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Hauptkommissar Edmund Schaft ermittelt in diesem kuriosen Fall in der Wennigser Umgebung. Alles scheint sich gegen ihn verschworen zu haben, kein Name, keine Handtasche nur ein paar Blutstropfen und Reifenspuren sind gefunden worden. Die Leiche ist halb verstümmelt und die Identifizierung scheint unmöglich zu sein. Nun hoffen er und seine Kollegen auf die Ergebnisse der Gerichtsmedizin oder der Spurensicherung. Und in der Tat können diese die ersten Hinweise nach der Obduktion liefern. Eine wilde Treibjagd beginnt und das Netz spannt sich immer enger um den Mörder, doch dann nimmt der Fall eine überraschende Wendung.
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Seitenzahl: 216
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Vorwort
Kap.1: Freitag, 01.09.2017, 15:27 Uhr
Kap. 2: Freitag, 01.09.2017, 16:35 Uhr
Kap.3: Samstag, 25.10.1993, 22:03 Uhr
Kap. 4.: Samstag, 02.09.2017, 06:17 Uhr
Kap. 5: Sonntag, 26.10.1993, 04:57 Uhr
Kap. 6: Samstag, 02.09.2017, 11:20 Uhr
Kap. 7: Freitag, 01.09.2017, 23:05 Uhr
Kap. 8: Sonntag, 26.10.1993, 13:30 Uhr
Kap. 9: Donnerstag, 31.08.2017, 16:24 Uhr
Kap. 10: Samstag, 02.09.2017, 13:14 Uhr
Kap. 11: Donnerstag, 31.08.2017, 17:48 Uhr
Kap. 12: Montag, 04.09.2017, 08:28 Uhr
Kap. 13: Donnerstag, 31.08.2017, 20:58 Uhr
Kap. 14: Montag, 04.09.2017, 11:45 Uhr
Kap. 15: Samstag, 02.09.2017, 18:26 Uhr
Kap. 16: Montag, 04.09.2017, 11:36 Uhr
Kap. 17: Donnerstag 31.08.2017, 20:30 Uhr
Kap. 18: Montag, 04.09.2017, 13:04 Uhr
Kap. 19: Montag, 04.09.2017, 15:15 Uhr
Kap. 20: Montag, 04.09.17, 21:25 Uhr
Kap. 21: Dienstag, 05.09.17, 08:30 Uhr
Kap. 22: Dienstag, 05.09.2017, 09:22 Uhr
Kap. 23: Dienstag, 05.09.2017, 21:10 Uhr
Kap. 24: Donnerstag, 31.08.2017, 11:47 Uhr
Kap. 25: Mittwoch, 06.09.2017, 08:30 Uhr
Kap. 26: Mittwoch 06.09.2018, 13:28 Uhr
Kap. 27: Mittwoch, 06.09.2017, 14:26 Uhr
Kap. 28: Mittwoch, 06.09.2017, 15:30 Uhr
Kap. 29: Mittwoch, 06.09.2017, 15:43 Uhr
Kap. 30: Donnerstag, 07.09.2017, 08:25 Uhr
Kap. 31: Freitag, 08.09.2017, 18:28 Uhr
Kap. 32: Dienstag, 12.09.2017, 13:50 Uhr
Kap. 33: Mittwoch, 20. 09 2017, 09:31 Uhr
Es ist mein erstes Buch, geboren aus Gedanken, die ich schon Mitte 2018 hatte, als ich mit meiner Frau beim Friseur saß. Damals hatte ich nur mein Smartphone dabei und tippte die Krimigedanken mühsam ins Handy, während meine Frau noch unter der Trockenhaube sitzen musste, um die neue Haarfarbe einwirken zu lassen. Plötzlich sprudelten die Gedanken nur so heraus und sie ergaben sogar einen Sinn. „Na gut“, dachte ich, „Hast du halt mal wieder eine kleine Geschichte für die Kollegen im Büro, um sie auf den dort ungenutzten Bücherschrank aufmerksam zu machen.“
Doch als ich mir eines Abends mal einen Schreibblock nahm, um einen Leitfaden zu erfassen, schrieb ich drei Din-A 4 Seiten herunter. Nicht alles konnte ich in dieses Buch integrieren, aber von da an wusste ich, jetzt geht’s los.
Weitere Impulse bekam ich auf einer Wochenendfahrt nach Hamburg. Die drei Tage waren großartig, aber auch anstrengend. Bis morgens um halb fünf war ich in der Hotelbar, um Charaktere zu sammeln und auf einen Zettel zu schreiben.
Ich hoffe, es ist unterhaltsam und soll Sie als Leser aus dem Alltäglichen herausholen.
Ihr
Domnik Spencer
Ihre langen blonden Haare wehten im lauen Fahrtwind. Seit mehr als zwei Stunden waren Pauline und Erik schon mit dem Mountainbike im Deister unterwegs, immer bergauf, da Erik eine superschnelle Abfahrt kannte. Sie genoss die Rückansicht ihres Vordermannes. Beim Anblick spürte sie, wie ihr Herz klopfte und es in ihrem Bauch kribbelte.
Kurz nach eins heute Mittag holte Erik sie mit dem Mountainbike in Bredenbeck ab. Ihre Fahrt führte über die Deisterstraße in Richtung des ehemaligen Kalkwerkes und anschließend den Brandweg hinauf. Im Winter bei Schnee wird dieser steile Anstieg gern als Rodelpiste genommen. Selbst aus den Vororten von Hannover, Ronnenberg und Empelde, strömen die Rodler oder Wintersportler in den Deister, um genau hier hinunter zu fahren.
Beide sind bergan bis zum Schwarzen Weg gefahren. Dort mussten sie erst einmal verschnaufen. Nach zwei Minuten ging es weiter in Richtung Annaturm, zwar nicht mehr so steil, aber trotzdem langsam immer höher. Sie kamen am Taternpfahl vorbei, ließen diesen aber links liegen und fuhren weiter geradeaus. Nach weiteren 45 Minuten hatten sie ihr erstes Etappenziel, den Annaturm, erreicht.
Sie stiegen von ihren Rädern und gingen in die dortige Waldgaststätte. Pauline bestellte sich eine Portion Pommes mit Mayo, Erik eine Portion Bratkartoffeln mit drei Spiegeleiern, er hatte seinen Freunden Jannes und Marvin etwas versprochen. Jedoch musste er erst eine geeignete Stelle finden, um seine Planung in die Tat umzusetzen.
Nach dem Essen stiegen sie auf den Annaturm und genossen den herrlichen Ausblick. Heute war glasklares Wetter und die beiden konnten bis zum Steinhuder Meer sehen. Als sie auf der Aussichtsplattform den Annaturm einmal umrundet hatten, um in die Ferne zu sehen, stiegen sie wieder hinunter. Die Fahrradtour war ja noch nicht zu Ende. Sie setzen ihre Helme wieder auf, denn ab jetzt verlief die Strecke nur noch bergab. Nach 700 Metern bogen sie links vom Schwarzen Weg ab und waren jetzt an der besagten Abfahrt. Erik startete als Erster, Pauline fuhr ein paar Meter hinter ihm.
Die Fahrt wurde nun immer schneller und gefährlicher. Sie dachte bei sich: „Hoffentlich kommt uns niemand entgegen, sonst können wir nicht mehr ausweichen, so eng, wie es hier ist.“
Pauline umfasste den Lenker fester, da das Tempo zunahm und der unbefestigte Pfad so manches Schlagloch aufwies, so dass auch ihre Hände anfingen zu kribbeln. Bei Tempo sechzig huschten links und rechts die Bäume im Abstand von knapp einem Meter so schnell vorbei, dass sie kaum weitere Dinge wahrnehmen konnte. Sie bremste leicht ab und blieb wachsam. Erik vor ihr hingegen war noch schneller und sprang, stehend auf den Pedalen seines Rades, über jedes Schlagloch. Dabei stieß er jedes Mal einen Freudenschrei heraus.
Zum Glück wurde der Abstand zwischen ihr und Erik größer. „Dann kann ich wenigstens rechtzeitig bremsen“, kam es Pauline kurz in den Sinn.
Nach gut zehn Minuten war die rasante Fahrt vorbei. Der Weg wurde wieder flacher und Erik bremste ab. An einem Stapel von ungefähr vierzig Bäumen, die zur Abholung markiert waren und die Sicht dahinter verdeckten, stieg er von seinem Rad und nahm seinen Rucksack ab. Pauline keuchte noch mehr als Erik von der rasanten Fahrt. Beide setzten sich auf den ersten Baum, der am dichtesten am Waldweg lag.
„Man, war das geil!“, jubelte Erik, „Möchtest Du auch was trinken?“
Pauline, immer noch schwer atmend, nickte nur mit dem Kopf. Sie staunte nicht schlecht, als er eine kalte Flasche Sekt aus dem Rucksack holte mit den Worten: „Geschüttelt, nicht gerührt“, und fing an zu lachen. Da musste Pauline auch loskichern. Sogar an Trinkbecher hatte er gedacht.
„Klasse Idee Erik! Aber woher hast Du die Sektflasche?“
Erik druckste ein bisschen herum und bekam rote Wangen.
„Aus dem Keller meiner Eltern, da stand eine ganze Kiste herum. Kannst Du mal die Becher halten, ich kippe uns was ein.“
Der rote Sekt sprudelte beim Eingießen über den Rand und Pauline trank schnell den Schaum ihres Bechers ab. Im nächsten Moment erklärte Erik ihr: „Pauline, wir haben dasselbe Hobby, sind in derselben Klasse und ich“, er lief noch ein bisschen roter an, „ich mag Dich.“
Nun klopfte ihr Herz stärker als bei der schnellen Fahrt.
„Ich Dich auch!“, äußerte sie sich und blickte strahlend in seine Augen, „Und ich habe schon eine ganze Weile ein Auge auf Dich geworfen.“
„Das habe ich doch gemerkt!“, erklärte Erik, so cool wie es ging, „Deshalb der Sekt, wenn Du magst.“
Sie tranken beide einen Schluck. Danach küssten sie sich und drückten sich beide fest aneinander, so dass Erik ihre Brüste durch sein T-Shirt spürte. Nachdem ihre Becher zum dritten Mal leer waren, war auch die Flasche leer und der Sekt zeigte seine Wirkung, auch bei Erik. Nun gut, dachte Pauline mit ihren 16 Jahren, das reicht jetzt auch, schließlich mussten sie noch knapp zehn Kilometer nach Hause fahren.
Ermutigt vom Sekt, mit den Gedanken wieder kurz bei seinen Freunden Jannes und Marvin, packte Erik plötzlich energisch ihre Hand. Er führte sie um den Holzstapel herum, weg vom Weg, um nicht gesehen zu werden.
Sie wehrte sich nicht. Beide bahnten sich den Weg durch den dichten Farn. Als sie hinter den gefällten Bäumen waren, fing Erik an, sie sanft zu streicheln und zu küssen. Er hatte schon mal eine Freundin. Für Pauline war es zwar auch nicht das erste Mal, aber Erik ist für sie die erste große Liebe und sie genoss das herrliche Gefühl auf ihren Lippen, als er sie sanft küsste. Erik begann ihren Pulli hochzuschieben, doch Pauline erklärte ihm zwischen den Küssen:
„Hey, nicht hier… Komm, wir fahren zu mir, meine Eltern sind heute zum Karten spielen bei den Nachbarn. Außerdem ist es zuhause bei mir auch gemütlicher.“
Nachdem beide, gefühlt nach einer halben Ewigkeit, die Augen nach den vielen Küssen aufmachten, um wieder auf den Weg zurück zu gehen, entdeckten sie in knapp drei Meter Entfernung, halb bedeckt unter einem Farnbusch, eine lila Jacke.
Pauline wollte schreien, aber es ging nicht mehr. So schnell sie konnte, schloss sie ihre Augen und drückte sich fester an Erik heran. Er drehte sich ebenfalls herum. Wie von selbst wählte Erik den Notruf auf seinem Handy, ohne vorher ein Bild zu machen, denn das, was er sah, wollte er nicht noch einmal sehen.
Als Hauptkommissar Edmund Schaft mit seinem Kollegen Oberkommissar Heinrich Hoelst von der Mordkommission aus dem Dienstwagen stiegen, sahen sie in einiger Entfernung viel Gewusel in diesem Teil des Deisters. Der Leichenwagen, weitere Polizeibeamten, die das Gelände weiträumig abgesperrt hatten, die Spurensicherung sowie die Gerichtsmedizinerin Juliane Moder mit ihrem Praktikanten Jens Zündel waren schon vor Ort. Heinrich hatte sich in Wennigsen verfahren und war versehentlich in Richtung Waldschwimmbad abgebogen, aber sie konnten den Tatort nur über den Waldkater erreichen. Der Beamte aus der Polizeistation Wennigsen kannte die beiden und ließ diese zum Tatort durch, trotzdem zeigten beide ihren Ausweis automatisch ordnungsgemäß vor.
Die Lokalpresse war auch schon vor Ort und versuchte aus den beiden Neuankömmlingen irgendwelche Informationen herauszuholen.
„Lassen Sie uns durch, Sie behindern hier die Polizeiarbeit!“, schnauzte Heinrich einen Vertreter der Presse an.
„Die Leser haben ein Recht darauf zu erfahren, was hier los ist. Wissen Sie schon, wer die Tote ist?“, fragte der Reporter den Hauptkommissar. Edmund antwortete nicht. Er stutzte jedoch und dachte: „Woher oder von wem hatte er denn die Information schon erfahren?“
Als sie dichter am Tatort, oder besser gesagt, an den Fundort der Leiche herantraten, zuckten die Blitzlichter der Kameras von den Kollegen der Spurensicherung. Die in weißen Overalls gekleideten Mitarbeiter wirkten in dieser Umgebung wie Marsmännchen, nur nicht in grün. Der Leiter der Spurensicherung Achim Bär kam auf Edmund und Heinrich hinzu und erstattete einen Kurzbericht.
„Wir haben am Weg Reifenspuren, vermutlich von einem Wagen mit viel PS, sowie ein paar Bluttropfen gefunden. Wahrscheinlich ist das Blut beim Ausladen des Opfers heruntergetropft. Wir gießen gerade noch einen Abdruck der Reifenspuren.“
„Wer ist die Tote?“
„Es waren keine Papiere, kein Geld und keine Handtasche dabei. Die Umgebung müssen wir noch absuchen, inklusive des gesamten Weges, von Wennigsen Ortsmitte bis hierher, das wird dauern. Vielleicht hat der Täter die Tasche ja aus dem Fenster oder in irgendeinen Papierkorb geworfen.“
„Alles klar, Achim“, bedankte sich Heinrich. Edmund nickte nur leicht und ging in Richtung Gerichtsmedizinerin.
„Hallo Juliane, kannst Du schon was zum Todeszeitpunkt sagen?“, wollte Edmund wissen. Er kannte Juliane schon knapp zwei Jahre, hatte ab und zu mit ihr beruflich zu tun, allerdings in letzter Zeit nicht mehr so viel, insofern freute er sich insgeheim, dass sie die Untersuchung und auch die Obduktion durchführte. Außerdem war sie die gute Freundin einer Kollegin aus seinem Team.
Sie drehte sich um und gab die Sicht frei auf das Opfer. Entsetzt blieben er und Heinrich stehen, so etwas hatten sie nicht erwartet und vor allem noch nie gesehen. Die Tote hatte quasi ihre linke Gesichtshälfte inklusive der Nase verloren.
„Hübsch, nicht wahr?“, merkte Juliane an. „Vermutlich ist das aber nicht die Todesursache, sieht eher nach Wildschein aus. Zum Glück waren die anderen Körperteile noch angezogen, bis auf die Hände, da fehlen auch noch ein paar Finger.“
Nach einer weiteren Sekunde fügte sie fast genervt hinzu: „Und frag mich ja nicht, ob es ein Sexualdelikt war. Das wird die Obduktion zeigen.“
Sie drehte sich wieder um, ohne eine Antwort haben zu wollen. Zu ihrem Praktikanten sprach sie im ruhigeren Ton: „Jens, mach bitte noch ein paar Fotos von der Leiche inklusive ca. 30cm um die Leiche herum, vielleicht entdecken wir später noch etwas.“ Sie drehte sich wieder zu Edmund und Heinrich herum. „In fünf Minuten bin ich, sorry, sind wir hier fertig und die Leiche kann dann abtransportiert werden.“
„Eine kleine Frage hätte ich aber doch noch. Wieso sind die Hose und das T-Shirt so eingetrübt, sieht nass aus.“
„Du kannst ja mal daran riechen, Heinrich!“.
„Igitt, nein danke“, erwiderte er und schüttelte heftig mit seinem Kopf.
„Na gut“, erklärte Juliane, „ist nur Sekt, aber kein roter Sekt und so wie es aussieht, ist der Inhalt einer ganzen Flasche auf ihren Klamotten. Alle weiteren Analysen später im Bericht.“
„Danke Juliane und bitte dring…“, weiter kam er nicht, denn sie sprach seinen Satz, den sie schon auswendig kannte, weiter mit verstellter Stimme, „dringend den Bericht auf Deinen Tisch, jaja. Bis morgen Vormittag wird es wohl dauern!“, und sie drehte sich wieder zur Leiche um.
Edmund war erstaunt, so kannte er Juliane gar nicht. Früher hatte sie selten schlechte Laune. Er sah Juliane ohne ein Wort zu sagen weiter an und stellte dabei fest, dass sie früher auch dünner gewesen ist. „War das der Grund für ihren rauen Ton?“, dachte er still in sich hinein.
Nach weiteren zwei Sekunden antwortete er jedoch im ruhigen Ton: „Danke Juliane“, drehte sich ebenfalls um und ging mit Heinrich um den Baumstapel herum zurück auf den Weg. Dort wartete schon Andrea Hehlwisch, Kommissarin, sonst mit Heinrich Hoelst im selben Dienstwagen auf Streife unterwegs. Sie hatte ihren heutigen Termin als Zeugin beim Amtsgericht Wennigsen beendet und war gerade auf dem Rückweg zur Dienststelle in Ronnenberg, als sie der Notruf im Ort Lemmie erreichte. Deshalb war sie auch als erste vor Ort und konnte die beiden Jugendlichen bereits beruhigen und befragen.
„Hallo Andrea, wie war es beim Amtsgericht?“, erkundigte sich Heinrich und strahlte seine Kollegin an. Er mochte sie irgendwie, da beide seit einem Jahr zusammen auf Streife fuhren. Sie antwortete ihm: „Willst Du wirklich wissen, was beim Amtsgericht los war? Das dauert länger“, gab sie ein bisschen zu schnippisch wieder, empfand Heinrich und sein Lächeln versiegte.
Sein Chef Edmund mischte sich nun ein und schaute Andrea mit großen Augen an. Sie verstand die Geste und zählte die Daten der beiden auf.
„Das sind Pauline Engel und Erik Holten, wohnhaft in Bredenbeck. Beide 16 Jahre alt, besuchen die elfte Klasse an der KGS Wennigsen und sind mit dem Mountainbike durch den Wald gefahren. Hier haben sie eine Pause gemacht und …“, sie stockte und schaute die Jugendlichen an. Edmund erkannte die Pause holte schon Luft, aber Andrea fuhr fort, „…und haben…“
„Wir haben rumgeschmust und wollten nicht entdeckt werden“, fiel Erik der Kommissarin ins Wort. Heinrich fing an zu grinsen und machte einen Kussmund in Richtung Andrea. Andrea blickte ihn strafend an und das Lächeln versiegte erneut.
„Durch den Farn k-k-konnten wir die Tote erst erkennen, als wir zu unseren Fahrrädern z-sch-urückgingen“, meldete sich jetzt auch Pauline zu Wort und merkte noch an, „wir haben n-nichts damit zschu tun.“
„He, haben Sie was getrunken, Fräulein?“, bohrte Heinrich energisch nach. Pauline lief rot an und nickte dem Oberkommissar schweigend zu.
„Ich habe eine leere Flasche roten Sekt und Becher in seinem Rucksack gefunden“, erläuterte die junge Kommissarin. „Aber ich denke, wir sollten den Alkoholbesitz nicht an die große Glocke hängen, schließlich haben diese beiden uns sofort informiert und die Position mit seinem Handy an uns übermittelt.“ Mit diesen Worten schloss sie ihre Ausführungen nickte und Edmund verstand den Nicker.
„Danke Andrea, sind die Eltern der beiden informiert?“, erkundigte sich Heinrich nun sehr neutral. Andrea wollte gerade antworten, als Erik erneut erklärte: „Ich habe sie gleich nach dem Notruf angerufen, sie stehen noch da hinten vorm Absperrband, war doch okay, oder?“
„Natürlich!“, lobte Edmund. Er gab dem dort stehenden Beamten ein Zeichen und die Eltern, die nahe bei dem Zeitungsreporter standen, durften passieren, da die Leiche schon abtransportiert war. Nun war ihm klar, von wem der Zeitungsreporter die Informationen von der Toten hatte.
Die Eltern kamen eilends herbei und stellten die üblichen Fragen: „Geht’s Euch gut? Was ist passiert?“
„Uns geht’s gut“, antwortete Erik. Pauline sagte nun aber lieber nichts mehr, schob sich ein Kaugummi in den Mund und gab Erik auch eins. Darauf hätte sie ja schon früher kommen können, dachte sie.
Der Hauptkommissar wendete sich wieder Heinrich zu.
„Heinrich, bitte mit Andrea die Personalien komplett aufnehmen, Visitenkarte von unserer Abteilung mitgeben und aus meiner Sicht dürfen die beiden und die Eltern anschließend nach Hause!“
Edmund wandte sich an die Jugendlichen: „Wollt Ihr mit dem Fahrrad fahren oder sollen wir Euch nach Hause bringen?“
Wie aus einem Mund antworteten Erik und Pauline: „Wir fahren selbst.“
Die Eltern der beiden schüttelten heftig ihre Köpfe. „Kommt nicht in Frage!“, entgegnete Monika Engel energisch.
Aber Pauline widersprach im ruhigen Ton: „Aber sonst bekommen wir die Fahrräder nicht nach Hause und die waren doch teuer.“ Das stimmt auch wieder, gestand sich Paulines Mutter ein.
„Aber wir fahren schön nebeneinander auf dem Radweg von Wennigsen nach Bredenbeck“, versprach Erik und grinste dabei, das erste Mal seit dem schrecklichen Fund.
Edmund wusste, was er meinte, denn dabei kann man händchenhaltend nebeneinander herfahren, kam es ihm in den Sinn und nun musste auch er schmunzeln. Er spürte und wusste, dass die beiden nach diesem Vorfall länger zusammenbleiben würden.
So ein schreckliches Ereignis schweißt manchmal eine Beziehung zusammen.
Renate Rubel stand an der Kasse ihrer Lieblingsdisco in Laatzen, bezahlte den Eintritt von 5 DM und bekam heute noch einen Gutschein für ein alkoholfreies Getränk gratis dazu. Das Getümmel am Eingang wurde immer mehr und sie war froh, so gut durch die Stadt gekommen zu sein. Sie hatte nach der Arbeit mit ihrer Freundin Mareike zu Abend gegessen und sich anschließend in der Toilette des Restaurants rasch umgezogen, denn sie wollte nicht in den Arbeitssachen, die auch die Gerüche des Restaurants angenommen hatten, in die Disco gehen. Mareike war mit ihrem Freund Klaus in der City unterwegs. Jetzt war sie allein, aufgestylt, frisch geschminkt und wollte noch bei lauter Musik ein bisschen den Alltag vergessen. Und es wurde lauter als sie dichter an die Tanzfläche herankam.
Eigentlich war sie schon müde, aber Mareike hatte immer ein paar Aufputschmittel dabei. Bevor sie die Tanzfläche betrat, steuerte sie noch die Bar an. Dort löste sie gleich den Gutschein ein, trank eine Fanta, warf unbemerkt zwischen zwei Schlucken eine von Mareikes Pillen ein. Es war eigentlich nicht ihre Art, Drogen zu nehmen, aber jetzt brauchte sie etwas, damit sie bis drei Uhr durchhalten konnte.
Und wieder kam ihr Mareike in den Sinn. Sie wurde sogar schon mal von der Polizei erwischt, erst in der zehnten Klasse, ein Jahr später am Hauptbahnhof ‚unterm Schwanz‘. Die Menge an Pillen, die sie bei sich hatte, stellte eine Straftat dar und wurde polizeilich aufgenommen. Fingerabdrücke und Blut haben sie ihr auch abgenommen. Schlimme Sache damals und die Gedanken rissen einfach nicht ab.
Renate dachte weiter an sie und landete schließlich beim Schulsport. Damals feuerte sie Mareike immer lautstark an, als diese, flink wie ein Wiesel, der Männerwelt beim Fußballspielen davonlief. Beim anschließenden Duschen war Renate einmal so kribbelig und vergnügt, dass sie sich umarmten, denn auch Mareike fühlte sich zu Renate irgendwie hingezogen. Leider kamen die anderen Mädels aus der Klasse gerade in die Dusche herein. Von da an wurden sie und Mareike gehänselt. Mareike hatte es noch schwerer, deshalb auch das Abrutschen in die Drogenwelt. Aber das mit ihr und Mareike war lange her und nun vorbei. Renate schob die Gedanken endlich beiseite und steuerte geradewegs auf die Tanzfläche zu.
Diese war im hinteren Teil des Gebäudes. Die Tanzfläche war fast quadratisch und an jeder Ecke waren Metallpfeiler, die in knapp drei Metern Höhe untereinander verbunden waren. Dort hingen etliche Lichter, die im Takt der Musik und teilweise als Stroboskop angeschaltet wurden. In der Mitte der Tanzfläche drehte sich eine riesige Discokugel über den Tanzenden und wurde von jeder Seite mit unterschiedlichen Lichtfarben oder Laser angestrahlt. Wie wild tanzten dann die kleinen Lichter der Spiegel über die Tanzfläche. Jeder, der dort tanzte, bekam unweigerlich ein paar Lichtpunkte in die Augen. Renate störte es nicht, denn auf der Tanzfläche war sie in ihrem Element und konnte mehr oder weniger alles vergessen, was sie belastete. Das Pult mit den Plattenspielern und Kassettenrecordern war ca. ein Meter höher als die Tanzfläche. Vier Stufen musste man hinaufsteigen, um den DJ nach einem Titel oder Interpret zu fragen, den man noch nicht kannte.
Die Lichteffekte von den Deckenscheinwerfern, die Musik von Cuturebeat mit dem Titel Mr. Vain oder Rhythm is a Dancer von Snap trieben sie in einen Rausch, der Sound und die Bässe dröhnten auf ihren Körper ein und manchmal verspürte sie einen leichten Schwindel.
Nach zwei Stunden gönnte sie sich eine Pause, weil der DJ gewechselt hatte und jetzt nicht mehr ihre Tanzmusik gespielt wurde. Sie erblickte den vorherigen DJ auf dem Weg zur Toilette und quälte sich ein leises „Hallo“ heraus. Als sie wieder herauskam und die Tänzer auf der Tanzfläche nach dem Song Don‘t walk away von Jade tanzten, stand er im Gang und lächelte sie freundlich an.
„Hi, hast Du Lust auf einen Drink?“, fragte er, „Denn ich habe hier alle Getränke frei.“
„Ja, habe ich“, bestätigte sie etwas schüchtern. Beide verließen den Tanzbereich und gingen zur Bar.
„Ich habe Dich von meinem Pult aus beobachtet. Du tanzt hervorragend zu meinen aufgelegten Musiktiteln und warst ja auch schon häufiger hier, nicht wahr?“
„Gut beobachtet“, meinte Renate und bekam ein bisschen Farbe ins Gesicht.
Ich heiße übrigens Darius, und Du?“
„Ich heiße Renate“, erklärte sie zögerlich. „Du darfst mich Renni nennen. Ich hasse Renate, konnte mich jedoch als Kind nicht davor wehren.“
„Was möchtest Du trinken, Renni? Ich nehme eine Cola.“
„Ich möchte bitte ein Bier“, entschied sie schnell und vergaß, dass sie ja eine von Mareikes Pillen eingeworfen hatte.
Darius gab die Bestellung an die Bedienung hinter der Bar weiter und keine Minute später waren die Getränke bei ihnen.
Sie erzählten beide von sich und schauten sich lächelnd in die Augen. Renate erzählte ihm von ihrer Arbeit als Frisörin und Darius erklärte ihr, wie er sein Geld als Bankkaufmann und halt nebenbei als DJ verdiente. Er war auch im Kundenbereich der Bank tätig und bot ihr an sie bei Fragen rund ums Geld gern zu unterstützen. Renate bot ihm im Gegenzug an, ab und zu die Haare zu schneiden.
Nach weiteren zehn Minuten befragte er sie, wo sie wohne. Aber sie antwortete nicht, blickte nur starr weiter geradeaus, ohne irgendwie zu reagieren. Er wollte nicht unhöflich sein und berührte nach einigen Sekunden sanft ihren Arm. „He, was ist mit Dir? Bin ich Dir zu schnell?“. Sie zuckte zusammen, drehte sich zu ihm um, doch ihr Blick wirkte abwesend. Schließlich blinzelte sie kurz und antwortete benommen: „Eh, wie bitte, was ist?“ Darius erzählte ihr den Vorgang, aber sie konnte sich erst keinen Reim daraus machen oder lag es etwa an dem ‚Muntermacher‘ von Mareike?
Nun wurde es ihr zu laut in der Disco. Sie hatte das Gefühl ihr Kopf würde platzen und bat Darius, sie nach Hause zu fahren. Da sie heute den Bus und die Straßenbahn benutzt hatte, war es kein Problem. Somit brauchte sie ihren Wagen nicht am nächsten Tag hier abzuholen. Darius informierte noch schnell den anderen DJ und bei dem Titel That the way love goes verließen beide die Disco.
Im Wagen sprachen beide nicht viel. Renate gab Darius nur die nötigen Anweisungen für die Fahrt zu ihr nach Hause. Ihr Kopf brummte immer noch und sie versuchte durch leichtes Drücken an ihren Schläfen das Brummen zu besänftigen. Tatsächlich wurde es von Minute zu Minute weniger.
Nach der zwanzigminütigen Fahrt mit dem aufgemotzten Ford Fiesta ging es ihr wieder besser und sie stieg an ihrer Wohnung in Pattensen aus dem Wagen. Sie bewohnte die Dachwohnung im dritten Stock in einem Mehrfamilienhaus. Pflichtbewusst bedankte sie sich bei Darius und erkundigte sich bei ihm, ob er noch Lust auf einen Kaffee habe.
„Sehr gern, Renni.“ Er parkte seinen Wagen auf einen extra für die Hausbewohner angelegten Parkplatz mit dem Schild ‚Gäste‘. Die anderen Parkplätze waren alle durch die Hausbewohner belegt. Das erkannte Darius an den Nummernschildern, die vor jeder Parkbucht standen und die Fahrzeuge dahinter dieselben Nummern als Kennzeichen aufwiesen.
Als er zurück bei Renate war, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite gewartet hatte, fasste er entschlossen ihre Hand an. Nun strahlte Renate genauso wie Darius, denn es war nicht das erste Mal, dass er an sie denken musste, jedoch nie den Mut hatte, sie anzusprechen. So gingen beide nun Hand in Hand in ihre Wohnung zum ‚Kaffee trinken‘.
Wie in Trance drehte sie den Schlüssel im Schloss zu ihrer Wohnung um. Drinnen angekommen, zog sie ihre Jacke aus, streifte die Sneakers ab und schüttelte die Schuhe mit den Füßen in die Ecke zu den anderen. Sie bewohnte eine Altbauwohnung in Barsinghausen mit vier Zimmern und sie liebte Amerika. Auf dem Weg zu Marilyn, einem Zimmer voller Dinge von und mit dieser wunderschönen aber auch toten Frau, bog sie in ihre Küche ab. Dort drückte sie die Taste am Kaffeeautomat für eine große Tasse Kaffee Creme medium, nachdem sie eine Tasse mit der ‚MM‘ darauf, abgewaschen hatte. Der restliche Abwasch stand noch von Donnerstag herum und wartete darauf gespült zu werden. Die Küche war modern eingerichtet und sah amerikanisch aus. Es hingen etliche Bilder aus Amerika an den Wänden und über der Kaffeemaschine war ein Metallschild mit der Aufschrift: ‚LAS VEGAS, 20 Miles‘ platziert. Das Kochfeld war als Insellösung in der Mitte der Küche angebracht, an der Decke darüber war die Dunstabzugshaube befestigt. Auch auf dieser Insel, die sie liebevoll Key West nannte, standen noch schmutzige Töpfe herum, deren Inhalt sie nun entsorgen konnte. „Das muss warten“, dachte sie. „Erstmal einen Kaffee bei Marilyn.“
Die Tasse mit heißem Kaffee duftete hervorragend und brachte hoffentlich ihre müden Glieder, vor allem die Beine, wieder in Schwung.