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Ben Bischoff und sein Partner Christian Klein stehen vor einem Rätsel, als am Rheinufer vier Finger und ein abgetrennter Arm mit geheimnisvollen Tätowierungen angespült werden. Die Hinweise führen die Polizisten zunächst in die rechte Szene, doch die Ermittlungen drehen sich im Kreis, und einmal mehr wird ihnen schmerzlich bewusst, dass sie einen Feind in den eigenen Reihen haben. Während Christian Klein und die neue Dezernatsleiterin die Ermittlungen unermüdlich vorantreiben, sucht Ben Bischoff fieberhaft nach den Auftraggebern des Killers, der einst seine Tochter ermordete. Die Situation spitzt sich dramatisch zu, denn seine Gegner sind zu allem bereit.
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Seitenzahl: 466
Veröffentlichungsjahr: 2025
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„Menschen treten in unser Leben und begleiten uns eine Weile. Einige bleiben für immer, denn sie hinterlassen Spuren in unseren Herzen.“
- Unbekannter Autor-
Ben Bischoff und sein Partner Christian Klein stehen vor einem Rätsel, als am Rheinufer vier Finger und ein abgetrennter Arm mit geheimnisvollen Tätowierungen angespült werden. Die Hinweise führen die Polizisten zunächst in die rechte Szene, doch die Ermittlungen drehen sich im Kreis, und einmal mehr wird ihnen schmerzhaft bewusst, dass sie einen Feind in den eigenen Reihen haben. Während Christian Klein und die neue Dezernatsleiterin die Ermittlungen unaufhörlich vorantreiben, sucht Ben Bischoff fieberhaft nach den Auftraggebern des Killers, der einst seine Tochter ermordete. Die Situation spitzt sich dramatisch zu, denn seine Gegner sind zu allem bereit.
Lars Brede wurde am 14. November 1979 in Wuppertal geboren. Schon zu Schulzeiten entdeckte er die Leidenschaft für das Schreiben, die aber nach dem Abitur zunächst in den Hintergrund trat.
Nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann studierte Lars Brede nebenberuflich Wirtschaftswissenschaften an der Fernuniversität in Hagen. Seither arbeitet er in verschiedenen Positionen bei einer Bank. Er ist verheiratet und Vater zweier Söhne.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Sonne. Er versuchte, seine kahle Stirn mit einem Tuch zu verdecken, während er den Spaten unaufhörlich in den Boden der zweispurigen Straße rammte.
Seine Unterarme, der Hals und das Gesicht waren braun gebrannt. "Berufskrankheit", wie Sergej es nannte. Er richtete sich auf und streckte die verspannten Glieder.
Das T-Shirt wies um den Hals herum und unter den Achseln große, nasse Flecken auf. Schweiß. Sergej zog es aus und trocknete seine Stirn.
Es war heiß. Seit Tagen hatten die Temperaturen die dreißig Grad nicht mehr unterschritten. Keine Wolke schmückte den Himmel. "Eigentlich schön", dachte er, "wenn da nicht die verdammte Arbeit wäre."
Acht Stunden täglich Löcher graben, Rohre flicken und die Löcher wieder zuschütten. Asphalt aufstemmen, ausbessern, neu verlegen und das alles in der Hitze und dem Staub dieser Stadt. Sommer in Duisburg.
Sergej drückte seine Faust in die Hüfte und sah zum Himmel. Hatten sie nicht Regen versprochen? Kein Verlass. Resigniert schüttelte er den Kopf und griff wieder zu seinem Spaten. Erde raus. Einmal, zweimal, Schweiß abwischen und absetzen.
Sergej sah an sich hinab. Sein dicker, weißer Bauch bebte bei jeder Bewegung wie ein Wackelpudding. Der Arzt hatte es ihm gesagt: "Du musst abnehmen, Sergej." Doch Sergej hatte die Ermahnung nur mit einem Schmunzeln und einem abweisenden "Ja, ja" zur Kenntnis genommen.
Blutdruck, Cholesterin, die Knie. Wo sollte er anfangen?
Erde raus. Einmal, zweimal, Schweiß abwischen und absetzen. Die kurze Stille wurde jäh durch das Dröhnen eines Presslufthammers unterbrochen. Ein Lastwagen rauschte an der Baustelle vorbei und trug den aufwirbelnden Staub hinüber auf die andere Straßenseite.
Die Gäste des Café Venezia versuchten, ihre Augen und Gesichter vor dem heranfliegenden Dreck zu schützen.
Manche hielten die Hände über ihre Getränke und Eisbecher.
Ein kleiner Mann mit lichtem, dunklem Haar schob sich an der langen Schlange vorbei nach draußen:
"Ma cosa fai, pezzo di mode? Was soll das, du Vollidiot?", rief er aufgebracht auf Italienisch und gestikulierte dabei wild.
"Nicht verstehen", antwortete der irritierte Sergej, während der Mann noch immer schimpfte.
"Ihr macht kaputt meine Geschäft!" Giovanni ließ sich nicht beruhigen. Mit südländischem Temperament redete er weiter auf die Gäste seines bis auf den letzten Platz gefüllten Eiscafés ein. Kopfschütteln. Schmunzeln. Lachen. Tuscheln.
Giovanni drehte sich mit gespielter Erregung herum und ging zurück in sein Geschäft. Giovanni hieß eigentlich Georgios und war Grieche. Er hatte seinen Namen geändert und den Satz "echt italienisches Eis" an den Schaufenstern angebracht, da er sich davon ein besseres Geschäft versprach. Wer würde sich schon von echt griechischem Eis angesprochen fühlen?
Georgios war vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen. Er selbst nannte sich einen Wirtschaftsflüchtling. In seinem Heimatdorf, Kroni, einem kleinen Fischerdorf auf der Halbinsel Peloponnes, war jeder Zweite arbeitslos, darunter seine gesamte Familie.
Renten und Sozialgelder wurden, wenn überhaupt, nur verspätet gezahlt und darüber hinaus im Rahmen der Sanierung des Landes stark gekürzt.
Griechenland war pleite und riss ihn mit in den Abgrund. Irgendwann kam er dann auf die Idee, echt italienisches Eis in Deutschland zu verkaufen. Viele seiner Verwandten waren bereits hier, und nun auch er. Im Sommer in Duisburg. Georgios war eigentlich Physiker.
Acht Semester hatte er an der Nationalen Technischen Universität in Athen verbracht. Ein Top-Wert. Alles nur, um dann für einen Hungerlohn zu arbeiten, bis er schließlich entlassen wurde. Er schmunzelte, als er darüber nachdachte, dass er heute ohne jegliche Qualifikation um ein Vielfaches mehr verdiente.
"Prego. Bitte", sagte Georgios, als er den Kaffee und den Erdbeerbecher auf dem kleinen Tisch vor den beiden jungen Frauen abstellte und ihnen mit einem breiten Lächeln zuzwinkerte. Hätten sie nicht ihre großen Sonnenbrillen getragen, hätte Georgios gesehen, wie sie die Augen verdrehten.
"Mensch, schau mal die Schlange", sagte die Eine zur Anderen und deutete auf die Menschenreihe, die sich nun schon von der Eistheke bis auf die Straße erstreckte.
"Glück gehabt, dass wir überhaupt noch einen Platz bekommen haben", antwortete die Andere.
Ein kleines Mädchen hüpfte an der Schlange vorbei und schleckte an ihrem Zitroneneis. Der Presslufthammer dröhnte.
"Mach die Scheißding aus!", rief Georgios nun auf Griechisch, was der Bauarbeiter natürlich unter dem Lärm nicht hörte, wobei er ohnehin kein Griechisch verstand.
Plötzlich Stille. Nur Sergejs Schaufel stieß immer wieder in den Boden. Ein Mädchen weinte. Es war gestolpert und hatte sein Zitroneneis fallen lassen.
"Kein Problem, Mädel", sagte Georgios mit gespieltem Akzent. "Hier, nimm dir ein neues."
Das Mädchen strahlte. Wieder dieses Hämmern.
"Verdammte Scheiße, ihr Vollpfosten!", rief Georgios nun völlig ohne Akzent.
Sergej und sein Kollege sahen sich an, dann Georgios.
Dann zuckten sie lediglich mit den Schultern, denn der Presslufthammer war verstummt.
Mike Brandt sah flüchtig zur Uhr. 15:36. Er erschrak.
Keine Zeit. Eilig sprang er aus dem Bett und zog sich die Jeans über, die neben ihm auf dem Boden lag. Wo war sein T-Shirt? Er legte sich auf den Boden und sah unter dem Bett nach. Nichts. Der Boss hasste es, wenn er zu spät kam. Das wusste er, und gerade heute hing viel davon ab, dass er funktionierte. Alles hing davon ab.
Mike stand auf und sah sich hektisch um. Er hatte seine Sachen heute Morgen in der Erregung achtlos in den Raum geworfen. Nein, sie hatte es getan.
"Weißt du, wo mein Shirt ist?", fragte er.
Die junge Frau drehte sich herum und rieb sich verschlafen die Augen. Sie strich sich ihr dunkles Haar aus dem Gesicht und grinste. "Nein, aber das brauchst du auch nicht."
Geschmeidig wie eine Katze richtete sie sich auf und entblößte ihre wohlgeformten Brüste.
Sie biss sich auf die Unterlippe und sah Mike mit großen Augen an. "Willst du nicht wieder ins Bett kommen?", fragte sie mit einer Stimme, die keinen Zweifel an ihren Absichten zuließ.
Er stand wie angewurzelt an der Bettkante und starrte sie an. Sie kroch auf ihn zu und öffnete mit der einen Hand die Knöpfe seiner Hose, während sie mit der anderen sein Glied massierte.
Mike schloss die Augen und fühlte. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Seine Hand berührte ihre Wange und malte schließlich die Konturen ihrer Tätowierung nach, die sich von ihrem Hals über die Brust bis zum Bauchnabel erstreckte. Dann stieß er sie weg. "Nicht jetzt, Jesse", sagte er.
Seine Mimik, der angestrengte Blick und die trockenen Lippen verrieten, wie schwer es ihm fiel. "Ich muss zum Boss. Das weißt du doch."
Jesse warf sich rücklings auf das Bett und betrachtete stumm die Decke. Sie lächelte, als hätte sie ein lustiger Einfall erreicht. Dann legte sie ihren Fuß zwischen seine Beine und arbeitete sich sanft bis zu seinem Schritt empor, während er mit zitternden Händen bemüht war, seine Hose zu schließen.
"Jesse!", rief er halb lachend und trat einen Schritt zurück, sodass sie ihn nicht mehr erreichen konnte. "Hör damit auf. Sag mir lieber, wo mein T-Shirt ist."
Sie verkroch sich unter der Decke und drehte sich beleidigt zur Seite. "Auf der Kommode", antwortete sie knapp.
Mike griff danach, zog es über und schloss seinen Gürtel.
Dann kroch er noch einmal ins Bett und gab Jesse einen zärtlichen Kuss auf die Wange. "Später, ok?", flüsterte er.
"Ja klar", antwortete sie. "Du oder ein anderer."
Mike lachte. Er hatte Jesse vor zwei Monaten auf einem Konzert der Gruppe Kriegsgewitter kennengelernt. Zuerst hatte er sie nur beobachtet. Während er eher am Rand stand und sich mit Bier und Schnaps zuschüttete, tanzte sie wild in der Menge. Exzessiv. Dann fasste er sich ein Herz. Er griff nach ihrer Hand, nahm sie mit in die Herrentoilette, und beide zogen sich eine Line.
Das war der Anfang. Und heute? Heute taten sie eigentlich nichts anderes. Sie schliefen miteinander, nahmen Drogen, und ab und zu erledigte er einen Job für den Boss. So wie jetzt.
Er schlüpfte in die schwarze Lederweste, die an der Garderobe hing, und griff nach seinem Helm. In den Hosenbund schob er sich eine 38er. Am Fußgelenk befestigte er ein Jagdmesser.
Sicher ist sicher, dachte er. Wie damals, als ihn die drei Türken vermöbeln wollten. Er kam aus einem Klub. Dabei trug er die typische Uniform. Jeans, Springerstiefel und die schwarze Jacke. Plötzlich waren sie da. Drei. Er war allein. Einen hatte er mit dem Messer erwischt. Den beiden anderen wollte er eine Kugel verpassen, doch er verfehlte sie. Dann lief er. Er lief, und er lachte.
Mike Brandt strich sich mit der Hand über den kahlgeschorenen Kopf. Es war ein gutes Gefühl und machte ihn und seine Brüder zu einer Einheit. Es verband sie. Niemand stellte sich gegen die Brigade.
Sie hatte nicht den Hauch einer Chance. In dem Moment, als er sie berührte, wusste sie, dass sie fallen würde. Hart.
Nun lag sie da. Am Boden, auf dem heißen Asphalt, mitten vor ihrem Haus. Sie war die letzte Bewohnerin. Alle anderen Wohnungen standen bereits leer. Ebenso wie die Häuser links und rechts neben ihr und die meisten anderen Einheiten in dieser Straße.
Seit nunmehr siebzig Jahren lebte sie hier, aber so etwas war ihr noch nie passiert. Passanten gingen an ihr vorüber und sahen zu ihr hinab, doch niemand half.
Ihre Einkäufe lagen auf dem Gehweg verteilt. Die Äpfel wiesen Druckstellen auf und würden bald faulen. Ein paar Eier waren zerbrochen, und die Deckel der Joghurtbecher waren eingedellt. Die weiße, cremige Masse floss heraus und klebte an der Zahnpastatube. Der Skateboardfahrer, der sie so unsanft zu Boden befördert hatte, war nicht mehr zu sehen.
Hannelore Bruns rappelte sich auf und klopfte sich mühsam den Dreck von ihrem Rock. Sie sah die Fassade des Mehrfamilienhauses hinauf. Putz bröckelte von der Wand. Eine Folge der Feuchtigkeit in den Wänden.
Hausschwamm. Vielleicht die Ursache für ihr Asthma, dachte sie. Dann kamen die Erinnerungen. So viele Erinnerungen.
Ein kleines Mädchen lief fröhlich an ihr vorüber. Hannelore atmete tief ein. Zitroneneis, vermutete sie.
Waren das tolle Zeiten. Damals, als Hans noch lebte und ihr Sohn noch der war, der er sein sollte. Als der Bergbau noch die Seele der Stadt war. Als sie nicht reich war, aber genug zum Leben hatte und nicht jede Mark hatte abzählen müssen. Damals.
Zwei junge Männer in kurzen Hosen überquerten die Straße. Sie sahen aus wie Spanier oder Italiener, dachte Hannelore. So richtig unterscheiden konnte sie das nicht.
Ach, damals. Sie tanzten. Oh, wie sie tanzten. Unten, in dem kleinen Klub an der Ecke, wo nun das Obstgeschäft war. Der erste Tanz, der erste Kuss, der erste … Hannelore unterdrückte die Erinnerung, doch sie liebte diese Stadt. So wie sie einmal war.
Und heute? Hannelore sammelte die Lebensmittel zusammen und öffnete die Tür. Sie musste in die dritte Etage. Zu Fuß. In einem Haus, das unter starken Bergschäden litt. Die Wände und Böden waren so schief, dass sie Tische und Stühle mit Keilen sichern musste, damit sie nicht in die andere Ecke des Raumes rutschten.
Langsam ging sie hinauf. Schritt für Schritt. Pause und weiter. Ein Fuß nach dem anderen. Sie schloss die Haustür auf und ließ sich auf den Stuhl am Fenster fallen, von dem aus sie die Straße beobachten konnte.
Die Szenerie wirkte beinahe wie in einem Ferienort im Süden. Die Gehwege waren belebt, die Menschen lachten. Sie hatten Zeit, hasteten nicht durch die Gassen, waren unbeschwert. Hannelore beobachtete sie verbittert.
Wussten sie denn nichts? War es ihnen egal, dass die Straßen dieser Stadt nicht mehr erneuert, sondern nur noch geflickt wurden? War es ihnen egal, dass die letzten verbliebenen Geschäfte dieses Viertels bald schließen müssten, weil die Kunden ausblieben?Hannelore Bruns wandte sich ab, als sie ein fremdes Geräusch wahrnahm. Fast wie ein Donner. Fast.
Mike Brandt sah noch einmal zum Fenster hinauf, als er seinen Helm aufsetzte und das Sicherheitsband befestigte. Sie hatte den Vorhang zur Seite geschoben und sah, lediglich mit einem Bettlaken bekleidet, hinunter. Mike atmete auf. Wäre sie sauer gewesen, wäre sie liegen geblieben, redete er sich ein. Er schwang sich auf seine Harley Davidson und startete den Motor. Wie er dieses Geräusch liebte. Kraftvoll und ungedrosselt. Verboten, doch was scherte ihn das. Er lebte in seiner Welt. Er verfolgte seine Regeln und nicht die Konventionen des Staates. Er war ein freier Mann.
Mike schlug mit einer Hand nach einer Wespe, die vor seinem Gesicht auf und ab flog. Beim ersten Mal verfehlte er sie, beim zweiten Mal erwischte er sie mit dem Handrücken. Sie flog davon und schlüpfte durch das halb geöffnete Fenster in der ersten Etage.
Jesse griff nach der Fliegenklatsche, die auf der Fensterbank lag, und fuchtelte damit unbeholfen herum, in der Hoffnung, die Wespe zu erlegen. "Scheiße.", fluchte sie, warf das Plastikwerkzeug in die Ecke und ging zurück ins Schlafzimmer. Die Wespe, offenbar angelockt von ihrem Parfum, folgte ihr und legte sich immer wieder penetrant auf ihr Gesicht.
Jesse rollte die Fernsehzeitung zusammen und schlug zu.
Treffer. Sie lächelte. Ein Socken. Warum lag einer seiner Socken auf dem Fußboden? Hatte er ihn vergessen? Idiot. Sie rollte die Augen, griff danach und warf den Strumpf in den Wäschekorb in der Ecke des Raumes.
Mike hatte einen gestählten Körper. Das zog sie an. Er hatte diese spezielle Ausstrahlung. Das erregte sie. Er hatte einen riesigen … Jesse schüttelte den Kopf. Mike war gefangen in seiner Ideologie, die auch sie teilte, doch für sie war es ein Abenteuer. Für ihn war es sein Lebensinhalt. Sie dachte nach, hinterfragte. Er nahm hin. Sie überlegte, entwickelte sich weiter. Er war dumm und gehörig. Sie war berechnend. Er war das Mittel zum Zweck.
Sergej legte die Schaufel beiseite und kletterte aus dem etwa einen Meter tiefen Loch. Er sagte etwas zu seinem Kollegen, der lediglich nickte. Georgios sah sich in alle Richtungen um. Die Sonne stand bereits tief, so dass er nur schwer erkennen konnte, was in der Ferne passierte.
Noch immer dieses Dröhnen. Unregelmäßig. Zunächst leise, dann immer lauter, bis es das Hämmern der Baustelle übertönt hatte.
Ein blauer Fiat Punto fuhr rückwärts aus der Einbahnstraße heraus, die sich in etwa einhundert Metern Entfernung befand. Der Fahrer drückte die Innenknöpfe herunter und kurbelte die Fenster hoch, bei über dreißig Grad. Die Gäste des Café Venezia erhoben sich. Die junge Frau schob ihren Erdbeerbecher zur Seite und nahm die Sonnenbrille ab. Ein eigenartiger Geruch machte sich breit. Benzin.
Er gab Gas. Mike scherte sich nicht um Tempolimits. Es interessierte ihn nicht, ob eine Ampel rot oder grün war.
Wenn frei war, fuhr er. In seinem eigenen Tempo. In seinem Rhythmus. Im Rhythmus der Bruderschaft. In Gedanken ging er alles noch einmal durch. Der Job war gefährlich. Dann dachte er wieder an Jesse. Heute Abend würde er wieder bei ihr sein und alles nachholen. Bleib beim Job, ermahnte er sich. Er würde an ihrer Tür klingeln und sie nehmen. Konzentriere dich. Hart und bestimmt. Vergiss sie. Ein Fehler kann dein Leben kosten.
Das kleine Mädchen biss ein großes Stück von ihrer Eiswaffel ab. Sie hielt inne. Dann rannte sie, bemüht, das Eis fest in ihren kleinen Händen zu halten, den Weg, den sie gekommen war.
Hannelore Bruns sah zuerst das Mädchen unter ihrem Fenster in der dritten Etage. Sie lehnte sich etwas vor, um besser sehen zu können, woher das Geräusch kam. Zuerst sah sie nur eine Staubwolke, dann wurden die Konturen klarer. Sie schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu, denn sie wussten nicht, was sie taten. Mit diesem Viertel, mit dieser Stadt.
Schweiß lief über die Stirn und die Wange des Mädchens. Das Eis hatte sie fallen lassen. Neben ihr stoppte ein blauer Fiat Punto. Der Fahrer zögerte einen Moment, ehe er den Rückwärtsgang einlegte und aus der Straße herausschoss. Er schloss die Fenster und verriegelte die Türen.
"Mama, Mama!", rief das Mädchen, als es das Eiscafé erreichte. Eine junge Frau stand auf und ging auf sie zu, ehe sich ihr Blick an ihr vorbei auf die Straße richtete. Sie nahm das Mädchen liebevoll in den Arm und streichelte seine Wange. Dieser Lärm, dieser Geruch.
Georgios ging zur Tür und sah hinaus, die Straße hinab, von wo die Geräusche zu kommen schienen. Als aus seiner Vermutung Gewissheit wurde, drehte er sich abrupt um, schloss die Tür zu seinem Café und verriegelte sie.
Die Jalousien seines Schaufensters ließ er vor den überraschten Augen seiner Gäste, innerhalb und außerhalb des Cafés, herab.
"Was macht der Spinner?", fragte die eine Frau die andere. Dabei nahm sie die Sonnenbrille ab und steckte sie in ihr Haar. Wieder dieses Geräusch. Sie sahen hinüber zu Sergej, der entschuldigend mit den Schultern zuckte.
Kein Presslufthammer. Sergej stellte die Schaufel zur Seite und trat hinter den Bauwagen, der am Straßenrand stand. Dann sah er es. Er flüsterte seinem Kollegen ein paar Worte auf Russisch ins Ohr. "Der Teufel und seine Schergen. Er ist es wahrhaftig."
5:34 Uhr und nichts passierte. So wie gestern. Und so wie am Tag zuvor. Er griff nach dem Becher Kaffee auf dem Armaturenbrett, den er sich gerade an der Tankstelle an der Ecke besorgt hatte. Dabei war er sehr darauf bedacht gewesen, immer einen freien Blick auf das Zielobjekt zu bewahren. An der Kasse war er einen Schritt zur Seite und zwei Schritte zurückgetreten, um zwischen Schokoladenriegeln und Kaugummis den Eingang zu beobachten. Ein tiefer Schluck. Der Kaffee war heiß. Er rieb die Lippen aneinander, um den Schmerz zu unterdrücken.
Dann nippte er noch einmal.
5:35 Uhr und nichts passierte. Was sollte auch geschehen? Es war ein Mittwoch, und sie war berufstätig.
Sie war um 18 Uhr nach Hause gekommen. Er war ihr vom Büro aus gefolgt, ohne dass sie ihn bemerkte. Mal ließ er zwei Fahrzeuge zwischen ihnen Raum, dann waren es wieder mehr. Mal fuhr er versetzt auf der linken Spur, dann wieder rechts, doch eigentlich wusste er ganz genau, wohin sie wollte. Es war nur ein Gefühl, dem er nachging. Eine innere Unruhe, die ihn verfolgt hatte, bis er ihr schließlich nachgab.
Das Licht im Bad ging an. Ungewöhnlich. Ging sie früher aus dem Haus? Er nahm das Fernglas zur Hand und stellte es an dem kleinen Rädchen zwischen den Gläsern scharf. Es war ihr Mann. Er pinkelte im Stehen. Das hatte er bereits herausgefunden. Doch das waren nicht die Hinweise, nach denen er suchte. Der Mann im Fenster rieb sich die Augen und löschte das Licht, ohne sich die Hände zu waschen. Dann war es wieder ruhig. Wie gestern, wie vorgestern und wie die Nacht davor. Der Mann drückte den leeren Kaffeebecher zusammen und warf ihn zu den übrigen Bechern auf den Rücksitz. Dann öffnete er das Handschuhfach seines Wagens und nahm eine Schachtel Zigaretten heraus. Er zündete eine an und nahm einen tiefen Zug. Genüsslich pustete er den Rauch bei halb geöffneten Augen durch die Lippen in den Fahrzeugraum. Dann drückte er den Glimmstängel auf dem Schaltknüppel aus, brach den Filter ab und legte ihn in das kleine Fach in der Mittelkonsole.
"Er ist schon wieder draußen", sagte Fred Vorthmann, als er sich ins Bett legte und den Arm um seine Frau legte.
"Hm", antwortete sie schlaftrunken.
Er richtete sich auf. "Hast du mir zugehört, Julia?", fragte er mit Nachdruck.
Fred drehte sich um und schaltete die kleine Lampe auf seinem Nachttisch ein. Die Frau neben ihm zuckte zusammen und rieb sich die Augen.
"Wer?", entgegnete sie schließlich, obwohl sie die Antwort kannte.
"Wer wohl? Du weißt, wovon ich spreche. Es ist die dritte Nacht in Folge, in der sein Auto dort unten steht. Wofür hält der uns? Für Idioten?" Julia streichelte ihrem Mann sanft über die Schulter. "Beruhige dich bitte, Schatz."
Er drückte sie von sich und stand auf. "Es reicht jetzt. Ich rufe die Polizei."
"Nein!", rief Julia.
Sie sprang auf und hielt ihn am Arm zurück. "Ich rede mit ihm. Gleich morgen. Er ist nicht gefährlich, Fred. Er ist nur verwirrt."
"Und das hier?", erwiderte Fred und zeigte auf seine deformierte Nase. "Hast du vergessen, dass er mir das Nasenbein gebrochen hat?" Julia schüttelte resignierend den Kopf. "Er war nicht er selbst. Die Medikamente ..."
Fred unterbrach sie schroff. "Hör auf dir das so zurechtzulegen, wie du es für richtig hältst. Der Typ ist krank, ein Psychopath. Was macht der sonst da draußen?" "Aber denk doch daran, was er für Max getan hat", sagte Julia verzweifelt.
Fred sah betroffen zu Boden. Sie griff nach seinen Händen und suchte seinen Blick. "Er hat dafür gesorgt, dass er in unsere Familie kommt. Ohne ihn wäre der Junge jetzt irgendwo in einem Waisenhaus. Ohne ihn wären wir jetzt keine Familie."
Fred dachte nach. Schließlich winkte er ab. "Der Junge ist doch noch gar nicht richtig bei uns angekommen." Jetzt war sie es, die ihn von sich stieß. "Max hat vor nicht einmal einem halben Jahr seine Mutter verloren. Was erwartest du denn von ihm?" Sie hob wütend die Hände, drehte sich um und vergrub sich unter ihrer Bettdecke. "Ruf‘ doch deine scheiß Polizei."
Fred sah sie einige Sekunden an. Dann folgte er ihr und legte sich neben sie ins Bett. Er löschte das Licht und kuschelte sich an sie heran. "Aber du redest mit ihm, ja?", sagte er schließlich.
"Ja", antwortete sie einsilbig.
Stille legte sich über das Haus und das Zimmer. Plötzlich hörten sie Schritte.
Das erste Licht des Tages streichelte den Mann im Auto vor dem stattlichen Einfamilienhaus in Düsseldorf-Benrath. Er warf einen Blick in den Rückspiegel. Seine Augen wirkten überraschend klar und wach. Sie erzählten die Geschichte eines jungen Mannes, der einst nach Hause kam und seine Frau in die Arme schloss. Die Liebe seines Lebens, deren Perfektion nur durch die Geburt ihrer Tochter übertroffen werden konnte. Das kleine Mädchen, das er jeden Abend in die Arme schließen durfte und das ihm noch heute ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
Sie erzählten von den Momenten, die sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt hatten: den ersten Schritten, dem ersten Wort, den Stunden auf dem weichen Teppichboden in ihrem Kinderzimmer und dem feinen Sand bei ihren Urlauben am Meer. Sie funkelten wie die Kerzen auf ihren Geburtstagskuchen, die sie in jedem Jahr mit wachsender Begeisterung versuchte zu löschen. Er musste lachen. Sechs Stück waren es gewesen. Die dunklen Ringe unter seinen Augen sprachen eine andere Sprache. Sie spiegelten den Schmerz, den er bei sich trug, seit er seine Tochter vor nun fast neun Jahren tot in ihrem Kinderzimmer fand. Verstümmelt und ermordet von einem Auftragsmörder.
Der Mann lehnte sich zurück und spürte den Luftzug, der durch die beiden geöffneten Fenster hindurch das Auto durchströmte. Die Luft war warm und drückend, schon zu dieser frühen Stunde - ein Vorbote der Hitze, die sich auch an diesem Tag wieder über das Land legen sollte. Seine Augen sprangen zurück zu dem Haus, vor dem er stand. Einen kurzen Moment lang meinte er, eine Bewegung wahrzunehmen, doch im nächsten Moment war es wieder ruhig. "Die Müdigkeit", redete er sich ein.
Wieder wanderte sein Blick zum Spiegel. Um die Augen und um den Mund herum hatten sich tiefe Falten in die Haut gegraben. Er sah alt aus. Damals hatten höchstens Lachfalten sein Gesicht geziert, doch sie waren Zeugen geworden, wie er willkürlich für acht Jahre in der Psychiatrie versteckt worden war, ehe eine junge Journalistin auf seinen Fall aufmerksam wurde und ihn dort herausholte. Und so gruben sie sich tiefer und tiefer, wie der Zorn, der noch immer in ihm loderte.
Sie hatte ihm einen Teil seines Lebens zurückgegeben. Einen Teil, denn fast alles andere hatte er verloren. Auch seine Ehe zerbrach schließlich daran. Nichts war mehr so, wie es einmal war.
Der Mörder seiner Tochter war tot. Er hatte ihn am Hamburger Hafen sterben sehen. Aber wer waren die Auftraggeber? Und wer hatte dafür gesorgt, dass er acht Jahre seines Lebens in einer geschlossenen Anstalt verlor? Die Antworten auf seine Fragen suchte er hier.
Heute Abend. Und den Abend davor und auch davor.
Wieder ein Luftzug. Diesmal genoss er ihn.
"Was war das?", flüsterte Fred.
Auch Julia stand aufrecht im Bett, doch sie war unfähig, ein Wort zu sprechen. Der Schreck lähmte sie.
"Ich sehe nach. Wenn es wieder dein Ex-Mann ist, schalten wir endgültig die Polizei ein."
Julia nickte ängstlich.
Langsam zog er die Decke zur Seite. Er entfernte den Stecker der Nachtlampe, nahm den Ständer wie einen Baseballschläger in beide Hände. Dann schlich er zur Tür.
Noch einmal versicherte er sich mit einem Blick bei Julia, dass er das Richtige tat. Sie hatte die Decke bis ans Kinn hochgezogen und lugte lediglich mit den Augen herüber. Wieder dieses Geräusch. Fred öffnete langsam die Tür. Licht schimmerte aus dem Flur. Er entspannte sich merklich und ließ die Lampe sinken. Zwei weitere Schritte, dann riss er mit einem Ruck die Tür zum Badezimmer auf.
"Was machst du da?", rief er aufgebracht.
Der Mann fuhr sich mit der Hand über das unrasierte Gesicht. Der Bart wies Lücken auf, doch das war ihm egal.
Seine Haare hatte er seit Tagen nicht gewaschen. Sie juckten, doch auch das störte ihn nicht weiter. Sein T-Shirt hatte er täglich gewechselt. Die Schmutzwäsche lag gemeinsam mit den leeren Kaffeebechern auf der Rückbank und verbreitete einen unangenehmen Geruch. Wieder zündete er sich eine Zigarette an und zog einmal daran. Er konnte sich schon nicht mehr daran erinnern, woher er diese Marotte hatte, doch schließlich brach er den Filter ab und sortierte ihn ordentlich zwischen den anderen Filtern in der Mittelkonsole ein. Ben Bischoff war müde. Er streckte seinen 190 Zentimeter langen Körper. Dabei versuchte er die noch verbliebenen Muskeln anzuspannen, um gleich wieder für Entlastung und Entspannung zu sorgen. Progressive Muskelrelaxation.
Eine Technik, die er in der Psychiatrie gelernt hatte, um besser mit Stress umzugehen. Nun aber half sie ihm, seinen Körper für den anstehenden Tag in Schwung zu bringen. Es war 5:40 Uhr.
Noch etwa zwei Stunden bis zum Dienstbeginn. Wenn nichts dazwischenkam, würde er sein Büro dann um 17 Uhr wieder verschließen, ein paar Kilometer weiterfahren, warten, bis Julia das ihre verließ. Der Polizeidienst ließ ihm diese Freiheit. Die Stellung als Kommissar allemal. Er würde ihr folgen, mal auf der einen Spur, mal auf der anderen, und schließlich vor ihrem Haus ausharren und darauf warten, einen Hinweis oder eine Eingebung zu erhalten, die ihn bei der Suche nach den Auftraggebern des Mordes an seiner Tochter voranbrachten. Warum er das tat? Ein Gefühl.
Er hatte die Lösung bei sich gesucht. Er hatte seine alten Fälle aufgearbeitet, hatte nach Menschen gesucht, die ihm Leid hatten zufügen wollen, und die gab es, zweifellos. Doch er sah keinen dieser Menschen in der Lage, einen Mord an einem kleinen Mädchen zu beauftragen. Es hatte ihn zermürbt, seinen Kopf zermartert, und schließlich hatte er sich gezwungen, umzudenken. War nicht er das Ziel, sondern sie? Julia? Sie arbeitete bei der Bundesbank, damals wie heute. Sie prüfte und beurteilte die Risiken, die systemrelevante Banken, wie sie neuerdings genannt wurden, eingingen.
Nach dem Tod ihrer Tochter gab sie diesen Job zunächst auf, ehe sie in veränderter Funktion den Weg zurück ins Leben suchte. Dann, acht Jahre später, wurde ihre Nachfolgerin erschossen. Ermordet von dem gleichen Killer, der auch Anja Bischoff, seine Tochter, auf dem Gewissen hatte und der am Hamburger Hafen sein Leben ließ. Er wäre der Einzige gewesen, der Bens Fragen hätte beantworten können, doch er hatte seinem Leben mit einem Schuss in die Schläfe selbst ein Ende bereitet.
Das alles war mehr als eine vage Spur. Das war ein Zusammenhang. Doch die Polizei tat nichts. Der neue Polizeipräsident, Thomas Richter, hatte die Fallakte nach dem Tod des Mörders geschlossen und jede weitere Untersuchung untersagt. Warum, das war sein Geheimnis.
Ben Bischoff schüttelte verständnislos den Kopf. Nicht einmal eine Kontaktaufnahme zur Bundesbank hatte es gegeben. Keine Suche nach Gemeinsamkeiten, keine Arbeitsplatzüberprüfung. Nichts. Ben war in diesem Kampf auf sich allein gestellt. Er schrak auf. Wieder Licht im Badezimmer.
"Ich musste Pipi", erklärte der verschreckte Junge.
"Du bist acht Jahre alt. Meinst du nicht, es ist langsam an der Zeit, bis zum Aufstehen durchzuhalten?", ermahnte ihn Fred.
Max sah betroffen zu Boden.
"Geh ins Bett, Junge."
"Er hat auch einen Namen, Fred."
Julia Bischoff-Vorthmann stand plötzlich in der Tür und drängte sich an Fred vorbei zu dem eingeschüchterten Jungen. Sie legte zärtlich ihren Arm um ihn und streichelte mit der anderen Hand seine Wange. Max presste die Lippen aufeinander und hüpfte mit Schwung von der Toilette herunter. Er zog seine Schlafanzughose hoch und tapste langsam zurück in sein Zimmer. Julia folgte ihm. Fred sah ihr mit bitterem Blick nach.
"Wasch dir die Hände!"
Ben Bischoff griff zu seinem Fernglas. Zuerst sah er nichts. Dann erkannte er ein paar Zentimeter über dem Fensterrahmen einen schwarzen Schopf. Max. Ben lächelte. Er war ein guter Junge. Aus dem Lächeln wurde ein Schmunzeln, und von einem Moment zum anderen war plötzlich eine gewisse Melancholie in Bens Blick zu erkennen. Janina.
Kurz nach seiner Entlassung aus der Klinik trat Ben wieder in den Polizeidienst ein. Viele Vorurteile und Ablehnung begleiteten ihn in seinen ersten Wochen. Er wurde als krank, als Psychopath beschimpft und behandelt. Sicherlich hatte auch er selbst einen nicht unwesentlichen Teil dazu beigetragen, dass dieses Bild entstand, doch Janina war in dieser Zeit sein Anker gewesen. Sie begegnete ihm offen, ohne Vorurteile, und mit der Zeit entwickelte er Sympathie für die junge Frau und irgendwann dann auch so etwas wie Zuneigung. Ein Lastwagen rauschte durch Bens Blickfeld. Ungewöhnlich für diese Straße und diese Zeit. Fehl am Platz. So wie Janina. In Gedanken spürte er noch immer ihre Lippen auf seinen und ihre zärtlichen Berührungen. Er hörte ihr Lachen und genoss ihren Humor. Noch immer fühlte er dieses Kribbeln im Bauch, wenn er ihr Grab besuchte.
Max musste es ähnlich gehen. Er war Janinas Sohn und hatte so viel von ihr. Vielleicht hatte Ben deshalb diese Nähe zu ihm gespürt, als er ihn zum ersten Mal traf. Vielleicht hatte er sich deshalb so bemüht, dem Jungen nach dem Tod der Mutter wieder ein schönes Zuhause zu verschaffen. Vielleicht hatte er ihn deshalb in die Obhut der besten Mutter gegeben, die er zu kennen glaubte: Julia.
Dann kamen diese Gedanken, die seine Welt erneut auf den Kopf stellten. War sie der Auslöser für den Mord an ihrer gemeinsamen Tochter gewesen? Wusste sie mehr, als sie vorgab? Mit der Zeit wurde Ben immer unsicherer, ob er diese Frau wirklich so gut kannte, wie er glaubte.
Nur ein Gefühl.
Im Fenster erschien Fred, Julias neuer Ehemann. Ben hielt ihn für ein Arschloch, aber solide. Er arbeitete als Lehrer, hatte geregelte Arbeitszeiten und kannte sich nach Bens Vorstellung sicherlich auch mit der Kindererziehung aus. Gut für Max, dachte er. Dann betrat Julia den Raum und verließ ihn gleich darauf wieder. Auch der schwarze Haarschopf war verschwunden. Bens Magen knurrte. Er hatte seit gestern früh nichts mehr gegessen. Ihm war klar, dass er an seinen Ernährungsgewohnheiten arbeiten musste, doch momentan fehlte ihm schlicht die Kraft für Veränderungen, egal in welcher Form. Ein weiterer negativer Effekt war, dass seine Tabletten so noch viel mehr auf den Magen schlugen, was sich wiederum auf den Kreislauf auswirkte. Doch verzichten konnte er darauf nicht. Er wusste nur zu genau, was ohne seine Antidepressiva mit ihm geschah, und der Mann dort oben im Fenster wusste es auch.
Fred schlug mit der Faust gegen die Wandfliesen und tanzte sogleich herum, als habe er sich gerade den Schmerz seines Lebens zugefügt. Ben lachte. Sein Lachen wurde zu einem Husten. Sein Husten behandelte er,indem er sich eine weitere Zigarette anzündete. Den Filter warf er diesmal aus dem Fenster, doch eine Böe trug ihn wieder ins Fahrzeuginnere. Ben beobachtete, wie er rotierend zu Boden sank und schließlich nicht mehr zu sehen war. Noch einmal blickte er auf. Das Licht war wieder erloschen. Ben Bischoff startete den Wagen. Er kurbelte die Fenster hoch und schaltete die Klimaanlage ein. Dann legte er den Gang ein und fuhr los. Frühstück.
Julia saß auf der Kante des Bettes in Form eines Rennautos. Sie streichelte Max zärtlich über den Kopf, während ihm die Augen langsam wieder zufielen. Vorsichtig stand sie auf und zog die dünne Sommerdecke noch ein wenig höher, so dass seine Schultern vollständig bedeckt waren. Sie lächelte. Dann ging sie hinaus, doch bevor sie die Tür schloss, sah sie noch einmal beseelt zu dem kleinen Jungen im Bett. Pures Glück.
Fred saß aufrecht im Ehebett, als Julia das Zimmer betrat und sich wortlos neben ihn setzte.
"Warum hast du ihn wieder schlafen gelegt?", fragte er mit einem kritischen Unterton.
Sie sah ihn überrascht an. "Es sind Ferien. Warum sollte er nicht noch etwas schlafen? Immerhin hast du ihn gerade ganz schön angefahren. Da kann es nicht schaden, wenn er nochmal ein bisschen runterkommt."
Fred verzog die Mundwinkel und biss sich auf die Lippe.
"Es kann sicher nicht schaden, wenn Max mal nicht bis in die Puppen liegen bleibt. Ich habe das Gefühl, du lässt die Erziehung gerade etwas schleifen, mein Schatz", sagte er schließlich.
Julia fuhr auf und griff nach dem Wecker auf ihrem Nachttisch. "Es ist noch keine sechs Uhr morgens, Fred", zischte sie ihn an und warf ihm die Uhr vor den Brustkorb.
Fred fing sie reflexartig auf und stellte sie zur Seite. Er schüttelte den Kopf. "Weißt du, wenn du meinst, dass du mehr als ein Pädagoge von Kindererziehung verstehst, dann ..."
Julia machte mit ihrem Gesichtsausdruck ihrem ganzen Entsetzen über diese Aussage Luft und deutete Fred mit großen Augen nun besser nicht weiterzusprechen. Entschuldigend hob er die Hände, ohne einen Funken Reue erkennen zu lassen.
"Ich meine ja nur ...", fuhr er nach einer kurzen Pause fort.
"Meine Eltern haben mich relativ streng erzogen, und das hat mir eher geholfen als geschadet."
"Deine Eltern? Wie würde der Herr Pädagoge denn sein Verhältnis zu seinen Eltern beschreiben? Herzlich?", sagte sie mit deutlicher Ironie.
"Was soll das, Julia?", fragte er irritiert.
"Tut mir leid, Fred. Aber das Verhältnis zu deinen Eltern ist doch nicht gut. Es ist distanziert. Ich wünsche mir, dass Max mit seinen Sorgen und Problemen zu uns kommt, dass er uns vertraut. Wie soll er das denn tun, wenn du ihn schon anfährst, wenn er morgens Pipi muss? Das kann doch nicht dein Ernst sein, oder?", bemühte sie sich, ihren Standpunkt zu erklären.
"Es geht hier nicht um die Situation von heute Morgen, oder?", fragte er.
Stille. Zögerlich schüttelte sie den Kopf. "Nein, ich habe das Gefühl, dass du dich nicht auf Max einlässt."
Fred sah zu Boden und nickte. "Weißt du, mir fällt das alles verdammt schwer. Ich soll von heute auf morgen eine Art Vaterersatz für ihn sein, aber das kann ich nicht."
Dann hob er seinen Blick und sah Julia nun direkt in die Augen. "Darüber hinaus verbringen wir kaum noch Zeit miteinander. Ich meine, allein. Das kann ich nicht mehr, Julia."
Sie erschrak. "Was willst du mir damit sagen?" Er schwieg.
Rot. Schon wieder. Der Mann im silbernen VW Passat bremste hart und blieb kurz vor der Haltelinie stehen.
Dabei wäre es so einfach gewesen. Gas geben, freundlich in die Kamera auf der anderen Seite der Kreuzung lächeln, später dann ein Anruf in der Abteilung für Verkehrsdelikte und eine Flasche billigen Aldi-Fusel. So einfach.
Doch er hatte sich entschieden, stehen zu bleiben. Wie so oft in seinem Leben. Immer vorsichtig, immer korrekt, auch wenn heute etwas anders war. Denn der Wagen hinter ihm schaffte es, wenn auch mit großer Mühe, ebenfalls zum Stehen zu kommen, während ihm sein Leben gerade mit voller Wucht gegen die Stoßstange donnerte.
Der Mann umklammerte das Lenkrad und kniff die Lippen zusammen. Er war kurz davor zu explodieren, oder noch viel gefährlicher, zu implodieren.
Die Ampel schaltete auf grün. Er gab Gas, fuhr den Motor auf viertausend Umdrehungen hoch und schaltete in den nächsthöheren Gang, bis ihn die nächste Ampel abrupt stoppte. Er warf sich zurück in den Sitz und rieb sich die Stirn, während er beobachtete, wie erst die Fahrzeuge von der einen, dann von der anderen Seite in den fließenden Verkehr einbogen.
Er war falsch abgebogen. Irgendwo auf seinem Lebensweg hatte er in den vergangenen fünf Jahren die falsche Abzweigung genommen und merkte nun, dass er die ganze Zeit in die falsche Richtung unterwegs gewesen war. Doch wo?
Vielleicht war es die Kreuzung "Beziehung" gewesen, auf der er wissentlich alle Möglichkeiten zur Kehrtwende ignoriert hatte und weiter, ohne nachzudenken, in die gleiche Richtung sauste. Heute war ihm klar, dass er spätestens am Ende der Sackgasse hätte wenden müssen.
Eventuell war es aber auch nicht nur einmal der falsche Weg gewesen, auf dem er sich befand. Was war mit seinem Beruf? Sein Kopf sagte ihm, dass alles in Ordnung war. Der Job war gut geachtet. Er brachte ihm genug Geld ein, um davon zu leben, und irgendwie tat er ja auch etwas, das anderen Menschen half.
Sein Bauch zog sich bei diesem Gedankengang allerdings immer weiter zusammen, und schließlich schnürte es ihm die Kehle zu, bis er versuchte, den Gedanken wieder zu verdrängen. So, wie er es immer tat. Doch das Grummeln in der Magengegend wurde stärker. Von Monat zu Monat, von Woche zu Woche, von Tag zu Tag.
Grün. Er gab Gas, sah aber zweihundert Meter weiter bereits die nächste rote Ampel. Der Mann drückte mit dem Fuß härter gegen das Gaspedal. Rebell, dachte er und bemerkte sogleich, wie albern sich das anhörte.
Er trat auf die Bremse, rutschte ein paar Meter und kam zum Stehen. Im Rückspiegel sah er nur noch die Scheinwerfer des Geländewagens, der ihn erfasste und mit voller Kraft auf die befahrene Kreuzung schob.
Polizeipräsident Thomas Richter. Wie gut sich das anhörte. Der Mann, der das kleine Schild am Eingang des Büros angebracht hatte, war gerade wieder verschwunden, und so saß er nun in seinem bequemen Ledersessel, die Füße auf dem Schreibtisch und sah zur Decke.
Polizeipräsident Thomas Richter. Endlich war es offiziell.
Das Büro war wesentlich größer als sein altes. Natürlich hatte er es erst einmal entrümpeln müssen. Der alte Mann, der vor ihm hier gehaust hatte, war, was seinen Geschmack betraf, etwas eigentümlich gewesen. Die schwere Eichenschrankwand war nun verschwunden, ebenso der wuchtige Schreibtisch und die Sitzgruppe aus den siebziger Jahren. Stattdessen wurden sie nun durch Glasschränke und einen modernen Kunststoffschreibtisch ersetzt, die dem Raum eine gewisse Leichtigkeit verleihen sollten. Lediglich den Ledersessel hatte er behalten. Für seine Besucher blieben nur weiße Stühle aus hartem Plastik. Sie sollten gar nicht erst auf die Idee kommen, dass mit ihm auf Augenhöhe zu sprechen war. Und diesen Standesunterschied machte er hiermit deutlich.
Thomas Richter reckte sich und nahm die Beine vom Tisch. Er lehnte sich vor und betätigte den Knopf der Gegensprechanlage.
"Sonja?", fragte er.
Ein leises Rauschen. Sonst nichts.
"Sonja Mäuschen?", wiederholte er mit sanfter Stimme.
Es knackte. "Ja, Herr Polizeipräsident", sprach es aus dem zwanzig Jahre alten Gerät.
"Sonja, komm doch bitte nochmal kurz zu mir. Ich glaube, wir haben noch einen Moment", sagte Richter.
Stille.
"Sonja?", fragte er nun ein wenig verärgert.
"Ja, Herr Polizeipräsident. Ihr Besuch ist hier. Soll ich sie reinschicken?"Verdammt. Sie war zu früh. Sonja musste warten, doch er würde später auf sie zurückgreifen.
"Schicken Sie sie rein."
Ein silberner VW Passat hielt auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums. Der Fahrer hatte den Wagen rückwärts eingeparkt, damit niemand die Beule an der Rückseite und die herabhängende Stoßstange erkennen konnte.
Häme war das Letzte, das er nun brauchte.
Er strich mit der Hand sein Hemd glatt, als er den Anschnallgurt gelöst hatte. Glück hatte er gehabt. Der Geländewagen hatte ihn mitten auf die Kreuzung geschoben. Der Passat hatte sich dabei mehrfach um die eigene Achse gedreht und war schließlich zum Stehen gekommen. Geistesgegenwärtig hatte er den Rückwärtsgang eingelegt und mit kreischendem Motor die Fahrbahn verlassen, während nur Sekundenbruchteile darauf ein LKW an ihm vorbeirauschte.
Er hatte einmal tief durchgeatmet, so wie er es gelernt hatte, war ausgestiegen und zu der zitternden Fahrerin des Jeeps gelaufen. Dann hatte er das Eintreffen des Krankenwagens und der Polizeistreife abgewartet, seine Aussage und seine Dienstnummer zu Protokoll gegeben und war, mit dem Hinweis auf einen wichtigen Fall, so schnell es ging, verschwunden. Den Fall gab es nicht. Der Streifenpolizist war ein alter Bekannter und würde alles in seinem Sinne regeln. Die Jeep-Fahrerin würde weniger Glück haben, denn einen Schuldigen gab es immer, und heute fiel die Wahl auf sie.
Da war es wieder, dieses Grummeln, das ihn in letzter Zeit so oft erreichte. Es fühlte sich an, als ob es ihn innerlich auffraß. Doch wieder wehrte er sich und fuhr. Rebell.
Diesmal klang es ganz und gar nicht albern.
Er öffnete die Fahrertür und stieg aus. Trotz der sich schon anbahnenden, brütenden Hitze, die der Tag mit sich brachte, trug er einen Schal, den er nun noch ein wenig enger zog. Nicht wegen des Wetters, aus modischen Gründen. Sie hatte ihm dazu geraten, und es gefiel ihm.
Warum sollte er auch alles verteufeln, was von ihr kam.
Schließlich war auch das ein Teil von ihm. Doch war es das wirklich? Er riss den Schal mit einem Ruck vom Hals und warf ihn ins Auto.
Der erste Tag vom Rest seines Lebens hatte begonnen. So oder so ähnlich hatte er es heute morgen in seinem Horoskop gelesen. Wenn ab jetzt jeder Tag so startete wie dieser, konnte er darauf gut verzichten.
Zum ersten Mal an diesem Tag huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er verschloss das Auto mit einem Knopfdruck und drehte sich um. Sein Blick wanderte die hohe Backsteinmauer empor, die sich vor ihm wie eine Festung aufgebaut hatte. Das Polizeipräsidium von Düsseldorf erstreckte sich ursprünglich über einen ganzen Häuserblock. Heute jedoch wurden nur noch wenige Teile des Gebäudes tatsächlich von der Polizei genutzt. Der Rest, zumindest der, der keinem Modernisierungsbedarf unterlag, wurde günstig vermietet. Dennoch blieb die beeindruckende Wirkung dieses Komplexes. Alcatraz, dachte er. Er war noch nie dort gewesen, aber so stellte er es sich vor.
Und noch eines hatte das Gebäude mit der Gefängnisinsel gemein. Eine Flucht war unmöglich.
"Danke, Mäuschen", sagte die Frau zu Sonja, als Thomas Richter die Tür öffnete.
Sonja und er tauschten unsichere Blicke aus. Ihr Blick war unsicher und wich dem seinen aus, während er souverän, eher gereizt wirkte. Hatte die Frau Sonja gerade Mäuschen genannt? Er setzte ein falsches Lächeln auf und ging mit ausgestreckter Hand auf sie zu.
"Magdalena Czarnecka", sagte sie mit sicherem Ton.
Sie war unattraktiv. Das war das Erste, was Richter durch den Kopf ging. Er war nicht klein, doch sie war noch ein gutes Stück größer als er. An die 1,90 Meter, schätzte er. Ihre Gesichtszüge waren kantig, das Gesicht und die Figur schlank. Dabei aber nicht sportlich, sondern eher hager, beinahe krank. Konnte diese Frau lächeln? Ihr Gesicht war faltig. Doch Lachfalten konnte Richter nicht ausmachen. Sie wirkte wie Ende fünfzig und nicht wie Mitte vierzig, wie es aus ihrem Lebenslauf hervorging.
Magdalena Czarnecka nahm seine Hand. Ihr Händedruck war kräftig und trocken. Ein harter Brocken.
Thomas Richter rieb sich die Hand, als sie den Druck löste.
"Schön, Sie hier zu haben, Frau Kadanzki", sagte er und wurde harsch unterbrochen.
"Czarnecka", korrigierte sie ihn.
Er lachte verlegen. "Natürlich. Entschuldigen Sie, Frau Czarnecka."
Thomas Richter deutete ihr mit der Hand an, in sein Büro einzutreten. Während sie an ihm vorbeiging, schloss er den Knopf seines Designeranzugs. Extra schlank. So trug er sie immer, damit seine sportliche Figur zur Geltung kam. Ein deutlicher Qualitätsunterschied zu dem Baumwollanzug, den die Frau in seinem Büro trug.
Er wandte sich zur Seite, um ihr zu folgen. Dabei blickte er noch einmal über seine Schulter und fing den Blick seiner Sekretärin ein. Er lächelte. So, wie er es immer tat.
"Welcher Idiot...", sagte der Mann, als sich die Fahrstuhltür schloss.
Er stand vor den Etagenknöpfen und betrachtete sie eindringlich. Jeder der Knöpfe leuchtete. Das bedeutete zwei unnötige Stopps, in der ersten und zweiten Etage, ehe er die dritte und somit sein Büro erreichte. Seine Augen wanderten über die Wand zu einer Markierung des TÜV. Ein lauter Gong riss ihn aus den Gedanken. Erste Etage. Die Türen öffneten sich. Niemand stieg zu. Die erste Überprüfung hatte 1986 stattgefunden. Der Aufzug hatte also schon fast dreißig Jahre auf dem Buckel, was nicht gerade zu einer Verbesserung seines Wohlbefindens beitrug. Wieder ein Gong. Wieder öffnete sich die Tür und wieder stieg niemand zu. Neben der TÜV-Plakette, die die letzte Überprüfung im Februar dieses Jahres bescheinigte, klebte ein Aufkleber mit dem Emblem von Fortuna Düsseldorf. Er lächelte. Es war ein hämisches Lächeln, denn im Moment lief es nicht besonders für den Klub. Für ihn als Zugewanderten eher ein Grund zur Freude als zur Trauer. Wieder ein Gong, dann noch einer und noch einer. Das Licht im Aufzug erlosch,und zeitgleich setzte die Notbeleuchtung ein.
"Was zur Hölle!", schimpfte er und drückte den Notfallknopf.
Sie hasste es. Sie hasste sein Lächeln. Sie hasste seinen Blick, der sie von oben bis unten musterte. Sie verabscheute seine Berührungen.
Anfangs kam es ihr zufällig vor, als sein Handrücken ihre Hüfte berührte. Sie maß der Situation keine Bedeutung zu, als er zunächst ihren Nacken streichelte und dann mit den Fingern ihren Rücken herabfuhr. Er war so nett gewesen, so charmant und zuvorkommend.
Ihre Augen wanderten zu ihrem Monitor. Was hatte sie geschrieben? Ihre Hände zitterten. Sie drückte die Entf-Taste und löschte das Geschriebene.
Sie hatte Angst vor ihm. Es war dieser Abend gewesen, der ihr Bild von ihm revidiert hatte. Die Nacht, in der aus einem harmlosen Treffen auf einen Drink mehr wurde, obwohl sie es nicht wollte. Und es hatte sich wiederholt.
Immer und immer wieder. Mal stand er unangemeldet vor ihrer Tür. Mal bestellte er sie zu sich, und von Zeit zu Zeit geschah es hier im Büro. Er kannte keine Grenzen, und es tat weh. Physisch und psychisch.
Sie sollte ihn anzeigen, dachte sie und verwarf den Gedanken sogleich. Mit noch immer bebender Hand griff sie nach dem Foto ihrer Tochter, das vor ihr auf dem Schreibtisch stand.
"Nur für dich, mein Schatz", flüsterte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
Warum tat sie es nicht einfach? Sie konnte das Büro verlassen. Jetzt. Konnte in den Aufzug steigen, ins Erdgeschoss fahren und zu Protokoll geben, was er ihr angetan hatte. Sonja schob sich mit dem Fingernagel eine Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht. Ihre Nägel waren gepflegt. Darauf achtete sie, wie auch auf ihre gesamte Erscheinung. Viele Frauen, die sie kannte, hatten nach der Geburt ihrer Kinder nicht mehr zu ihrer Form zurückgefunden. Sie war schlanker und sportlicher, als jemals zuvor. Zumba, Joggen, Körperpflege und ein Hang zur Mode machten sie zu dem, was sie war. Zu einem Opfer.
"Verdammte Scheiße!", rief der Mann, als er die Tür zu seinem Büro aufstieß. Sein Kollege sah von seiner Arbeit auf und blickte ihn mit großen Augen an. Der Mann schleuderte seinen Schlüssel auf den Schreibtisch. Dabei erwischte er ein Wasserglas, das er am Vortag hatte stehen lassen, und beförderte es zu Boden, wo es in seine Einzelteile zerbrach. Resigniert senkte er den Kopf und ließ die Schultern fallen.
"Geht's noch?", fragte der Kollege.
Ben Bischoff lehnte immer noch mit den Ellbogen auf seinem Schreibtisch und musterte den jungen Mann, der im Türrahmen stand. Seine Gesichtszüge waren glatt, beinahe jungenhaft.
"Wo ist dein Schal?", fragte er und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
"Geh mir nicht auch noch auf den Sack, Ben. Ok?", antwortete der junge Mann harsch, während er sich auf seinen Stuhl fallen ließ und langsam damit begann, die Scherben einzusammeln. Der Schal war lange ein Thema zwischen den Männern gewesen. Ben war der Ansicht,er wirke zu weich für einen Polizisten. Er nannte es metrosexuell und meinte es nicht als Kompliment. Christian Klein hingegen war der Ansicht, dass sein Stil ein Teil seiner Persönlichkeit war und er ihn nicht aufgrund seiner Arbeit ändern müsse. So diskutierten sie und zogen sich auf, mehr im Spaß, als im Ernst.
Ben hob entschuldigend die Hände. "Mit dem falschen Fuß aufgestanden?" Christian Klein wollte sich aufrichten und stieß mit dem Hinterkopf gegen die Platte seines Schreibtisches.
"Scheiße!", brüllte er und schlug mit der Faust auf die Tischplatte. In der anderen hielt er eine große Glasscherbe und deutete auf Ben.
"Willst du mal hören, wie mein Morgen war?", fragte er und fuchtelte dabei mit der Scherbe herum.
"Gerne, wenn du dafür das Ding weglegst. Sonst schneidest du dich noch", antwortete Ben immer noch breit grinsend. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und eine völlig entspannte Haltung eingenommen.
"Na gut", begann Klein. "Zuerst hatte ich einen Autounfall, und mein Dienstwagen ist Schrott. Dann bin ich zum ersten Mal seit Monaten mit dem Aufzug gefahren und steckengeblieben. Jetzt gerade habe ich mir wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung zugezogen, und ach ja, gestern Abend hat mich meine Freundin verlassen."
Wieder schlug er auf den Tisch. Eine Strähne seines dunklen Haares fiel ihm ins Gesicht.
"Ups", antwortete Ben lediglich. Er verschränkte die Arme und dachte nach.
"Bist du arbeitsfähig?", fragte er schließlich.
"Klar", antwortete Klein leise, als er die Scherben in den Mülleimer warf.
"Willst du darüber reden?", hakte Ben nach.
"Im Moment nicht, danke", sagte Klein.
Ben nickte. Er stand auf und ging um den Tisch herum zu seinem Kollegen. Dann klopfte er ihm freundschaftlich auf die Schulter und begann schweigend die restlichen Glasscherben aufzusammeln.
"Heute kommt die neue Chefin", sagte Ben. Jetzt war es Klein, der nickte, ohne ein Wort zu sagen. "Wir sollten gucken, dass es hier halbwegs ordentlich ist."
Klein lächelte. "Und das von dir?" Er deutete auf die andere Hälfte des Tisches. Dort türmten sich Papierberge. Auf der Fensterbank stand ein halbes Dutzend leerer Cola-Flaschen und diverse Kaffeetassen, die mittlerweile schon ein Eigenleben entwickelt haben dürften. Ben hielt inne und lugte über die Tischplatte zu seinem Platz.
"Ich habe auch nicht vor, noch Karriere zu machen. Du schon, Christian."
Vor ihr saß ein Mann, der etwa in ihrem Alter sein musste. Sie mochte ihn nicht. Seine Körpersprache missfiel ihr. Die Art, wie er sich in seinem Sessel räkelte, während sie auf einem Plastikstuhl Platz nehmen musste, empfand sie als erniedrigend. Der Anzug saß. Das musste sie zugeben. Vielleicht eine Maßanfertigung. Sein Erscheinungsbild passte eher zu ihrer Vorstellung eines Investmentbankers. Die dunklen, vor Gel triefenden Haare, das glattrasierte Gesicht, der Duft des teuren Parfüms, das er trug. Schmierig. Das war es, was ihr in den Sinn kam, während sie Polizeipräsident Richter beobachtete.
"Wissen Sie, Frau Kaminski, ...", begann er.
"Czarnecka", korrigierte sie ihn erneut.
"Wie dem auch sei", sagte er und winkte die kleine Belanglosigkeit mit der Hand fort.
"Das ist respektlos", fiel sie ihm ins Wort.
Plötzlich schwieg er und sah sie mit geöffnetem Mund an, als habe es ihm die Sprache verschlagen. Magdalena Czarnecka saß aufrecht in ihrem Stuhl, als wäre sie an einer Stange fixiert worden. Sowohl ihr Blick als auch ihre Worte waren klar und durchdringend. Thomas Richter verdrehte lächelnd die Augen.
"Frau Cz-ar-ne-ck-a", sagte er stark betont. "Es liegt mir fern, Ihre Gefühle zu verletzen."
"Das können Sie auch nicht", entgegnete Czarnecka.
"Bitte?"
"Sie können meine Gefühle nicht verletzen. Hier geht es ausschließlich um unseren Job, den wir, davon gehe ich aus, beide so gut wie möglich erledigen möchten, oder?" Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem zaghaften Lächeln. Eins zu null. Thomas Richter stemmte seine Ellbogen auf den Glastisch vor sich und faltete die Hände.
"Natürlich", sagte er schließlich, "also lassen wir das ganze Drumherum beiseite und kommen zur Sache."
Sie nickte. "Das wäre mir recht."
"Gut.", fuhr er fort und lehnte sich wieder zurück, "Sie treten in große Fußstapfen."
Jetzt war sie es, die die Augen verdrehte. "Ich trete in Ihre Fußstapfen."
Richter nickte heftig. "Ganz genau."
Er fixierte sie und erwartete Widerspruch, der allerdings nicht kam. "Die Abteilung hatte in den vergangenen Jahren eine der höchsten Aufklärungsraten im gesamten Bundesgebiet", fügte er hinzu, als wolle er sich rechtfertigen.
"Das ist mir bekannt", bestätigte sie ihn.
"Ich erwarte natürlich, dass die Quote annähernd gehalten wird. Nach unserem Gespräch werde ich Sie den Kollegen vorstellen. Dabei gibt es die ein oder andere Besonderheit."
"Ben Bischoff", sagte sie, ohne eine Regung.
Richter nickte anerkennend. "Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht, Czarnecka. Sehr gut. Bischoff ist ein hervorragender Ermittler. Seine Methoden hingegen sind zweifelhaft."
"Wie meinen Sie das?", fragte sie, obwohl sie die Antwort hätte vorwegnehmen können.
"Er ist äußerst aggressiv, schert sich nicht um Regeln und Konventionen. Kurz gesagt, er belastet das Dezernat."
"Wie ist Ihre Erwartungshaltung, Herr Polizeipräsident?"
Die Anrede gefiel ihm. "Halten Sie ihn im Auge. Er hat mächtige Fürsprecher innerhalb der Landesregierung."
"Reden Sie bitte Klartext mit mir", bat sie.
"Nun gut", erklärte er und sah ihr tief in die Augen. "Ich will, dass er am Ende des Jahres nicht mehr in seinem Büro, sondern beim Arbeitsamt sitzt. Verstanden?" Der Ton in seiner Stimme war hart und entschlossen. Sie nickte kurz. "Natürlich, Herr Polizeipräsident."
Ein Handy klingelte. Ben Bischoff sprang auf, umrundete den Schreibtisch und öffnete die oberste Schublade. Er schob die Dienstwaffe und die Packung Marlboro beiseite und betrachtete das Display des alten Nokia-Handys. Dann drückte er die rote Taste und schloss die Schublade.
"Alles klar?", fragte Christian Klein.
"Ja", sagte Ben zögerlich. "Meine Ex-Frau. Die brauche ich jetzt gerade nicht."
Klein beobachtete seinen Kollegen. Er sah die tiefen Furchen um seine Augen und die Mundwinkel. Trotz der in den letzten Wochen fast dauerhaft scheinenden Sonne war seine Haut blass. Er wirkte müde.
"Du siehst nicht gut aus, Ben."
"Lass mich in Ruhe, okay?", entgegnete dieser forsch.
Klein riss den Mund und die Augen auf und schlug die Hände flach auf den Tisch.
"Aber ich soll mich dir öffnen. Alles klar", sagte er trotzig.
"Bist du noch an dieser Sache dran?" Ben nickte wortlos.
"Der Fall ist abgeschlossen, Ben", sagte er nun in wesentlich ernsterem Ton.
"Nein, ist er nicht", warf Ben ein. "Der Rosengarten-Killer war ein Auftragsmörder. Weder die Auftraggeber des Mordes an Ina Götte wurden gefunden noch ..."
Er sah zu Boden und schluckte.
"… noch die des Mordes an deiner Tochter", vervollständigte Klein den Satz.
Wieder nickte Ben.
"Lass die Toten ruhen, Ben", sagte Klein schließlich.
"Das kann ich nicht und das weißt du."
Jetzt war es Klein, der nickte.
Ben rang sich ein Lächeln ab. "Und dann gibt es da ja noch den Sonnenkönig."
Auch Klein lachte. "Guter Spitzname. Kannte ich noch nicht. Du kannst Thomas Richter nichts anhängen."
Das letzte Wort setzte er mit den Fingern in Anführungszeichen.
"Ich muss ihm auch nichts anhängen", sagte Ben und wiederholte die Geste. "Ich bin mir sicher, dass er Polizeipräsident Huber ermordet und Janina vor ihrem Tod vergewaltigt hat."