Rotbergs Lächeln - Lienhard Wawrzyn - E-Book

Rotbergs Lächeln E-Book

Lienhard Wawrzyn

4,5

  • Herausgeber: BeBra Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Kommissar Max Talheim ist nicht leicht zu erschüttern. Doch dieser Fall führt ihn an seine Grenzen: Eine Leiche wird aus der Spree gezogen, den Kopf in einem schwarzen Müllsack verpackt. Der einzige Zeuge, ein harmloser Angler, setzt sich aus unerfindlichen Gründen ab. Talheims Ermittlungen führen auf eine unglaubliche Spur. Alle Fäden scheinen bei einem dubiosen Anlageberater namens Rotberg zusammenzulaufen. Doch hinter dem ist auch die russische Mafia her. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt…

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Seitenzahl: 284

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Lienhard Wawrzyn

Rotbergs Lächeln

Kriminalroman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CDROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2014

© der Originalausgabe:

berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2008

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin

Umschlag: Ansichtssache, Berlin

ISBN 978-3-8393-6138-2 (epub)

ISBN 978-3-89809-510-5 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Kapitel 25.

Kapitel 26.

Kapitel 27.

Kapitel 28.

Kapitel 29.

Kapitel 30.

Kapitel 31.

Kapitel 32.

Kapitel 33.

Kapitel 34.

Kapitel 35.

Kapitel 36.

Kapitel 37.

Kapitel 38.

Kapitel 39.

Kapitel 40.

Kapitel 41.

1.

Bevor Rotberg seine Wohnung verließ, schob er die Küchengardine beiseite und linste vorsichtig aus dem Fenster. Er war kein ängstlicher Typ. Aber er wusste, seine Feinde, die irgendwo da draußen lauerten, fackelten nicht lange. Wenn sie ihn erwischten, wäre das Letzte, was er in seinem Leben hören würde, sein eigenes Geschrei.

Sieben Stockwerke unter ihm die Straße war leer. Es war eine ruhige Gegend. Tempo-dreißig-Zone. Okay, manchmal ließen junge Burschen in ihren getunten Autos die Bässe wummern und bretterten durch die Straßen. Aber das war harmlos.

Alles in Ordnung. Nichts zu sehen.

Nur der alte Schapp kniete auf dem Bürgersteig und schraubte an seinem Motorrad. Und ein Mann von der Stadtreinigung kurvte auf einer Maschine den Bürgersteig entlang, die mit einem dicken Rüssel den Schmutz aufsaugte. Wie aus dem Nichts heraus wirbelte ein Windstoß ihm eine Ladung Staub ins Gesicht. Das Wetter schlug um.

Rotberg zog die Gardine wieder zu.

Er schnappte sich ein Stückchen Parmaschinken vom Teller, zupfte den Fettrand ab, wickelte es um die Scheibe Honigmelone und verputzte es im Stehen.

Rotberg war zweiundvierzig Jahre alt. Sein volles schwarzes Haar hatte in letzter Zeit jede Menge graue Sprenkel bekommen. Er trug Jeans von Armani, einen blauen Rollkragenpullover aus Merinowolle, ein Lederblouson und rahmengenähte Schuhe. Nobel, unauffällig. Eigentlich war er ein stattlicher Mann. Aber sein Gesicht war aufgeschwemmt vom Bier und vom Whisky. Die Hose spannte am Bauch.

Am Morgen war er auf die Waage gestiegen. Hundertundein Kilo! Man sah es zwar nicht, weil er groß und kräftig war, aber er war entschieden zu fett. Und er hatte sich bei dem Gedanken ertappt, sich ans offene Fenster zu stellen und mit gymnastischer Hampelei anzufangen. Bin ich in ein Stimmungstief gerutscht, fragte er sich? Seitdem Deborah ihn vor zwei Jahren verlassen hatte, war er locker vierundzwanzig Kilo schwerer geworden. Für jeden Monat ein Kilo, dachte er und musste grinsen.

In den letzten Tagen hatte er manchmal das Gefühl gehabt, jemand würde ihn beschatten. Zwei-, dreimal war er einem dicklichen Mann Ende vierzig begegnet. Und dann war da noch ein junger Schwarzhaariger, vermutlich ein Türke. Wahrscheinlich nur Einbildung, dachte er, ging in den Wohnungsflur, nahm den kleinen Rollenkoffer, in dem sich alles befand, was er heute für sein Vorhaben brauchte, schloss zweimal hinter sich ab und sog dabei gierig den Duft von Bratkartoffeln, Speck, Zwiebeln und Eiern ein, der sich verführerisch im Treppenhaus breitmachte. Wahrscheinlich hatte irgendjemand zwei Pfannen auf dem Herd und machte Hoppel-Poppel nach einem alten Berliner Rezept.

Der Aufzug ruckelte und knarzte, die Drahtseile lärmten im Schacht, als wollten sie jeden Moment reißen. Ein beißender Geruch stieg ihm in die Nase. Er musterte die zerkratzten grauen Blechwände und die dunklen feuchten Ecken. In breiten Buchstaben hatte irgendwer etwas eingeritzt, was »Wowi« heißen konnte. Ihn störte Wowis Krakelei nicht. Im Gegenteil, sie gab ihm ein Gefühl der Sicherheit.

Er hatte genug Geld für die nächsten fünfhundert Jahre. Aber er brauchte eine Umgebung, die ihn unsichtbar machte. Zum Glück war er kein Typ, der darauf angewiesen war, seine Reichtümer zur Schau zu stellen. Manchmal fragte er sich allerdings: Wer angeblich so frei ist, warum braucht der eigentlich so viel Geld?

Als sich die Fahrstuhltür wieder öffnete, kam ihm die korpulente Mittfünfzigerin aus dem neunten Stock mit einem neuen Liebhaber entgegen. Mit Schminke hatte sie wieder mal nicht gegeizt. Sie hatte sich bei dem Mann eingehakt; ehrlich gesagt sah es mehr aus wie ein Polizeigriff. Er, einen Kopf kleiner als sie, trug Zimmermannshosen, ein weites Jackett und darunter ein offenes Hemd, aus dem graue Haarbüschel hervorquollen. Er zögerte, aber es half ihm nichts, die Dicke schob ihn in die Kabine. Die Stahltür schloss sich, die Drahtseile dröhnten, während beide in ihr kleines Paradies entschwebten.

Rotberg schoss durch den Kopf, dass sie sich vermutlich etwas dazuverdiente.

Das Gehen fiel ihm schwer, seitdem er sich letzte Woche einen Bänderriss zugezogen hatte. Der Schmerz hämmerte in seinem Bein. Aber er musste vorsichtig sein. Er war nicht einmal ins Krankenhaus gegangen. Ein Orthopäde in Mitte hatte die Verletzung geröntgt, bandagiert und geschient. Der Kerl hatte Fäuste wie ein Metzger und war entsprechend grob gewesen. Rotberg hatte ihm ein paar große Scheine auf den Tisch gelegt, und der Mann hatte keine Fragen gestellt. In der Hoffnung auf mehr Geld hatte er ihn auf seine Knochenerkrankung angesprochen. Rotberg hatte den Kopf geschüttelt und gesagt, er sei nur als Tourist in der Stadt.

Mehr noch als die Verletzung hatte ihn geärgert, dass er deswegen zu spät in die Philharmonie gekommen war und den ersten Satz von Mahlers zehnter Symphonie verpasst hatte. Er hatte im Treppenhaus gestanden und das Konzert auf einem kleinen Bildschirm verfolgt. Später hatte er im Konzertsaal gesessen, in seinem Knöchel tobten die Schmerzen, während er Mahlers Rebellion gegen die Normen musikalischer Kultur genoss und dachte: Nur ein Genie kann so viel in so kurzer Zeit ausdrücken.

Ab und zu blieb er stehen und lauschte. Nein, hinter ihm waren keine Schritte zu hören. Nichts.

Ein schwarzer BMW mit getönten Scheiben fuhr langsam an ihm vorbei. Warum schlich der so? Ein junger Bursche saß am Steuer. War das der Türke? Ein kurzer Seitenblick. Entwarnung.

Es war nur ein Gefühl. Aber er hatte gelernt, auf seine Eingebungen zu hören. So entschied er sich letzter Sekunde, doch lieber die U7 zu nehmen und dann in Neukölln in die S-Bahn umzusteigen. Sein Instinkt war wie eine Flamme, die irgendwo auf dem Grunde seines Gehirns wachte und die keine Müdigkeit auslöschen konnte. Um seinen Fuß zu schonen, setzte er sich. Der Zug glänzte nagelneu. Trotzdem, manche Scheiben waren bereits mit seltsamen Zeichen zerkrakelt. Das war eine ganz schnelle Truppe gewesen. Sobald die Nacht anbrach, jagten Hunderte pickeliger Jünglinge in der Stadt scratchend nach Ruhm. Für Rotberg waren ihre eingekratzten Runen die Blumen der Dummheit, und sie gehörten zu dieser Stadt wie der Duft von Fäkalien zu den Rieselfeldern. Er entdeckte auch »Wowi« wieder. Fleißiger Typ, dieser Wowi mit seinen Duftmarken, dachte er. Immer mehr Fahrgäste stiegen zu. Ein Hund, ein Bastard, ließ sich auf seinem Fuß nieder. Ohne hinabzublicken, legte er ihm die Hand auf den Kopf, kraulte ihm das Fell und genoss die Wärme des Tierkörpers. Er mochte Hunde, die einzigen vertrauensseligen Wesen in dieser Stadt.

Sechsunddreißig Minuten später überquerte er in Treptow die Elsenstraße, eine achtspurige Schlagader, auf der die Autos in Wellen vor und hinter ihm vorbeibrausten und dabei auf ihn so viel Rücksicht nahmen wie auf ein Karnickel. Er humpelte, so schnell er konnte, zwischen ihnen hindurch zum westlichen Straßenrand. War das der Bänderriss? Oder war es seine Krankheit, die vermutlich unheilbar war? Er musste grinsen: Mit seinem Trolley sah er aus wie der letzte Fußgänger Berlins.

Am Allianzhochhaus stieg er die Steintreppe hinunter, die von der Elsenbrücke zum Ufer führte. Auf jeder Stufe klapperte sein Wägelchen. Wochen vorher hatte er sich ein Boot gemietet und mit dem Echolot im Flussbett zwei gewaltige Bombenkrater ausgemacht, locker zehn Meter im Durchmesser und immer noch drei Meter tief. Sie stammten aus der Zeit kurz vorm Ende des Zweiten Weltkrieges, als britische Bomber das östliche Ufer in ein Trümmerfeld verwandelt hatten. Die Spree war hier breit, die Strömungsgeschwindigkeit nur mäßig, das Wasser warm und trübe. Im Grunde genommen war es schwarz wie Teer. Genau richtig für sein Vorhaben.

Normalerweise war das Ufer menschenleer, bis auf die Krähen, die in den Papierkörben nach Schätzen stöberten. Ausgerechnet heute hing hier ein Penner mit einer Zweiliterflasche Weißwein herum und trank sich die Hucke voll. Er musterte den Kerl, der seine Habseligkeiten in einem Einkaufswagen mit sich führte und damit beschäftigt war, sich vor den Nebelkrähen wichtig zu machen, und sie zur Ruhe rief, wenn sie ihn mit ihrem Gekrächze und Geflatter unterbrachen.

Rotbergs Papiere waren in Ordnung, jedenfalls waren sie erstklassig, und der Säufer war weit weg, mindestens fünfzig Meter. Also stellte er seinen Klappsessel auf und machte seine Ausrüstung klar. Er sah jetzt aus wie ein ganz gewöhnlicher Angler. Und das war er ja auch. Vor ihm lag der Fluss, ruhig und breit. Westlich von ihm, mitten im Wasser, standen zwei überlebensgroße Figuren aus gelochtem Aluminium und holten sich nasse Füße. Wie hieß die Skulptur? Er hatte es vergessen. Noch weiter westlich die Oberbaumbrücke, die alte Stadtgrenze, mit ihren roten Backsteintürmen. Ab und zu tuckerte ein Schleppkahn mit Kies oder Schrott unter der Elsenbrücke hindurch. Gegenüber im Osthafen standen die drei BEHALA-Kräne still. Zwei Schlepper lagen am Kai. Nichts rührte sich. Eine Idylle des Stillstands. Ein Ausflugsdampfer schipperte vorbei. Die Passagiere an Deck winkten ihm zu und er winkte zurück. Es war ein friedlicher Tag.

Ein Stück weiter führte der Penner immer noch Selbstgespräche. Die Krähen saßen inzwischen auf der Lehne einer Bank und schienen ihm zuzuhören. Wie es aussah, waren die Vögel sehr höflich. Manchmal nickten sie oder schüttelten den Kopf.

Rotberg langte in die grüne Dose und befestigte einen dicken Klumpen Hühnerdärme am Haken seiner Grundangel. Es gab Angler, die verloren ihren Fisch: Der Wels bog einfach den Haken auf. Ihm konnte das nicht passieren! Er hatte sich bei einem Juwelier einen Haken aus Spezialstahl herstellen lassen, ein welsfestes Unikat. Dazu ein kanadischer Hochseekarabiner. Das Feinste vom Feinen. Schmal, leicht, obwohl er eine Tragkraft von dreihundert Kilo hatte. Die Därme stanken gewaltig. Aber genau das lieben die Welse: den Duft einer köstlichen Mahlzeit. Die letzten Tage waren sehr warm gewesen. Heute in der Morgendämmerung war der Luftdruck plötzlich gefallen, Wind war aufgekommen. Rotberg wusste: Jetzt war der Zeitpunkt da.

Er mochte diese massigen Tiere. Manche wurden satte vier Meter lang und acht Zentner schwer. Sie waren die Großen und sie fraßen die Kleinen. Er fand, sie waren ihm ähnlich. Mächtige Räuber, die sogar Vögel, schwimmende Hunde und, wie er in einer alten Ausgabe von Meyers Konversationslexikon gelesen hatte, badende Kinder verzehrten, dabei immer sehr vorsichtig. Am liebsten jagten sie nachts und bewegten sich nie weit weg von ihrem Unterschlupf. Bei Gefahr zogen sie sich sofort zurück. Genau wie er. So wurden sie groß und alt und mächtig. Genau wie er.

Die Monologe des Penners wurden lauter. Er fuchtelte mit den Armen und schien mit seiner Exfrau zu sprechen. Rotberg kannte das; damals in München, als Deborah ihn verlassen hatte, war es ihm ähnlich gegangen. Er hatte ihr Foto angesehen und mit ihr geredet. Der Ton des Penners wurde gebieterisch. »Lügnerin, kochen kannst du? Kannst du nicht. Wasser vielleicht. Roger.« Vielleicht erschien sie ihm sogar leibhaftig. »Verzieh dich, ich brauche dich nicht. Roger.« Wie ein Funker beendete er jeden Satz mit roger und geigte ihr noch mal richtig die Meinung. »Ulrike, du Nutte, das sag ich doch. Roger. Na, und? Sieh dich doch an! Roger.« Plötzlich heulte er: »Ich liebe dich, du Schlampe. Roger.« Emotionale Pendelschläge, die der Alkohol anfachte.

Ein Heimatloser, der in einem Vakuum lebte, genau wie er. Für einen Augenblick kam in Rotberg das Gefühl der Bedeutungslosigkeit hoch, das ihn immer wieder mal beschlich, seitdem Deborah sich einen anderen Gönner gesucht hatte. Genau deswegen, dachte er, hassen wir die Penner, weil in ihnen etwas von uns steckt. Etwas, das wir hassen.

Er warf die Angel aus. Ein kräftiger Schwung. Ssssst! Die Nylonschnur surrte durch die Führungsringe, bis er den Schnurfangbügel auslöste. Platsch! Perfekt: Der Köder landete genau im Zielgebiet über dem Bombenkrater. Mehr als zwei Wochen hatte er den Wels mit einem Gemisch aus Semmelbröseln und Maden vorsichtig angefüttert. So hatte das Tier seine Gewohnheiten verändert. Das war der Trick. Vorgestern hatte er mit dem Anfüttern aufgehört. Jetzt brauchte er nur noch geduldig abzuwarten. Der Wels würde hungrig sein. Hungrig und unvorsichtig.

Rotberg saß scheinbar untätig am Ufer. Es gab Angler, die das hassten, nervöse Hemden, die zur Matchangel griffen, die sie immer in Bewegung hielt. Sie hatten die Hände ständig an der Rute und die Augen an der Schwingspitze. Für ihn waren das keine echten Angler. Er brauchte solche Ablenkung nicht. Er saß regungslos und hing seinen Gedanken nach. Im passenden Augenblick würde er den Fisch an Land ziehen. Ähnlich wie mit dem Wels hatte er es auch mit seinen Kunden gemacht. Er hatte ihre Gier geweckt, ihren Renditehunger. Und der Erfolg hatte Rotberg recht gegeben und ihn reich belohnt. Er hatte die Partie gewonnen. Und nur darauf kam es an.

Ein, zwei Stunden waren vergangen. Nein, er sah nicht auf die Uhr. Er sah nie auf die Uhr, wenn er angelte. Plötzlich näherte sich die Wasserschutzpolizei. Rotberg blieb ganz ruhig, jedenfalls äußerlich. Für einen Angelschein waren in Berlin dreißig Stunden Unterricht vorgeschrieben. Niemand sollte ihn dreißig Stunden beobachten dürfen. Das Dokument, das in seiner Brieftasche steckte, war eine perfekte Fälschung, die er mit weltmännischer Höflichkeit präsentieren würde. Aber sie beachteten ihn nicht. Und er hob nicht einmal den Kopf. Er packte seine Dose mit dem Salat aus, er musste abnehmen. Sein Leben war zwar ruhig, aber sein Blutdruck leicht erhöht, hundertzwanzig zu hundertsechzig. Die Aussicht auf einen Herzinfarkt gefiel ihm nicht. Er hatte keine Angst vorm Tod. Nein. Aber es hätte ihm leidgetan, seine vielen Millionen zurückzulassen. Bei dem Gedanken musste er lächeln.

Plötzlich spürte er ein Ziehen an der Angel. Der Fisch nahm keine Schnur. Er stand fast auf der Stelle. Typisch Wels. Raffinierter Bursche. Der ließ sich nicht nervös machen.

Rotberg streifte seine Hirschlederhandschuhe über, die er für den Kampf mit dem Fisch brauchte. Er hielt den ständigen Druck aufrecht und zog. Jetzt brauchte er Geduld und Ruhe. Seine Angelschnur war nullkommasechs Millimeter stark. Die hielt was aus. Und er hatte einen perfekten Einzelhaken. Rotberg stand auf und zog und zog. Kein Zweifel, das war ein kapitaler Bursche. Ein Superfang. Ein Traum. Er zog ihn Richtung Ufer. Kaum aktiver Widerstand. Was hatte der Wels vor?

Plötzlich guckte der breite schwarze Welsschädel aus dem Wasser und tauchte ebenso plötzlich wieder unter. Rotberg kurbelte, zog, kurbelte wieder. Gott, war der schwer! Er hob die Rute. Da war er wieder, glänzend, schwarz, sonderbar eckig. Das war doch ein Schädel? Das gewaltige Maul mit seinen Reibeisenzähnen schien geschlossen zu sein. Mühelos konnte der Wels damit Friedfische ansaugen. In seinem schwarzen Rachen verschwanden sie wie in einem finsteren Flugzeughangar in der ewigen Nacht. Der Fisch tauchte tiefer in die Spree, die sich schwarz und träge wie Teer nordwärts wälzte. Während Rotberg mit der schweren Beute kämpfte, machte sich in ihm die sonderbare Ahnung breit, dass hier etwas nicht stimmte. Im nächsten Augenblick wurde die Ahnung zur Gewissheit. Eine weiße Hand tauchte aus dem Wasser, eine protzige goldene Rolex Daytona am Handgelenk. Sie gehörte zu einem Mann, für den die Zeit keine Rolle mehr spielte, weil sein Kopf in einem schwarzen Müllsack steckte. Rotberg hatte eine Leiche geangelt. Ein Müllsack hatte ihn getäuscht.

Er hätte jetzt gehen sollen, die Angel ins Wasser werfen und gehen. Aber er zog den Leichnam heraus. Die Uhr interessierte ihn nicht; er wollte den Angelhaken bergen, der ihn verraten könnte. Selbst der Hochseekarabiner, den er verwendete, war verräterisch. Als er dem Toten den Müllsack vom Kopf zog, strömte ein Schwall roten Wassers zu Boden und ihm über die geputzten Schuhe. Vorsichtshalber wischte er mit dem Taschentuch über den Müllsack, dort, wo jetzt seine Fingerabdrücke waren.

Er schätzte den Mann auf Anfang dreißig. Augen und Mund waren weit aufgerissen. Die Leiche war frisch, der Mann höchstens ein paar Stunden tot. Gut gekleidet. Dort, wo das Geschlecht saß, war ein großer blutiger Fleck. Die Hand war gekrümmt wie die eines Bettlers, der sie zu einer Mulde formt, in die man eine Münze legen soll. Rotberg zog ihn näher heran. Er musste den Haken aus dem Hemd des Toten kriegen. Wenn er etwas nicht gebrauchen konnte, dann war es die Polizei, die ihn im Zusammenhang mit einer Leiche vernahm. Ein Albtraum. Der Haken steckte in der Rückenpartie des Oberhemdes dicht am Kragen.

Der Haken, der verdammte Haken, dachte er und riss und zerrte. Ich muss den Haken haben. Blödmann, reiß dich zusammen! Er gewann seine Ruhe wieder, löste den Haken und spürte einen Schmerz durch sein Bein rasen. Offenbar hatte er sich zu heftig bewegt.

»Schöne Armbanduhr. Braucht der die noch? Roger!«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm.

Rotberg drehte sich um und musterte den Penner: unrasiert, kaum noch Zähne im Mund, nur faulige Stummel, und eine mächtige Alkoholfahne – ein Streichholz, und er würde explodieren wie eine Spraydose. Was mache ich mit dem Kerl?, überlegte er. So jemand war Wachs in den Händen der Polizei. Wenn er ihn überzeugen wollte, sich aus der Geschichte rauszuhalten, musste er ihm Angst einjagen. Während er seine Sachen zusammenpackte, fragte er: »Wie heißt du?«

»Lutz.«

»Und weiter?«

»Schneider. Roger.«

Rotberg sah ihn an. »Komisch, hier liegt ein Toter. Und es ist niemand hier außer dir, Lutz!«

»Was?«

»Du kommst mir die ganze Zeit schon verdächtig vor. Warum hast du ihn umgebracht, Lutz?«

Der Penner machte eine beschwichtigende Geste und kam näher.

Rotberg wich einen Schritt zurück: »Halt, komm mir nicht zu nahe!«

Sein Bein schmerzte. Er verzog das Gesicht und griff seine Sachen. »So, Lutz, du rührst dich nicht von der Stelle! Ich gehe jetzt und rufe die Polizei.« Er entfernte sich in Richtung Elsenstraße.

Der Penner rief ihm nach: »Aber ich war es nicht! Ehrlich!«

Rotberg drehte sich um. »Erzähl das den Krähen auf der Bank!«

»Aber …«

Rotberg unterbrach ihn: »Sag jetzt nicht, du warst sturzbetrunken und kannst dich an nichts erinnern!«

Der Penner schnappte nach Luft. Angst und Empörung reagierten chemisch miteinander.

Rotberg machte eine schnelle Bewegung auf ihn zu, seine Stimme wurde leise und scharf: »Ich glaube dir nämlich nicht. Aber vielleicht glaubt dir ja die Polizei. Roger!«

Er entfernte sich zügig, aber ohne Hast.

Der Penner blieb zurück, starrte auf die goldene Rolex des Toten und schrie: »Roger, roger, bitte nicht.« Es hörte sich an, als würde ein großer Hund jaulen.

Oben auf der Elsenbrücke winkte Rotberg ein Taxi heran, stieg ein und fragte den Fahrer, wo man in Berlin gut einen Kaffee trinken könnte. Der Taxifahrer, ein Urberliner mit gegelten Haaren und einer Tätowierung im Nacken wie David Beckham, war ein Schlitzohr und behauptete, Berlin könne man vergessen, den besten Kaffee gäbe es am Nauener Tor in Potsdam. Rotberg ließ sich zum Hackeschen Markt fahren. Ein großer Platz war eine unverdächtige Adresse.

Die Schmerzen im Fuß wurden so stark, dass er beschloss, vom Hackeschen Markt in die Charité zu humpeln, wo Orthopädieprofessor Schulz das Leiden behandelte, das seit über einem Jahr seine Knochen befallen hatte und das sie irgendwann so bröselig werden lassen würde wie holländische Butterkekse.

Hätten die Zielfahnder auch nur die leiseste Ahnung von seiner Erkrankung gehabt, wäre es ein Klacks, ihn zu schnappen. Längst wäre dann sein fester Wohnsitz eine zwei mal vier Meter große Zelle in München-Stadelheim. Und damit hätte er noch Glück gehabt. Denn seine wirklichen Feinde trugen keine Uniform.

2.

Kinder mit Rucksäcken drängten sich am Geländer, blickten runter auf den Fluss und lärmten aufgeregt, eine ganze Schulklasse mit ihrer Lehrerin.

Max Talheim parkte den Wagen auf dem Bürgersteig der Elsenbrücke und zupfte das Blaulicht vom Dach. Einige Kinder drehten sich zu ihm um und waren irritiert: Sah der Mann aus wie ein Polizist? Nein, schon gar nicht wie einer, wie sie ihn aus dem Fernsehen kannten. Talheim trug einen perfekt sitzenden hellgrauen Anzug, ein blütenweißes Hemd und dazu eine lila Krawatte. Und wie meistens einen eleganten Hut. Sein Haar war akkurat geschnitten, die schwarzen Lederschuhe blitzblank. Eher sah er aus wie George Clooney, wenn er der Presse einen neuen Film vorstellt. Talheim war vierundvierzig, aber mit seinem dichten dunklen Haar und den großen blauen Augen konnte er locker als 34-Jähriger durchgehen. Ihm selbst war es ziemlich egal, ob man ihn für jünger oder älter hielt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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