am 14. November 1979 in Wuppertal geboren. Schon zu Schulzeiten entdeckte er die Leidenschaft für das Schreiben, die aber nach dem Abitur zunächst in den Hintergrund trat. Nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann studierte Lars Brede nebenberuflich Wirtschaftswissenschaften an der Fernuniversität in Hagen. Er ist verheiratet und Vater zweier Söhne.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Prolog

Der Notruf erreichte die Einsatzleitzentrale der Hauptfeuerwache Düsseldorf-Hüttenstraße um 21:03 Uhr. In den vergangenen Stunden hatten sich wahre Fluten vom Himmel ergossen. Mittlerweile ließ der Regen etwas nach. Selbst den letzten verbliebenen Optimisten dürfte klar geworden sein, dass der Sommer ein für alle Mal vorüber war.

Die Wolken hingen noch immer tief und bedrohlich am Himmel. In der Ferne blitzte es. Der Donner blieb aus. Die Temperatur hatte sich auf herbstliche dreizehn Grad abgekühlt.

Das historische Gebäude, in dem die Feuerwache lag, wurde Ende des neunzehnten Jahrhunderts erbaut und sukzessive erweitert. Es verfügte über fünf Ausfahrten für Einsatzfahrzeuge. Unmittelbar über der Fahrzeughalle befanden sich die Gruppenräume, in denen sich die diensthabenden Feuerwehrleute und Rettungskräfte aufhielten. Zwei der vier Sanitäter sowie der Notarzt waren im Einsatz.

Heute wurde das neue Fußballstadion eingeweiht, mit all seinen Begleiterscheinungen. 38.000 Menschen bevölkerten nach dem Spiel die Straßen. Viele von ihnen waren betrunken und damit stieg die Gewaltbereitschaft. Eine unruhige Nacht war vorhersehbar.

Tom Schüller und Taro Nakeshi waren erst vor Kurzem von einem Einsatz in die Zentrale zurückgekehrt. Ein Fußballfan hatte eine Glasflasche gegen den Kopf bekommen. Sie lagen auf den mehr oder minder bequemen Betten des Aufenthaltsraumes. Jede Minute Schlaf, die sie zwischen den Notrufen fanden, gab Kraft für die kommenden Aufgaben. Nächte wie diese waren ihnen nicht fremd. Beide arbeiteten bereits seit mehreren Jahren in dieser Einheit.

Die Alarmsirene ertönte eine Minute nach Eingang des Notrufes. Das Geräusch der Sirene und die eindringliche Anweisung auszurücken, nahmen sie gelassen. Routine. Sie standen auf, sammelten ihre Ausrüstung ein, gingen eilig die Treppe zur Fahrzeughalle hinunter und starteten den Motor des Rettungswagens. Alle Ampeln der viel befahrenen Straße schalteten sich umgehend auf Rot, als sich das schwere Rolltor öffnete. Der Krankenwagen setzte sich in Bewegung und das Martinshorn ertönte. Die große historische Uhr über der Garage zeigte 21:06 Uhr.

Zwei junge Polizisten fuhren auf Streife in den Straßen der Düsseldorfer Altstadt und auf der Königsallee. Tagsüber flanierte hier die High Society der Stadt. Die top Mode- und Schmucklabels von Lagerfeld über Hilfiger und Joop reihten sich hier aneinander und lockten ein zahlungskräftiges und zahlungswilliges Publikum an.

Auf den Parkplätzen rund um die Königsallee fanden sich alle jene Automarken, die jeden Mann von klein auf zum Träumen einluden. Vor dem Hotel ″Breidenbacher Hof″ parkte der Concierge gerade einen Ferrari 458 Spider neben einem Maibach 62 S.

Am Abend ging viel von dem Glanz und Glamour verloren. Die angrenzende Altstadt lockte mit den unzähligen Bars und Diskotheken ein Publikum an, dem dieser Luxus fremd war. Gerade an den Wochenenden bevölkerten Jugendliche aus dem gesamten Umland die Straßen und konsumierten zur Freude der Gastwirte Unmengen an Alkohol. Die längste Theke der Welt, ein Name, mit dem sich Düsseldorf gerne schmückte, wurde ihrem Ruf gerecht. So war es nicht verwunderlich, dass die Polizei stets bemüht war Stärke zu demonstrieren, denn mit dem Alkohol gingen Gewalt und Drogen einher.

Die Ereignisse rund um die Eröffnung des neuen Fußballstadions verschärften die Situation an diesem Abend. Die örtliche Polizei konzentrierte ihre Einsatzkräfte aus dem gesamten Stadtgebiet an diesem Brennpunkt.

Als sie der Funkspruch erreichte, baute sich schlagartig eine enorme Anspannung auf. Dies war eine jener Situationen, auf die in der Polizeischule niemand vorbereitet wurde, vorbereitet werden konnte. Einer jener Einsätze, der immer wieder und wieder geübt wurde und dennoch nicht zur Routine wurde.

Ihr Puls beschleunigte sich, als sie den Wagen mitten auf der Hauptstraße mit einem harten U-Turn wendeten. Sie würden die Ersten am Tatort sein. In der Ferne war ein Donner zu hören.

Der Rettungswagen schoss die wenig befahrene Straße entlang. Nieselregen setzte ein und legte sich auf die Frontscheibe des Fahrzeuges. Vor den Lichtern der Straßenlaternen bildete sich ein nebelartiger Dunst, der die Sicht zusätzlich erschwerte.

Tom und Taro hatten nur wenige Informationen darüber erhalten, was sie in der Volmerswerther Straße erwartete. Sie wussten, dass geschossen wurde. Sie wussten auch, dass es Verwundete gab. Im besten Falle. In Momenten wie diesen wurde die Vorgehensweise der Rettungskräfte genau und streng von der Einsatzleitung vorgegeben. Die eigene Sicherheit ging vor. Erst dann zählten die Opfer. Sie erhielten die Anweisung, in sicherer Distanz zum Einsatzort zu warten und die Rufbereitschaft zu erhalten. Sobald die Polizei ihre Sicherheit gewährleisten konnte, sollten sie die Erstversorgung der Verletzten übernehmen.

Angespannte Stille herrschte in Wagen 201, während das Fahrzeug geräuschlos die Elisabethstraße passierte. Das Blaulicht war eingeschaltet. Das Martinshorn nicht. Bei geringem Verkehrsaufkommen bestand dazu keine Veranlassung.

Einhundert Meter voraus war ein rotes Licht zu erkennen. “Bengalisches Feuer?”, fragte der Polizist seinen Partner.

Tom und Taro erreichten den vereinbarten Wartepunkt. Tom, der am Steuer des Wagens saß, passierte diesen und fuhr weiter in Richtung des Unglücksortes.

“Was tust du?”, fragte Taro irritiert.

“Wir fahren einmal dort vorbei. Vielleicht ist die Polizei schon da.”

“Die Anweisung ist klar!”, entgegnete Taro erneut. “Ich habe keinen Bock, mir den Arsch wegschießen zu lassen!”

“Ich mache das Blaulicht aus und fahre zackig vorbei.” Tom wirkte gereizt.

“Du hast sie doch nicht alle!”, fluchte Taro.

“Ich mach den ganzen Scheiß doch nicht, um still in einer dunklen Ecke zu hausen, wenn hier draußen die Post abgeht. Wenn es da wirklich Verletzte gibt, brauchen die jetzt unsere Hilfe und nicht irgendwann.” Tom stoppte den Wagen abrupt, sodass Taro ein Stück nach vorne gedrückt wurde und sich sein Anschnallgurt spannte.

“Steig aus!”, forderte Tom seinen Kollegen auf.

Taro blickte Tom einen Moment ungläubig an. Die Augen der Männer trafen sich, ehe Taro resignierend zu Boden blickte.

“Fuck. Fahr schon weiter”, sagte er schließlich.

Die jungen Polizisten erreichten das bengalische Feuer. Es hatte sich eine Traube von Menschen gebildet, die aus der S-Bahn drängte und die Straße blockierte. Sie schalteten die Sirene ein.

Ein junger Mann, offensichtlich betrunken, legte sich mit dem Oberkörper und ausgebreiteten Armen auf die Motorhaube des Polizeifahrzeuges.

“Fortuna! Fortuna!”, brüllte er in Richtung der Polizisten.

Der Fahrer ließ die Kupplung aggressiv kommen, sodass der Wagen einen Sprung nach vorne machte, der Fußballfan von der Motorhaube rutschte und auf dem Boden landete. Fluchend richtete er sich mithilfe seiner Freunde auf, die wilde Beschimpfungen an die Polizisten richteten.

Eine Einheit der Bereitschaftspolizei kam eilig herbei und bemühte sich, den Beamten eine Schneise durch die Menschenmassen zu bahnen.

“Wagen 201 an Zentrale. Wir stecken hier fest. Ist jemand näher dran?”

“Negativ 201. Gebt Gas!”

“Witzig”, schoss es beiden Polizisten wohl gleichzeitig durch den Kopf, während die Straße langsam geräumt wurde.

Der Krankenwagen bog in die Volmerswerther Straße ein. Das Blaulicht war ausgeschaltet und der Wagen bewegte sich fast lautlos die spärlich beleuchtete Straße entlang.

“Schöne Gegend. Da vorne muss es sein”, durchbrach Tom die Stille.

Taro blickte angestrengt die Straße entlang.

“Ich sehe keine Polizei”, sagte er.

Tom verlangsamte die Geschwindigkeit, als sie das Haus passierten. Die Doppelhaushälfte wirkte beinahe idyllisch. Die Fassade war mit Efeu berankt. Viel mehr konnten sie nicht erkennen. Der Regen wurde wieder stärker, sodass die Scheibenwischer auf höchster Stufe liefen.

Der Eingang des Hauses lag an der Seite. Vom Vorgarten führte ein Weg aus Kieselsteinen entlang der Fassade zur Haustür und weiter in den Garten. Über der Tür hing eine einzelne Lampe, die ein wenig Licht abwarf. Angst überkam Taro.

“Was machst du? Fahr weiter! Die Polizei ist nicht da!”

Tom jedoch stoppte den Wagen und beobachtete das Haus.

“Sind wir hier richtig? Ich sehe nichts.”

Er ignorierte die Sorge seines Kollegen völlig. Dann griff er nach dem Funkgerät und ließ sich die Adresse bestätigen.

Er sah Taro an. Dieser erwiderte seinen Blick.

“Scheiße. Nein, auf keinen Fall!”

“Alles sieht nach falschem Alarm aus ...”, sagte Tom, doch Taro unterbrach ihn.

“Und wenn nicht?”

“... dann retten wir vielleicht ein Leben.”

Tom zögerte einen Moment. “Ich gehe rein.”

Er öffnete die Fahrertür, nahm seinen Rettungskoffer aus dem hinteren Teil des Fahrzeuges und sah noch einmal zu Taro. “Also? Was ist?”

Taro wandte den Blick ab. Er schüttelte den Kopf.

“Fick dich!”

Tom schlug die Tür zu und ging in Richtung des Einganges. In der Ferne hörte er Polizeisirenen.

Wagen 201 schoss die Straßen entlang. Sie hatten die Menschenmassen hinter sich gelassen und nun freie Fahrt zum Einsatzort. Der Unerfahrenere der beiden nahm seine Waffe aus dem Halfter, prüfte und entsicherte sie.

Der Kies knarrte unter Tom Schüllers Füßen, als er dem Weg von der Straße zum Haus zügig folgte. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht. Das kalte Wasser lief erst den Nacken, dann den Hals herunter. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in seinem Körper breit. Doch nicht aufgrund der äußeren Bedingungen. Sein Bauch sagte ihm, dass er lieber im Wagen hätte bleiben sollen. In Sicherheit. Hier wusste er nicht, was ihn erwartete. Sämtliche Horrorfilme, die er in den vergangenen Jahren gesehen hatte, kamen Tom in den Sinn. An ein Happy End mochte er sich bei keinem zu erinnern.

Immer wieder sprach er sich Mut zu, wohl wissend, dass er sich jetzt keine Blöße vor Taro geben durfte. Ein Blitz schlug ganz in der Nähe ein. Unmittelbar darauf folgte der Donner. Das Gewitter war jetzt fast über ihm. Er suchte Schutz unter dem kleinen Vordach. Die Tür stand offen.

Taro blickte seinem Kollegen gebannt hinterher. Plötzlich klopfte es harsch an seiner Scheibe. Er zuckte zusammen, griff nach einer Metallstange, die er sich bereitgelegt hatte und holte drohend aus. Am Fenster stand ein Mann mittleren Alters mit zerzaustem, rotblondem Haar. Er war mit einem Bademantel bekleidet. Der Mann lächelte Taro an. Er atmete hörbar auf und kurbelte das Fenster runter. Der Mann richtete eine Waffe mit Schalldämpfer direkt auf Taros Kopf. Dann drückte er ab.

Vorsichtig schob Tom die Tür auf und betrat das Haus. Das Erdgeschoss lag komplett im Dunkeln. Rechts führte eine Holztreppe ins Obergeschoss. Dort brannte Licht.

“Hallo?”, rief Tom, doch er erhielt keine Antwort.

Er ging weiter, geradeaus durch bis ins Wohnzimmer. Es war kalt. Durchzug. Die Gartentür stand offen, doch der Raum war leer. Das mulmige Gefühl in seinem Bauch verstärkte sich. Tom drehte sich um und wollte das Haus wieder verlassen, doch er war nicht mehr allein.

Unter der Lampe an der Eingangstür erkannte er die Umrisse eines Mannes. Er war mit einer dunklen Masse bedeckt, die sich vom Kopf über Arme und Hände, Oberkörper und Beine über den ganzen Körper sprenkelte. Blut. Tom spürte das Pochen seines Herzens.

“Sanitäter”, erklärte er mit zitternder Stimme. “Brauchen Sie Hilfe?”

Während er sprach, ging er einen Schritt auf den Mann zu. Dieser hob den Arm und richtete seine Pistole direkt auf Tom.

Der Polizeiwagen stoppte vor dem Haus. Die Polizisten verließen das Auto und zogen ihre Schusswaffen. Routiniert verständigten sie sich per Zeichensprache. Einer lief zum Eingang, einer umrundete das Haus und sicherte den Garten. Sie hatten Taro Nakeshi im Krankenwagen entdeckt und sofort Verstärkung angefordert.

Tom hielt die Hände hinter seinem Kopf und kniete auf dem Boden. Der Mann war einige Schritte auf ihn zugekommen und richtete die Waffe nun unmittelbar auf Toms Stirn. Hass blickte aus seinen Augen.

“Keine Bewegung”, ertönte eine Stimme hinter ihm.

Er wandte sich kurz um und sah den Polizisten, der mit gezogener Pistole im Türrahmen stand.

“Waffe weg!”, rief ein zweiter Polizist, der aus dem Garten ins Wohnzimmer gekommen war.

Der Mann richtete nun abwechselnd seine Pistole auf die beiden Polizisten, dann auf seine Schläfe.

“Waffe runter!”, rief der Polizist noch einmal. Zugleich winkte er Tom, zu ihm zu kommen. Zögerlich näherte er sich.

“Mach keinen Scheiß! Nimm die Pistole runter!”, brüllte der Polizist nun.

Der Mann schloss die Augen und atmete tief ein. Einmal, zweimal, dann ließ er die Waffe fallen und begann zu weinen. Der Polizist im Türrahmen reagierte sofort und warf den Mann zu Boden. Der zweite Polizist unterstütze ihn und legte die Handschellen an.

“Du verpisst dich jetzt hier, sofort!”, wies einer der Polizisten Tom an. “Ich gehe hoch, du bleibst.”

Mit gezogener Waffe und den Rücken an die Wand gepresst ging er langsam die Treppe nach oben. Der Flur war dunkel. Er hatte vier Türen. Drei Zimmer waren dunkel, lediglich im Raum am Ende des Ganges brannte Licht. Der Polizist öffnete vorsichtig die erste Tür. Leer. Auch das zweite Zimmer war leer, ebenso wie das dritte. Er war allein und konnte die Räume nicht sorgfältig prüfen. Ein Restrisiko blieb. Die Tür des letzten Zimmers war halb geöffnet. Aus dem Raum klang leise Musik. I beg your pardon, I never promised you a rose garden. Along with sunshine, there´s gotta be a little rain some time. Der Beamte schob sie mit der linken Hand vollständig auf, während er mit der rechten die Waffe hielt. Als der Blick in den Raum frei war, blieb er abrupt stehen und ließ die Waffe sinken. Seine Lippen zitterten. Jegliches Blut verließ sein Gesicht und sein Kreislauf drohte zu kollabieren.

“Mein Gott”, stammelte er.

Kapitel 1

Acht Jahre später.

Er zog an seiner Zigarette, hielt den Rauch einige Sekunden, um ihn dann genüsslich zwischen den Lippen hinauszublasen. Dann drückte er sie auf dem Armaturenbrett des Autos aus und knickte den Filter der Zigarette ab. Er öffnete das Handschuhfach und nahm eine kleine Dose heraus. Als er sie öffnete, fielen ein paar der Filter heraus, die er sogleich aufhob und sorgfältig zurücklegte.

Mit einem Ruck öffnete er die Tür des Wagens und stieg aus. Sein Atem schnitt die eisige Luft. Die Nachrichten hatten weiterhin Minustemperaturen vorhergesagt. Viel zu spät in diesem Jahr, denn es war bereits April.

Der Januar hingegen war ungewöhnlich mild gewesen. Die zaghaften Knospen, die Anfang des Jahres bereits aus dem Boden sprossen, waren nach dem erneuten Kälteeinbruch jedoch nicht mehr zu sehen. Für die kommende Woche sprach der Meteorologe im Fernsehen sogar von Schnee.

Der Mann ging ein paar Schritte und blieb am Bordstein des Bürgersteiges stehen. Wie eine Festung ragte vor ihm das Polizeipräsidium empor. Es war ein beeindruckender Backsteinbau, an dem sein Blick hing und verweilte.

Das Gebäude nahm einen ganzen Häuserblock ein, wenngleich es schon längst nicht mehr ausschließlich von der Polizei genutzt wurde. Dennoch übermittelte dieser Bau eine Botschaft, hier im Zentrum der Macht, zwischen Parlament und Innenministerium, nahe der Börse und dem Landeskriminalamt.

Die kurzen Wege hatten sich in der Vergangenheit bewährt, auch wenn sie nicht immer mit den rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar waren, mit denen sich diese Landesregierung so gerne schmückte.

Er zog den Reißverschluss seiner Jacke höher und überquerte die Straße. Sein Gesicht spiegelte sich in den Fensterscheiben. Die Augenringe waren ausgeprägt. Schlafmangel. Er hätte sich wieder einmal rasieren können. Lustlosigkeit. Eventuell wäre heute auch ein Anzug angebracht gewesen. Gleichgültigkeit.

Der Mann spürte eine Unruhe in sich aufsteigen, die er bislang so erfolgreich verdrängt hatte. Lediglich einmal in der letzten Nacht, in einem der Momente, in dem er endlich einmal Schlaf gefunden hatte, wühlten ihn die Gedanken an diesen Tag derart auf, dass er aufstand und eine Zigarette anzündete. Ein Zug, dann löschte er sie und brach den Filter ab. Er legte ihn in die Dose und ging wieder ins Bett.

Jetzt stand er vor der Eingangstür und spürte diese Unruhe erneut. Er wühlte in seiner Jackentasche und kramte eine Packung mit Tabletten hervor. Er nahm zwei davon, warf sie in den Mund und schluckte sie hinunter. Dann öffnete er die Tür.

Es hatte sich wenig verändert. Beinahe acht Jahre waren nun vergangen, seit er zum letzten Mal hier gewesen war und doch war es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Investiert worden ist währenddessen offenbar kaum. Der Boden, der Putz, die Türen, alles war genau wie damals. Bevor das Schicksal zuschlug.

Die Stadt war pleite. Damals. Heute stand sie im Vergleich glänzend da. Während die umliegenden Orte und Gemeinden teils mit erheblichen Schuldenlasten zu kämpfen hatten, hatte sich Düsseldorf aus dem Mühlrad befreit, war frei von Schulden. Zwei Dinge hatten dies ermöglicht. Zum einen hatte der damalige Bürgermeister sein Tafelsilber veredelt. Beteiligungen wurden abgestoßen und stille Reserven aufgelöst. Zum anderen wurde eisern gespart. An öffentlichen Einrichtungen, Schwimmbädern, Schulen, Kindergärten und eben auch an der Ausstattung der Polizei und Rettungsdienste. All dies dokumentierte ein Blick in den Vorraum des Polizeipräsidiums. Damals und heute.

Er griff erneut in die Tasche seiner Jacke und zog einen zerknüllten Zettel hervor. Mit verwischter Tinte standen dort die Zahl ´302´ geschrieben. Kurz überlegte er, den Aufzug zu nehmen, entschied sich aber doch für die Treppe. Drei Etagen nach oben, ein paar Meter den Gang hinunter und durch das Vorzimmer ins Büro. Den Weg kannte er noch gut. Acht Jahre.

08:47. Thomas Richter blickte zur Uhr. Den ganzen Morgen hatte er eine starke innere Anspannung gespürt. Mittlerweile war sie seiner Wut gewichen. Einer unbändigen Wut. Er trommelte mit dem Füllfederhalter auf der schwarzen Ledermappe, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag, als sein Blick erneut auf seine Armbanduhr fiel. 08:48.

Die Omega war ein Geschenk seines Vaters gewesen, kurz bevor er verstarb. Ein Chronograf für die Ewigkeit. Robust, unempfindlich, beinahe unzerstörbar. Wie er selbst, dachte Richter. Lediglich die Batterien hatte er zweimal wechseln lassen müssen und selbst dabei hatte er sie nicht aus den Augen gelassen.

Sein Blick schweifte durch den karg eingerichteten Raum hinaus aus dem Fenster. In einiger Entfernung konnte er ein Flugzeug erkennen, welches offensichtlich gerade erst gestartet war. Jedes Mal, wenn er so nach draußen schaute, fragte er sich, welches Ziel es wohl ansteuern würde. Jeder Ort war ihm heute lieber, als dieses karge Büro im dritten Stock des Polizeipräsidiums. Richter griff zum Telefonhörer und drückte eine Kurzwahltaste.

“Ja?”

Ihre Stimme klang betörend. Es bereitete ihm immer wieder von Neuem eine Gänsehaut, wenn sie den Hörer abnahm. Sie arbeitete seit fast zwei Jahren für ihn und doch war es ihm nicht gelungen, ihre Beziehung auf eine andere Ebene als die berufliche zu, er nannte es “entwickeln”.

Es war für ihn nicht mehr als ein Projekt oder eher ein Spiel. Früher oder später würde er es gewinnen.

Sie war keine Schönheit, doch da war etwas in ihrem Blick, dass ihn faszinierte. Jeden Versuch, ihr näher zu kommen, blockierte sie, dabei war er ein gutaussehender Mann, wie er fand. Sein Haar war auch mit vierzig Jahren noch voll und graue Strähnen blieben bislang aus. Er hatte es zu einem Seitenscheitel gekämmt.

Heute trug er einen dunklen Hugo-Boss-Anzug. Dieser war schlank geschnitten, um seine sportliche Figur zu betonen. Das Hemd war eine Maßanfertigung, ebenso wie die Manschettenknöpfe mit seinen Initialen.

Die moderne, schmale Krawatte war dezent und passte perfekt zu seinem Stil.

Er hätte auch als Banker durchgehen können. Die Frauen flogen auf ihn, doch wenn er ihr zu nah kam, drohte sie mit dem Betriebsrat. Das konnte er nun wahrlich nicht gebrauchen. Irgendwann jedoch wollte er sie haben. Er würde sie haben.

“Hat er sich gemeldet?”, fragte er.

“Nein, ich habe versucht, ihn mobil zu erreichen. Das Handy ist offensichtlich aus.”

“Danke.”

Er legte den Hörer auf. Südamerika würde ihm gefallen. Vielleicht auch Asien. Exotisch musste es sein und Regeln mussten dort dehnbar gehandhabt werden. Nicht wie in Deutschland, wo diese Bürokraten der Polizei den Rahmen so eng steckten, dass sie sich kaum noch bewegen konnten. Dort zählte es zu tun, was richtig, nicht was rechtens ist. Vielleicht flog das Flugzeug ja einen dieser Kontinente an. 08:50 Uhr.

“Arschloch!”, murmelte die junge Frau, während sie den Telefonhörer auf die Station legte.

Er hatte sie in letzter Zeit auffällig distanziert behandelt. Keine Sprüche, keine Gesten, keine Berührungen. Dennoch spürte sie seine Blicke. Die Art, wie er sie ansah, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Wenn er den Raum betrat, bekam sie Gänsehaut. Sprach er sie an, spannte ihr Körper jeden seiner Muskeln an. Eine Abwehrreaktion, eine Reaktion auf ihre Angst. Es waren diese kleinen Berührungen, die sie verstörten. Wenn seine Hand scheinbar zufällig ihre Hüfte berührte. Wenn er ihr beim Blick über einen Brief so nahekam, dass sie seinen Atem an ihrer Wange spüren konnte.

Sie hatte ihn gebeten, Distanz zu wahren. Seither ließ er sie in Ruhe und dennoch spürte sie seine Blicke.

Sie brauchte den Job. Die Bezahlung war gut, die Arbeitszeiten moderat und flexibel. Vor allem aber war er sicher. Sicherheit, die sie und ihre Familie brauchte.

Sie saß an ihrem Schreibtisch und hatte die Hände in den Ärmeln ihres Strickpullovers vergraben, während sie das Dokument vor ihr musterte. Sie hatte nicht wahrgenommen, wie sich die Tür geöffnet und der Mann sich genähert hatte. Sie erschrak. Er beobachtete sie einen Moment, indem er auf sie herabsah. Dann hielt er ihr einen Zettel hin. “Zimmer 3.02?”, fragte er.

Die junge Frau zögerte einen Moment.

“Äh, ja. Hier sind Sie richtig. Mein Name ist Janina Greuer.”

Sie stand auf und streckte dem Mann vor ihr die Hand entgegen. Er war groß, vielleicht ein Meter neunzig, vielleicht etwas größer, schätzte sie. Sein Haar war zerzaust, sein Bart wirkte ungepflegt und wucherte bis zu den hochstehenden Wangenknochen. Der Mann wirkte müde. Seine Augen waren blutunterlaufen und blickten sie ausdruckslos an. Er trug eine ausgewaschene Jeans und einen grauen Pullover, darüber einen olivgrünen Parka, in dessen Taschen er seine Hände vergraben hatte. Er wirkte nicht wie ein Polizist, doch ohne Zweifel war er es.

Mit etwas mehr Körperpflege hätte er durchaus gut aussehen können. Sicherlich war dies mit Geduld und etwas weiblicher Fürsorge verbunden, doch vielleicht wäre es einen Versuch wert. Wenn da nicht diese Augen wären, die ausdruckslosen Augen.

“Ben Bischoff”, antwortete der Mann, ohne Anstalten zu machen, ihre Hand zu ergreifen.

Er ging ein paar Schritte durch den Raum und musterte die Bilder an den Wänden.

“Ich sage Herrn Richter Bescheid, dass Sie da sind, Herr Bischoff. Nehmen Sie doch bitte dort vorne noch einen Moment Platz.”

Sie deutete auf einen Stuhl in der Ecke des Raumes, doch er ignorierte sie. Stattdessen sah er aus dem Fenster.

“Das dort ist ein Kastanienbaum”, sagte er mit monotoner Stimme.

“Mag Ihr Sohn Kastanien, Janina?”

Sie erstarrte.

“Woher wissen Sie, dass ...”

“Die Blätter der Kastanienbäume werden früher gelb als andere, daran erkennen Sie sie gut.”

“Zum Teufel, woher kennen Sie meinen Sohn!”

“Sie sollten im Herbst mit ihm herkommen, Janina. Wenn die Bäume ihre Früchte verlieren. Kinder lieben es, aus Kastanien kleine Figuren zu basteln.”

Janina sprang auf. Ihr Blick war ängstlich und wütend zugleich. Tränen schossen in ihre Augen.

Ben Bischoff würdigte sie keines Blickes. Er sah noch immer aus dem Fenster hinaus, die Straße hinunter, auf die Allee mit Kastanienbäumen.

“Das Foto”, sagte er ausdruckslos.

“Was?”

“Das Foto auf Ihrem Schreibtisch. Sie haben einen kleinen Jungen im Arm. Ihr Sohn, nicht wahr? Sie wirken so innig.” Janinas Atem beruhigte sich. Sie gewann ihre Fassung zurück und griff zum Telefonhörer.

“Ihr Besuch ist hier.”

Mit jedem ihrer Worte fixierte sie den Mann an der Fensterscheibe.

Die Tür in Janinas Rücken öffnete sich und wieder spürte sie den kalten Schauer, der ihr über den Rücken lief und Unbehagen verursachte. Thomas Richter hatte seine Ledertasche unter den Arm geklemmt und betrat das Vorzimmer seines Büros.

Er warf Janina einen vielsagenden Blick zu, als sie sich zu ihm umdrehte und angespannt auf den Mann am Fenster deutete. Dann setzte sie sich wieder an ihren Schreibtisch, nahm ein paar Papiere zur Hand und begann, etwas in den Computer zu tippen.

Richter blieb einen Moment stehen und musterte Ben Bischoff, der noch immer abwesend auf die Bäume vor dem Gebäude starrte.

“Es ist lange her, Thomas”, durchbrach Ben die Stille.

“Das kann man wohl sagen ...”, murmelte Thomas Richter.

“Sie sind fast eine halbe Stunde zu spät. Kein guter Start, Ben.”

Ben wandte sich vom Fenster ab und blickte Richter an. Janina, die von ihrer Arbeit aufblickte, erkannte plötzlich einen eigenartigen Ausdruck in Bens Augen. Die Ausdruckslosigkeit war einem Funkeln gewichen, welches sie nicht zu deuten wusste, doch auf einmal schien es in ihm zu lodern. Er wirkte nun nicht mehr nur noch beängstigend. Er wirkte bedrohlich.

Richter tat ein paar Schritte auf ihn zu und hielt ihm die Hand zur Begrüßung entgegen. Ben zögerte einen Moment, ergriff sie dann aber doch. Wie zwei Boxer sahen sich beide Männer tief in die Augen. Sie verzogen keine Miene, fixierten sich, schienen auf einen Fehler, auf eine Schwäche des anderen zu warten.

“Na dann, herzlich willkommen zurück”, sagte Thomas Richter mit einem sarkastischen Grinsen.

“Ganz bestimmt kommt es von Herzen”, antwortete Ben.

“Los jetzt! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.” Richter deutete auf die Tür und ging ohne ein weiteres Wort voran.

Ben Bischoff folgte ihm, blieb allerdings im Türrahmen stehen und hielt kurz inne.

Dann wandte er sich Janina zu, die sich noch immer alle Mühe gab, beschäftigt zu wirken. “Ich wollte Sie nicht verängstigen.”

Das Funkeln in seinen Augen war verschwunden. Die Stimme war monoton.

Die Männer verließen das Büro. Sie waren äußerst bedacht darauf, eine gewisse räumliche Distanz zwischen sich zu wahren.

Thomas Richter ging voran, was alleine der Tatsache geschuldet war, dass er den Weg kannte.

Der Polizeipräsident von Düsseldorf hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den neuen Mitarbeiter persönlich zu begrüßen. Thomas Richter missfiel dieser Wunsch. Er fühlte sich ins zweite Glied zurückversetzt. Seine Autorität wurde in seinen Augen untergraben und gerade in diesem Fall hatte er Stärke und Konsequenz zeigen wollen. Zwar hatte er diesen Vorsatz nicht abgelegt, doch fiel es ihm nun gleichwohl schwerer, dem “Neuen” die Hackordnung in dieser Einheit begreiflich zu machen. So sah er es zumindest.

Polizeipräsident Huber war ein stattlicher Mann. Auch wenn es bis zu seiner Pensionierung nicht mehr allzu fern war, hielt er sich exzellent in Form. So mancher junge Rekrut hatte im sportlichen Vergleich das Nachsehen.

Huber wurde von den meisten seiner Mitarbeiter geschätzt. Zwar war er stets hart im Ton und auch in der Sache, doch immer fair. Ein jeder Kollege, der bereit war einen entsprechenden Einsatz zu erbringen und sich dabei an die Regeln hielt, konnte sich seines Rückhaltes sicher sein. Diese Regeln wurden allerdings immer komplexer. Machtkämpfe innerhalb der Polizei, zwischen Bundeskriminalamt, Landeskriminalamt und Bundesnachrichtendienst, getrieben von politischen Intrigen, gehörten zum Tagesgeschäft.

Manchmal sehnte sich Huber ein paar Jahre zurück in die Zeit, als sich seine Arbeit auf das Wesentliche beschränkte: Die Bekämpfung von Unrecht und Verbrechen.

″FKK″ hatte er sich in seiner Führungsrolle zum Leitmotiv gemacht. Fair, klar und konsequent leitete er seine Mitarbeiter. Diese dankten es ihm mit erstklassigen Aufklärungsquoten.

Seine Sekretärin klopfte an die Tür. Ohne eine Reaktion abzuwarten, öffnete sie diese und trat mit zwei Herren ein.

Der eine adrett und seriös, wirkte beinahe wie ein Banker.

Der andere war ungepflegt und verwahrlost.

Huber betrachtete den neuen Mitarbeiter einen Moment.

Was hatte dieser Mann nur durchgemacht, dass er heute in solch einer Verfassung vor ihm stand?

Er begrüßte ihn mit einem herzlichen Handschlag und warf ihm ein väterliches Lächeln zu. Wir bringen dich wieder auf den Weg, wollte er signalisieren. Er erhielt keine Reaktion. Kein Lächeln, nicht einmal ein Zucken, konnte er in Ben Bischoffs Gesicht ausmachen.

Er deutet den Männern, am Besprechungstisch in der Ecke des Raumes Platz zu nehmen.

“Willkommen zurück, Ben”, begann Huber. ”Es tut gut, Sie wieder hier zu haben.”

“Was soll das Spiel Huber? Es war nicht Ihre Idee”, entgegnete Ben Bischoff schroff.

Mit dieser Reaktion hatte Huber nicht gerechnet.

“Ben, ich weiß, was Sie durchgemacht ...”

“Einen Scheiß wissen Sie!”

Bischoff sprang auf. Wie ein gefangenes wildes Tier bewegte er sich durch den Raum. Huber sah Thomas Richter fragend an, der ebenfalls mit der Situation überfordert zu sein schien.

“Einen Scheiß wissen Sie!”, brüllte Bischoff erneut, während er eine Trophäe vom Schreibtisch des Polizeipräsidenten nahm und mit voller Wucht gegen die Wand warf.

Auch Huber wurde nun laut. “Verdammt Ben! Setzen Sie sich gefälligst wieder hin! Ich stehe auf Ihrer Seite! Das tat ich schon immer! Das hier ist Ihre zweite Chance, Ihr Neuanfang. Reißen Sie sich zusammen!”

Ben Bischoff hielt inne. Er und Huber sahen sich tief in die Augen. Dann ging Bischoff wortlos zu seinem Stuhl zurück und setzte sich.

“Danke”, sagte er.

Wieder sahen sich Huber und Richter an. “Wofür?”, fragte Richter nun.

“Er hat mich willkommen geheißen.”

Präsident Huber nahm sehr schnell wahr, dass es ihm nicht leichtfallen würde, einen direkten Draht zu Bischoff aufzubauen. Um die Formalitäten zu erledigen, rief er seine Sekretärin ins Büro, die Ben Bischoff daraufhin mit sich nahm.

Er lehnte sich in seinem schweren Ledersessel zurück und rieb sich die Schläfen mit den Fingerspitzen.

“War das wirklich eine gute Idee?”, durchbrach Richter die Stille.

“Ich weiß es nicht, Richter, aber lesen Sie sich die Akte dieses Mannes durch. Blicken Sie hinter seine aggressive Fassade und versuchen Sie zu erkennen, warum er so ist wie er ist. Hat er es dann nicht verdient, hier zu sein?”

“Bei allem Respekt, Herr Huber. Ich führe eine Einheit, die Mörder fängt. Ich kann es mir nicht leisten, jetzt auch noch einen Kindergärtner für diesen Verrückten abzustellen.”

Richters Stimme wurde lauter. Huber nahm dies zur Kenntnis und wandte sich mit leisem, aber bestimmten Ton an Richter. “Im Zweifel, Thomas, werden Sie den Kindergärtner spielen. Verstehen Sie das? Sie vergessen, dass es meine Entscheidung ist, die Sie gerade in Zweifel ziehen. Aber eines haben Sie richtig erkannt. Sie sind hier, um Mörder zu fangen, also machen Sie jetzt Ihren Job!”

Wortlos verließ Richter das Büro. Der alte Mann wusste gar nichts. Er wusste weder, was er tat, noch wie er es zu tun hatte und am wenigsten wie wertvoll er, Thomas Richter, für diese Einheit war. Vor der Tür begegnete er Bischoff und ging direkt auf ihn zu. Er kam ihm so nahe, dass sich ihre Nasen fast berührten.

“Pass gut auf, mein Freund. Die erste Gelegenheit, um dich loszuwerden, werde ich nutzen. Ich will dich hier nicht haben und auch kein anderer will das. Raffst du das? Du würdest allen einen Gefallen tun, wenn du die Formulare hier in den Müll schmeißt und gleich wieder nach Hause gehst.”

Vor Wut schnaubend starrte er Bischoff an. Dieser griff in seine Tasche. Er holte eine Zigarette sowie ein Feuerzeug heraus und zündete sie an. Er zog einmal tief und blies Richter den Rauch ins Gesicht. Dann drückte er sie auf dem Schreibtisch der Sekretärin aus, brach den Filter ab und steckte ihn in die Tasche.

“Wo ist mein Büro?”, fragte er.

Kapitel 2

Die Pistole lag noch immer gut in der Hand. Bedächtig wog er sie hin und her, betrachtete sie von allen Seiten. Sie war etwas kleiner und leichter als seine alte Dienstwaffe. Er entsicherte sie und zielte auf das Bild des Bundespräsidenten an der Wand. Seine Augen verengten sich, der Finger krümmte sich gefährlich zum Abzug, als sein Arm von der Seite heruntergedrückt wurde.

“Kein Spielzeug, Bischoff”, ermahnte ihn der alte Polizist an der Materialausgabe. ”Üben kannst du auf dem Schießstand.”

Bischoff sicherte die Pistole und steckte sie in das Halfter unter seiner grünen Jacke. Den ganzen Vormittag hatte er sich mit Formalitäten aufgehalten. Er hatte Fotos für den Dienstausweis machen lassen, den Dienstwagen übernommen, diverse Rechtsbelehrungen über sich ergehen lassen und unterschrieben. Nun hielt er sie endlich in der Hand.

Die Walther P99.

Er ging zurück in den Bürotrakt, vorbei an Thomas Richters Büro und musterte die Nummerierung der einzelnen Räume.

“3.16”, hatte Richter ihm zugeraunt und sich sichtlich gezwungen, die Fassung zu wahren.

Hier war es. Ohne anzuklopfen, öffnete Ben Bischoff die Tür und trat ein. Er zog seine Jacke aus und warf sie über den Garderobenständer neben der Tür, ohne den verdutzten jungen Mann, der an einem der beiden gegenüberliegenden Schreibtische saß, auch nur eines Blickes zu würdigen.

An den Wänden des kleinen Raumes hingen diverse Fahndungsfotos. Ein paar persönliche Gegenstände standen auf dem Tisch und der Fensterbank.

Der zweite Tisch war leer. Bischoff nahm auf dem davorstehenden alten Schreibtischstuhl Platz. Er zog die Waffe, musterte sie erneut und legte sie vor sich auf den Tisch. Dann zog er eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an, um sie direkt danach auf dem Schreibtisch wieder zu löschen. Den Filter brach er ab und legte ihn in die oberste Schublade des Schreibtisches. Das alles noch immer vor den Augen des völlig irritierten Kollegen.

Der junge Mann war maximal Anfang 30. Sein Gesicht wirkte nicht männlich, sondern jugendlich. Seine Kleidung war modern. Jeans, ein tailliert geschnittenes Hemd, ein buntes Halstuch. Er wirkte weich.

Polizeipräsident Huber stand plötzlich in der offenen Tür.

“Sie haben sich schon kennengelernt! Schön!”

“Kennengelernt ist übertrieben ...”, antwortete der junge Polizist.

Huber, der die Ironie in der Stimme des Mannes ignorierte, trat hinter ihn und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. “Gut so. Sie beide werden sehr voneinander profitieren.”

Dann musterte er Ben Bischoff, der abwesend mit seiner Dienstwaffe spielte.

“Bischoff, mir wäre es lieber, wenn Sie das nicht machen würden.” Er lachte verlegen.

Bischoff sah ihn an, eine Sekunde, zwei, drei und legte die Waffe weg.

“Na dann, guten Start!”, sagte Huber, der schon wieder auf dem Weg nach draußen war.

Der junge Mann stand auf, ging um den Tisch herum und baute sich bedeutungsvoll vor Ben Bischoff auf. Bischoff sah mit hochgezogenen Augenbrauen dabei zu, wie der Mann ihm die Hand entgegenstreckte. “Christian Klein. Ihr Partner.”

Einen Moment zögerte Bischoff, ergriff die Hand aber dann schließlich doch. “Ben Bischoff. Ich arbeite allein.”

“Nein, das tun Sie nicht. Die Zeiten haben sich geändert, Bischoff.” Thomas Richter hatte zwischenzeitlich den Raum betreten. Er drückte Klein ein paar Blätter mit handschriftlichen Notizen in die Hand.

“Mord in der Kölner Straße. Alles, was wir bislang wissen, steht da drin. Kümmert euch darum.”

“Sicher, dass es Mord war?”, fragte Klein.

Richter, der sich bereits umgedreht hatte, um das Zimmer zu verlassen, machte erneut kehrt und trat nah an Klein heran. “Wie sicher hört sich für Sie ein Einschussloch in der Stirn an, Klein?”

Er tippte mit dem Finger auf die Blätter in Kleins Hand.

“Steht alles hier drin. Erst lesen, dann ermitteln und niemals unnötige Fragen stellen, Junge. Und jetzt los.”

Die Kölner Straße lag in Düsseldorf Oberbilk. Eine Gegend der Stadt, in der in erster Linie Menschen mit Migrationshintergrund lebten. Vielen Vorurteilen zum Trotz war die Kriminalitätsrate hier nicht höher als in anderen Teilen der Stadt. Entgegen dem allgemeinen Trend war sie sogar rückläufig.

Klein parkte den Dienstwagen, einen VW Passat Kombi, unmittelbar vor der weiträumigen Polizeiabsperrung. “Eine türkische Bäckerei”, bemerkte er.

“Sehe ich. Was wissen wir?”, antwortete Bischoff schroff, während er sich eine Zigarette in den Mundwinkel schob.

“Nur den Namen. Ersan Yücel. Verheiratet, ein Kind, 42 Jahre.”

Ein uniformierter Beamter trat auf die beiden zu und deutete den Weg in das Ladenlokal. Unsicher blickte er zu Klein, während Ben Bischoff zwar den Handschlag des Mannes verweigerte, ihm aber die Reste seiner Zigarette in die Hand drückte.

“Was machen Sie da?”, fragte er Ben Bischoff, der nicht reagierte.

Der Polizist zog Christian Klein am Arm in Richtung des Tatortes. Als die Männer im Haus verschwunden waren, stand Bischoff noch immer davor. Er atmete tief ein und sah sich um. Ein Gemüsemarkt, ein Supermarkt, ein Hotel, Mehrfamilienhäuser. Er nahm noch einen tiefen Atemzug. Dann folgte er Klein und dem Beamten ins Haus. Es war gut, wieder da zu sein.

Der Verkaufsraum war dunkel. Die Jalousien waren herabgelassen. Die Ladentheke war halb leer, halb mit Teigwaren befüllt. Auf dem Tresen stand eine rote Plastikkiste mit türkischem Brot.

Alles war verwüstet. Die Hocker, die ursprünglich an den Tischen am Fenster standen, lagen auf dem Boden. Quer über der Theke waren bis zur Eingangstür Blutspritzer zu sehen. Überall waren kleine bräunliche Klumpen verteilt. Ben Bischoff ging um die Theke herum und drückte auf die Knöpfe der Kasse. Sie öffnete sich. Scheine, ein paar Münzen. Er blickte zu Boden und bemerkte eine große Blutlache, die durch die Tür zum hinteren Teil des Ladens führte. Um die Ecke sah er diverse Polizisten. Einer machte Fotos, ein anderer untersuchte jeden Gegenstand gewissenhaft nach Fingerabdrücken.

In der Mitte des Raumes stand Christian Klein mit dem Polizisten, der beide in Empfang genommen hatte. Zu ihren Füßen die Leiche von Ersan Yücel. Die Totenstarre hatte offensichtlich bereits eingesetzt.

Bischoff trat näher heran und beugte sich über ihn. Er musterte jede Falte in seinem Gesicht. Angst, Todesangst war zu erkennen, selbst jetzt noch, wo er seinen Frieden gefunden hatte. Die Augen waren geöffnet. Auf seiner Stirn war ein kleiner roter Punkt. Er drehte den Kopf der Leiche ein wenig zur Seite. Der Hinterkopf war durch die Wucht der Kugel weggesprengt worden.

“Sie waren als Erster vor Ort?”, fragte Klein den Beamten.

“Nein, die Frau des Opfers hat ihn hier gefunden. Sie wurde angerufen, weil er den Laden noch nicht geöffnet hatte. Frau Yücel ist in Panik auf die Straße gelaufen und hat um Hilfe geschrien. Ich kam dann als erster Polizist hierhin.

Das ist richtig. Ich habe alles so vorgefunden und nichts berührt.”

“Du hast dir die Seele aus dem Leib gekotzt”, wandte sich Bischoff auf und sah den Beamten an.

“Was?”

“Du hast gekotzt. Das ganze Zeug liegt vorne überall rum.

Die Spurensicherung findet es sowieso raus.”

Christian Klein sah den Mann fragend an.

“Ich ... Wissen Sie, das ist ...”

“Ich sag das mal kurz den Jungs von der Spurenermittlung”, sagte Klein und ging in den Nebenraum.

“Scheiße. Das war doch ...”, begann der Polizist erneut. Ben Bischoff legte dem Mann die Hände auf die Schultern. “Wie heißt du?”

“Marvin Ellert.”

“Also gut, Marvin. Ich brauche jetzt deine Hilfe, weil du meinen Tatort kaputtgemacht hast. Verstanden?” Ellert nickte.

“Gut. Schließ die Augen! Geh zurück zu dem Zeitpunkt, als du den Raum betreten hast. Was hast du gesehen?”

“Keine Ahnung. Ich habe so etwas noch nie vorher gesehen. Scheiße.”

“Einatmen. Atme.”

Der Mann atmete tief ein und aus. Er wurde ruhiger. ″Die

Tür stand offen. Frau Yücel stand hinter mir. Sie schrie mir ins Ohr.”

“Was schrie sie?”

“Es war Türkisch.”

“Ok. Weiter.”

“Überall waren Blutspritzer. Ich ging um die Theke herum und mitten im Weg stand diese Kiste.”

“Was hast du damit gemacht?”

“Ich habe sie zur Seite gestellt.”

“Zeig mir, wo sie stand.”

Der Polizist deutete auf den Türrahmen.

“Schließ wieder die Augen. Was hast du dann gesehen?”

Christian Klein war inzwischen zurückgekehrt und beobachtete Ben Bischoff.

“Der Mann lag auf dem Boden. Genau wie jetzt.”

“Was hast du gerochen?”

“Es war ein säuerlicher Geruch. So ähnlich wie Essig. Dann habe ich mich übergeben.”

“Und dann bist du wieder in die Backstube. Weiter. Was hast du gehört?”

“Ich bin in die Backstube. Ich konnte gar nicht klar denken.

Dann habe ich Verstärkung gerufen ...”, zögerte er. “Ich konnte keine Verstärkung rufen. Ich musste zuerst das Radio leiser drehen.”

“Gut so. Erinnere dich an die Geräusche. Was lief im Radio?”

“Hmmhmm ... I never promised you a rose garden ...”, summte der Polizist.

Ben Bischoffs Atem beschleunigte sich. Sein Kreislauf spielte verrückt. Er rang nach Luft. Er wandte sich von dem Polizisten ab und drückte sich an Klein vorbei durch die Tür. Fluchtartig verließ er das Gebäude. Klein folgte ihm.

“Was ist los? Bischoff!”

Doch Ben Bischoff hörte nicht. Er warf ein paar Mülltonnen um, die am Straßenrand standen, und lief weiter. Christian Klein hob resignierend die Arme und ging zurück zum Tatort.

Er schob den Vorhang ein paar Zentimeter zur Seite und blickte zur Straße hinaus. Die Polizei hatte die türkische Backstube weiträumig abgesperrt. Eine Handvoll uniformierter Polizisten hielt einige wenige Schaulustige auf Distanz. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Er wandte sich vom Fenster ab und setzte sich an den runden Tisch in der Mitte des Zimmers. Auf der bunten Schutzfolie, die den Tisch bedeckte, lag ausgebreitet und in ihre Einzelteile zerlegt seine Pistole. Er nahm einen kleinen Pinsel zur Hand und begann sie zu reinigen. Wie einfach es gewesen war. Der Ladenbesitzer war vollkommen überrascht. Er hatte keine Chance. Das sanfte Lächeln auf seinem Gesicht wurde zu einem Grinsen, dann zu einem lauten Lachen.

Wieder stand er auf und ging zum Fenster. Er bekam nicht genug davon. Es war ein Meisterstück. Nur ein paar Meter trennten ihn von den Fahndern dort unten auf der Straße. Sie waren völlig ahnungslos. Zwei Männer liefen aus dem Ladenlokal. Einer durchbrach die Absperrung und trat ein paar Mülleimer um, die auf dem Bürgersteig standen. Der andere blieb stehen und rief etwas. Amateure.

Sein freundlicher Gesichtsausdruck wandelte sich, als er ein Geräusch aus dem Badezimmer vernahm. Er eilte dorthin, warf die Tür auf und betrachtete den gefesselten alten Mann auf dem Boden neben der Toilette.

Seine Hände waren auf dem Rücken mit den Füßen zusammen festgebunden, sodass er sich kaum bewegen konnte. Mit aller Kraft zog der Alte an den Fesseln, bis er den Mann in der Tür bemerkte. Dann spürte er einen mächtigen Tritt in die Rippen, dann gegen den Kopf. Danach spürte er nichts mehr.

Kapitel 3

Ben Bischoff saß auf den kalten Stufen einer schmalen Treppe. Sein Kopf war in den Händen versunken. Als er aufblickte, sah er den Rhein. Für einen Moment spürte er ein Gefühl der Befreiung, doch schon die nächste Sekunde führte ihn zurück in diese Welt voller düsterer Gedanken und Erinnerungen. An seinen Füßen lagen Dutzende angebrannter Zigaretten. Neben ihm auf der Treppe stand eine Flasche Korn.

Ziellos war er den ganzen Tag durch die Stadt gelaufen. Dabei mied er die großen Straßen und suchte die ruhigen Wege abseits des Trubels. Er lief und lief, bis er irgendwann hier angekommen war.

Auf dem Weg hatte er sich die Flasche gekauft, mit dem festen Vorsatz sie zu leeren, doch geöffnet hatte er sie nicht. Stattdessen nahm er sie nun in die Hand, stand auf und warf sie die Treppe hinunter auf den Gehweg, ohne Sorge jemanden treffen zu können. Der Alkohol hatte ihm noch nie geholfen. Warum sollte er es heute tun? Die Flasche schlug auf den Asphalt und zerschellte in tausend Scherben.

Verzweifelt durchsuchte er seine Taschen nach einer weiteren Schachtel Zigaretten. Leer.

Resignierend setzte er sich und strich sich mit der Hand über das zerzauste Haar. War das ein Zufall?

Konnte es tatsächlich eine Fügung des Schicksals sein, dass er ausgerechnet an seinem ersten Tag im Dienst mit dem schlimmsten Kapitel seiner Vergangenheit konfrontiert wurde?

Einst hatte er alles, was er sich nur wünschen konnte, aber was war geblieben? Er spürte, wie seine Muskeln verkrampften. Er fror.

Es war schon weit nach Mitternacht, als es an ihrer Tür klingelte. Zunächst glaubte sie, geträumt zu haben, doch das Klingeln wurde immer energischer und wollte nicht enden.

Sie stand auf, zog sich einen Morgenmantel über und ging zum Fenster. Sie schob den Vorhang zur Seite und versuchte zu erkennen, wer vor der Tür stand. Vielleicht ein Kinderscherz. Der Mann blickte zu ihr herauf. Er wirkte verzweifelt.

“Was ist da los?”, fragte eine vertraute Stimme hinter ihr.

Sie drehte sich um und rieb sich sorgenvoll das Gesicht.

“Ben.”

“Bleib hier oben. Ich kläre das.”

Er verließ den Raum, ging die Treppe hinunter und öffnete die Tür.

Ben Bischoff zitterte am ganzen Körper. Sein Gesicht wirkte im schwachen Schein der Außenlampen blasser als gewöhnlich. Seine Augen waren feuerrot und geschwollen.

Sein Gesicht zeigte keine Regung.

“Was willst du hier, Ben?”

“Wo ist Julia?”

“Ben, verschwinde. Es ist mitten in der Nacht.”

“Ich will sie sprechen. Ist sie da?”

Er versuchte, sich an dem Mann vorbeizuschieben. Dieser probierte, ihn sanft mit dem Arm zu stoppen. Ben Bischoff holte aus und gab ihm einen mächtigen Schlag mit dem Ellenbogen gegen das Kinn, sodass der Mann taumelte und zu Boden ging.

“Julia?”, rief er.

Im Schatten der Treppe erkannte er ihre Umrisse.

“Schatz, ich bin ...”

“Oh mein Gott, Fred!”

Julia ging zu dem Mann am Boden und half ihm wieder auf die Beine. Beide sahen Ben an.

“Schatz”, lächelte dieser.

“Ich werde dich so was von ...”, Fred bewegte sich drohend auf Ben Bischoff zu.

“Lass es”, hielt ihn Julia zurück. “Ich spreche mit ihm. Lass es.”

Dann wandte sie sich an Ben. “Geh ins Wohnzimmer. Setz dich. Ich mache uns einen Kaffee.”

Die Beine zitterten noch immer. Julia reichte Ben eine Decke und einen Becher mit heißem Kaffee.

“Was willst du hier, Ben?”

“Schatz ...”, begann er, wurde allerdings rüde unterbrochen.

“Nenn mich nicht so! Das ist vorbei, Ben!”

Entschuldigend hob er die Hände. ”Ich wusste nicht wohin.

Ich wollte zu meiner Frau.”

“Ich bin nicht mehr deine Frau. Das ist lange her.”

Einen Moment herrschte Stille. “Nimmst du deine Tabletten?”

Er antwortete nicht.

“Wie oft musst du sie nehmen?”

Wieder schwieg er.

“Ben?” Ihre Stimme wurde nun fordernder.

“Dreimal am Tag.”

“Wie oft hast du sie heute genommen?”

Er schwieg.

Sie setzte sich neben ihn und griff in die Taschen seines Mantels. Nach kurzer Suche zog sie eine Packung mit Tabletten hervor.

“Zwei? Seit wann hast du die Packung?”

Er sprang auf und warf die Kaffeetasse mit einem lauten Knall in den Kamin, sodass sie zersprang. Fred eilte herbei.

“Es ist ok, Fred. Lass uns kurz allein! Geh!”, wies sie ihn an.

Ben Bischoff setzte sich. “Er ist zurück, Julia.”

“Wer ist zurück?”

Er flüsterte nun. “Er.”

Nun war sie es, die aufstand und aufgebracht durch den Raum ging. Sie blieb abrupt stehen, schüttelte den Kopf und sah Ben besorgt an. “Du musst damit aufhören, Ben.” Tränen schossen in ihre Augen. Sie kam näher. Dann kniete sie sich vor ihn und ergriff seine Hände.

“Hör auf damit”, flehte sie. “Es hat dich zerstört. Es hat uns zerstört. Lass nicht zu, dass es wieder passiert. Ich flehe dich an. Lass es nicht zu.”

Fred eilte erneut herbei. Diesmal war er es, der Julia aufhalf und sie umarmte.

“Du bist hier nicht willkommen, Ben. Verschwinde und komm niemals wieder”, raunte er Ben mit hasserfülltem Blick zu.

Ben Bischoff stand auf und zog die Pistole aus dem Halfter.

Fred und Julia wichen zurück. “Steck die Waffe weg.”

“Heute war mein erster Tag”, sagte er mit einem Lächeln.

“Steck die Pistole weg, Ben.”

“Ich bin wieder im Dienst.”

Seine Stimme war ohne jeden Ausdruck. Er ging auf Fred zu, bis er unmittelbar vor ihm stand. “Siehst du?”, hielt er ihm die Pistole vor das Gesicht. “Ich bin wieder bei der Polizei.”

Fred hatte Mühe, seinen Atem zu regulieren. Er umschlang Julia und sie tat dasselbe. Ben beobachtete sie einen Moment. Dann steckte er die Waffe weg und ging zur Tür.

“Ben?”, schluchzte Julia. Er drehte sich um und sah sie mit leeren Augen an. “Nimm deine Tabletten. Bitte!” Dann war er fort.

Kapitel 4

Acht Jahre zuvor.

Der junge Polizist blickte in das Zimmer. Noch immer spielte die Musik im Hintergrund. I never promised you a rose garden.

Es war das Kinderzimmer. An einer Wand stand ein weißes Bett mit einem rosafarbigen Stoffhimmel. Kuscheltiere bedeckten es fast komplett. Über dem Bett hing ein Poster von einem weißen Einhorn. Das Horn des Tieres war mit fluoreszierender Farbe bemalt und glänzte ein wenig, je nachdem, in welchem Winkel man es betrachtete.

Der Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers war ordentlich. Ein großer Zeichenblock und ein paar Buntstifte lagen herum.

Der schöne Dielenboden wurde teilweise von einem ebenfalls rosafarbenen Teppich bedeckt. Einige Spielzeuge standen darauf. Ein Playmobil-Supermarkt, ein paar Spielzeugpferde.

In den Regalen standen unzählige Kinderbücher. Vereinzelt klebten Hello-Kitty-Aufkleber an den Wänden.

Der Kleiderschrank war aus einem edlen alten Holz. An manchen Stellen besaß er eine stilvolle Verschnörkelung.

Das Zimmer einer Prinzessin.

Vor Kopf waren zwei große Fenster, die zum Garten hin ausgerichtet waren. Sie waren mit roten Sprenkeln übersät. An der Wand, zwischen den Fenstern, stand in roten Buchstaben das Wort Rosegarden.

Daneben lag auf dem Boden eine etwa zwei Zentimeter dicke Metallstange, die vollkommen rot gefärbt war. Blut.

In der Mitte des Zimmers lag ein lebloser Körper. Der Oberkörper war verdreht. Aus vielen offenen Stellen an den Armen und Beinen floss Blut, das eine Lache gebildet hatte. Der Schädel des Wesens war zertrümmert. Es trug ein weißes Nachthemd mit dem Bild einer schwarzen Katze. Das Mädchen war vielleicht sechs Jahre alt.

Kapitel 5

Auf der Bank vor der U-Bahn-Haltestelle Urdenbacher Allee saß ein Mann. Er war etwa vierzig Jahre alt, vielleicht etwas älter. Seine Kleidung war schmutzig und abgenutzt, seine Haare fettig. Der Bart wucherte ungepflegt im Gesicht. Ben Bischoff hatte die Augen geschlossen. In der Hand hielt er eine Tablettenpackung. Drei Tabletten fehlten.

Zwei Sicherheitskräfte bauten sich vor ihm auf.

“Sorry, aber du kannst hier nicht bleiben. Geh zur Mission.

Da ist es wärmer.”

Bischoff öffnete die Augen und brauchte einen Moment, um zur Besinnung zu kommen.

“Polizei”, sagte er und zeigte seinen Dienstausweis. Die Sicherheitskräfte sahen sich irritiert an.

“Entschuldigen Sie bitte.”

Als sie sich bereits abwenden wollten, stand Ben Bischoff auf. “Jungs, ich könnte eure Hilfe gebrauchen. Habt ihr einen Dienstwagen?”

“Klar. Wo wollen Sie hin?”

“Kommt mit. Ihr dürft jetzt mal richtig Polizei spielen.”

Die Kölner Straße lag noch unter dem Eindruck des vergangenen Tages. Es war mitten in der Nacht. Eine gespenstische Stille hatte sich über das Viertel gelegt. Ab und zu passierte ein Fahrzeug die Straße.

Einige Fußgänger schlenderten den Gehweg entlang und hielten inne, als sie die Absperrung der Polizei erreichten. Vor dem Geschäft lagen unzählige Blumen und Briefe. Dutzende von Kerzen brannten. Unmittelbar vor dem Eingang war ein großer Rahmen aufgestellt worden, der das Bild des Opfers zeigte. “Gegen das Vergessen”, stand in weißen Buchstaben auf dem Bürgersteig vor dem Ladenlokal geschrieben.

Drei Personen näherten sich. Sie hatten ihr Fahrzeug auf der anderen Seite der Straße abgestellt und eilten nun herüber.

Es waren keine Polizisten mehr zu sehen. Ein Zeichen dafür, dass der Tatort zur Reinigung durch ein Fachunternehmen freigegeben wurde. Ben Bischoff übersprang das Absperrband und begutachtete die Tür.

Die Versiegelung, die üblicherweise von der Polizei bei Verlassen eines Tatortes angebracht wurde, war unversehrt.

Die Tatortreiniger waren also noch nicht hier gewesen. Vermutlich würden sie erst am nächsten Morgen ihren Dienst antreten.

Er rüttelte an der Tür. Sie war verschlossen, was keinen der drei Männer überraschte.

“Habt ihr ein Stemmeisen im Auto?”, fragte Bischoff einen der beiden Sicherheitsleute.

Die Männer hatten ein ungutes Gefühl, als Ben sie in der U-Bahn-Station angewiesen hatte ihn zu unterstützen. Auf der anderen Seite war aber die Verlockung zu groß gewesen, einmal echte Polizeiarbeit zu leisten. Die Gelegenheit den tristen, langweiligen Job aufzuwerten, der sich sonst nur um Betrunkene und Halbstarke drehte.

“Ein Brecheisen? Sind Sie sicher, dass das alles legal ist, was Sie hier abziehen?”

“Ja, hast du eins?”

Der Mann zögerte, ging dann aber doch zu seinem Auto, um das Werkzeug zu holen.

“Ein kleines Weichei, dein Kollege. Ich hoffe, du hast mehr Mumm.”

Der zweite Sicherheitsmann lachte verlegen.

Kurze Zeit später hatte Bischoff die Tür ausgehebelt. Der Türrahmen war zum Teil gebrochen, das Schloss völlig zerkratzt. Er schob die Tür auf und ging hinein.

“Ihr sichert. Ich will keinen von euch hier drinnen sehen. Das ist ein Tatort”, wies er seine Begleiter an. Vor dem Hintergrund seines Handels wirkte es wie Ironie.

Ben Bischoff schaltete das Licht ein. Er machte sich nicht die Mühe Handschuhe anzuziehen, um Fingerabdrücke zu vermeiden. Die Spuren dürften bereits gesichert sein. Der Raum lag noch genauso da wie am Morgen.

Die Hocker lagen auf dem Boden. Erbrochenes hatte sich mit den Blutflecken auf dem Boden vermischt. Es waren einzelne Sprenkeln, die bis zur Wand reichten. Ben Bischoff sah sich die Bilder an den Wänden an. Der Besitzer des Ladens war offenbar in der Nachbarschaft engagiert. Verschiedene Bilder zeigten Kinder in Fußball- und Basketball-Trikots, auf denen der Name der Bäckerei prangte. An einer großen Pinnwand hing ein Plakat für ein Charitykonzert in der kommenden Woche. Auf dem Tresen sammelte man in einer Spardose Geld für die Kindernothilfe.

Auf der anderen Seite des Raumes waren Bilder der Familie. Die Ehefrau, ein Kind und weitere Männer, vermutlich ebenfalls Familie.

Ersan Yücel war nur 42 Jahre alt geworden. Auf den Fotos lachte er herzlich. Die Umarmung, mit der er seinen Sohn festhielt, war innig.

“Was hast du ausgefressen?”, murmelte Bischoff.

Raub? Noch einmal öffnete Bischoff die Kasse. Sie war voll.

Wurde der Täter überrascht? Wenn ja, von wem? Unwahrscheinlich.

Bischoff musterte die Theke, den roten Korb, der noch immer auf dem Tresen stand. Frisches Brot. Dann betrat er die Backstube. Die Leiche war fort. Kreide markierte die Umrisse. Ein Schuss in die Stirn. Der Oberkörper verdreht, die Beine verwinkelt. Ein guter Schütze? Eine Hinrichtung. Warum?

Ben Bischoff schloss die Augen. Er sah in Gedanken den jungen Polizisten in der Backstube. Er sah, was er sah. Er roch, was er roch, und er hörte, was er hörte. Essig.

Wird türkisches Gebäck mit Essig zubereitet? Eher nicht. Bischoff öffnete die Schränke, den Kühlschrank. Kein Essig. Dann blickte er zum Waschbecken. Er lächelte und öffnete den Schrank darunter. Reinigungsmittel.

Die Sicherheitskräfte standen vor dem Gebäude und sahen sich nach allen Seiten um. Die Situation war ihnen nicht geheuer. Ein Taxi hielt vor dem Haus gegenüber. Ein Mann mittleren Alters betrat wenig später die Straße, legte eine kleine Tasche in den Kofferraum des Wagens und fuhr weg. “Ich gebe ihm noch fünf Minuten. Das ist nie im Leben offiziell, was der hier macht.”

Ben Bischoff betrachtete die Arbeitsfläche. Sie war sauber. Kein Krümel war darauf zu sehen. Er trat näher, beugte sich vor und roch daran. Nichts. Kein Geruch. In den Schubladen unter der Arbeitsfläche standen einige wenige Backzutaten. Zu wenige.

Wie ein Spürhund schnüffelte Ben Bischoff an allen Gegenständen.

Resignierend blickte er sich um. Kiste. Er dachte nach, sah sich erneut um. Sein Blick blieb an der Hintertür hängen, die offensichtlich zum Hof hinausführte. Auf allen vieren kniete er sich davor und roch erneut. Essigreiniger. Warum wurde die Tür gereinigt?

“Mir reicht´s”, sagte einer der Sicherheitsleute. “Das wird mir zu heiß. Ich will da nicht hineingezogen werden. Der Kerl ist nicht ganz sauber.”

Wieder passierte ein Taxi das Gebäude.

Er sah, was er sah. Er roch, was er roch. Er hörte, was er hörte. “Blende es nicht aus. Höre es”, flüsterte Bischoff.

Er versuchte, die Bilder von damals zu verdrängen, und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Warum die Musik? Radio oder CD? Die Frage würde er erst morgen im Präsidium klären können. Sofern es eine CD gewesen war, lag diese nun in der Asservatenkammer.