Rot für Rache - Jari Järvelä - E-Book
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Rot für Rache E-Book

Jari Järvelä

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Beschreibung

Die junge rebellische Sprayerin Metro ist nach einem dramatischen Zusammenstoß mit dem Sicherheitsdienst aus ihrer finnischen Heimatstadt Kotka nach Berlin geflohen. Sie lebt mit einigen Freunden illegal auf dem Dachboden eines abbruchreifen Hauses, in dem sich vor vielen Jahren bereits der legendäre Street-Artist Banksy mit einem riesigen Wandbild verewigt hat. Doch weder Metro noch ihre Freunde ahnen, dass es jemanden gibt, der aus reiner Profitgier längst ein Auge auf Banksys Kunstwerk geworfen hat. Jemand, der nicht davor zurückschreckt, für sein spektakuläres Vorhaben auch über Leichen zu gehen…

Der zweite Teil der finnischen Thriller-Serie mit der todesmutigen Sprayerin Metro ist ein atemloses Drama um Freundschaft, Vergeltung, den Preis der Kunst und den des Lebens.

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Seitenzahl: 318

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem TitelTyttö ja rotta bei Tammi, Helsinki. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Dieser Roman ist reine Fiktion.Etwaige Ähnlichkeiten mit realen Personen und Gegebenheiten wären rein zufällig.

1. AuflageCopyright © 2015 by Jari JärveläPublished in agreement with Stilton Literary Agency, FinlandCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by carl‘s books, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-18674-6V001www.carlsbooks.de

Imagine a city where graffiti wasn’t illegal … and stop leaning against the wall – it’s wet.

Banksy

I Die Eisratten

Minus 24 Stunden

In dem rumpelnden S-Bahn-Waggon war ich mit meinen vier besten Freunden unterwegs. Meinen einzigen Freunden. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden würden zwei von uns tot sein und die Dritte mit einem kaputten Bein auf dem Asphalt liegen.

Diese Dritte würde ich sein.

Wir waren bereit zuzuschlagen, hatten uns in dem nach Knoblauch stinkenden Waggon verteilt. Zwei Stationen noch, signalisierte uns Verboten, wie sich mein Kumpel nannte, unauffällig, indem er sich an der Schläfe kratzte.

Die Nacht begann dem Tag zu weichen.

Verboten hielt einen Regenmantel in den Armen und lehnte gegen die Stirnwand des Waggons, damit wir ihn jederzeit sehen konnten. Er hatte versprochen, uns im entscheidenden Moment ein Zeichen zu geben. Er las in einem Buch, blickte manchmal auf, wenn der Waggon ruckelte, checkte die Strecke, feuchtete dann den Finger an und blätterte um.

Ein aufmerksamer Beobachter hätte an ihm gleich zwei seltsame Dinge bemerkt: Warum schleppte diese rotwangige Vogelscheuche an einem Sommermorgen einen Regenmantel mit sich herum, obwohl für diesen Tag mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit ein wolkenloser Himmel und der Beginn einer Hitzewelle vorhergesagt gewesen waren? Und zweitens: Wie konnte dieser Mann ein Buch lesen, das er verkehrt herum hielt?

Und noch etwas: Wieso trugen fünf Fahrgäste ein Shemagh, ein Palästinensertuch, um den Hals?

Verboten hätte ohnehin nicht lesen können, denn er hatte seine Brille zu Hause vergessen. Er war nervös. Der Streckenabschnitt war neu für uns, und es ist was anderes, im Hellen zu operieren als in der Nacht. Das hier war unser erster Einsatz bei Tag. Unbedingt notwendig, hatte Verboten erklärt: Wir bräuchten Material, das bei Licht entstanden sein müsste. Deshalb waren wir Kinder der Nacht jetzt bei Tagesanbruch unterwegs.

Der Regenmantel war sein Deckmäntelchen. Unter dem raschelnden Stoff verbarg sich ein spitzköpfiger Steinmetzhammer.

Beim Einsteigen hatte Verboten einen schwarzen Aufkleber auf die Linse der Überwachungskamera gedrückt – mit einem flinken Daumendruck, schneller als Klitschkos rechte Gerade.

Schwarze runde Aufkleber hatte jeder von uns in der Tasche. Sie waren in unserem Job so unentbehrlich wie für einen Kaufmann die Kugelschreiber in der Brusttasche.

Ich betrachtete die unschuldigen Menschen auf den Bänken, die nicht ahnten, was gleich passieren würde.

Das Paar, das mir gegenübersaß, stritt sich so heftig, dass die Sitzbank zitterte. Die Frau – sehr schmales Gesicht – hatte soeben angekündigt, sie werde sich das schulterlange Haar raspelkurz scheren, und jetzt protestierte der Mann vehement und verlangte stattdessen, sie solle sich die Haare bis zum Steißbein wachsen lassen. Die beiden glotzten einander unterkühlt an wie Flundern im Winterschlaf. Dann wieder deuteten sie mit der Hand die entsprechende Haarlänge an, als ginge es darum, ein Metermaß neu zu kalibrieren.

Neben mir hockte ein ungefähr sechzigjähriger Typ mit hohlen Wangen, dessen Beine so kurz waren, dass seine Füße ein paar Zentimeter über dem Boden baumelten. Auf dem Kopf hatte er ein moosgrünes Käppi ohne Krempe, dafür aber mit einer schwarz-weißen Feder. Bestimmt hatte Robin Hood bei seinen Abenteuern im Sherwood Forest auch so eins getragen. Statt geschnitzter Pfeile aus Eibenholz schoss der Hohlwangige Kugeln auf den Boden, die er aus seiner Nase gepult hatte.

Was würde wohl in seinem Nachruf stehen, wenn der Zug jetzt entgleiste?

ERWAREINMANN, DERINDENLETZTENMINUTENSEINESLEBENSMITPOPELNUMSICHSCHOSS.

Der Zug bremste und hielt an der nächsten Station. Niemand stieg aus, aber eine Mutter mit Kinderwagen kam rein.

Beschissene Wahl, dieser Waggon. Aber davon ist das Leben voll. Für solche falschen Entscheidungen könnte man sich ohrfeigen – und bei den allerschlechtesten begreift man nicht mal, dass man sie getroffen hat.

Verboten machte der Mutter Platz, trat einen Schritt beiseite und hielt sich an der Haltestange fest.

Unmittelbar bevor die Schiebetüren zugingen, sprang noch eine Polizistin in den Waggon. Gähnend ließ sie sich auf die Bank neben mir fallen. Ich presste die Knöchel fester um die Stofftasche zwischen meinen Füßen.

Prüfend sah ich Verboten an, der sich auf sein kopfstehendes Taschenbuch konzentrierte.

Der Zug beschleunigte, Hochhauswände sausten draußen an uns vorbei. Wenn ich die Augen leicht zusammenkniff, verwandelten sich die Straßenlaternen in ein endloses Perlenband.

Workuta saß zwei Reihen von mir entfernt. Hinter ihm mimte Aljoscha den müden Pendler. Beide sahen Verboten hinter dem Rücken der Polizistin kopfschüttelnd an.

Verboten tat so, als hätte er es nicht gesehen. Er blätterte um und streckte dabei kurz den Zeigefinger. Nach der nächsten Station.

Der Zug war halb leer, die Frühschichtler standen noch zu Hause vor dem Spiegel, putzten sich die Zähne oder drückten Pickel aus.

Die Polizistin gähnte und musterte säuerlich den Streckenplan über ihr, als wäre es ihr Steuerbescheid. An ihrem Gürtel hing eine Pistole. Das Lederholster war am Rand verschlissen, als hätte diese Bullenschnalle echt fleißig geübt, die Waffe zu ziehen.

Der Zug hielt an der nächsten Station. Ich ballte die Fäuste so fest, dass die Knöchel weiß wurden – näher an ein Gebet kam ich nicht ran –, und hoffte, die Polizistin würde aussteigen.

Doch sie band sich bloß die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz und blieb.

Ein zweiter Bulle sprang rein, ein Mann. Er steuerte auf seine Kollegin zu und setzte sich neben sie.

Ich schnitt eine Grimasse in Verbotens Richtung. Inzwischen hatte er das Buch zugeklappt und studierte andächtig den hinteren Einbandtext, als stünden dort ein paar lang verschollene Zeilen des Vaterunsers. Den Regenmantel hatte er sich unter den Arm geklemmt.

Ich schwitzte wie in der Sahara, obwohl durch die einen Spaltbreit geöffneten Fenster kühle, nach Koks riechende Tunnelluft in den Wagen strömte. Das Kunstlederpolster unter meinem Hintern fühlte sich klitschnass an.

Als die S-Bahn aus dem Bahnhof fuhr, entdeckte ich im Beton der Lärmschutzwand erst ein tiefes Loch, dann schimmerte in diesem Loch ein gelber Fleck, als hätte irgendjemand es geschafft, mit einer Hacke einen Goldklumpen aus der Wand zu hauen.

Sowie die S-Bahn sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, war Workuta aufgestanden und im Durchgang auf Verboten zugetreten. Sie zischelten leise miteinander – bis Verboten urplötzlich die Notbremse zog. Obwohl ich auf den Halt gefasst gewesen war, kam er doch so überraschend, dass ich auf das streitende Pärchen geschleudert wurde. Der Mann hatte gerade die Haare seiner Freundin gepackt und riss ihr, als er von seinem Platz rutschte, ein ganzes Büschel aus. Damit war der Streit um die Haarlänge wohl entschieden. Das Mädchen schrie vor Schmerz laut auf.

Die beiden Bullen waren ebenfalls vom Sitz gekippt. Er hatte sich den Kopf an der Haltestange angeschlagen, hockte jetzt auf allen vieren auf dem Boden und hielt sich die Schläfe.

Als ich auf den Gang stolperte, hatte Verboten schon die Waggontür aufgestemmt. Ich war die Letzte, selbst Gänsesäger war vor mir rausgeschlüpft. Im nächsten Moment schlug Verboten mit seinem Hammer zehn Zentimeter lange Stahlkeile so unter die Tür, dass zwischen den beiden Hälften ein faustbreiter Spalt offen blieb. Solange die Keile sie fixierten, würde die Tür weder auf- noch zugehen. Verboten eilte bereits weiter und trieb Keile in die anderen Türen, damit man auch die nicht von innen aufschieben konnte.

Und Gänsesäger filmte.

»Shemagh«, sagte er, und ich schob das Tuch höher und wickelte es mir so um den Kopf, dass von meinem Gesicht nur noch ein millimeterbreiter horizontaler Spalt in Augenhöhe zu sehen war. Dann streifte ich Latexhandschuhe über.

Solange auch nur eine Tür einen Spaltbreit offen stand, konnte der Zug nicht weiterfahren, das verhinderte das Sicherheitssystem.

Die S-Bahn hatte vier Waggons. Ich war für die Seiten zuständig, Aljoscha und Workuta besprayten den Rest. Verboten hatte die Aufgabe zu verhindern, dass Leute ausstiegen, und Gänsesäger sollte die ganze Aktion filmen.

Ich begann mit dem Wagen, in dem ich gerade noch gesessen hatte: ein stahlblaues Zickzack, weiße Schneeflecken, und in die Mitte kam mit schwarzer Farbe:

ICE RATS

Ich bemalte die Fenster, verdeckte die Gesichter der Gaffer mit eiskalt schimmernder Farbe. Irgendjemand knipste mit dem Handy.

Ich zog mein Tuch höher und sprayte das Fenster zu.

Die Polizistin hämmerte von innen gegen die Scheibe. »Aufhören!« Von mir aus konnte sie befehlen, was sie wollte.

»Zwei Minuten«, verkündete Verboten.

Die Sicherheitsleute würden innerhalb von fünf Minuten aufkreuzen. Wir würden es in vier Minuten schaffen müssen.

Ich schleuderte die leere Dose neben das Gleis. Die Zeit war zu knapp, um nachzusehen, wie die anderen vorankamen. Ich nahm mir eine neue Dose Blau, die andere Hand versprühte weiße Farbe, ich malte mit beiden Händen gleichzeitig.

Die Bahn verwandelte sich nach und nach in einen großen Eisblock.

Irgendwer packte mich bei der Schulter, als ich gerade beim letzten Fenster war. Die Polizistin hatte ihren Arm durch die schmale Öffnung zwischen den Türen gezwängt, ihre Finger krallten sich in meine Schulter wie ein Schraubstock.

»Du bist verhaftet«, sagte sie.

Ich drückte auf den Sprühknopf, das Gesicht der Frau färbte sich blau, und sie ließ los. Ihre Hand tastete nach der Pistole am Gürtel.

»Eine Minute«, rief Verboten.

Ich nahm eine neue Dose zur Hand.

Mit einem Feuerlöscher wäre es schneller gegangen, aber das Resultat wäre unsauber gewesen. Und es war schwierig, mit Farbe gefüllte Feuerlöscher im Zug zu transportieren, ohne dass sie Sicherheitsleuten oder Polizisten auffielen.

»Die Wachmänner!«, rief Workuta. »Ich seh sie!« Er sprang vom letzten Waggon.

Sie näherten sich längs der Gleise vom Bahnhof her. Sie hatten einen Hund dabei, der an der Leine zerrte und die Zähne fletschte wie Höllenhund Zerberus.

Ich hab Angst vor Hunden. Als Kind bin ich mal von einem gebissen worden, und der Besitzer hatte nur eine Sorge: ob es den perfekten Zähnen seiner getrimmten Bestie geschadet hatte, in schwarze Haut zu beißen.

»Go, go, go, go!«, brüllte Verboten. Gänsesäger ging als Letzter, filmte erst die näher kommenden Sicherheitsmänner. Zum Schluss machte er noch eine lange Panorama-Aufnahme des bemalten Zugs. Das hier war keine normale, rot-beige S-Bahn mehr, der Zug sah jetzt aus wie ein Eiszapfen, der sich in die Berliner Stadtlandschaft verirrt hatte und im blassen Morgenlicht funkelte wie die Schneefelder Lapplands.

Ich lief am Führerstand vorbei. Aljoscha hatte die Fenster des Lokführers zugesprayt und mit schwarzer Farbe ein Rattengesicht mit spitzer Schnauze aufgemalt.

»Eisratte«, juchzte er. »Forrrever!«

Der Schäferhund kläffte wie verrückt, die Sicherheitsleute brüllten und befahlen uns, stehen zu bleiben.

Wir stürmten über die Gleise zur Brücke, links sah ich Halbzombies in korrekten Hemden, die mit Bechern in den Händen aus dem Eckcafé kamen. Verschlafen, langsam, mit schlaffen Wangen, von Alltagssorgen niedergedrückt, ohne den Puls und das Zischen des Lebens zu kennen.

Verboten schloss zu mir auf.

»Nicht so weit in der Mitte, da läuft der Strom«, keuchte er.

Verboten setzte sich an die Spitze, er hatte unsere Fluchtroute geplant. Er war ausgebildeter Elektriker und zeigte uns, wohin wir treten sollten. Auf der Mitte der Brücke wirkte er wie eine Figur aus einem alten Videospiel, in dem man von einem Stein zum anderen hüpfend einen Fluss überqueren muss, während ein uniformierter Gorilla mit Felsblöcken nach einem wirft.

Die Sicherheitsleute waren am Ende der Brücke stehen geblieben. Aus Angst vor einem Stromschlag trauten sie sich nicht weiter.

Wir überquerten auf den Gleisen den Fluss, kletterten die schmale Leiter am Stahlträger nach unten, schlängelten uns durch das verwinkelte Lagergelände und stiegen dann in eine vorbeifahrende Straßenbahn. Die Shemaghs hatten wir inzwischen abgenommen und in unsere Taschen gestopft.

»Du bist ganz rot«, sagte Aljoscha zu mir. »Hattest du Angst?«

»Du bist höllisch blass«, gab ich zurück. »Hattest du Angst?«

»Ich bin immer blass«, murmelte er.

Wir stiegen an der Endhaltestelle aus und liefen noch etwa zehn Minuten weiter bis zu einem Haus, dem ein Teil der Stirnwand fehlte. In der Brandmauer klaffte ein großes Loch, als würde die Wand schreien. Durch das Loch konnte man eine Kloschüssel und ein Wasserrohr erkennen, das vom Klo ausging und in fünf Metern Höhe aufhörte.

Mit dem Abbruch des Wohnhauses war bereits vor einiger Zeit begonnen worden. Die Abrissbirne war schon durch die Luft gependelt, und noch während die Bagger weiterschrotteten, hatten zwei mit Aktenköfferchen bewehrte Männer überraschend ein Abrissverbot gebracht. Die einstweilige Verfügung, die irgendeiner von Verbotens Bekannten erwirkt hatte – ein Jurist mit Anarchistenvergangenheit –, stützte sich auf die Behauptung, im Keller des Hauses seien seltene frühmittelalterliche Artefakte aus dem zehnten Jahrhundert gefunden worden, einer Zeit, als die Stadt nach heutigem Kenntnisstand noch gar nicht existiert hatte, und nun müssten archäologische Grabungen durchgeführt werden. Der Abriss war vorläufig unterbrochen worden, zwei Drittel des Hauses sollten bis zum Abschluss der Gerichtsverhandlung stehen bleiben.

An den künftigen Bebauungsplan erinnerte derzeit nur das leere Grundstück hinter dem Haus, auf dem großflächig für ein modernes Bürogebäude mit Glasfassade geworben wurde. Auf der anderen Seite unseres Hauses ragte ein alter, hoher Speicher auf, an dem die meisten der winzigen Fensterscheiben eingeschlagen waren. Die Risse in den Backsteinwänden waren voller Schwalbennester. Vom Brutgeschäft der Vögel einmal abgesehen, tat sich in dem Speicher praktisch nichts.

Unser Haus war für unbewohnbar erklärt worden.

Das Projekt lag jetzt bereits seit acht Monaten auf Eis, und in dieser Zeit waren die letzten dort gemeldeten Hausbewohner ausgezogen, weil das Wasser abgestellt worden war. Der Strom funktionierte nur zeitweise.

Unser Reich war der Dachboden oder vielmehr das, was davon übrig war. Weiter unten kampierten in ein paar leeren Wohnungen Junkies und Leute ohne gültige Papiere. Im ersten Stock reihten sich leere Geschäftsräume aneinander. An die hochfliegenden Träume erinnerten nur noch die Messingschilder am Eingang. Im Massagesalon »Kleiner Himmel« hatte sich das Polster der Massageliege in eine Mäusesiedlung verwandelt. Aus der Matratze klang pausenlos schrilles Fiepen.

Die oberen Etagen hatten unter dem unterbrochenen Abriss am stärksten gelitten.

Das Schloss an der Haustür war kaputt. Im Treppenhaus hatte man ein orangefarbenes Plastiknetz zwischen Eisenstangen gespannt, das den Zugang verhindern sollte. Die Treppe nach oben war mit quer genagelten Planken versperrt. Daran war ein Schild befestigt, auf dem in drei Sprachen stand:

VERBOTEN! EINSTURZGEFAHR!

Von diesem Schild hatte Verboten seinen Namen.

Minus 19 Stunden

Ich lag auf der durchgelegenen Matratze, Gänsesäger hockte mit Aljoscha vor den Computern. Es waren zwei. Verboten hatte die Röhrenmonitore und die Rechner aus dem Müllcontainer eines Bürozentrums gezogen, als die Firmen ihre Ausstattung erneuert hatten. Zwei Pappkartons hatten Motherboards, Grafikkarten, Festplatten, USB-Sticks und haufenweise Ersatzteile für geschickte Tüftler enthalten.

Als Computertisch diente eine auf Backsteinstapeln liegende Tür, deren Griff zwischen den Monitoren aufragte. Um die Klinke hatten Gänsesäger und Aljoscha die auf dem Tisch herumliegenden Kabel gewickelt. Auf eine der Holzkassetten war eine weinende Löwin aufgemalt worden, die von Pfeilen durchbohrt wurde.

Das Löwenbild war schon da gewesen, als wir nach Berlin kamen. Gänsesäger und Aljoscha hatten ihre Arbeitsecke entsprechend »Löwentöter« getauft. Ich hatte verwundert gefragt, was zum Teufel dieser Name mit uns zu tun hätte, und Aljoscha hatte erklärt, in der Welt herrsche nicht Demokratie, sondern Plutokratie: Die Macht liege in den Händen des reichsten Bevölkerungsteils. Die Erde sei ein an Macht- und Geldgier erkranktes Raubtier, auf das Gänsesäger und er von ihrem Tisch aus Videos abzuschießen gedächten wie heilsame Pfeile.

Ich kraulte die Barthaare der Löwin und beobachtete eine Weile den tickenden Zähler. 57 000 Klicks.

Gänsesäger hatte das Video noch in der Straßenbahn bearbeitet und dann auf YouTube hochgeladen, sobald wir den Dachboden erreichten.

Unsere Viererclique war vor anderthalb Monaten nach Berlin gekommen. Ich, Gänsesäger, Aljoscha und Workuta.

Davor hatten wir wochenlang in der ukrainischen Geisterstadt Prypjat gewohnt, ganz in der Nähe des explodierten Kernkraftwerks von Tschernobyl. Die Stadt war für unbewohnbar erklärt worden, auch dort war der Zutritt VERBOTEN! Es hatte sich dort allerdings gut leben lassen.

Ich hatte dort ein Piece zur Erinnerung an Rust gemalt, Gänsesäger hatte verlassene Räume fotografiert. Aljoscha und Workuta waren ihrer eigenen Wege gegangen. Sie waren schon früher mehrmals in Prypjat gewesen. Wir hatten Stockmorcheln gegessen, die Aljoscha und Workuta gesammelt, Hasen, die sie erlegt hatten, und Hechte, die ihnen ins Netz gegangen waren. Ein paarmal hatte Workuta uns Rattensteaks serviert, aber bei denen hatte ich dann doch abgewinkt und lieber meinen knurrenden Magen ertragen. Nachts hatte ich manchmal das Gefühl gehabt, auch ohne Geigerzähler zu rattern.

Einmal hatte ich Gänsesäger in irgendeine verlassene Wohnung in Prypjat begleitet und in einer Zeitung geblättert, die vor fast dreißig Jahren auf dem Tisch zurückgelassen worden war. Auf einem vergilbten Foto warf sich ein Torwart zur Seite, um den Ball abzuwehren. Hatte es ein Tor gegeben oder nicht? Ich wusste es nicht, Kyrillisch konnte ich nicht lesen.

Die Tage waren länger geworden, und als ich das Piece, das über volle drei Wände ging, endlich fertig hatte, war ich von Zeit zu Zeit auf das Dach des Hochhauses geklettert, hatte auf dem heißen Beton gelegen und den Schwalben zugeschaut. Durch das Dach zogen sich Risse, und die höchsten Birken, die dort wuchsen, maßen zehn Meter. Der Schutzmantel aus Stahlbeton, der um den zerstörten Reaktor gelegt worden war, leuchtete am Stadtrand wie ein Wal, der sich aus dem Wasser hob.

Dann verkündete Workuta eines Tages, wir müssten abreisen. Demnächst werde ein Trupp Soldaten eintreffen und die Stadt durchkämmen. Die Information sei zuverlässig, und wenn wir gefunden würden, erwartete uns entweder Gefängnis oder eine Kugel. Den größten Teil unserer Sachen mussten wir zurücklassen und so eilig abhauen, wie die vorigen Bewohner vor der Strahlung geflohen waren.

Gänsesäger schlug Berlin vor. Er hatte dort einen alten Bekannten – Verboten –, der angeblich immer »neue interessante Projekte« in der Mache hatte.

Wir hatten praktisch keine Wahl. Workuta tigerte in einem fort im Kreis herum, Aljoscha hatte auf dem Dach, wo ich mich früher gesonnt hatte, Posten bezogen und spähte zum Horizont.

Der Zug spuckte uns um kurz vor Mitternacht am Berliner Hauptbahnhof aus. Die komplizierte Reise von Prypjat nach Berlin hatte vier Tage gedauert, zuletzt hatten wir in Warschau umsteigen müssen. Von dort aus hatte Gänsesäger Kontakt zu Verboten aufgenommen. Auf dem letzten Teil der Strecke hatte ein Rad an unserem Waggon blockiert, und wir waren funkensprühend durch die östlichen Berliner Vororte gesaust.

Gänsesäger hatte einen Zettel mit der Adresse bei sich. Wir brauchten fast die halbe Nacht, um das in Trümmern liegende Wohnhaus zu finden, in dem Verboten kampierte. Maßstäbe gehörten nicht zu Gänsesägers Stärken. Er hatte anhand des Stadtplans geschätzt, wir wären zweihundert Meter vom Ziel entfernt. Meine Beine hatten sich da schon angefühlt wie bei einem Marathon. Nachdem wir mehr als zwei Stunden marschiert waren, präsentierte Aljoscha uns unter einer Straßenlaterne die Blasen an seinen Füßen, während Nachtfalter um den Lichtkegel flatterten.

An der Häuserecke hingen Typen im Pillenrausch ab, die größte Schwierigkeiten hatten, sich auf den Beinen zu halten. Trotzdem forderten sie Geld von uns. Einer schwenkte eine dreckige Nadel und drohte, uns alle mit AIDS anzustecken, wenn wir nicht mit unserem Zaster rausrückten.

Wir schafften es, uns an ihnen vorbei ins Treppenhaus zu quetschen. Der Typ mit der Nadel lief uns schwankend hinterher. Er rief, wir seien in sein Haus eingedrungen – wenn wir nicht sofort verschwänden, werde er uns totschlagen. Das sei sein gutes Recht, er verteidige nur sein Zuhause.

Wir hatten also gerade einen unserer Nachbarn kennengelernt.

Verboten erwartete uns auf dem Treppenabsatz im ersten Stock, das Gejohle der Junkies im Erdgeschoss war bis hierher zu hören. Unser neuer Vermieter sah furchtbar aus. Seine linke Gesichtshälfte war schlimm verbrannt, die Haut war voller Runzeln und schimmerte, als wäre er vor Scham errötet. Über dem linken Auge hing das Lid herunter, sodass er aussah, als döste er dauernd vor sich hin.

Allerdings war er nicht errötet, und er döste nicht. Er atmete schwer, wie Darth Vader aus Star Wars.

Er führte uns durch verwinkelte Flure und Treppenaufgänge. Bei der letzten Treppe winkte er die anderen durch, befahl ihnen, die Tür zu öffnen und vorsichtig nach rechts zu kriechen. Mich hielt er an. Mich kenne er nicht, sagte er, und er lasse niemanden in seine Wohnung, den er nicht kenne.

Er bat mich, ihm was über mich zu erzählen. Gänsesäger hatte mir im Voraus geraten, meinen Musikgeschmack und meine Lieblingsfarben zu verschweigen und direkt zur Sache zu kommen. Ich räusperte mich und erzählte ihm, ich hätte zwei Menschen getötet.

Dann blickte ich mich um. Ich stand auf der bröckelnden Treppe, Eisenstangen ragten aus dem Beton. Stellenweise bröckelte die Bausubstanz, sodass nur eine halbe Stufe übrig war, darunter ein tiefes schwarzes Loch. Vor die Treppe waren Bretter genagelt, daran hing ein rot-gelbes Band mit der Aufschrift:

VERBOTEN! EINSTURZGEFAHR!

Verboten saß hinter dem Band und baumelte mit den Beinen über dem Loch, das die abgestürzte Stufe gerissen hatte.

In Kotka hatte ich in Karhuvuori gewohnt, einer Siedlung, in der fast jeder Zweite arbeitslos war. Zuerst bei meiner Mutter, dann zusammen mit Rust. Rust und ich hatten in einem gelblichen Mehrparteienhaus gewohnt, in dem die Wände so dürftig isoliert gewesen waren, dass man von der einen Seite das Gezänk des Nachbarpärchens hörte und von der anderen die Fingerübungen eines jungen Gitarristen, der noch auf der Suche nach seiner Virtuosität war. Beides früh um vier. Mich hatte das selten gestört. Um diese Uhrzeit war ich entweder beim Sprayen gewesen oder hatte die Post ausgetragen.

Im Vergleich zu Verbotens Zuhause erschien mir unser Haus in Karhuvuori in der Rückschau wie ein Palast. Immerhin hatten dort noch alle Außenwände gestanden. Bei diesem Haus fehlte die Stirnwand komplett, und die Abrissbirne hatte bereits Stücke aus den Böden gerissen, sodass man, sobald man eine x-beliebige Tür öffnete, nie wusste, ob man eine Diele betreten oder zehn Meter in die Tiefe fallen würde. Auch ein Teil der Treppe und der Innenwände war zerschlagen.

Neben mir klaffte ein offener Aufzugschacht, die Fahrstuhlkabine war nirgends zu sehen. Nur abgerissene Enden von Stahlseilen schaukelten sacht im Luftzug, der durch den Schacht fuhr.

»Erzähl mir von deiner Familie«, unterbrach Verboten die Stille. »Hast du die auch umgebracht?«

»Meine Mutter wohnt immer noch in Kotka. Sie liest leichtgläubigen Idioten am Telefon die Zukunft aus den Karten. Oder sie füllt Leitungswasser in Flaschen ab, mischt Wasserfarbe und Oregano darunter und preist das Zeug als Heilwasser gegen den Krebs an. Sie glaubt sogar selbst daran. Von meinem Vater hab ich nichts mehr gehört, seit er aus Finnland geflohen ist, weil sie ihn dort zu oft als Neger beschimpft haben. Er war ein Feigling.«

»Du bist doch auch geflohen«, entgegnete Verboten. Ich spürte sein Starren sogar durch das hängende Augenlid hindurch.

»Stimmt«, murmelte ich.

»Also bist du auch ein Feigling«, sagte Verboten.

»Scheiße, Mann, warum hast du mich auf dem Kieker?«, fauchte ich. »Ich hab’s nicht nötig, in diese Scheißabsteige zu kommen und mir dein Gelaber anzuhören. Ich bin hier, weil Gänsesäger mich darum gebeten hat. Dem vertraue ich, dich kenn ich überhaupt nicht. Ich hab seit vier Tagen nicht mehr richtig gegessen, ich musste in versifften Zügen sitzen, wo einem die Beine einschlafen und der Rücken wehtut, und das Abteil stinkt nach Knoblauch und Fußschweiß, und wenn man umsteigt, landet man immer wieder in demselben Mief aus Knoblauch, Fußschweiß und Pisse, das ist bestimmt irgendein Putzmittel für Züge. Und weißt du was? Im Vergleich zu deiner Bruchbude waren diese Züge noch Sechs-Sterne-Hotels.«

Verbotens Mundwinkel zuckten, doch sein Gesicht war von den Brandnarben so entstellt, dass ich unmöglich hätte sagen können, was das Zucken bedeutete.

Er stand auf. Erst jetzt merkte ich, dass er ein altes Schwert in der Hand hielt. Er hob es hoch und legte mir die Klinge erst auf die eine, dann auf die andere Schulter.

»Metro, hiermit schlag ich dich zur Ritterin der Eisrattenburg. Du darfst niemandem verraten, wo sich diese Burg befindet, und du musst sie bis in den Tod vor Eindringlingen und feindlichen Angriffen schützen.«

»Das hier ist ein Wohnhaus«, sagte ich. »Eine beschissene, einstürzende Bruchbude.«

Verboten antwortete nicht. Stattdessen ging er die löchrige Treppe hoch und blieb oben an einer Tür stehen, vor die das gleiche rot-gelbe Absperrband gespannt war wie vor die Treppe.

VERBOTEN! EINSTURZGEFAHR! VERBOTEN!

»Dein Name steht an der Tür«, sagte ich. »Kriegst du viel Post? Ist Einsturzgefahr dein Vorname? Wer hatte die Idee, dich so zu nennen, deine Mutter oder dein Vater? Einsturzgefahr Verboten.«

Ich hätte die Klappe halten sollen, aber Verboten hatte es geschafft, mich wütend zu machen. Er antwortete auch diesmal nicht.

Vor der Tür war ein Riegel befestigt, den Verboten jetzt auffummelte.

»Geh sofort nach rechts, wenn du reinkommst«, sagte er. »Falls du reinkommst.«

Er schubste die Tür ein Stück weit auf. Ich zögerte einen Moment, dann setzte ich ihm mit langen Schritten nach. Jenseits der Schwelle war kein Fußboden mehr, beinahe wäre ich ins Leere gestürzt.

Minus 16 Stunden

Ich nagte an einem belegten Brötchen. Das Salatblatt sah aus, als wäre es zuvor unter die Räder geraten. Auf dem Teller lagen ähnliche schwarze Punkte wie auf dem Salatblatt – einer krabbelte weg, als ich ihn mit der Fingerspitze anstupste.

An die Fensterscheibe neben mir hatte jemand fettige Handabdrücke gepatscht. Durch sie hindurch betrachtet, sah die sonnengeflutete Straße aus, als läge sie in dichtem Nebel.

Ich saß in einem Imbiss einige Blocks von der Eishöhle entfernt und frühstückte. Es war schon Mittag. Keiner von den anderen hatte mich begleiten wollen. Ich kaufte noch drei Kaffees zum Mitnehmen.

Nachdem ich an einem Lagerhaus vorbei zurückgewandert war, blieb ich noch für einen Moment an der Hausecke stehen. Die Sonne brannte auf den Putz, ich genoss die Wärme wie eine Eidechse. Von der Wand krabbelte eine unternehmungslustige kleine Ameise auf meinen Arm, ihre Füße kitzelten mich.

»Wo gibt’s denn hier Kaffee?«

Ich kniff die Augen zusammen. Neben mir war ein weißer Lieferwagen aufgetaucht. Das Fenster war runtergelassen, und ein Ellbogen in grünem Jackenstoff schob sich heraus. Ich versuchte, in den Wagen zu sehen, doch die Sonne blendete mich.

Ich winkte mit der Papiertüte der Imbissstube in die Richtung, aus der ich gekommen war.

»Wie viel?«, fragte der Ellbogen.

»Boah, keine Ahnung, ein paar Euro …«

»Wie viel für eine Runde?«

»Hä?«

»Du kriegst fünfzig. Wenn du uns beide ranlässt.«

»Verpiss dich!«

»Reg dich ab, Schätzchen. Du solltest froh sein, dass dich überhaupt einer will.«

»Auf Nimmerwiedersehen«, sagte ich und kletterte über das orangefarbene Plastiknetz zur Haustür.

»Aber die Kondome musst du selber zahlen«, rief der Typ mir hinterher.

Ich wartete im Treppenhaus, bis der Wagen verschwunden war. Es war bereits das dritte Mal, dass ich den Lieferwagen vor unserem Haus gesehen hatte.

Sorgen hatten uns daneben auch die Drogentypen aus dem Erdgeschoss gemacht, deren wirres Gebrüll manchmal bis zum Dachboden heraufdrang. Auf den Fluren musste man aufpassen, dass einem keiner von diesen Spinnern in den Nacken sprang. Die Junkies waren allerdings vor rund einer Woche verschwunden – und mit ihnen unsere Fahrräder, die uns bei unseren Aktionen echt nützlich gewesen waren. Wir hatten die Räder in der hintersten leeren Wohnung im zweiten Stock aufbewahrt, was wir für ein gutes Versteck gehalten hatten. Aber was immer sich zu Geld machen ließ, fanden diese Drogensüchtigen nun mal schneller als jeder Spürhund.

In die Nähe des Dachbodens hatten sie sich nicht mehr getraut, seit Verboten einen Junkie, der sich bei einer seiner Expeditionen zu weit hinaufgewagt hatte, die Treppe runtergestoßen und gedroht hatte, den Stoff der ganzen Clique gegen Rattengift auszutauschen, sobald sie nur stoned genug wären.

In der Eishöhle hatte Workuta sich zu den beiden anderen am Löwentötertisch gesellt. Gänsesäger und Aljoscha waren immer noch damit beschäftigt, das S-Bahn-Video in unterschiedlich langen Versionen im Netz zu verlinken und zu streuen. Sie hatten ihre IP-Adresse so manipuliert, dass jemand, der sie zu ihnen zurückverfolgte, zu dem Schluss gelangen würde, der Streifen über den bemalten Zug wäre im Bergdorf Orgosolo auf Sardinien hochgeladen worden.

Gänsesäger trug sein Lieblingsoberteil, ein schwarzes SECUNDAS-Shirt. Es war den Hemden des Sicherheitsdiensts Securitas nachempfunden, auf denen drei rote Punkte über dem Firmennamen schwebten. Der SECUNDAS-Schriftzug selbst war in derselben Schrifttype gedruckt. Die beiden äußeren Punkte hatten sich in kleine Pacmans verwandelt, die sich über den mittleren Klecks hermachten.

Ich stellte den dreien ihren Kaffee hin. Nur Aljoscha bedankte sich und lächelte. Workuta und Gänsesäger blickten nicht mal auf.

»Der weiße Lieferwagen war wieder da«, sagte ich.

»Und was wollten sie?«, fragte Workuta, ohne den Kopf zu heben.

»Meine Muschi.«

Ich ließ mich auf die Matratze fallen und lauschte dem Klappern der Tastatur, das stellenweise so klang wie das Schnellfeuer aus einem Maschinengewehr. Aljoscha trat an die Tür und hob den Daumen. Sein blasses Gesicht leuchtete im Gegenlicht wie Phosphor. Er behauptete, er hätte als Kind in Prypjat zu viel Strahlung abbekommen, so ähnlich wie Obelix, der in den Kessel mit Zaubertrank gefallen war. Er wurde nie braun, selbst wenn er den ganzen Tag in der Sonne lag. Allerdings verbrannte seine Haut auch nicht.

Sein Vater war Feuerwehrmann gewesen und beim Reaktorunglück 1986 ums Leben gekommen. Der Vater hatte versucht, den Brand zu löschen, Aljoscha war damals drei gewesen. Er erinnerte sich noch daran, wie er in dem berühmten Riesenrad gesessen hatte – in dem Vergnügungspark, der heute gern auf Fotos die Zerstörungskraft des Kernkraftwerks symbolisierte. Die städtischen Behörden hatten den Park unmittelbar nach dem Unglück eröffnet, damit die Kinder beschäftigt waren und die Familien nicht in Panik gerieten. Die Lage sei unter Kontrolle, sagten sie und verteilten Zuckerwatte. Die Fahrt mit dem Riesenrad war gratis, entsprechend lang die Warteschlange. Aljoscha behauptete, er erinnere sich immer noch daran, wie er seiner Mutter aus schwindelerregender Höhe zugewinkt hatte. Er hatte die Flammen des Reaktors am Horizont gesehen, und seine Mutter hatte ihm erzählt, das sei ein Feuerwerk.

Ich hörte, wie Workuta drüben bei den Computern durch die Zähne pfiff und sich leise mit Aljoscha und Gänsesäger unterhielt. Sie waren verschworen wie Familienmitglieder, und während unserer Wochen in Prypjat hatte ich mich oft ausgeschlossen gefühlt, obwohl Gänsesäger mich einmal als ihr viertes Kleeblatt bezeichnet hatte, als er merkte, dass ich ihnen zuhörte. In Wahrheit war ich ihr Adoptivkind, das sie nur aus Mitleid aufgenommen hatten, weil es von zu Hause hatte Reißaus nehmen müssen.

Ich hatte Workuta einmal gefragt, warum er so schaukelnd ging. Er hatte eine Weile gezögert, bevor er sich zu einer Antwort durchgerungen hatte. Er sprach nicht gerne über sich. Er hatte eine estnische Mutter und einen russischen Vater, wie ich hörte. Ursprünglich hatte er in einer kleinen Siedlung gewohnt, weitab von allen Verkehrsanbindungen. Von einem Freund angestachelt, war er irgendwann in einen riesigen Rangierbahnhof in der Nähe von Sankt Petersburg eingedrungen und auf einen Waggon geklettert, ehe ihn jemand hätte warnen können. Irgendeine Oma mit Kopftuch hatte an der Bahnstrecke gestanden und wie wild gewinkt, doch Workuta hatte sie für eine verrückte Bettlerin gehalten und war weiter über das Zugdach gelaufen, eine Spraydose in der Hand, den Rest im Rucksack. »Ich hätte auf die Oma hören sollen«, sagte Workuta. Durch die Oberleitung liefen fünfundzwanzigtausend Volt, Workuta war vom Zugdach aus drei Meter durch die Luft geflogen und dann mit dem Rücken auf den Schienen gelandet.

Er hatte fünf Tage lang bewusstlos im Krankenhaus gelegen. Als er schließlich aufwachte, war sein Arm mit Handschellen an das Stahlrohrbett gefesselt, und sein Bein hatte in einer Zugvorrichtung gelegen und zur Decke gezeigt. Man hatte ihm einen riesigen Schadenersatz aufgebrummt, nicht für das Bemalen des Güterzugs, sondern weil durch den Stromschlag, den er abbekommen hatte, in halb Petersburg das Licht ausgefallen war. Nachts war der Wachposten vor seinem Zimmer abgezogen worden, man war davon ausgegangen, dass ein gebrochenes Bein und die Handschellen genügen würden. Aljoscha hatte im Nachbarbett gelegen. Die beiden hatten sich auf Anhieb gut verstanden, und Aljoscha hatte schließlich aus der Werkzeugkiste des Hausmeisters zwei Etagen tiefer ein Eisensägeblatt geklaut. Workuta hatte die Bettstange zersägt und war mit gebrochenem Bein aus der Stadt geflohen. Damals hatte es ihn zum ersten Mal nach Prypjat verschlagen. Er hatte zwei Monate dort verbracht. Aljoscha war für sie beide im Fluss angeln gegangen. Irgendwann war er in seine Heimatstadt zurückgekehrt, um zu sterben.

Nur dass er nicht gestorben war. Sein Tumor hatte sich als gutartig erwiesen.

Workutas Bein war indes schief zusammengewachsen. Deshalb hinkte er beim Gehen. Wenn er lief, fiel es weniger auf. Als Workuta mal an einem heißen Tag in Prypjat das Hemd ausgezogen hatte, war ich heftig zusammengezuckt. Er hatte drei Rückgrate: Eins war das echte, das zweite war die breite Narbe, die das Gleis auf seinem Rücken hinterlassen hatte, und das dritte hatte ihm der Stromschlag eingebrannt.

Ich saß auf der Matratze und nähte die aufgerissene Naht meiner Jeans wieder zu. Das fand ich besser als Gänsesägers Methode, die Hose mithilfe von Heftklammern zu flicken. Maschendrahtzäune und verlassene Häuser sind Gift für jedes Kleidungsstück.

Gänsesäger und ich teilten uns auf dem Dachboden ein Zimmer, sofern man eine alte Waschküche als Zimmer bezeichnen kann. An die Blütezeit des Hauses erinnerten nur mehr die großen, leeren Betonbecken und ein Abfluss im Fußboden.

Nachts gurgelte der Abfluss, obwohl im Haus nirgends mehr Wasser lief.

Die Fenster der Waschküche waren schmal und saßen weit oben an der Wand, ließen nur ein kleines Stück vom Himmel sehen. Manchmal war der schmale Streifen blau, manchmal perlgrau. Einmal war ein Blitz durch mein Stück Himmel gezuckt, und die Betonbecken hatten im Donner dumpf gebebt.

Ich stach mir in den Finger, als über mir mit einem Mal ein lautes Pochen ertönte. Ein schiefschnabeliger Spatz morste an die Fensterscheibe: HE, ALTE, KÖRNER! Er schien wohl davon auszugehen, dass ich auf der Stelle dreieinhalb Meter hoch klettern und ihn füttern müsste.

Bis Verboten auf den Dachboden zurückkehrte, waren meine Finger völlig zerstochen und der Lichtkeil der Sonne auf die Seitenwand gewandert: Es war Nachmittag geworden.

Verboten kam und ging ohne jede Erklärung. Wir zahlten ihm Miete, indem wir an den Graffitiaktionen teilnahmen, die er plante.

Außer uns gab es in Berlin noch etwa zehn weitere Teams, die malten, was und wo sie wollten. Wir hatten die Macht zu entscheiden, wie die Stadt aussehen sollte.

Respekt war in der Graffitiszene der Stadt allerdings kaum zu gewinnen. Dabei wollten wir einen möglichst großen Anteil. Das heißt, Verboten war darauf aus, und ich hatte nichts dagegen.

Das größte und prominenteste Team hieß 1UP, One United Power. Sie hatten bereits massenhaft Videos ins Netz gestellt und Reisen durch ganz Europa unternommen, von Lissabon bis Wien, sogar auf andere Kontinente. Zu ihren Spezialitäten gehörte es, in U-Bahn-Tunnel einzudringen und unterirdisch stehende Züge zu bemalen.

Wir waren im Rückstand, weil wir später angefangen hatten, aber Verboten fand, dass wir die attraktivste Story zu erzählen hatten. Während 1UP an tausend Orten drei langweilige Buchstaben hinterließ, hatten wir Schnee und Eis und Ratten. Außerdem lief bei uns jede Aktion anders. Wenn du mal ein Video von 1UP gesehen hast, dann hast du sie alle gesehen. Eine Gruppe von Typen steigt durch eine Luke in einen U-Bahn-Tunnel und besprayt im Dunkeln einen Zug, der gerade nicht im Einsatz ist. Manchmal klettern sie auch über einen Maschendrahtzaun, und irgendwer reißt sich die Hose auf. Nach dem zehnten Video hat man das Gefühl, einer Oma zuzuschauen, die im Schaukelstuhl sitzt und vor sich hin dämmert.

Wie gesagt, Verboten plante unsere Aktionen. Während 1UP geparkte Züge bemalte, brachten wir sie per Notbremse aus voller Fahrt zum Stehen, verkeilten die Türen und malten so lange, bis wir vor Sicherheitsleuten oder Polizisten fliehen mussten. Während 1UP im Dunkeln malte, taten wir es bei Tag.

Das Wichtigste war nicht, den Zug zu bemalen und das Video anschließend ins Netz zu stellen. Das Wichtigste war, wie kaltschnäuzig man dabei war. Jeder x-Beliebige, oder, na ja, vielleicht nicht ganz jeder, konnte einen Zug im Depot oder auf dem Rangierbahnhof bemalen, wie ich es früher auch getan hatte. Den Blicken entzogen.

Wir aber wollten zeigen, dass wir die Besten waren. Nicht schön und reich. Sondern hässlich, dreckig und frech. Wir führten einen Krieg um die Herrschaft über die Stadt und ihren öffentlichen Raum. Und diese Story stellten wir ins Netz.

Die höchste Stelle an einer Wand wird Heaven Spot genannt, Himmelspunkt. Man kann sie nur erreichen, indem man sich mit dem Kopf nach unten über die Dachkante hängt, während ein Kumpel einen an den Beinen festhält. Die Heaven Spots sind in der Stadt am weitesten zu sehen.

Verboten wollte die Bedeutung des Begriffs Heaven Spot erweitern. Ein Heaven Spot war für ihn jedes gottverdammt sichtbare Graffiti. Früher ein Zug, der durch die Stadt fuhr und bei Zehntausenden Reklame für das Team machte, das ihn bemalt hatte. Heutzutage das Video von einer dreisten Aktion, das sich von der Masse abhob und im Netz Abermillionen Zuschauer erreichte.

Verboten hatte geschworen, in ein paar Monaten würden wir nicht nur in Berlin, sondern in ganz Europa und auf der ganzen Welt die Heaven Spots besetzen.

Die Eisratten würden als Elitetruppe der Graffitiszene bekannt.

Die Eisratten waren wir. Wir kamen aus dem Norden und malten in kalten Farben. Verboten war die einzige Ausnahme. Woher er stammte, wusste ich nicht, er behauptete, er sei inzwischen so oft umgezogen, dass er nirgends mehr zu Hause sei. Den Titel Eisratte trage er allerdings gern – schließlich habe er den Namen auch erfunden.

Auch ich war eine Eisratte geworden. Eine Ratte. Obwohl in Kotka einzig und allein die Wachleute, die uns gejagt hatten, Ratten hießen. Hier nannten wir uns Ratten, obwohl wir Street Art machten. Hier stand die Welt irgendwie kopf.

Ich war verdutzt. Schon wieder war der Spatz über mir aufgetaucht und trommelte mit dem Schnabel gegen die Scheibe, es kam mir vor, als wollte er mir Verstand in die Birne hämmern. Du denkst jetzt nicht an Kotka, Metro.

Ich bin jung, frei, und keiner kann mir was. Alle können mir den Buckel runterrutschen. Alle außer meinen Freunden.

Rust hatte ich beinahe vergessen.

Ich hatte beschlossen, Rust zu vergessen.