Rostock, letzte Wahl - Volker H. Altwasser - E-Book

Rostock, letzte Wahl E-Book

Volker H. Altwasser

4,5

Beschreibung

Ein Fall für die Champions League: Ein Serienmörder geht um in Rostock. Er hat es auf die Schönen abgesehen, just zu einer Zeit, in der die Stadt ohnehin vibriert. Der Handballklub SC Empor steht, für alle überraschend, im Finale der Champions League gegen die europäische Spitzen- mannschaft aus Barcelona. Privatdetektiv Pawel Höchst und sein Co-Ermittler Kevin Hilbig, der mittlerweile bei der Polizei der Hansestadt arbeitet, treten an, um die Morde an einer Schönheitskönigin und dem Besitzer einer Modellagentur aufzuklären. Und das nicht nur in Rostock und in Warnemünde, sondern auch auf dem neuen AIDA-Flaggschiff, das die Handballmannschaft und verdiente Rostocker zum Endspiel nach Kiel bringt. Werden sie den Mörder rechtzeitig dingfest machen? Oder fallen ihm noch weitere Menschen zum Opfer? Und die für die Empor-Fans alles entscheidende Frage: Gewinnt ihr Verein die Champions League?

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Ähnliche


Volker H. Altwasser

ROSTOCK,letzte Wahl

Inhalt

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Zweiter Teil

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Dritter Teil

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Anmerkung

Erster Teil

-1-

Wie angewurzelt blieb Privatdetektiv Pawel Höchst vor dem Spirituosenregal der Edekafiliale in der Hermannstraße stehen und sah all seine Felle davonschwimmen.

Gerade erst letzte Woche hatte er eine Geschäftsidee gehabt, und nun das!

In der Schallmauer, der einzigen Fliegerkneipe Rostocks am Doberaner Platz, war man sich darüber einig gewesen, dass Gin schon seit Jahren eine ungeheure Neubelebung erfuhr und den Whisky in der Beliebtheit wohl bald ablösen würde.

Pawel hatte aufgehorcht, doch nun stand seine eigene Idee vor ihm im Regal. Ein schlichtes weißes Etikett, auf dem in einfacher Schrift stand: Rostocker Stadtbrand Gin. Neunzehn Euro neunzig, und während sich Pawel Höchst fragte, wer diese Nische wohl besetzt habe, fuhren einige Kilometer weiter die beiden Geschäftsführer des Urlaubsgiganten Aida mit dem Fahrstuhl nach unten, verließen das neue Firmengebäude und gingen zur davorliegenden Freifläche, die ab und an als Hubschrauberlandeplatz diente. Sie waren auf dem Weg nach Papenburg, um auf der dortigen Werft das neue Kreuzfahrtschiff in Empfang zu nehmen.

In bester Laune ahnten sie nicht einmal, dass Pawel Höchst, ebenfalls ein offizieller Botschafter der ehrwürdigen und alten Hanse- und Universitätsstadt, sich von einer Marktidee verabschiedete. Er nahm eine der beiden Ginflaschen mit, ohne sie eigentlich zu wollen.

Pawel Höchst war ein optimal integrierter Ausländer, der keine staatlichen Programme durchlaufen hatte. Die Stadt Rostock war stolz auf Pawel Höchst, denn Pawel Höchst wurde mittlerweile europaweit zu vielen Kriminalfällen hinzugezogen, um seine Überlegungen zu undurchschaubaren Mordmotiven beizusteuern.

Auch er war schon mit dem Helikopter abgeholt worden, doch in Niedersachsen war er noch nie gewesen. Als Botschafter von Die gute Rostocker Laune hatte er sogar schon neben den beiden Geschäftsführern des Rostocker Spitzenunternehmens gestanden, die gerade ihre Gingläser wegstellten und sich anschnallten, während der Hubschrauber in den Landeanflug ging.

Durch die Fenster sahen sie auf die immer noch demolierte Eisenbahnbrücke, die vor Jahren ein Lastkahn eingerissen hatte. Wenig später wurden sie vom Werftchef wie alte Freunde empfangen, denn Aida hatte in Papenburg mittlerweile schon sieben Riesenschiffe bauen lassen. Für die Vorpommern blieben es sieben riesige Wehmutstropfen, gegen die auch kein Wermut half, geschweige denn Gin, denn eigentlich hatte die Bundesregierung Anfang der Neunzigerjahre des letzten Jahrtausends vorgehabt, diese Werft nicht an die Weser zu verlegen, sondern an die Ostküste der Insel Rügen. Leider hatte am letzten Tag der Republik, die sich Deutsch und Demokratisch nannte, ein Zugereister, ein Professor der Universität Greifswald, in einem Handstreich dafür gesorgt, dass große Teile der Küstenlandschaft unter Naturschutz gestellt worden waren. Er erhielt dafür einen alternativen Nobelpreis, die Einwohner Vorpommerns aber keine neue Werft. So aber mussten sie hungern, oder sich andernorts als Zugereiste verdingen. Wie gut es wohl dem Land Mecklenburg-Vorpommern ginge, würden in Vorpommern die Riesenschiffe hergestellt, mit denen dann die Mecklenburger erfolgreich wirtschafteten, das lag auf der Hand. Das Land hätte sich Dutzende Theater leisten können. Man hätte hunderten Schriftstellern Lebensrenten zahlen können, so aber hatte der letzte Schriftsteller Mecklenburg-Vorpommerns Rostock im April Zweitausendsechzehn verlassen. Auch die Anzahl der Buchhandlungen nahm stetig ab, es gab jetzt im ganzen Land nur noch einundsechzig. Dieser einwohnerschwache Nordosten wäre wahrlich das Schweden von Deutschland geworden, ohne diese Werft aber mussten sich die Einwohner vor Ort als Reinigungskräfte und Hausmeister verdingen und so tun, als wären sie auf diesen ganzen Naturschutz irgendwie stolz, nach dem sie von den Urlaubern beständig befragt wurden. Professoren begegnete man hier jedenfalls skeptisch, überhaupt schien Wissenschaft nur dazu da zu sein, um ehrlichen Fischern das karge Brot zu streichen. Wörter wie Naturschutz sprach man hier besser nicht zu oft aus, und überhaupt, fragten sich die Einwohner, wo blieb denn der Einwohnerschutz?

In Niedersachsen allerdings, dem Schweden Deutschlands, war neben Wolfsburg auch das kleine Papenburg zu einer Geberkommune geworden. Die Einwohner des Städtchens lebten fleißig und zufrieden, und fast jeder Papenburger trat an diesem sonnigen Dienstag des Jahres zweitausendachtzehn ins Freie, als man die wohlbekannten Geräusche des Hubschraubers aus Mecklenburg hörte.

Man winkte freundlich in den Himmel und sah zufrieden zu, wie der Helikopter seine altbekannte Schleife flog. Dann traten die Niedersachsen zurück in ihre Werkstätten und Häuser, während sich die beiden Geschäftsführer abschnallten und wieder festen Boden unter den Füßen bekamen. Das neue Flaggschiff der Aidagruppe überragte die Landschaft, wirkte wie ein Hochhaus mitten in einem Dorf.

»Donnerwetter!«, sagte Doktor Hansen.

Mit einer Umarmung begrüßte ihn Diplomingenieur Hansekrug und sagte: »Das größte jemals gebaute Kreuzfahrtschiff der Welt. Die beiden Teile verschweißen wir erst vor Wilhelmshaven.«

»Tatsächlich, jetzt sehe ich erst die Teilung«, mischte sich der zweite Geschäftsführer ein, Doktor Hansekrugmeister. Die drei Männer gingen schnellen Schrittes in die Werftempfangshalle und machten gutgelaunt Witze über die Amerikaner, die das friedliche Wettrüsten verloren hatten.

Pawel Höchst aber war in Rostock immer noch nicht zum Lachen zumute. Missmutig dachte er auf dem Weg zum Büro immer wieder an den Rostocker Stadtbrand Gin, in den der Geschmack der Gurke schon integriert war. Da Pawel im Moment keinen Auftrag hatte, gab er sich selbst einen: Was für ein Unternehmen war da gestartet? Eigenartigerweise gab es keinerlei Hinweise auf die Hersteller, jedenfalls nicht auf dem Etikett. Pawel Höchsts kriminalistisches Vorgespür war erwacht. Wie ein Jagdhund krauste er die Nase, hechelte nach innen, nieste dann aber.

Seit einigen Monaten hatte er die Schlüssel, mit denen er die Hoftür der Fliegerkneipe Schallmauer öffnen konnte, denn mittlerweile hatte er sein Büro im Hinterzimmer der letzten Raucherkneipe Rostocks.

Der Weg zum Bürogebäude am Dierkower Damm war ihm im Jahre zweitausendsiebzehn irgendwann zu bevölkert geworden, denn die Holzhalbinsel war mittlerweile ein Wespennest, nur dass diese Wespen leider nicht fliegen konnten. Für einen ehemaligen Hochseefischer waren es entschieden zu viele Menschen. Rostock platzte aus allen Nähten, und die ersten Architektenbüros planten künstliche Wohninseln auf der einst verbreiterten Warnow. Die Inseln sollten mit Hängebrücken verbunden werden, die in Neonfarben erstrahlen sollten, um die mittlerweile realisierten Luftgondeln, die alle fünf Kilometer die Stadtteile back- und steuerbord der Warnow miteinander verbanden und deren Kabel ebenfalls bunt leuchteten, nicht in Misskredit zu bringen. Die meisten Rostocker hatten keine Lust gehabt, echte Großstädter zu werden, aber gefragt worden waren sie nicht. Jetzt waren sie es, und im Lokalradio gab es gar einen ganz Verwegenen, der frech berlinerte: eine Mischung aus breitem E, spitzem J und ausrollendem R, die wohl nur er selbst verstand; so lernte man in Rostock bedächtig die Rolle des Großstädters ein: Man sah nicht mehr jedem Entgegenkommenden ins Gesicht, abwartend, ob man gegrüßt werde oder nicht, man blickte einfach – wie jeder gute Großstädter – durch seine Mitmenschen hindurch.

Und natürlich sprach man nicht mehr von Stadtteilen, man sprach vom Kiez. Sogar in der Schallmauer warfen die Taxifahrer keine Straßennamen mehr in die Gespräche, sie umrissen viel grober und redeten nur noch von Lütten Klein an sich, von Toitenwinkel und den anderen Kiezen. Rostock hatte sogar seinen Spitzenplatz in der Statistik der Großstädte mit den meisten Knochenbrüchen verloren.

Im Herbst zweitausendsiebzehn war das Oktoberfest abgesagt worden, weil man betrunkene Christen nicht auf nüchterne Muslime loslassen wollte, aber das alles war Weltpolitik, weit weg von Pawel, der die Bewegungsmelder aktivierte, über den kleinen Hof der Kneipe ging und den Schlüssel ins Schloss steckte. Dann legte er beide Hände an das eiserne Verriegelungsrad, ruckte es zweimal nach links, einmal nach rechts und viermal nach links, ehe er die Hintertür aufzog und gleich wieder von innen verschloss. Sofort gab er den Code der Alarmanlage ein, die aber nur diesen Zugang sicherte, der zu seinem Büro führte. Er bereute es nicht, dass die Verbindungstür seines kleinen Büros zum Klubraum und zur Theke von den Kneipenbesitzern stillschweigend verriegelt worden war, er hatte gelernt, sich ein eigenes Spirituosenlager anzulegen, das hauptsächlich aus Whisky- und Ginsorten bestand. Er fand, der Braune müsse aus Nordamerika kommen, der Durchsichtige aus der ganzen Welt. Fast alle Flaschen waren Geschenke von zufriedenen Kunden der Detektei Höchst & Söhne, wie Pawels Firma nun hieß.

Als er gefragt wurde, was er mit dem Namen mache, wenn seine Söhne nicht bei ihm mitarbeiten wollten, hatte er gesagt: »Höchst & Söhne … da steht doch nicht, dass es die eigenen sein müssen.«

Immer noch aber galt: Anfragen verpflichten zur Zahlung eines Vorschusses.

Pawels Zwillinge waren jetzt zwölf Jahre alt, in zwei Jahren hatten sie Jugendweihe, der Vater schüttelte den Kopf. Er nahm sein Firmenhandy, das er immer im Büro ließ, denn Erreichbarkeit sei die Sklavenkette der Neuzeit, und arbeitete sich durch die verpassten Anrufe.

Güni, sein inoffizieller Steuerberater, mahnte genervt an, er solle doch endlich mal die Ein- und Ausgangsrechnungen durchnummerieren, oder ob er zum Nummerieren mittlerweile zu verblödet sei? Pawel schüttelte erneut den Kopf. War er nicht. Eine Frau von Holt suchte einen vermissten Immigranten. Sie sei aber von einem gemeinnützigen Verein, und in etwas herrischem Ton verlangte sie von Pawel, er solle kostenneutral arbeiten. Privatdetektiv Pawel Höchst ging erst auf Löschen, dann auf Bestätigen und sagte zu sich: »Oh, verdammt, jetzt hab ich’s gelöscht.«

Dann erzählte Kevin Hilbig, sein junger Co-Ermittler aus der Schallmauer und noch weiteren Fällen, der Mobilbox, dass er nun kein Polizeianwärter, sondern offiziell Kriminalpolizist und somit Beamtenanwärter sei, und als Wunschdienststelle Rostock, Jever und Kiel angegeben habe. Geduldig hatte die Mobilbox ihm zugehört und mit einem Piepen bestätigt. Diesen Anruf speicherte Pawel und gab an, dass er erinnert werden wolle, diesen Teilnehmer innerhalb von drei Stunden zurückzurufen.

Es waren noch weitere zehn Anrufer gespeichert, aber Pawel tat das innere Ohr schon wieder von den metallenen Geräuschen so weh, dass er eine Arbeitspause einlegte. Pausen gehören zur Arbeitszeit.

Nachdem im letzten Fall alles so glimpflich abgelaufen war, hatte Pawel Höchst angefragt, ob er eventuell den Abstellraum als Büro nutzen könne. Die drei Schallmauerchefs hatten darauf leichtsinnig erwidert, er könne ihn haben, mietfrei und auf Lebenszeit. Damals hatte Pawel Höchst »Ich liebe mietfrei!« gesagt, und alle hatten verstanden: »Ich liebe Miethai!«

Das war vor etwa einem Dreivierteljahr gewesen, an jenem Abend, als dieser Leipziger Schriftsteller für Richard R. Roesch eingesprungen war und sein Buch in der vollbesetzten Kneipe vorgestellt hatte.

Der grandiose Abend war in Erinnerung geblieben, auch wenn der Anlass ein trauriger gewesen war. Er hatte darin bestanden, jene Plakette über dem Zigarettenautomaten einzuweihen, die nun für alle Zeiten an den Kollegen erinnern würde. An diesem Abend hatte Pawel Höchst seine Chance gewittert und die Kneipenchefs wegen des Abstellraums gefragt, währenddessen der Leipziger Schriftsteller für das Rostocker Original signiert hatte, für jenen Autor, der hier zugleich sanft und brutal ermordet worden war: Richard R. Roesch. Und jedes Mal, wenn Pawel auf dem Weg zu den Toiletten am Zigarettenautomaten vorbeiging, murmelte er: »In Ewigkeit, Amen.«

Fast dämonisch wurde es, als ein weiterer Stammkunde nur wenige Wochen später ebenfalls die steile Treppe hinunterstürzte und mit dem Rettungsdienst abtransportiert werden musste. Als man ihm zu Ehren ebenfalls eine Plakette anbrachte, ihm dabei aus Versehen den Namen Olaf gab, der sich hier zum Sterben niedergelegt habe, da hatte Kevin Hilbig gesagt: »Es stimmt eben doch immer, was in den Krimis steht. Nur auf eine andere Art!«

Es waren diese beiden Bronzeplatten, wegen denen Pawel das Urinieren immer bis aufs Äußerste hinauszögerte. Nervös sah er wieder zur unscheinbaren Ginflasche, die aus Rostock stammte, und schüttelte den Kopf. Wer steckte hinter dieser Firma?

Das Dumme war, wenn er eine Anfrage an sich selbst stellte, dann musste er sich selbst einen Vorschuss zahlen. Und Pawel mochte es überhaupt gar nicht, in Vorleistung zu gehen. Er zögerte, doch dann rief er mit seinem Privathandy sein Firmenhandy an und beauftragte sich, herauszufinden, was für eine Firma hinter Rostocker Stadtbrand Gin stand.

Wenig später hörte Pawel sich die eingegangen Anrufe zu Ende an und notierte jene Aufträge vorschriftsmäßig in sein Auftragsbuch, die er übernehmen wollte. Dabei vergab er Auftragseingangsnummern. Güni würde es freuen! Als letzter Auftrag fand sich eine Recherche zu einer mysteriösen Firma, die in Rostock Gin herstellen sollte. Laufende Nummer: 73.

Pawel rief sein Privathandy an, sprach aufs Band, dass er den Fall übernehme, dass sein Vorschuss hundertfünfzig Euro betrage und fragte sich, als er aufgelegt hatte, ob er jetzt nun auch ordnungsgemäß gehandelt hätte und sämtliche deutschen Behörden zufriedengestellt wären. Das russische Blut rebellierte zwar in ihm, er wollte das deutsche Beamtentum verfluchen, aber als Vorzeigeausländer durfte Pawel Höchst solcherlei natürlich gar nicht erst zulassen. Er schlug sicherheitshalber noch einmal sein Auftragsbuch auf, um nachzuschauen, ob er sich bei der fortlaufenden Nummerierung auch ja nicht vertan hatte. Hatte er nicht! Pawel begriff nur zu gut, dass deutsche Steuergesetze einen freien Menschen so weit bringen konnten, dass er nicht einmal mehr bis zehn zählen konnte. Das Unausstehliche am Job sei wohl nie die Arbeit selbst, es sei die Archivierung der Arbeit, meinte er zu erkennen. Was hatten es Arbeitnehmer doch einfach, die brauchten sich bloß die Arbeit vorzunehmen.

Pawel bedauerte, dass sein inoffizieller Steuerberater jetzt nicht sehen konnte, wie korrekt er handelte. Überhaupt werde hier viel zu wenig gelobt, meinte Pawel Höchst, und während er sein Auftragsbuch schloss, tat der Werftchef in Papenburg genau das gleiche. Er sagte zu den beiden Geschäftsführern von Aida: »Nun ist der Büroquatsch endlich erledigt. Machen wir einen Rundgang durch Ihr neues Traumschiff?«

Die Geschäftsführer schraubten ihre Füllfederhalter zu, mit denen sie ihre Unterschriften geleistet hatten, und erhoben sich. Wie kleine Kinder rieben sie die flachen Hände gegeneinander und nickten freudestrahlend, während nicht wenige Vorpommern melancholisch den Zeitungsartikel lasen, in dem von den ungeheuren Baukosten des neuen Aida-Traumschiffes berichtet wurde. Mit soviel Geld im Rücken hätten sie endlich einmal frei wählen können. Sie hätten nicht wieder für die Bundestagsabgeordnete Merkel stimmen müssen, die mittlerweile nur noch Miss Honecker genannt wurde, während die CDU-Bundestagsfraktion nur noch Volkskammer hieß. Manchmal auch schlicht Duma. Oder dumme Duma. Hingegen hatte sich Dumme Oma nicht durchsetzen können. Nur eine einzige Autobahn hatte Miss Honecker in der letzten Periode auf der Insel Rügen neu bauen lassen, für die meisten Vorpommern war das eigentlich zu wenig, aber was sollte man machen, es gab ja leider keine Regierungsbegrenzung für Bundeskanzler, wie es bei Präsidenten der Fall war. Drum prüfe, wer sich ewig binde, doch binde, wer sich ewig prüfe! Deutsche Sprichwörter; Pawel schüttelte schon wieder den Kopf.

-2-

Die Idee, die wohl schon in ihm, den sie alle den Rostocker nennen, geschlummert hatte, kommt ihm auf der Rückfahrt von Warnemünde.

Ihm gegenüber sitzt in der S-Bahn dieses verwirrend schöne Mädchen. Es ist geschminkt, es ist aufreizend, aber nicht billig gekleidet. Er strahlt vor Aufregung und guter Laune, er kann nicht anders, als zu ihr zu sagen: »Was immer Sie vorhaben, ich wünsche Ihnen Glück dabei!«

»Das soll mein Abend werden«, sagt sie. »Miss Warnemünde wird die neue Bierkönigin.«

»Na, dann!« Ihm fällt nichts weiter ein, weil er sich von diesem Anblick nicht loseisen kann. In ihm aber verselbstständigt sich seine Planung fast schon.

»Wenn ich den Modelvertrag dann habe, dann werde ich Sie via VIP-TV aus Los Angeles grüßen!«

Sie lachen beide, es ist das letzte Mal, dass dieses Mädchen lacht. Als die S-Bahn kurz in Bramow hält, ist er sich sicher. Er sieht auf den gelben Zettel mit diesem eigenartigen Spruch: Das Schöne an Rostock, das sind nicht seine Häuser, das Schöne an Rostock, das sind seine Menschen. Er nickt, knifft das Papier um den Spruch herum und trennt dann alles andere von ihm ab. Als er fertig ist, hält die Bahn auf dem langen, dunklen Bahnsteig der Station Parkstraße. Es ist neunzehn Uhr dreißig, und er tritt kurz nach Miss Warnemünde auf den Gehsteig. Den Zettel wischt er mit einem Tuch ab, steckt ihn dann in die Folie, in der der Kaufvertrag gesteckt hat, den er nicht unterschrieben hat.

Die Folie wird er später auch abwischen, er wird einfach alles abwischen, aber vorerst geht er die Treppen hinunter. Er folgt dem Mädchen durch den Tunnel. An der Haltestelle der Straßenbahn weißt die Anzeigetafel auf Unregelmäßigkeiten im laufenden Betrieb hin.

Er weiß, wo die Bierkönigin gekürt wird, und er fragt sie, ob er sie begleiten dürfe, er wohne gegenüber vom Klock 8.

Das Mädchen ist erleichtert.

Zusammen warten sie an der Kreuzung auf Grün, obwohl nicht ein einziges Auto kommt. Der Rostocker überlegt, wie er das Mädchen am schmerzlosesten umbringen kann. Er witzelt mit ihr.

Sie sagt: »Ich bin froh, dass Sie mich begleiten.«

Er nickt. Sie kommen an der Holzbank vorbei, auf der nie jemand sitzt. Auch heute nicht.

»Warum hat so ein schönes Mädchen keine Begleitung?« Er fragt es so beiläufig wie möglich.

Das Mädchen sagt: »Weil das schöne Mädchen sich aus dem Elternhaus geschlichen hat und seinen Freund mit dem Titelgewinn überraschen will.«

Der Rostocker nickt. Er sieht ein Taxi an sich vorbeifahren. Es blinkt und fährt rechts in den Barnstorfer Wald hinein, um zur Trotzenburg zu gelangen. Er weiß, er kann nun nicht mehr warten. Das Klock 8 ist hell erleuchtet. Er will nicht mehr warten. Er weiß es.

Am dunkelsten ist es immer neben der hellsten Stelle. Er bittet das Mädchen, kurz zu warten. Er geht auf die Wiese, die sich zwischen dem Rund der Straßenbahnschienen findet. Er geht bis zum Waldrand. Dann ruft er: »Verdammt! Das gibt’s doch gar nicht! Ob Sie mir kurz helfen können?«

Das Mädchen kommt, geht mit den nackten, nur auf kurzen Absätzen ruhenden Füßen durchs verbrannte Gras, dass es knistert. »Was ist denn passiert?«

Er antwortet: »Ich hab mich leicht verletzt. Könnten Sie mir den Schuh vorsichtig ausziehen?« Das Mädchen kniet sich hin, die Haare fallen nach vorn, der Schwanenhals liegt bloß. Der Rostocker weiß, was zu tun ist.

Als er den Hals von oben umfasst, den Kehlkopf an den Fingerspitzen fühlt, kann er einen Moment lang nicht handeln. Er hält, ohne zu drücken.

Das Mädchen reißt sich los. Es geht ein paar Schritte aufs Rondell zu. Es kann nicht schreien. Dann ist er bei ihr. Er umarmt sie, drückt sie fest an sich, spürt diesen lebendigen und lebenshungrigen Körper. Er zweifelt, während er ihr Gesicht an seine Schulter presst und im Schatten eines Baumes hockt. Es ist hell, er muss sie verstecken, bis es dunkel wird. Das Taxi kommt zurück und biegt auf die Hauptstraße Richtung Lindenpark ein. Eine weitere S-Bahn hat ein paar, offenbar schon ziemlich betrunkene Jugendliche ausgespuckt, die nun laut in seine Richtung kommen. Der Rostocker erinnert sich nur noch an ein Keuchen, dicht an seinem Ohr. Minuten vergehen, in denen alles geschieht – und doch nichts.

Später dann, es ist dunkel geworden, ist er auf dem Weg, er zieht die Leiche hinter sich her. Sie liegt auf einer Plane. Es ist eine Motorradplane, die er von einem der Räder hat, die vor dem Trainingshaus des Fight Clubs stehen. Auch ein Fahrrad besitzt er auf einmal.

Er bringt das Leblose zum Denkmal für den Antifaschisten und legt es dahinter ab. Warum gerade dort? Er mag keine Kommunisten. Sie mögen ihn nicht.

Er holt die Folie mit dem Zettel hervor, er wischt sie sorgsam ab. Dieses herrliche halbe O, das dieser schöne, tote Mund macht. Das Mädchen hatte ihm erzählt, die Modelfotografen sagen immer zu den Models, sie sollen »ein halbes O machen«, das sehe verführerisch aus.

Er sieht, dass es verführerisch wirkt, sogar noch ohne Atem. Er verschließt ihr die Kehle mit der Botschaft, die er mit einem Zweig tief hineindrückt. Er flüstert: »Es tut nicht weh, es tut gar nicht weh, siehst du, es tut nicht weh.«

Der Rostocker denkt an seine Tochter. Sie ist vierzehn Jahre alt. Sie soll es einmal besser haben als er. Und besser als dieses tote Mädchen. Er weint, als er sich erhebt. Er bringt das Fahrrad und die Motorradgarage zurück zur Kawasaki. Er weiß, man verärgert den Fight Club Rostock nicht. Dann geht er ins LT, das neben dem Klock 8 ist, und mischt sich unters Partyvolk. Es ist Ü40-Tanz. Er ist ein wenig zu jung dafür. Er bekommt Angebote und Blicke gereicht. Er trinkt Rum-Cola. Er redet mit niemandem. Keiner darf sich erinnern. Aber trinken muss er jetzt. Der Rostocker trinkt.

Dann später, er läuft durch die halbe Stadt, kann der Rostocker keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Er fragt sich nicht, was habe er da nur gerade getan, er murmelt immer nur einen Satz vor sich hin: »An den Rostockern stört eigentlich nur, dass sie atmen.«

Er ist aus Warnemünde, er will, wie auch all seine Nachbarn, nicht mit einem Rostocker verwechselt werden. Es gerät vieles bei ihm durcheinander, hat er doch gerade ein Mädchen aus Warnemünde ermordet, aus seiner Nachbarschaft, den Mord aber den Rostockern an den Hals gehängt. Er kennt den Dienststellenleiter der Polizei seines Viertels gut, er will ihn nicht mit einem Mord belasten.

Er kennt keinen einzigen Beamten aus Rostock, er denkt, er wird auch nie einen kennenlernen. Der Rostocker kommt ins Hansaviertel, es dämmert bereits. Als könnte das Ostseestadion keiner Fliege etwas zuleide tun, liegt es still und dunkel da, dabei sind hier schon Tausende von Menschen verletzt worden, von anderen Menschen, ermordet aber niemand.

Der Rostocker wirft einen Blick aufs Stadion, er geht weiter, die Kasernenbauten auf der anderen Seite, am Eingang ein wachhabender Soldat. Der Rostocker dreht sein Gesicht weg, er sieht zur Neptunhalle, auch sie ist verlassen und leer. Immer weiter dreht der Rostocker seinen großen Kreis durch die Nacht der Tat. Er schaut zur Ospa-Arena, in der früher die Handballer vor nur achthundert Zuschauern gespielt haben, aber da waren sie noch in der zweiten Liga gewesen. Der Rostocker mag keinen Handball, er mag keinen Fußball, er würde gerne mal ein Theaterstück sehen, aber das war in der Stadt am Wind schon lange nicht mehr möglich. Sein Büro hatte den Zuschlag für den Theaterneubau erhalten, dann hatte die Bürgerschaft am neunundzwanzigsten Januar Zweitausendsiebzehn entschieden, das Theater der größten Stadt an der Ostsee zu schließen. Dieser Tag galt als Schwarzes Loch.

Danach ging es nur noch abwärts mit dem kulturellen Leben, der Rostocker meint, darum ist nichts zur Achthundertjahrfeier geplant worden, weil niemand Lust zum Feiern hat und weil alle Kreativen die Stadt verlassen haben.

Als im Herbst Zweitausendsiebzehn die Hochschule für Musik und Theater geschlossen und der Frieda die Gelder gestrichen wurden, als die Musikschule untervermietet wurde, da hatte das Bürgermeisterbüro nicht aufgehört, seinen radikalen Kampf gegen die Kulturstätten der Stadt fortzuführen. Die Kunsthalle wurde geopfert, die Museen wurden geschlossen, es stellte sich am Jahresende Zweitausendsiebzehn heraus, dass die Theaterschließung nur ein Anfang gewesen war.

Als das Wählerbündnis des Bürgermeisters bei der letzten Wahl die Mehrheit in der Bürgerschaft bekam, wurde nicht mehr verhandelt, es wurde gehandelt. Durch all die Schließungen war die Stadt binnen Monaten schuldenfrei, aber die Einwohner spürten, dass ihnen etwas fehlte. Die Menschen stürzten sich auf die Sportvereine, immer bedeutendere Stars kamen in die neue Stadthalle, die Kunst und Kultur wurde herangekarrt, aufgebaut wurde nichts mehr. Die Stadt am Wind galt den Großveranstaltern als Garant für hohe Einnahmen, die Einwohner vergaßen, wie es war, einen Schriftsteller auf der Straße zu treffen, einen Maler im Café zu grüßen, einen Musiker im Supermarkt zu begegnen, die Rostocker waren auf ihre Kulturlosigkeit stolz.

Dafür hasst man sie in Warnemünde.

Der Rostocker kommt am Schwanenteich an. Früher stand hier die bedeutendste Kunsthalle des Ostseeraums, heute bohren sich hier neue Baustellen für Hochhäuser in den Himmel. Es dämmert zwar, aber hell wird es nicht. Der Rostocker fühlt sich mitten im Juni wie im November. Er will nach Hause, er will nach Warnemünde. Kein Verkehr auf der Hamburger Straße. Er geht auf dem Mittelstreifen, er ist sich egal.

Er hört ein Auto, er hört es bremsen, er hört es hupen, er hört es neben sich, er hört den Fahrer rufen, er hört den Fahrer schreien, er hört den Fahrer fluchen, dem Rostocker ist, als hörte er nichts.

Es zieht ihn zurück, er muss zum Tatort zurück, er will nicht. Der Rostocker muss.

Er biegt am Botanischen Garten ab, er geht die lange und krumme Straße entlang. Er mochte Tschaikowski ja nie. Er sagt es der Straße, die Straße aber schweigt. Sie macht eine Biege, er folgt ihr. Schon wieder die öde Neptunhalle! Wie klein Rostock doch ist!

Er schlägt sich zum Kastanienplatz durch, er zögert, ins Morgenlicht zu treten. Er geht auf den Platz, er sieht, wie vor dem Denkmal ein Mann steht, er hört plötzlich wieder, er hört den Mann seine Hunde zurückrufen, die aber hören nicht. Der Mann geht ins Gebüsch hinter dem Denkmal, der Rostocker denkt: ›Es ist Zeit, zu gehen.‹

Er bleibt aber stehen, er tritt einen Schritt zurück, sieht quer über die kahle, braun verbrannte Liegewiese. Dann dreht er in aller Seelenruhe um. Er geht den Anstieg zur Trotzenburg hoch. Das Taxi, das dort wartet, er will schon winken, aber eine Horde Betrunkener kommt ihm zuvor. Es fährt ab, der Rostocker setzt sich auf die Bank der Straßenbahnhaltestelle. Er denkt: ›Warum denn nicht?‹

Der viele Alkohol und der viele Zucker: ausgeschwitzt. Der Rostocker möchte weiter trinken, er möchte das tun, was alle Rostocker immer am liebsten tun: Trinken, bis der Arzt kommt. Der Rostocker denkt: ›Leider kommt der Arzt aber immer. Das ist ja das Fatale am Trinken.‹

Er sieht, wie das Personal die Trotzenburg verschließt. Er sitzt weiter am Zooeingang. Er wundert sich, wie leicht das war – und doch wie schwer.

Er hatte vergessen, wie leicht und schwer das war, aber damals war er Grenzsoldat gewesen. Weil es keinen einzigen Mörder gibt, der je auf Befehl gehandelt hat, weil aber jeder Soldat immer auf Befehl handelt, darum kann ein Soldat niemals ein Mörder sein. So hat er es sich zurechtgelegt, und es gibt niemanden, der dagegen etwas sagen kann.

Das einzige Verbrechen in einer Armee obliegt den Befehlsgebenden, deren Sold ja auch viel höher ist. Offiziere kann man anklagen, Soldaten nicht. Nun ist der Rostocker verwirrt: Anstiftung ist Mord, die Ausführung aber nicht.

Zu dumm, dass er selbst Offizier gewesen war. Ihm kommt die alte Idee, seine Tat als Ausführung nach einem Befehl zu benennen, die ihm eine Stimme gegeben habe. Er habe auf Befehl einer Stimme gehandelt, wäre das eine gute Ausrede?

Er weiß, eine Ausrede ist immer nur dann gut, wenn sie einfach und logisch ist. Er wird vielleicht sagen, die Stimme Erich Honeckers habe ihm befohlen, er habe gehorcht, das Mädchen tue ihm leid; »Rot Front, Genossen!«

Jetzt grinst er.

Er hört Sirenen, er sieht Blaulicht durch den Wald hetzen. Der Rostocker erhebt sich, er geht am Zoogelände vorbei den Dr.-Lorenz-Weg entlang. An der Haltestelle Thierfelderstraße steigt er in die erste Straßenbahn, um am Bahnhof umzusteigen. Er wird sich nicht auf geistigen Schwachsinn berufen, er wird sich ein vernünftiges Alibi besorgen, er weiß durch einen Grenzkameraden von einem Kieler, der eine praktische Agentur hat; eine für wasserdichte Alibis. Er muss Kontakt zu diesem Fremden in Kiel aufnehmen. Der wird ihm helfen. Der wird sein Motiv verstehen.

Er denkt: ›Ganz recht, die Polizei kennt immer nur die unteren Garden der Verbrecher. Die erste Garde kennt sie zwangsläufig nicht, denn sonst wäre sie ja nicht die erste Garde.‹

-3-

Privatdetektiv Pawel Höchst sah sich die Ginflasche genauer an, nachdem er den Auftrag übernommen hatte. So ganz richtig war die Information seines Klienten, Privatmann Pawel Höchst, nicht gewesen, denn es fand sich ein Impressum auf der Flasche: Conrad Zöllick. Spirituosenvertrieb, Jürgenshagen. Daneben stand: Eine ausgewogene Komposition, welche von Gurke und Rose geprägt ist. Unterstützt wird der Rostocker Stadtbrand Gin von einem dezenten Hauch von Limette. In der Flasche befanden sich siebenhundert ml zu einundvierzig Vol.-Prozent. Pawel Höchst fand die ganze Rückseite des Etiketts verdächtig. Lange grübelte er, warum, ehe er sich dann an Kevin Hilbig erinnerte und dessen Sichtweise einnahm. Mit einem Mal war ihm klar, dass es sich hier um eine gänzlich verunglückte Satzkonstruktion handelte. Hier hatte wahrlich kein Wortkünstler gehandelt, allenfalls ein Ginkenner.

Noch mysteriöser wurde ihm die Sache, als er sich erinnerte, dass sein Klient, Privatmann Pawel Höchst, angedeutet hatte, er habe die Flasche in der Edekafiliale in der Hermannstraße gekauft, die bekanntlich von einem Herrn Zöllick geleitet wurde, wie es groß über dem Gebäude, aber auch auf den Filialbeuteln stand. Edekamärkte Zöllick gab es gleich dreimal: in Schwaan, in Neukloster und im Rostocker Bahnhofsviertel.

War Pawel Höchst hier unerwartet einem Wirtschaftsverbrechen auf die Spur gekommen? Er drehte die Flasche um und plante einen unauffälligen Filialbesuch. Er musste eine der Mitarbeiterinnen über diese eigenartige Ginaktion ausfragen. Er musste sich als Kunde tarnen. Zugute kam ihm ja, dass er mittlerweile zu einem stadtbekannten Ginkenner geworden war, der fast so berühmt wie sein Klient war.

Er sah sich die Vorderseite der Flasche am Edekaregal genau an. Das Etikett war weiß, als eine Art gedruckter Scherenschnitt reihten sich am unteren Rand all die Rostocker Sehenswürdigkeiten aneinander; frei nach dem Motto: Je mehr, je besser. Es ging vom Leuchtturm Warnemündes über den Teepott, dem Kröpeliner Tor, den Gebäuden der Langen Straße, auf die die Breite Straße auslief, dem Rathaus, der Kirche am Alten Markt und zwei weiteren Gebäuden der Langen Straße zum Steintor, über dessen Spitze zu lesen stand: Edition: 1. Flasche Nummer: 230, wobei diese Nummer in einer flüchtigen Handschrift aufgetragen worden war. Die Frage stand unmissverständlich im Raum, die Zweihundertdreißig wovon? Über diesem Eintrag fand sich in einer Art Ritterschild die Jahreszahl 1677. Oder sollte es heißen, dass es sich hier um die zweihundertdreißig von tausendsechshundertsiebenundsiebzig handelt? Fest stand, dass das Großereignis, dass diesem Gin seinen Namen gegeben hatte, im Jahr sechzehnsiebenundsiebzig stattgefunden hatte.

Es war ein gigantischer Rostocker Stadtbrand gewesen, der sogar die Verwüstungen aus der Hitlerzeit in den Schatten stellte, und jetzt erst entdeckte Pawel Höchst, dass sich zwischen dem R und dem A eine Lücke fand. Der Schnaps könnte also auch heißen: ROSTOCKER STADTBR AND GIN. Auf dem Schraubverschluss fand sich der Code L 334 5 und auf dem Flaschenboden HG 22 0,7 L 45 MM. Nie im Leben, durchfuhr es Pawel Höchst, könnte das die Pistolentasche einer Fünfundvierziger sein. Er konzentrierte sich auf den Code, den er nun vor sich hatte. Wenn man das Verständliche wegließ, dann hatte man wahrscheinlich eine BIC: ST ADT BR AND L 334 5 HG 22.