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Rot E-Book

Jasper Fforde

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Beschreibung

Fünfhundert Jahre nach dem von allen nur als »Etwas, das passiert ist« bezeichneten Ereignis ist eine neue Gesellschaft entstanden. Eine Gesellschaft, in der die eigene Stellung davon abhängt, welchen Teil des Farbspektrums man sehen kann.

Dies ist die Welt, in der Eddie Russett und Jane Grey leben. Jane und Eddie müssen die engen Regeln der Farbpolitik überwinden und die Wahrheit über ihre Welt herausfinden: Was ist sie, wo ist sie, ja sogar, wann ist sie? Während sie die Lügen entlarven, die ihre Existenz bedrohen, kommen sie zu einem beunruhigenden Schluss: Sie sind nicht allein. Jenseits des Meeres ist die Welt überhaupt nicht zu Ende, hier fängt sie womöglich erst an.

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Seitenzahl: 644

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungZitatWillkommen in East CarmineNationalColorMr CelandineDas DorfTommo CinnabarDer Gefallene MannIm ColoriumOberpräfekt deMauveIch werde ein deMauveAnspruchsvolles WohnenMel und das Gyro-BikeDer Große PreisDie Tangerine-SpielerZu Hause bei den deMauvesJane Brunswick in der NachtDas Stück ist allesDie Reise nach NordenCrimsonoliaDas RathausDie Gelben und der TodDer EngelDer BlechmannWieder zu HauseDie AsozialeDie NachbesprechungFrühstückPatrouillen- und SterbedienstDie DisziplinaranhörungDaisy tritt aufNeuer Status, neuer JobViolet spricht KlartextDas PuzzlespielEhemann und EhefrauAlles ist andersSchnurlose TelegrafieDer Revisor-Sichtmeister und das Engel-AnlockenAbendessenDer Jollity-JahrmarktDie Regenbogen-BruderschaftDie SchaustellerzelteErstes TrainingDer Wert von NichtsAuf dem SprungDas Zweiköpfige SchafDer HeroldVerblassendes GelbDas GyroradrennenDie FluchtSchlechte Laune im ZugDie Reise nach Purple RegisAlles ändert sich in Purple RegisAuf dem WasserDanksagung

Über dieses Buch

Fünfhundert Jahre nach dem von allen nur als »Etwas, das passiert ist« bezeichneten Ereignis ist eine neue Gesellschaft entstanden. Eine Gesellschaft, in der die eigene Stellung davon abhängt, welchen Teil des Farbspektrums man sehen kann. Dies ist die Welt, in der Eddie Russett und Jane Grey leben. Jane und Eddie müssen die engen Regeln der Farbpolitik überwinden und die Wahrheit über ihre Welt herausfinden: Was ist sie, wo ist sie, ja sogar, wann ist sie? Während sie die Lügen entlarven, die ihre Existenz bedrohen, kommen sie zu einem beunruhigenden Schluss: Sie sind nicht allein. Jenseits des Meeres ist die Welt überhaupt nicht zu Ende, hier fängt sie womöglich erst an.

Über den Autor

Jasper Fforde wurde 1961 in Wales geboren. Bevor er sich hauptberuflich dem Schreiben widmen konnte, war er 19 Jahre in der Filmindustrie tätig und verfasste nebenbei einen Roman nach dem anderen. Als 2001 schließlich sein erster Roman »Der Fall Jane Eyre« veröffentlicht wurde, war das Buch weltweit sofort ein Riesenerfolg, dem weitere folgten. »Grau« ist sein achter Roman. Jasper Fforde lebt mit seiner Frau und seinen sechs Kindern in Wales.

Übersetzung aus dem britischen Englischvon André Mumot

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Eichborn Verlag

Titel der englischen Originalausgabe:

»Red Side Story«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2024 by Jasper Fforde

All rights reserved including the rights of reproductionin whole or in part in any form.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Eva Wagner, Dorfen

Umschlaggestaltung: Kristin Pang

Umschlagmotiv: © AdobeStock: Ahmet Aglamaz

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-5564-1

eichborn.de

Für Carolyn voller Bewunderung und Dank

Bevor ich Jane, die Graue, traf, hatte ich nur einen Bruchteil meiner Welt gesehen. Danach sah ich mehr denn je. Es machte mir damals Angst, und es macht mir heute noch Angst.

Eddie Russett, East Carmine, Roter Sektor West

Willkommen in East Carmine

1.01.01.01.08 (ii): Der Name des Kollektivs soll Chromatacia lauten. Es ist in vier Sektoren aufzuteilen, unter den Bezeichnungen Rot, Grün, Gelb und Blau, und jeder Sektor ist wiederum in die Gebiete Norden, Süden, Osten und Westen zu unterteilen. Ein zuständiges Verwaltungszentrum wird in jedem Sektor und in jedem Gebiet eingerichtet. Für genauere Spezifikation siehe Unter-Anmerkung 1.01.01.02.08 (ii).

Aus Munsells Buch der Harmonie

Mein Name ist Eddie Russett, aber nur noch für die nächsten zwei Stunden und neun Minuten. Dank meiner Zwangsehe mit Violet werde ich den dynastisch so prestigeträchtigen Nachnamen deMauve annehmen, nur um innerhalb von siebenundzwanzig Stunden herausfinden zu müssen, dass ich nie Eddie Russett war, sondern ein Objekt mit der Bezeichnung HE-315-PJ7A-M. Nach drei Tagen, in denen ich kurzzeitig wieder als Russett auftrete, lasse ich mich widerwillig Mr Hollyberry nennen, bevor ich rasch zu deMauve zurückkehre. Weniger als achtundvierzig Stunden danach entscheide ich mich schließlich, auf farbbasierte Namen vollständig zu verzichten.

Es kommt auch zu gefährlichen Situationen: Beinahe ziehen Jane und ich uns den Mehltau zu, eine Gruppe Gelber versucht, uns umzubringen, und auch der omnipräsente Grünraum lockt uns mit seinem einschläfernd tödlichen Charme. Außerdem treffen wir auf einen Blechmann und eine Asoziale und haben eine weitere Begegnung mit einem Engel, der, von unserem Schöpfer höchstpersönlich geschickt, versucht, uns zu töten – drei Mal.

Aber es ist auch nicht alles nur schlimm. Immerhin bekommen Jane und ich Gelegenheit, das Rätsel der Existenz zu lösen. Nicht das Rätsel – das sollte ich wohl lieber gleich hinzufügen. Nur das unserer eigenen Existenz. Dann finden wir noch heraus, dass das alte Sprichwort Nach Hause kehrt man nie zurück tatsächlich der Wahrheit entspricht. Und das ist ein Problem. Wir sind frei und gesund und bereit, gemeinsam ein erfülltes, vollwertiges Leben zu leben, für immer weg von der Colorkratie. Das sollte Grund zum Feiern sein. Ist es aber nicht: Wir wollten unsere Welt verbessern und sie nicht hinter uns lassen.

Ihr werdet uns dort in Kürze vorfinden, eure Blicke durch unser neues Zuhause schweifen lassen und teilhaben an unserem Wunder. Aber bis es so weit ist:

*

Der 13:42er Zug fuhr mit einer Pünktlichkeit in den Bahnhof ein, die den zeitlichen Parametern voll entsprach. Allerdings nicht den geografischen. Damit will ich sagen, dass der Zug zum richtigen Zeitpunkt eintraf, sich jedoch der Bahnhof am falschen Ort befand. Natürlich gab es strenge Gesetze gegen Unpünktlichkeit, keine jedoch gegen die fehlerhafte Position eines Bahnhofs. Derartige Schlupflöcher machten es uns möglich, den drakonischen Vorschriften zu folgen, die das Leben in unserer Gesellschaft bestimmten, und gleichzeitig eine gewisse Praktikabilität aufrechtzuerhalten.

Die Lokomotive zischte in der warmen Luft, als der Zug ruckend zum Stillstand kam, und die Gyrostabilisatoren stießen ein leises melodisches Summen aus, während sie die Lok in ihrem Einzelgleis aufrecht hielten. Die Züge hielten hier – einmal am Morgen, einmal am Nachmittag –, und ihre Ankunft war stets ein Ereignis, bei dem die ruhige Stagnation des Dorfes durchbrochen wurde von Ankommenden und Abfahrenden, von Post, Neuigkeiten, Fracht und Vorräten.

Der Güterabfertiger marschierte aufs hintere Ende des Bahnsteigs zu, um die Grauen zu beaufsichtigen, die die Rohstoffe gegen die fertiggestellten Linoleumrollen tauschten, während der Briefträger seinen Postsack entgegennahm und rasch damit verschwand. Wie man es von ihm kannte, führte der Bahnhofsvorsteher mit dem Zugführer eine halbherzige Auseinandersetzung zum Thema Pünktlichkeit.

Ich tauschte einen Blick mit der Ankunftsaufseherin, einer umwerfend unangenehmen Gelben namens Bunty McMustard. Sie war ein paar Jahre älter als ich, hatte eine kleine Nase, vergleichbar mit einem betont bescheidenen Knopf, und bestand darauf, die Frauen-Standard-Freizeitkleidung Nr. 16 zu tragen, wobei es sich eher um ein Zelt als um ein Kleid handelte. Niemand sonst trug dieses Modell, nicht mal als ironisches Statement.

»Nichts von Ihrem typischen Unsinn, wenn wir die Besucher begrüßen, Russett«, knurrte sie. »Der Rat hat mir aufgetragen, jegliche Verstöße mit äußerster Sorgfalt zu melden.«

»Sie meinen, Sie haben die Erlaubnis, jedes potenzielle Fehlverhalten nach Belieben zu übertreiben?«

»Kann man so sagen – also nehmen Sie sich mal lieber in Acht.«

Das meinte sie durchaus ernst. Die Gelben stützten sich auf ihre Kontrollpflichten wie ein Eckhörnchen auf Sicherheitsnadeln und Dichtungsringe. Und für alles, was mich Meriten kostete, erhielt sie ihre Provision. Eine Gelbe Person mit üppigem Meritenkonto hatte sich diesen Wohlstand sicher nicht durch ehrliche Erfüllung ihrer Bürgerpflichten verschafft, sondern sehr wahrscheinlich durch Denunziation.

»Sie kümmern sich um Ihre Aufgaben«, sagte ich, »und ich mich um meine. Sitzt Ihre Schleife gerade?«

Bunty warf rasch einen Blick auf ihr Spiegelbild im Zugfenster. Ihr den Vorschriften entsprechend großer Kopfschmuck saß selbstverständlich, den Vorschriften entsprechend, gerade.

Die Gelben benutzten oft Winkelmesser, um bei Mädchen und Frauen die Haarschleifen nachzumessen, wenn sie ihre Aufmachung als suboptimal einstuften. Wenn die Schleifen eine Abweichung von drei Grad plus oder minus aufwies, hatte dies fünf Demeriten zur Folge. Bei den Krawattenknoten von Jungs und Männern war es nicht anders, wobei die Art des Knotens, die saubere Bindung und übermäßig künstlerische Interpretationen zu weiteren Abzügen führen konnten. Ganz zu schweigen von dem Weh, das denjenigen blühte, die ihr Hemd nicht in die Hose steckten, die Falten nachlässig in ihre Hosen bügelten oder ihre Socken nicht ganz hochzogen.

»Meine Schleife sitzt perfekt«, sagte sie und warf mir einen missbilligenden Blick zu, »wie immer. Und Sie irren sich – wie immer. Je früher Sie aus diesem Dorf entfernt werden, desto besser für uns alle.«

»Haben Sie mal darüber nachgedacht, Charme-Kurse zu geben, Bunts?«

»Charme-Kurse? So etwas existiert nicht, Mr Russett. Ihr Kommentar ist also ebenso banal wie sinnlos. Und nennen Sie mich nicht Bunts. Das ist nur meinen engsten und liebsten Freunden vorbehalten.«

»Das heißt, niemand nennt Sie so, oder?«

Nun, da wir einander zufriedenstellend angestichelt hatten, traten wir vor, um die Fahrgäste zu begrüßen.

Als Erstes stieg eine Truppe von reisenden Schauspielern aus, die am Revers oder auf den Blusen ihrer Reisefreizeitkleidung Nr. 6 orangefarbene Abzeichen trugen. Sie waren aufgekratzt und wenig ehrerbietig, wie bei Theaterleuten üblich. Ich hieß sie in East Carmine willkommen, während Bunty ihre Namen und Daten auf dem Ankunftsvordruck eintrug. Warum dies nötig war, wusste niemand: Die Vordrucke wurden pflichtschuldig ausgefüllt, zu den Akten gelegt und dann acht Jahre später zu neuen unbeschrifteten Ankunftsvordrucken recycelt. Die Vorschriften verlangten es. Die Vorschriften verlangten eine ganze Menge.

»Wir begrüßen Ihren Gruß und danken Ihrem Dank«, sagte die Leiterin der Truppe und schenkte erst mir, dann Bunty und schließlich den Grauen Gepäckträgern eine dramatische Verbeugung. »Wir sind die Tangerine-Player, und die Tangerine-Player, das sind wir: berühmt in ganz Chromatacia für unser Bravado und unsere spektralkonformen Darbietungen. Ein Lachen, eine Träne, ein Lächeln – nachdem Sie unseren munteren Späßen zugeschaut haben, wird Ihre Zustimmung zu der Stärke, Brillanz und untrennbaren Einheit der chromatischen Harmonie für immer in Ihren Herzen verankert sein. Getrennt sind wir vereint, und nur vereint können wir dieses Getrenntsein wirklich würdigen.«

»Wohlgesprochen«, sagte Bunty, die immer darauf aus war, diejenigen zu loben, die uneingeschränkte Unterstützung der Colorkratie zeigten.

»Danke Ihnen«, sagte die Leiterin der Truppe und musterte Buntys Gelb-Abzeichen und den 5000-Meriten-Anstecker darunter.

Beides verriet ihr, dass Bunty nicht nur eine Gelbe war, sondern auch noch ziemlich gut darin. Als diejenigen, die für die Einhaltung der Vorschriften sorgten, wurden die Gelben innerhalb des Kollektivs durch die Bank verachtet. Manche sagen, es sei bloß Zufall, aber Unfälle, bei denen man mit dem Gesicht nach unten im Sumpf ertrank, passierten Gelben statistisch dreimal häufiger als allen anderen Farbtönen.

Die Leiterin der Truppe starrte mich einen Augenblick an, dann sagte sie: »Sind wir uns nicht schon mal begegnet?«

Ich wusste augenblicklich, wer sie war, da ich selten, wenn überhaupt jemals, eine interessante Nase vergesse: klein und stupsig, wie bei einem Kind. Es war, als hätte ihre Nase ab dem neunten Jahr jegliche Weiterentwicklung verweigert und als wäre ihr Körper anschließend einfach um sie herumgewachsen.

»In Jade-under-Lime«, sagte ich, »vor drei Jahren.«

Ich hatte geholfen, die Bühne aufzubauen, und anschließend einen Job als Requisiteur bekommen. Bühnenarbeiter wurden immer aus dem Dorf rekrutiert, in dem die Wandertheater Station machten, ebenso wie die Darsteller kleinster Rollen – für gewöhnlich aus dem jeweiligen Laienspielclub. Mein guter Freund Fenton hatte damals eine Rolle mit zwei Sätzen ergattert und daraufhin allen und jedem erzählt, er würde Schauspieler werden. Doch ohne die geringste Gelbsicht würde er kein Orangefarbener werden. Die Schauspielerei stand ihm als Beruf also keineswegs offen.

»Ich erinnere mich, dass Jade über ein Publikum verfügte, das äußerst wohlwollend war, wenn auch ein wenig hustenanfällig«, sagte sie. »Dafür lag der Ort in durchaus angenehmer Landschaft.«

Dabei warf sie einen Blick auf East Carmines traurige Umgebung. Die Landschaft war heiß und staubig, das Gras in der Sommerhitze verdorrt, der Bahnhof trüb, abgewetzt und ohne jeglich sichtbare Farbschattierungen, da wir hier im Dorf über so gut wie keine synthetischen Farben verfügten. Hohe Colorisation, für gewöhnlich durch Farbeinspeisungsrohre geliefert, war denjenigen vorbehalten, die vermögend waren und über gute Verbindungen verfügten, also grundsätzlich denen, die im Umfeld von Emerald City, der Hauptstadt des Landes, lebten.

»Wir haben einen ziemlich warmen Sommer gehabt hier draußen in den Randgebieten«, sagte ich entschuldigend. »Abgesehen vom regulären Nachtregen, würde ich sagen, haben wir gar keinen Niederschlag abbekommen.«

Eigentlich hätte es mich glücklicher machen sollen, hier im Roten Sektor West zu leben – mit Menschen meiner eigenen Farbnuancen. Aber es gab eben einen großen Nachteil: Die Vorschriften stellten sicher, dass jeder, der auch nur im weitesten Sinne Ärger machte, an die Peripherie des Kollektivs abgeschoben wurde, wo er weniger schädlichen Einfluss auf andere ausüben konnte. Das sorgte dafür, dass die Randgebiete voll waren mit Personen von problematischer Disposition. Das machte das Leben zu einer größeren Herausforderung. Allerdings auch ein gutes Stück interessanter.

»Ist da draußen noch irgendwas?«, fragte die Leiterin der Truppe und deutete auf die Hügel im Westen.

»Wir befinden uns hier direkt am Rand der bekannten Welt«, sagte ich und folgte ihrem Blick. »Da draußen gibt es nichts außer wildem Rhododendron, Megafauna und Kugelblitzen, Asozialen und anderen Gefahren.«

»Die Rote Seite des Landes«, sagte sie nachdenklich. »Was haben Sie angestellt, um hierher transferiert zu werden? Ich muss schon sagen, das Leben in Jade-under-Lime habe ich als deutlich leichter und farbiger in Erinnerung.«

»Ich habe meinen Vater hierher begleitet«, erwiderte ich ausweichend. »Er ist jetzt Mustermann und Sichtmeister hier im Dorf.«

In Wahrheit hatte man mich hierhergeschickt, um eine Stuhlzählung vorzunehmen – jene Art nutzloser Aufgaben, die für gewöhnlich denen aufgebrummt wurden, die ein gewisses Maß an Innovationsbedürfnis, Neugier oder unabhängige Gedanken zeigten. Was in meinem Fall jedoch noch nicht genügte, um mich zu der Umerziehungseinrichtung zu schicken, die man allgemein als »Reboot« bezeichnete. Meine Innovation war auch keineswegs aufwieglerisch gewesen – lediglich eine effizientere Methode des Schlangestehens. Die Präfekten hielten nicht besonders viel von dieser Idee, aber ich kann mit großer Freude berichten, dass mein »Zieh eine Nummer, wir rufen dich auf«-System hier in East Carmine durchaus Anklang gefunden hatte. Etwas, auf das ich mit Recht stolz sein darf.

»Ich verstehe«, sagte die Leiterin der Truppe, die nur Small Talk machte, während Bunty mit übertriebenem Diensteifer die Ankunftsformulare ausfüllte. »Haben Sie eine Ahnung, wann hier die letzte Theatertruppe durchgekommen ist?«

»Vor zwölf Jahren.«

Die Tangerine-Player nickten und schienen erleichtert. Es gab nur acht Dreiakter und zwölf Einakter sowie sechsundvierzig pädagogische Kurzdramen, die eine Aufführungserlaubnis hatten, und ständige Wiederholungen der immer gleichen Werke schwächten beim Publikum natürlich Interesse und Applaus.

Nachdem Bunty mit dem Formular fertig war, führte ich die Spieler zu dem Ford Model T, der draußen vor dem Bahnhofsgebäude wartete. Unser Dorfmeister, Carlos Fandango, saß abfahrbereit auf dem Fahrersitz.

»Wir haben eine grasbewachsene Freiluft-Aula«, erklärte ich ihnen. »Mr Turquoise, der Blaue Präfekt, erwartet Sie schon auf dem Dorfplatz und wird Sie herumführen.«

Die Spieler marschierten den Bahnsteig hinunter auf den bereitstehenden Wagen zu, wobei sie enthusiastisch miteinander redeten und schwatzten. Die Lautstärke und die frivolen Inhalte ihrer Plauderei hätten ohne Zweifel bei jedem anderen zu Meritenabzug geführt.

Die nächsten Fahrgäste waren weitaus gewöhnlicher: ein Naturalist aus dem Grünen Sektor, der bei uns die Sprungziegen studieren wollte, zwei Graue, die gekommen waren, um unsere Mühlsteine zu schleifen, dann der Sektorenkoordinator für den Jollity-Jahrmarkt, der eine letzte Ansprache halten wollte, bevor der Jahrmarkt auf der jährlichen Gute-Laune-Messe eröffnet wurde.

»Ich hoffe, Ihre Hochradfahrer wissen, was Sie tun«, sagte er besorgt. »Der Rote Sektor muss dieses Jahr dringender gewinnen als je zuvor.«

»Sie haben überaus pflichtschuldig trainiert«, sagte Bunty. »Dafür habe ich persönlich gesorgt.«

»Klingt gut. Getrennt sind wir vereint.«

Die abgenutzte Grußformel war bei den meisten von uns schon lange nur noch ein geistesabwesendes Murmeln. Ihre Bedeutung war in der ständigen Wiederholung verloren gegangen und inzwischen bloßes Schmiermittel, das die Räder des sozialen Miteinanders in Bewegung hielt. Sie wurde so oft heruntergeplappert, dass niemand auch nur für einen Augenblick in Erwägung zog, sie infrage zu stellen. Tat man es doch, starben Menschen.

NationalColor

Der technologische Rücksprung IV war in drei Jahren fällig, und alle fürchteten das Schlimmste. Es wurde spekuliert, dass Einschienen-Züge zusammen mit den Model-T-Fords, elektrischem Licht, Heliostaten, Fahrrädern und der Telegrafie abgeschafft würden. Jeder einzelne Verlust hätte schwere Unannehmlichkeiten nach sich gezogen, alle zusammen jedoch würden zur Katastrophe führen: Chromatacia würde zu einer dunkleren Welt werden, mit starken Abstrichen bei Transport, Sport und Kommunikation, und die Dörfer, Städte und Sektorenhauptstädte, aus denen sich die Nation zusammensetzte, würden noch weiter auf sich selbst zurückgeworfen sein.

Ted Grey: Zwanzig Jahre unter den Chromatikern

»Ich verachte diese Farbschwachen mit ihrer Faulheit und ihren schlechten Manieren«, sagte Bunty, während wir darauf warteten, dass die nächsten Fahrgäste ausstiegen. Vermutlich meinte sie die Schauspieler, da ihre nicht produktive Tätigkeit häufig als gesellschaftlich wertlos bezeichnet wurde.

»Sie haben in Ihrer Abneigung etwas sehr Gerechtes an sich«, sagte ich. »Sie scheinen alle Farben gleichermaßen zu hassen, ganz unabhängig von jeder Schattierung.«

Sie musterte mich eingehend, wohl, um zu entscheiden, ob ich mich bereits in einen Bereich vorgewagt hatte, der das Abziehen von Meriten rechtfertigte. Bunty McMustard war nicht bloß irgendeine Gelbe: Nach dem Tod von Courtland Gamboge war sie zur stellvertretenden Gelben Präfektin des Dorfes aufgestiegen, schließlich war ihre hochrangige Position unter den Gelben des Dorfes vor zwei Jahren bei ihrem Ishihara-Sehtest festgestellt worden.

Der Ishihara war der lebensentscheidende Moment im Kollektiv: Wusste man, welche Farben man sehen konnte und wie viel davon, dann wusste man auch, welchen Platz man in der rigiden Hierarchie der Colorkratie einnahm. Man wusste, was man zu tun und welchen Weg man einzuschlagen hatte und was von einem erwartet wurde. Im Gegenzug akzeptierte man widerspruchslos die eigene Position in der Gesellschaft, wie sie in Munsells Buch der Harmonie festgelegt war. Lebensweg, berufliche Laufbahn und soziales Ansehen wurden genau in diesem Augenblick entschieden – und damit zugleich alle besorgniserregenden Unsicherheiten des Lebens ein für alle Mal ausgelöscht. Meinen eigenen Test hatte ich letzten Monat abgelegt und bei der roten Farbsicht außergewöhnlich hoch abgeschnitten – eine Tatsache, die ich noch immer nicht so recht verdaut hatte.

»Die Farbschwachen, wie Sie sie nennen, sind für das Kollektiv ebenso nützlich wie alle anderen«, erwiderte ich. So konnte auch ich mal das Buch der Vorschriften zitieren, wie es Gelbe so gern anderen gegenüber taten. Und natürlich waren sie gar nicht begeistert, wenn man es auf sie anwandte. »Zwischen Gelb und Rot liegen die Orangefarbenen, die für die Unterhaltung und die Kunst zuständig sind, und zwischen Gelb und Blau die Grünen, die sich der Landschaftspflege und der angewandten Wissenschaft vom Draußensein widmen – und alle Farben sind nötig, damit das Kollektiv reibungslos funktionieren kann. Aber sagen Sie, Bunty, trifft Ihre Definition von Farbschwachen auch auf diejenigen zu, die zwischen Blau und Rot liegen?«

Sie warf mir einen strengen Blick zu, denn die Töne, die ich meinte, waren per Definition Flieder, Fandango, Lavendel, Pflaume, Mauve, Magenta und schließlich Purpur – der Ton, der den höchsten Rang in der Gesellschaft garantierte.

»Je früher das Dorf Sie loswird, desto besser, Russett. Wenn Sie erst mal dem Grünraum überstellt sind, weil Sie Courtland umgebracht haben, wird niemand glücklicher sein als ich. Vielleicht mal abgesehen von seiner Mutter.«

»Ich habe Courtland nicht umgebracht, Bunty.«

»Behaupten Sie.«

Ich sollte wohl erwähnen, dass Bunty McMustard mit Courtland Gamboge verlobt gewesen war und es sich bei Courtlands Mutter um die derzeitige Gelbe Präfektin handelte. Es war nicht klug, ausgerechnet eine dieser beiden gegen sich aufzubringen, aber Bunty wütend zu machen, bereitete mir ein ganz besonderes Vergnügen – trotz aller Risiken.

»Sie sagen die reizendsten Dinge, Bunts.«

Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn aber wieder, als der nächste Fahrgast auf uns zutrat. Er trug ein auffälliges Color-Abzeichnen aus vernickeltem Zinn auf seinem rechten Revers, besprenkelt mit zahlreichen Farbtupfen. Es verriet uns sofort, dass er bei NationalColor arbeitete, allerdings, wie es aussah, in einer eher niedrigeren Position – jemand, der sich noch einarbeiten musste, bevor er im Unternehmen Karriere machte und aufstieg.

»Willkommen in East Carmine, Sir«, sagte ich, »unser Zuhause ist Ihr Zuhause. Getrennt sind wir vereint.«

»Das sind wir in der Tat«, sagte der Angestellte, dessen Name, wie wir nun erfuhren, Jason Applejack lautete. »Ich bin heute Morgen in Emerald City aufgebrochen und reise mit dem nächsten Zug wieder zurück. Wann fährt er hier ab?«

»Übermorgen.«

»Dann bin ich Ihr Gast für zwei Nächte.«

»Wir werden uns bemühen, uns als hervorragende Gastgeber zu erweisen«, sagte ich. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«

»Geht es um Farbeinspeisungsrohre und Vollcolorisierung?«

Ich nickte. Die Leute von NationalColor bekamen nur selten andere Fragen gestellt. Eine CYMK-Farbeinspeisung bedeutete die Möglichkeit eines vollspektralen Colorgartens, mit synthetischen Farben, die für alle sichtbar waren, da die Blumen und das Gras und die Bäume von Rohren und Kapillaren unter dem Erdboden versorgt wurden.

»Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass neue Farbeinspeisungsverlängerungen derzeit nicht ausgeliefert werden können, bis sich der Zugriff auf Farbrohstoffe wieder verbessert hat«, sagte er. »Wir hätten alle gern vollspektrale Colorgärten, aber ohne die Rohstoffe, die von braven Menschen wie Ihnen zur Verfügung gestellt werden, wird die Vollcolorisierung niemals abschließend erreicht werden. Also: Wie läuft die Farbgewinnung hier in den Abbaugebieten?«

»Nicht so gut, wie wir uns erhofft hatten«, sagte Bunty mit leiser Stimme.

»Dann treten Sie besser mal aufs Gas. Ich dachte, die Grenzen der Roten Randgebiete würden nur so überlaufen mit Altfarben.«

»Die Bestände sind hier in der Gegend so gut wie erschöpft«, sagte ich, »aber wir versuchen, ein Stück weit entfernt neue Farbfelder zu erschließen.«

Um der farbbasierten Gesellschaft dienlich zu sein, wurde der Farbschrott, der von den Einstigen zurückgelassen worden war, aus dem Untergrund geborgen, säuberlich nach Schattierungen sortiert und an NationalColor verschickt, wo er zu reiner Universalfarbe reprozessiert wurde, die wir alle betrachten konnten. Ohne sie blieben uns nur die natürlichen Farbtöne, die wir mit unserer jeweiligen Farbsicht wahrnehmen konnten. Für mich als Roten der Mohn, für die Grünen die Bäume, für die Blauen der Himmel. Farbsicht war alles für die chromatakischen Bürger. Sie bestimmte die gesamte soziale Ordnung, die Rechtsprechung, die Wirtschaft und das Gesundheitssystem. Am wichtigsten jedoch war: Farben bedeuteten eine Hoffnung. NationalColor vertrieb nicht bloß synthetische Farben, sie stellten auch ein Traumziel in Aussicht: unserer entfärbten Welt die überschwängliche Freude vollständiger Colorisierung zu bringen.

»Könnte NationalColor hier nicht einen Farbenladen eröffnen«, fragte Bunty, »bis das Versorgungsnetz uns irgendwann erreicht?«

Man war nicht allein auf Versorgungsrohre angewiesen, um die eigene Umgebung chromatisch anzureichern. Farbe war auch in Dosen, Papierrollen, Röhren, als Lebensmittelfarbe, Stofffärbemittel und Buntglas erhältlich. Selbst wenn man nicht ans Versorgungsnetz angeschlossen war, konnte man synthetische Töne also durchaus genießen. Allerdings war das nicht ganz billig. Orangeschattierungen etwa lagen bei zwei Meriten pro halbem Dutzend, aber ein orangefarbenes Orange kostete gleich ein ganzes Dutzend.

»Ich will ehrlich sein: Es ist unwahrscheinlich«, erwiderte Applejack. »Der stationäre Einzelhandel mit Farben ist generell den größeren Städten vorbehalten. Also«, fügte er hinzu, »können Sie mir eine Unterbringung empfehlen?«

»Der Fallen Man bietet gutes Essen zu einem vernünftigen Preis, und die Zimmer sind sauber und ordentlich. Er liegt auch in der Nähe der zentralen Straßenlaterne, und er ist ungezieferfrei«, sagte Bunty.

»Der Fallen Man?«, wiederholte er.

»Eine … Legende hier aus der Gegend«, erwiderte ich, wobei ich meine Worte sorgfältig wählte. »Es geht um einen Mann, der vom Himmel gefallen ist, an einen Metallstuhl gefesselt.«

»Vor Kurzem?«

»Vor dreizehn Jahren – wenn es denn wirklich so war. Was ja nicht unbedingt so sein muss.«

Bunty seufzte.

»Der Gefallene Mann ist Apokryph«, sagte sie, »daher sprechen wir ihn nur im Zusammenhang mit unserem Gasthaus aus.«

Wenn etwas in unserem Umfeld – ein Gegenstand, eine Person, eine Regel oder ein Phänomen – nicht in die strikten Definitionen vom Buch der Harmonie passte, wurde es bequemerweise ignoriert. Es gab einen Apokryphen Mann namens Baxter im Dorf, den man nicht sehen durfte, sodass er standhaft nicht zur Kenntnis genommen wurde. Das bedeutete, er konnte ungeschoren tun und lassen, was er wollte – was sich für gewöhnlich darin manifestierte, dass er Kleidung und Essen stahl oder nackt durch die Gegend lief. Baxter wurde gesehen und zugleich nicht gesehen.

»In der Nähe von Lincoln-on-Water ist ein Schwan heruntergekommen«, sagte Applejack, der offenbar nicht der Ansicht war, dass die Apokryphen-Gesetze auch für ihn galten. »Es stellte sich heraus, dass er gar nicht lebendig war, sondern aus Metall und Drähten bestand.«

»Aus Metall und Drähten?«, wiederholte ich. »Also … Rücksprung-Technologie?«

»Es sah eher wie das Innere einer Reißschildkröte aus, falls Sie so eine schon mal gesehen haben.«

»Ich habe mal ein Bild davon gesehen, wie jemand sich ein Bild von einer angeschaut hat«, sagte ich.

»Lügner«, sagte Bunty. »So etwas gibt es überhaupt nicht.«

»Sie sieht aus wie eine Schildkröte und hat die Größe eines Mülleimerdeckels.« Applejack klang, als habe er bereits eine Antipathie gegen Bunty entwickelt.

»Sie hat sechs Beine und verbringt ihre Zeit damit, Kupfer, Messing, Zink und Bronze überall herauszureißen, wo sie es aufspüren kann«, fügte er hinzu. »Das türmt sie dann in ordentlichen Haufen auf, wohl, damit es zu einem Zweck eingesammelt werden kann, der lange vergessen ist. Sehr nützlich für alle Hobbyjuweliere.«

»Ist das eine verbürgte Tatsache?«, fragte Bunty.

»Ich denke, schon«, sagte Applejack.

Sie wusste all das ganz genau, leugnete aber die Existenz aller Apokryphen, weil das Vorschrift war und die Gelben immer die Vorschriften hochhielten. Sie wusste ebenso gut wie ich, dass es zwölf Tierwesen in unserem Land gab, von denen man annahm, dass sie künstlich hergestellt und nicht von biologischem Ursprung waren. Die Reißschildkröte war eine von nur dreien, die erwiesenermaßen immer noch funktionierten. Lange war gemutmaßt worden, dass auch die Schwäne keinen biologischen Ursprung hatten. Die Vorschriften legten jedoch fest, dass es sich um Lebewesen handelte, und die Vorschriften waren unfehlbar. Weil es so geschrieben stand. In den Vorschriften.

»War er mit Federn bedeckt?«, fragte ich, in der Hoffnung, die Schwan-Frage so oder so zu einem Ende zu bringen.

»Sie waren nur aufgemalt, aber recht realistisch.«

»Ah. Was ist damit passiert?«

»Der Schwan wurde nicht als Schwan deklariert, sondern als ›schwanesker‹ Apokryph. Man konnte das Ding nicht ignorieren, dafür war es zu groß, also hat man es verbrannt. Hat einen ziemlich scheußlichen Geruch abgesondert und ist dann explodiert. Ein allzu vorwitziger Grauer hat dabei einen Fuß verloren. Hässliche Angelegenheit. Sie haben das Ding hinter den Außenmarkierungen in den Fluss geschmissen. Also … der Fallen Man, sagten Sie?«

Er tippte sich zum Gruß an den Hut und nahm das bereits wartende Fahrradtaxi in die Stadt.

Mr Celandine

3.09.11.67.09 (iv): Der Ishihara-Test hat für jeden Bürger stattzufinden, sobald er das zwanzigste Lebensjahr erreicht, und er ist ausnahmslos verpflichtend. Das Ergebnis des vom Colormann durchgeführten Tests ist endgültig, das festgelegte Maß an Sehfähigkeit unabänderlich. Nachträglich sind Einspruch, Modifikation oder Prüfung nicht mehr möglich. Eine Weigerung, die Sichtfähigkeit anzunehmen, und Versuche, die Einschätzung und Beurteilung des Colormannes zu beeinflussen, führen bei dem schuldigen Bürger und jedweden Verbündeten zum Abzug von einhundert Meriten und/oder Reboot, je nach Ermessung des Präfekten.

Aus Munsells Buch der Harmonie

»Sie stellen viel zu viele Fragen«, sagte Bunty. »Und ganz im Ernst, was soll das überhaupt? Sich nach Schwänen und Apokryphen erkundigen? Schwäne sind einfach Schwäne. Und heute in einer Woche werden Sie und die grauenhafte Jane uns doch sowieso nur noch Talg und Knochenmehl liefern. Was sonst noch übrig bleibt von Ihnen, wird geschreddert und an die Greifdornen verfüttert. Womit Sie uns weit mehr nutzen werden als jetzt.«

Die Verpflichtungen gegenüber dem Kollektiv hörten mit dem Tod nicht auf. Das Leben, der Geist und die Konformität jedes Einzelnen gehörten dem Kollektiv – wie letztlich auch der eigene Körper, wenn er einem selbst nichts mehr nutzte.

»Wenn ich eine intelligente und unvoreingenommene Meinung hören möchte, wende ich mich lieber an die nächstbeste Nacktschnecke. Und davon ganz abgesehen«, sagte ich, »wird die Disziplinaranhörung streng nach Vorschrift abgehalten. Wir waren auf dem Weg zu einer Tatsachen-Erkundungsexpedition in High Saffron – und wir alle kannten die Risiken, die das mit sich bringt, auch Courtland. Die Anschuldigungen gegen Jane, Violet, Tommo und mich sind unzutreffend, der Ausschmelzschuppen wird also auch in Zukunft ohne mich ausschmelzen müssen. Und nur fürs Protokoll: Jane ist alles andere als grauenhaft.«

»Ihr ewiges Leugnen macht nur umso deutlicher, wie schuldig Sie sind«, sagte Bunty. »Ein aufrechter Vorzeigebürger würde sich der überlegenen Einschätzung der Präfekten beugen und jedwede Strafe akzeptieren, die sie für angemessen halten.«

»Ist es das, was Sie tun würden?«

»Ja, und zwar aus vollem Herzen.«

»Sie haben ein Herz?«, fragte ich. »Das ist ja ganz was Neues. Aber nur weil man etwas leugnet, ist man noch lange nicht schuldig. Es heißt lediglich, dass wir nicht das Geringste mit seinem Tod zu tun hatten.«

Courtland, Tommo, Jane, Violet und ich hatten als Team die Aufgabe erhalten einzuschätzen, ob die verlassene Küstenstadt High Saffron für den Farbresteabbau wiedereröffnet werden könnte. Violet und Tommo waren bereits vorzeitig umgekehrt, und lediglich Courtland, Jane und ich schafften es schließlich bis nach High Saffron. Nur Jane und ich kehrten am Ende von der Expedition zurück. Courtland war der zukünftige Gelbe Präfekt des Dorfes gewesen, daher war sein Verlust auch so eine große Sache. Und da er zudem mit Bunty verlobt gewesen war – vermutlich in einem Lieber-sie-als-gar-keine-Arrangement –, war ihre Abneigung gegen mich überaus persönlich.

»Alle wissen, dass Sie und Ihre so gefährlich launenhafte Jane Brunswick schuldig sind«, sagte Bunty. »Der Tod meines allseits beliebten Courtland ist die direkte Folge Ihrer bösen Absichten.«

»Wenn er allseits so beliebt war, warum hat er Ihnen dann nie einen offiziellen Antrag gemacht und seine Freizeit lieber Melanie Grey gewidmet?«

Bunty nahm die Farbe einer Roten Bete an und verengte bedrohlich den Blick. Der Heiratsmarkt des Dorfes war betrüblich klein. Wen man schließlich ehelichte, hing von der Verfügbarkeit ab und davon, wie viel Farbe ein potenzieller Kandidat sehen konnte. Und wenn man am Ende des Hochzeitstags dachte: »Das hätte jetzt wirklich schlimmer kommen können«, gingen alle davon aus, dass beiden Partnern ein glückliches Leben bevorstand.

»Mit diesem Grey-Mädchen hat er bloß geübt. Er wollte lediglich vollste Leistungsfähigkeit sicherstellen, wenn es an der Zeit gewesen wäre, mir seine entzückenden Gelben Babys zu schenken!« Bunty erzitterte beim Gedanken daran und beschwor auch für mich ein Bild herauf, das ich mir gerne erspart hätte. »In dieser Hinsicht war Courtland außergewöhnlich großherzig.«

»Das ist natürlich die einzig mögliche Erklärung«, erwiderte ich.

»Beharren Sie und Jane immer noch auf diesem Courtland-wurde-von-einem-Baum-gefressen-während-er-Sie-retten-wollte-Unsinn?«, fragte sie.

»Es ist die Wahrheit«, erwiderte ich.

»Es ist offenkundiger Blödsinn«, sagte sie. »Und wissen Sie auch, warum? Courtland hätte Sie niemals gerettet. Eine derartig selbstlose Tat passte nämlich in keiner Weise zu seinem Charakter. Ein Gelber Einwohner mit hoher Farbsicht wie Courtland hat die Pflicht, sich selbst vor Schaden zu bewahren, damit sein Wert für die Gemeinschaft vollumfänglich genutzt werden kann.«

Das war ein treffendes Argument. Unsere Version der Geschichte war nicht besonders überzeugend, aber die Wahrheit wäre undenkbar gewesen. Wir hatten ihn nicht getötet – das Kollektiv hatte es getan.

»Courtland ist einem Yateveo zum Opfer gefallen, als er mich gerettet hat«, sagte ich – so wie wir es abgesprochen hatten. Ich war selbst schon zweimal in die Fänge eines fleischfressenden Baumes geraten, und ich kann verlässlich berichten, dass dies kein angenehmes Erlebnis ist – selbst wenn man den großen Vorteil hat, schnell zu ertrinken, bevor man langsam zersetzt wird, wofür man allerdings zufällig kopfüber in die Verdauungsblase gestoßen werden muss. Jane rettete mich, was aber noch nicht hieß, dass ich ihr irgendwas schuldig war. Schließlich war sie diejenige gewesen, die mich überhaupt erst in diese missliche Lage gebracht hatte.

»Das behaupten Sie, Russett«, sagte Bunty. »Meine beunruhigende, stressbedingte Verstopfung habe ich nur Ihnen zu verdanken. Es wird mir eine Ehre sein, zu denjenigen zu gehören, die Sie kraft unseres Amtes in den Grünraum schicken werden.«

Vorausgesetzt, dass uns kein unerwartetes, gewalttätiges oder unwahrscheinliches Ende ereilte, entschlossen sich die meisten von uns dazu, unseren Abschied vom Leben über den Grünraum zu nehmen – sobald die Bürde, die wir für die Gesellschaft darstellten, höher war als unsere Nützlichkeit. Wir würden freiwillig eintreten und unseren Blick auf den beruhigenden Grünton namens Süßer Traum richten, mit dem die Wände und die Decke gestrichen waren. Auf eine Weise, die den beschwingten Freuden des Limone- oder Lincoln-Konsums ähnlich waren, würden wir erst eine geruhsame Zufriedenheit empfinden, dann kichernde Ausgelassenheit, unbeschreibliche Glückseligkeit und schließlich Ekstase, wobei die freudvollen Schreie der gegrünten Seelen, für alle gut hörbar, bis hinaus auf den Sportplatz drangen. Kein Wunder, dass die Menschen den Grünen Ausweg wählten. Wenn man vor seiner Zeit gehen musste, stellte er eine gute Option dar.

»Sally Gamboge wird die Beweise liefern«, sagte Bunty, »oder etwas, das Beweisen ähnelt, was auf dasselbe hinausläuft. Jetzt reißen Sie sich zusammen: Unser letzter Fahrgast hat noch im Hintergrund abgewartet, um nicht Schlange stehen zu müssen. Er wird in Kürze aussteigen.«

»Muss ein Präfekt sein.«

»Natürlich – also halten Sie gefälligst Ihr loses Mundwerk unter Kontrolle.«

Jane hatte mir gesagt, sie würde Bunty McMustard nur zu gern vergiften. Insgeheim teilte ich diesen Wunsch in gewisser Weise, aber ich hätte Jane nie zugestimmt oder sie gar ermutigt. Ich liebte Jane, aber ich hegte auch nicht den geringsten Zweifel, dass sie zu einer solchen Tat fähig war. Gut, bislang hatte sie noch niemanden umgebracht, aber es war nur eine Frage des Wann, nicht des Ob.

Die Tür des »Nur für Präfekten«-Abteils öffnete sich, und ich trat einen Schritt darauf zu, um dem Fahrgast mit ausgestreckter Hand herauszuhelfen. Er winkte ab, stieg aus dem Zug und schaute sich abschätzig um.

»Willkommen in East Carmine«, sagte ich höflich. »Getrennt sind wir vereint.«

Er neigte anerkennend den Kopf und erwiderte murmelnd das Mantra des Kollektivs. Er war wohl doppelt so alt wie ich, also etwa vierzig, und er hatte ein weiches Hängebackengesicht, dessen Nase aussah, als bestünde sie aus einem Teig, der nicht gleichmäßig aufgegangen war. Er trug eine arrogante, nie infrage gestellte Autorität zur Schau und schien äußerst unbeeindruckt von der desolaten ländlichen Umgebung, die sich um East Carmine auftat. Im Gegensatz zu Dörfern in den wohlhabenderen Sektoren mit ihren gut gepflegten Hecken, Colorgärten und säuberlich geharkten Kieswegen war East Carmine schäbig, staubig und ungepflegt.

»Daran sind nur die Grauen schuld«, erklärte Bunty, die seinem Blick folgte. »Wir haben einfach nicht ausreichend von ihnen, und die, die wir haben, arbeiten nicht mal annähernd hart genug. Einer ist letzte Woche gestorben. Diese selbstsüchtige Aktion hat dazu geführt, dass nun sechs Haushalte ohne Putzkraft auskommen müssen, der Präfekt einen Stiefelburschen verloren hat und uns in der Spätschicht der Linoleumfabrik eine Arbeitskraft fehlt.«

»Völlig inakzeptable Zustände«, sagte der Gelbe. »Die Grauen sind so arbeitsscheu und unehrlich, wie sie faul und ungehorsam sind – manchmal glaube ich, dass sie absichtlich sterben, nur um uns zu ärgern.«

Er trug ein großes univisuelles Abzeichen an seinem leichten Gewand. Letzteres war vermutlich in natürlichem Gelb gehalten, was ich natürlich nicht erkennen konnte.

»Die äußeren Randgebiete bekommen mir gar nicht«, verkündete er, während er sich ein parfümiertes Taschentuch unter die Nase hielt. »Ein Ort ohne Moral, ohne gesellschaftlichen Schliff, ohne Farbe. Ich gehe davon aus, dass die Grenzanlagen gut in Schuss gehalten werden. Ich habe nicht das Bedürfnis, während meines Aufenthalts Bekanntschaft mit der Megafauna machen zu müssen.«

»Ich habe die Grenzpatrouille heute Morgen höchstpersönlich beaufsichtigt«, sagte ich. »Es sind Sprungziegen eingedrungen, aber die tun niemandem etwas und springen auch bald wieder raus. Sowohl Rhinosaurier als auch Bodenfaultiere sind seit Jahren nicht mehr in die Nähe des Dorfes gekommen. Allerdings ist vorletzte Woche eine Herde Elefanten bei uns vorbeigezogen.«

»Und die Eckhörnchen?«, fragte er.

»Die Eckhörnchen kommen und gehen nach Lust und Laune«, sagte ich und verstand nicht, warum er sie für eine Bedrohung hielt.

Diese baumbewohnenden Säugetiere hatten die nützliche Angewohnheit, Nüsse, Schrauben, Dichtungsringe, Splinte und Bolzen zu horten, die man gut für Reparaturen gebrauchen konnte. Vorausgesetzt, es gelang, ihre Vorratsverstecke aufzuspüren. Die Urgroßmutter meines besten Freundes Fenton war einst in einer hohlen Eiche vor Jade-under-Lime auf einen über Jahrhunderte angesammelten Eckhörnchenvorrat gestoßen und hatte damit eine Eisenwarenhandlung eröffnet, die noch immer Gewinn abwarf.

»Mein Name ist Hawtrey Celandine«, sagte er zu Bunty, damit sie es in ihrem Vordruck eintragen konnte. »Bin für drei Tage hier, Gelber Präfekt von Dog-Leg-Lake. Sind Sie zufällig Bunty McMustard?«

»Das bin ich, Sir.«

»Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen zum Verlust von Courtland Gamboge. Ich habe gehört, Sie und er waren einander versprochen und eng verbunden.«

»Auf jede erdenkliche Weise, nur nicht körperlich, rechtlich oder gefühlsmäßig«, erwiderte sie, als habe sie damit etwas ganz Großartiges zu vermelden. »Und da unsere Lemon-Brüder hier vor Ort minderwertiges Material darstellen, stehe ich erneut für die Ehe zur Verfügung. Falls Sie in Dog-Leg-Lake irgendwelche hochrangigen Gelben kennen, die auf die Verbindung mit einer aufrechten Farbgenossin mit guten Aufstiegschancen Wert legen, teile ich Ihnen gerne mit, dass ich über eine Aussteuer von zweitausend Meriten verfüge und dass mein Tubaspiel bei uns in aller Munde ist.«

»Hier geboren oder hierher entsandt?«, entgegnete er. Es war eine ziemlich aufgeladene Frage und zweifellos dazu gedacht, sie auf ihren Platz zu verweisen. Vermutlich kannte er die Antwort bereits, denn Berichte über potenzielle Ehekandidatinnen und -kandidaten wurden routinemäßig eingeholt und ortsübergreifend verbreitet.

»Ich bin in Buckfastwii zur Welt gekommen, im Gelben Sektor Nord«, erwiderte sie im unerschrockenen Versuch, ihre Anwesenheit in East Carmine nicht als die Erniedrigung darzustellen, um die es sich in Wahrheit handelte. »Wurde vor sechs Jahren hierher entsandt, um die Nestbaugewohnheiten der … Kuckucke zu studieren.«

Die Sinnlosigkeit ihrer Mission und die Tatsache, dass sie nie wieder zurückbeordert worden war, deutete darauf hin, dass man sie bei sich zu Hause ebenso wenig gemocht hatte wie hier. Sie passte auch tatsächlich gut in unseren Ort. Schließlich waren die Gamboges ebenso scheußlich wie sie, und Gelb und Gelb gesellte sich bekanntlich gern.

»Gut zu wissen«, sagte Celandine, während wir auf den Bahnhofsausgang zusteuerten. Er nahm sich einen Moment, um mich von Kopf bis Fuß zu mustern. »Sie wirken recht jung. Ich gehe davon aus, dass ich nicht von jemandem mit schwacher Farbe in Empfang genommen worden bin.«

Laut dem Buch von Munsell musste jeder Präfekt, der zu Besuch kam, von jemandem mit »Signifikanter Farbe« begrüßt werden. Ich war einer von ihnen, da bei meinem Ishihara gerade erst 86,7 Prozent Rotsicht ermittelt worden war. Es gab keine Einarbeitungszeit – augenblicklich war ich in eine Welt der Verantwortung geworfen worden, die meinem soeben festgelegten Status entsprach.

»Nein, Sir«, sagte ich, da unsere Farbabzeichen immer nur den eigenen Ton angaben und nie die spektrale Farbsicht. »Ich bin einer der höchsten Rotsichtigen im gesamten Dorf. Oberpräfekt deMauve hat mir den Auftrag gegeben, Sie willkommen zu heißen.«

»Dann werden Sie, trotz Ihrer Jugend, genügen müssen.«

Er kam zwar unerwartet, aber mein Wechsel von »wahrscheinlich hoher Rotsicht« zu »außerordentlicher Rotsicht« bedeutete einen Aufstieg von einer ganzen spektralen Privilegienstufe. Jane dagegen war vor ihrem Ishihara noch eine Graue gewesen und seitdem eine ganz leicht Grüne. Damit war sie von der Grauzone zu einer freien Wohnung im Grünen Teil der Stadt umgesiedelt worden, wo man nun von ihr erwartete, dass sie sich unter die Bevölkerung mischte, heiratete und in einem Job arbeitete, der ihr von ihrem neuen Farbton vorgegeben wurde. Schlimmer noch: Mit unseren Rot- und Grüntönen, mithin Komplementärfarben, war es uns ausdrücklich verboten, mehr als distanziert höflichen Umgang zu pflegen. Dies war eine der grausameren Vorschriften. Ganz gleich, ob man befreundet war oder verliebt oder sogar verlobt: Befanden sich zwei Menschen nach dem Ishihara-Test auf gegenüberliegenden Seiten des Farbkreises, so waren sie dazu verurteilt, bis ans Ende ihres Lebens nicht mehr als ein freundliches Kopfnicken auszutauschen.

»Es gab einen Asozialen-Alarm kurz vor unserer Abfahrt in Dog-Leg-Lake«, sagte Präfekt Celandine, als Bunty ihn fragte, ob er eine angenehme Reise gehabt hatte. »Aber wir haben keine gesehen. Ich kann mit Stolz sagen, dass wir die Ausrottungspolitik auf Anraten des Zentralbüros voll und ganz umgesetzt haben. Es ist immer noch die freundlichste Weise, mit den Asozialen zu verfahren, zumal ja allgemein bekannt ist, dass sie dazu neigen, Babys zu stehlen. Vermutlich, weil diese Geschöpfe ihren eigenen Nachwuchs gleich nach der Geburt fressen. Es ist ja schon vermutet worden, dass sie Babys überhaupt nur bekommen, um sie zu fressen. Ich persönlich neige ebenfalls zu dieser Überzeugung. Haben Sie hier unten viele Probleme mit Ungeziefer?«

Ich musste zugeben, dass wir keine hatten. Als Asoziale oder Gesindel bezeichnete man allgemein den Homo feralensis, eine Art Wildmenschen. Doch trotz ihrer Neukategorisierung als »Ungeziefer« hatten sie, bei meinen wenigen Begegnungen mit Vertretern ihrer Art, einen recht friedlichen Eindruck auf mich gemacht.

»Wenn ich ganz ehrlich bin, bezweifle ich die Geschichten mit dem Baby-Fressen«, sagte ich recht tollkühn. »Schließlich muss es deutlich mehr Energie kosten, ein Baby durch die Schwangerschaft zu bringen, als man durch seinen Verzehr zurückgewinnt.«

»Sie sind jetzt also auch Experte im Hebammengewerbe, ja?«, warf Bunty gehässig ein.

»Nur in praktischer Ernährungstheorie.«

»Es sind Wilde«, schnaufte Celandine missbilligend, »primitiv, vulgär und ungebildet. Ich habe gehört, dass sie sich Fortpflanzungsaktivitäten zum Spaß hingeben.«

»Schockierend«, sagte Bunty. »Verkehr ohne Vorteil für die Gemeinschaft ist verschwendeter Verkehr.«

»Ich kann Ihnen nur zustimmen«, sagte Celandine. »Mrs Celandine und ich hatten nur Verkehr, wenn es die Notwendigkeit eines weiteren Kindes erforderlich gemacht hat. Und selbst in diesen Fällen haben wir Schritte unternommen, um sicherzustellen, dass es für beide Parteien kein Vergnügen sein würde.« Ich wollte gar nicht wissen, wie genau sie das angestellt hatten, und Celandine fuhr fort: »Was ist mit Schwanangriffen?«

Instinktiv schauten wir auf. Am klaren grauen Himmel war nichts zu erkennen. Die Schwäne von East Carmine erschienen regelmäßig um zehn Uhr morgens und um fünf Uhr am Nachmittag. Dann flogen sie etwa zwanzig Minuten lang in ihren eigentümlichen Achterformationen über dem Dorf herum, bevor sie schließlich weiterzogen.

»East Carmine hat kaum je einen gebrochenen Arm zu verzeichnen gehabt, soweit man hier zurückdenken kann«, sagte ich, was der Wahrheit entsprach. Das »Tage seit dem letzten Schwanangriff«-Schild hatte schon vor langer Zeit die 999 erreicht, den höchstmöglichen Stand, und war auch nie zurückgesetzt worden.

»Da haben Sie in der Tat Glück«, sagte er. »Erst vor einer Woche ist ein Schwan in Greensdale-on-the-Vale vom Himmel herabgeschossen und hat einen Säugling fortgerissen. Wir müssen also immer wachsam bleiben.«

»Warum sollte sich ein Schwan einen Säugling schnappen?«, fragte ich, aber er beantwortete meine Frage nicht. Schließlich war es keine Frage, die beantwortet werden sollte oder konnte.

Wie so viele der existenziellen Ängste, die uns eingeredet wurden – Blitze, die Nacht, Asoziale, Schwäne, die Puka-Geister –, war keine davon besonders bedrohlich, wenn man sie auch nur oberflächlich in Augenschein nahm. Kein Wunder, dass Neugierde derart schlecht im Kurs stand. Eine verängstigte Bevölkerung war, wie Jane mir erklärt hatte, eine gehorsame Bevölkerung.

»Ich werde an der Disziplinaranhörung teilnehmen«, fügte er hinzu, um die Unterhaltung voranzutreiben. »Nach den Vorschriften, die im Guten Buch verankert sind, und um Unvoreingenommenheit zu garantieren, kann schließlich eine Untersuchung, in der es um den Verlust eines Stellvertretenden Präfekten geht, nicht von der örtlichen Gelben Präfektin geleitet werden, wenn sie mit dem Opfer verwandt ist.«

Jetzt verstand ich, warum Celandine hier war. Wenn man es Sally Gamboge überlassen hätte, dann hätte sie Jane und Tommo und mich längst des Todes ihres Sohnes schuldig gesprochen. Mit Celandines Anwesenheit würde man wenigstens so tun können, als gäbe es eine faire Verhandlung. Wir wussten, dass Violet kein Urteil zu fürchten hatte.

»Und wir sind Ihnen äußerst dankbar für Ihre Unterstützung«, sagte Bunty und warf mir einen kurzen Blick zu. »Ihr Transportmittel erwartet Sie.«

Das Dorf

Torrance Redwing erfand den Begriff »Schlupflochkunst« und erwies sich selbst als wahrer Meister auf diesem Gebiet. Er begann mit dem Umgehen der Vorschriften, um weiterhin Fische halten zu können. Dann machte er Trifles für alle zugänglich, richtete es so ein, dass er auch an Donnerstagen ein Barett tragen durfte sowie die Haare bis über den Kragen wachsen lassen durfte. Zwar betrachtet man ihn als eine Art Held, es lassen sich jedoch keinerlei Aufzeichnungen seiner Taten finden. Er lebt ausschließlich in geheimer mündlicher Überlieferung fort.

Ted Grey: Zwanzig Jahre unter den Chromatikern

Wir traten aus dem Bahnhofsgebäude, und Präfekt Celandine blieb unvermittelt stehen, als er den Ford erblickte. Es war nicht das uralte Transportmittel, das sein Missfallen fand. (Seit dem Automobilverbot im Rahmen des Rücksprungs Nr. III vor sechsundneunzig Jahren waren schließlich fast alle Wagen vom Model T. Und wäre das Model T nicht aus dem Museum befreit und für museale Sammlungen als überflüssig klassifiziert worden – ein besonders cleveres Stück Schlupflochkunst –, hätten wir nicht mal sie. Im Spectrum-Magazin hatte ich einmal gelesen, dass es mehrere ausrangierte Hispano-Suizas im Blauen Sektor gegeben hatte, die zum Pflügen benutzt wurden, und dass irgendwo im Roten Sektor Süd ein Austin Allegro genutzt wurde, um Dung zu transportieren, wozu sich dieses Modell überraschend gut eignete.)

Es waren die auf dem Pritschenwagen sitzenden Tangerine-Player, die Celandine gegen den Strich gingen. Orangefarbene waren grundsätzlich im kreativen Bereich tätig: Als Künstler und Dichter und Schauspieler und was nicht alles – und sie wurden allgemein als zügellos angesehen: ausschweifend, nichtsnutzig und häufig meritenlos – sowohl finanziell als auch, was ihren Charakter betraf. Celandines Gesicht nach zu urteilen, hielt er wenig mehr von ihnen als von den Grauen oder, schlimmer noch, von den Asozialen.

»Ich werde mit denen nicht in einem Wagen fahren«, verkündete er naserümpfend. »Sie sollen zu Fuß gehen.«

Er wartete, während ich den Schauspielern erklärte, dass ich den Wagen für sie zurückschicken würde. Nachdem sie dem Gelben Präfekten vernichtende Blicke zugeworfen hatten, stiegen sie ab und stellten sich im Schatten des Bahnhofsvordachs unter.

»Willkommen in East Carmine«, sagte Carlos Fandango, unser örtlicher Dorfmeister, der auf dem Fahrersitz saß. »Ich habe einen Bruder in Dog-Leg-Lake, der dort als Schreiber in der Ratskammer arbeitet.«

»Äußerst faszinierend«, erwiderte Celandine. »Fahren Sie langsam, sonst lasse ich Ihnen Meriten abziehen. Und ich habe keinerlei Interesse an banaler Konversation.«

Carlos nickte zur Antwort, schließlich wusste er nur zu gut, dass man bei einem Präfekten keine Widerworte wagen sollte. Fandango war rein technisch Purpur, allerdings derartig schwach ausgeprägt, dass es kaum eine Rolle spielte. Für hochrangige Purpurne waren ihre schwächer getönten Brüder häufig nur »Bläuliche Rote«.

Der Wagen wurde mit wiederverwertetem Speiseöl betrieben, und kaum war der Motor angesprungen, verbreitete sich ein Geruch, der an die Fisch-and-Chips-Abende in den Gemeinschaftsküchen erinnerte. Nachdem ich den Ziegelstein unter dem hinteren Reifen entfernt und mich neben Bunty auf dem Rücksitz niedergelassen hatte, setzten wir uns in Bewegung und tuckerten über die Perpetulitfahrbahn in Richtung Dorf.

»Das da drüben ist unsere Linoleumfabrik«, sagte ich und deutete auf das große Gebäude aus rotem Backstein, aus dem dumpfes Hämmern drang. »Wir beliefern das gesamte Kollektiv mit Linoleum.«

»Ein würdiges Unterfangen«, sagte Celandine. »Und ein Erfolg, der zu großen Teilen auf Mrs Gamboge zurückzuführen ist, wie ich gehört habe. Ist es wahr, dass sie die Achtundsechzig-Stunden-Woche eingeführt hat?«

»Ja, das ist wahr«, sagte Bunty enthusiastisch, da die Gamboge-Exzesse wahrlich kein Geheimnis waren. »Und siebzehn urlaubsfreie Arbeitsjahre.«

»Wie hat sie das geschafft?«

»Sie hat den Rat davon überzeugt, eine Standardvariable einzuführen, die besagt, dass Urlaub nur nach der Pensionierung oder dem Tod bewilligt werden kann«, sagte Bunty. »Der Ruhestand schmeckt so viel süßer, wenn er wohlverdient ist. Und wer braucht schon Urlaub nach dem Tod?«

Präfekt Celandine kicherte vor sich hin.

»Eine bewundernswerte Lösung für ein wahrhaft hartnäckiges Problem – die ich mit Sicherheit übernehmen werde. Arbeitsscheue Graue in Schach halten zu müssen, ist eine ermüdende Bürde, und Mrs Gamboge hat mein vollstes Mitgefühl. Die Fabrik in Dog-Leg-Lake stellt Besteck her, und wir erreichen oft die Produktionsziele nicht, was ausschließlich an der charakteristischen Faulheit der Grauen liegt.«

Dies war in der Tat interessant. Nicht seine negative Einstellung gegenüber den Grauen, die unter den höheren Farbtönen weit verbreitet war – sondern das mit der Besteckfabrik. Ich hatte nämlich einen Lösungsansatz für ein potenzielles Löffelproblem gefunden.

»Ach, wirklich?«, sagte ich und fügte etwas dümmlich hinzu: »Aber Sie stellen nicht auch Löffel her, oder?«

»Selbstverständlich keine Löffel.« Mit scharfem Ton quittierte er die Banalität meines Kommentars. Wegen eines unerklärlichen Fehlers in Munsells Buch der Harmonie war die Löffelherstellung ausdrücklich verboten. Bei der letzten Löffelzählung war geschätzt worden, dass auf elf Einwohner nur noch ein Löffel kam, wobei Schöpfkellen und andere Servierutensilien nicht mitgezählt wurden. Das Teilen von Löffeln war als Standardvariable inzwischen gestattet, ebenso wie das Custardessen mit Gabeln. Wer dies für eine dumme Vorschrift hielt, sollte sich an die Handschuhregeln erinnern: Es war gestattet, sie herzustellen, aber unter keinen Umständen, sie zu tragen.

»Wenn mein Team unsere Arbeiter nicht ununterbrochen unter Druck setzen würde«, sagte Celandine, »müsste das gesamte Kollektiv mit den Händen essen.«

Wir fuhren rechts ran, um einen Drei-Mann-Peloton von Hochrädern vorbeizulassen, die in einem Wirbel aus Speichen an uns vorbeirauschten. Auf den Gesichtern der Fahrer spiegelte sich eine Mischung aus Konzentration, körperlicher Anstrengung und Angst.

»Trainieren die für den Jollity-Jahrmarkt?«, fragte Präfekt Celandine.

»Ich glaube, wir könnten das Ein-Stunden-Rennen gewinnen«, sagte Carlos. »Sie trainieren viel und kennen anscheinend keinerlei Furcht.«

»Wie sind die Hochräder eigentlich dem Fahrradgetriebeverbot des dritten Rücksprungs entgangen?«, fragte Bunny, womit sie vermutlich weniger ihre Neugier befriedigen als mögliche Verstöße aufspüren wollte.

»Einräder wurden vom Fahrradgetriebeverbot ausgenommen«, erwiderte ich. »Das hat auch die Hochräder mit eingeschlossen, da das kleinere zweite Rad als Stabilisierungshilfe definiert wurde und nicht als eigenständiges Rad.«

Bunty stieß ein unzufriedenes Schnaufen aus.

»Das große Rad der Hochräder ermöglicht zwar eine ungewöhnlich hohe Geschwindigkeit«, fügte Carlos hinzu, »bringt aber auch Nachteile mit sich: Die enorme Sitzhöhe und die extreme Schnelligkeit machen die Bedienung zu einer potenziellen Gefahr, und beim Versuch, neue Rekorde aufzustellen, kommen regelmäßig Fahrer ums Leben.«

Der Hauptgrund der Todesfälle war nicht bloß die Geschwindigkeit – es lag auch an der äußerst wahnsinnigen Praxis des »Urban Freestyle«-Wettbewerbs, bei dem sie Saltos schlugen und Drehungen in der Luft vollführten.

»Ich werde ebenfalls am Jollity-Jahrmarkt teilnehmen«, sagte Bunty stolz, vermutlich, um Mr Celandine zu beeindrucken. »Beim Wettbewerb um den tiefsten gehaltenen Ton mit meiner modifizierten Subkontrabass-Tuba. Ich werde für das menschliche Gehör nicht mehr wahrnehmbar sein, aber bei den Kühen sollte es zu einer starken Muh-Reaktion kommen.«

»Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte Mr Celandine ohne das geringste Interesse. »Wenn ich Ihnen bei Ihren Bemühungen irgendwie behilflich sein kann, behalten Sie es bitte für sich.«

»Herzlichen Dank«, sagte Bunty, die ihn offenbar falsch verstanden hatte.

Wir fuhren eine Minute lang weiter, vorbei am Holzlager, an der Käserei und der Eselsmühle.

»Sie sind hergekommen, um das Urteil über den Tod des jungen Mr Gamboge zu fällen?«, fragte Carlos Fandango. Als Dorfmeister war er in Personalunion Fahrer und Instandhalter unserer kleinen Model-T-Flotte, der zentralen Straßenlaterne und vieler anderer Dinge. Er nahm 14 Prozent im blauen und roten Sichtbereich wahr, was nicht viel mehr war als ein mauvefarbenes Nichts, aber sein begehrter Status als Dorfmeister verschaffte ihm den einen oder anderen Vorteil. Zum Beispiel, dass er mit jemandem wie Mr Celandine sprechen durfte, ohne vorher von ihm angesprochen zu werden.

»Ich werde mir gewissenhaft die Zeugenaussagen aller Parteien anhören, leidenschaftslos und vorurteilsfrei alle Beweise betrachten und dann alle Faktoren abwägen, um zu einem Urteil zu gelangen, das mit Mrs Gamboges ursprünglicher Einschätzung übereinstimmt: dass der Tod ihres Sohnes keine natürlichen Ursachen hat, sondern fremdverschuldet ist und dass die Verursacher unverzüglich zu bestrafen sind.«

»Sie haben sich bereits ein Urteil gebildet?«, fragte Carlos und warf mir einen raschen Blick zu.

»Ich bin nicht hier, um das Wort einer überaus anerkannten Gelben in Zweifel zu ziehen«, sagte er. »Meine Anwesenheit ist eine reine Formalität. Kennt jemand von Ihnen diesen Edward Russett?«

»Ziemlich gut«, sagte ich. »Ich bin es selbst.«

Er starrte mich an.

»Das erklärt natürlich Ihre törichten Fragen in Bezug auf Löffel und Schwanangriffe«, sagte er. »Sie und Cinnabar und Jane Brunswick werden nicht bestraft. Vielmehr werden Sie sich opfern, damit alle die Wichtigkeit der Vorschriften begreifen. Und verstehen, dass das Besudeln der Harmonie dem Kollektiv jegliche Möglichkeit nimmt, ein Leben zu genießen, das unbeschmutzt ist von jedweder Verwirrung und Bösartigkeit.«

Er ließ unser Todesurteil beinahe nobel klingen.

»Nehmen Sie an vielen solcher Anhörungen teil?«, fragte ich.

»Ich verbringe meine Zeit mit wenig anderem. Meine unverblümte Art und meine gelbzentristische Grundhaltung machen mich zu einem gefragten Beisitzer.«

Das bezweifelte ich nicht, auch wenn es keineswegs so sein musste: Die Vorschriften waren nicht das Problem. Die unvermindert rigide Auslegung war es, was sie so unumsetzbar machte. Der Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Rat bestand schlicht darin, wie diese Vorschriften angewandt wurden, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Bei einem Tagesausflug, den Dad und ich einmal nach Viridian unternommen hatten, um Lebensmittelfarbe zu kaufen, waren wir in die dortige Ratskammer zu den Strafverhandlungen gegangen, um uns ein wenig kostenlose Unterhaltung zu gönnen. Ein interessanter Fall war dort verhandelt worden: Statt eine Frau dafür anzuklagen, dass sie ihren Ehemann mit einer Heckenschere ermordet hatte, nachdem er ihr ohne ihr Einverständnis intime Nähe aufgedrängt hatte, entschied sich der Oberpräfekt, sie des unverantwortlichen Scherengebrauchs zu beschuldigen. Sie wurde schuldig gesprochen, erhielt eine Strafe von fünfzig Demeriten und musste einen Nachmittag lang an einem Scherentraining teilnehmen. Die Überreste ihres Ehemanns wurden ohne viel Federlesens dem Ausschmelzschuppen zugeführt. Niemand konnte leugnen, dass es sich um ein zufriedenstellendes Ergebnis handelte.

»Das ist unsere Knisterfalle«, sagte Bunty stolz, während sie zu der kupfernen Kuppelvorrichtung auf dem Flakturm des Dorfes zeigte. »Ein Bürgerprojekt, das unsere gute Sally Gamboge persönlich in Auftrag gegeben hat, um unsere Gemeinschaft vor Blitzen zu bewahren.«

Grausige Berichte davon, wie die Gehirne von Einwohnern durch Blitzeinschläge zum Kochen gebracht worden waren, stellten die drittbeliebtesten Artikel im Spectrum-Magazin dar – nach Schwanangriffen und Babys stehlenden Asozialen. In Wahrheit ließen sich nur zwei Tatsachen nicht bestreiten, die mit der Knisterfalle zu tun hatten: Ihr Bau hatte eine gewaltige Summe von kommunalen Meriten verschlungen, und sie hatte nicht den geringsten Nutzen.

»Beeindruckend«, sagte Celandine, aber der Flakturm interessierte ihn weitaus mehr. Da sich alle Städte und Dörfer streng nach den Architektur-Uniformitätsvorgaben richteten, stellte dieser Turm, der vom vorschriftsmäßigen Grundriss abwich, eine Einzigartigkeit dar, auf die East Carmine mit Recht stolz sein konnte.

»Haben Sie eine Ahnung, wozu er gut ist?«, fragte Celandine, da es in Dog-Leg-Lake keine Flaktürme gab.

»Nicht die geringste«, sagte Bunny. »Aber sie werden im Buch der Harmonie erwähnt. Unser Ehrenwerter Munsell hatte mit ihnen also gewiss etwas im Sinn.«

Das riesige, spitz zulaufende Bauwerk war mindestens dreimal so hoch wie das Rathaus, und wie das Rathaus und die Ratskammer war es aus Perpetulit gefertigt. Der Turm war womöglich einst ein Speicher gewesen, ein Aussichtsturm oder vielleicht auch ein Perpetulitlager und hatte vielleicht nur darauf gewartet, in seinen eigentlichen Gebrauch genommen zu werden, was dann nie geschehen war. Wie bei so vielen anderen Phänomenen um uns herum, war die Vergangenheit nicht nur unbekannt, sondern unerkennbar.

Wir verfielen in Schweigen, während Fandango uns durch das Osttor ins Dorf hineinsteuerte, dessen Zentrum als großer offener Platz dalag. An der Nordseite erhoben sich die Wohnhäuser der prominenten Farbtöne, während die Teestuben, die Läden, die Bibliothek und die Handwerksbetriebe in der Peripherie zu finden waren, allesamt in der vorgeschriebenen Lage, also in jeder Ortschaft der C-Kategorie exakt am selben Platz. Das Rathaus stand genau in der Mitte, und vor seinem Eingang ragte die doppellebensgroße Statue unseres Ehrenwerten Munsells in die Höhe. Hinter dem Marktplatz befanden sich die Wohnviertel der niedrigeren Farbtöne, die Küchen, Werkstätten und Kornkammern mit ihren Heuschobern, Melkställen und, ein Stück weit entfernt, der Werkstatt von Carlos. Im größtmöglichen Abstand davon waren schließlich der Ausschmelzschuppen, die Gerberei, der Grünraum und die Grauzone zu finden.

Carlos hielt vorm Haus der Gamboges an, das sich leicht an der univisuell gelben Tür erkennen ließ. Sally Gamboge wartete bereits auf der Türschwelle und begrüßte Mr Celandine aufs Wärmste.

»Der da hat meinen Sohn umgebracht«, sagte sie und zeigte mit einem knochigen Finger auf mich. »Merken Sie ihn sich gut.«

»Ich verachte ihn bereits aus tiefstem Herzen«, entgegnete Mr Celandine. »Sie können in dieser Angelegenheit auf meine ungeteilte Unterstützung zählen.«

»Ich dachte, es solle eine faire und freie Anhörung werden«, bemerkte ich, als ich Celandines Handkoffer neben ihm auf dem Boden abstellte.

»Wie können Sie es wagen?«, sagte Mrs Gamboge. »Ihre Unterstellung eines vorentschiedenen Ergebnisses ist beleidigend, erniedrigend und ungesetzlich. Ihr Buch, bitte.«

Ich seufzte und reichte ihr mein Meritenbuch, worauf mir zwanzig Meriten Strafe abgezogen wurden, da ich »die Reputation einer ranghöheren Person infrage gestellt« hatte, zehn weitere wegen »unangemessener Äußerung« und fünf wegen »zusätzlicher nicht spezifischer, infrage stellender Absicht«.

Sie gab mir mein Meritenbuch zurück, und ich dankte ihr für meine Bestrafung, um einen weiteren Meritenabzug wegen »unangemessener Nichtanerkennung von persönlichem Fehlverhalten« zu vermeiden. Dann nahm ich rasch meinen Abschied, bevor sie noch irgendwelche weiteren Beschuldigungen aus dem Ärmel ziehen konnte.

»Ich hoffe, du und Jane habt euch eine gute Strategie zurechtgelegt«, sagte Carlos, als wir außer Hörweite waren. »Diese beiden werden alles tun, um euch in den Grünraum zu bekommen.«

Trotz meiner Beteiligung an dem Plan, der Carlos’ Tochter und Dorian dazu verholfen hatte, miteinander durchzubrennen, schien er keinen großen Groll gegen mich zu hegen. Was sich dramatisch ändern würde, wenn er herausfände, was ihnen am Ende zugestoßen war. Ich musste sicherstellen, dass es nie dazu kam.

»Wir haben einen Plan«, sagte ich.

»Ach ja?«

»Ja. Er greift hauptsächlich auf jede Menge trügerischer Hoffnung zurück und – wenn das nicht hilft – auf ein gutes Paar Schuhe zum Wegrennen.«

Tommo Cinnabar

Die Familie Cinnabar war eine feste Größe im Karmesin-Pigmenthandel, bis illegale Preisabsprachen zu ihrem Niedergang führten und sie auf dem Heiratsmarkt allgemein gemieden wurde. Wenn alle Cinnabars keine andere Wahl mehr hatten, als Graue zu heiraten, würde die Familie aufhören zu existieren. Einmal in der Grauzone angelangt, wurden alle Töne gleichrangig behandelt – bis jemand spektralaufwärts heiratete und die ganze Sache von vorn losging.

Ted Grey: Zwanzig Jahre unter den Chromatikern

Wir parkten den Ford vor der Dorfmeister-Werkstatt und stiegen aus. Während Carlos die Wartungs-Checkups ausführte, die nach jeder Fahrt anfielen, und die zurückgelegten Meilen ins Fahrtenbuch eintrug, schaute ich mich um. Jede Autowerkstatt eines Dorfmeisters – nicht bloß die von Fandango – stellte eine wunderliche Sammlung alter Technik dar, womit sie Cobalts Museum für das Gewisse Ereignis nicht unähnlich war. Das Dorf verfügte über zwei Model-T-Fords. Der erste diente allgemeinem Gebrauch, der zweite der Jagd auf Kugelblitze: Auf dem Heck des Wagens war eine Armbrust montiert, geladen mit einem Kupferpfeil, der beim Abschuss geerdete Kabel hinter sich herzog. Beide Fahrzeuge hatten ihre geplante Lebensdauer um viele Jahrhunderte überstiegen und waren so häufig ausgebessert worden, dass sie nur noch eine flüchtige Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen Ford aufwiesen – das wussten wir, weil ein Bild davon an der Wand hing.

In der großen Werkstatt gab es darüber hinaus eine Esse, eine Drehbank und eine Fräsmaschine, alle angetrieben von einem ausrangierten Everspin-Motor, der mehrere Flaschenzüge und Transportbänder aus einem darüberliegenden Schacht bediente. Man glaubte, dass ein weiterer Everspin die Elektrizität für die zentrale Straßenlaterne lieferte, die Kohlestifte verbrannte, um einen Lichtbogen reiner weißer Helligkeit zu produzieren. Aber keiner von uns konnte das mit Sicherheit sagen, da der Generatorraum abgeschlossen war und niemand einen Schlüssel hatte.

Das bei Weitem Interessanteste in der Werkstatt war jedoch Fandangos ganzer Stolz: das Gyrorad, mit dem East Carmine am Rennen für Fahrzeuge mit Speicherantrieb auf dem diesjährigen Jollity-Jahrmarkt teilnehmen würde. Das Rad hatte Carlos eigenhändig angefertigt, und es war ein wunderschönes, tiefergelegtes, zweirädriges Fahrzeug mit dreißig Zentimeter breiten Reifen, einem tiefen Ein-Personen-Sattel und einer kurzen, nach unten gerichteten Lenkstange im Inneren einer schmalen Verkleidung.

Eigentlich hätte Jane mit dem Rad antreten sollen, aber da unsere Zukunft nun derartig in der Luft hing, wurde nach einer Alternative gesucht. Es würde wohl Amelia Cinnabar werden – Tommos erste Cousine. Als stellvertretende Dorfmeisterin unter Fandango hatte sie das Rad bei zahlreichen Testrennen gefahren und war in East Carmines Velodrom stets Zweitschnellste gewesen.

»Haben wir überhaupt eine Chance?«, fragte ich.

»Rein technisch haben wir ein gutes Rad.« Carlos legte eine Hand auf das schnittige, glatt polierte, metallisch-schwarze Gefährt. »Aber Jamie ›Mad Dog‹ Juniper, die für den Grünen Sektor antritt, ist die beste Fahrerin. Sie zu schlagen wird schwierig werden.«

»Schwierig oder unmöglich?«

»Irgendwo dazwischen. Aber wir haben einen Vorteil: Die meisten Teams speichern die Energie des Rades in sechs Drehgewichten. Ich habe aber noch zwei weitere reingequetscht. Dauert dafür ein bisschen länger, bis wir zur Höchstgeschwindigkeit kommen, und der Kompensationsmechanismus für sichere Umdrehungen ist komplexer. Trotzdem, das dürfte uns helfen.«

»Das größere Problem«, sagte Amelia, die ebenfalls anwesend war, »ist, dafür zu sorgen, dass Jane überhaupt hier ist und es fahren kann. Ich bin schnell, aber nicht so schnell wie sie.«

»Ich habe deMauve gebeten, eure Anhörung aufzuschieben«, fügte Fandango hinzu, »aber er meinte, die Gamboge würde das nicht zulassen.«

»Sie ist kein Fan von uns.«