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"Roter Teufel" ist ein Roman, der Euch in eine Welt entführt, die zugleich brutal und tiefgreifend ist. In diesem postapokalyptischen Epos, angesiedelt im Jahr 2875 nach der verheerenden Krass-Pandemie, erlebt Ihr die Odyssee von Rota Gevill, einem jungen Außenseiter mit einem Feuermal, der in einer mittelalterlich anmutenden Welt um Anerkennung und Gerechtigkeit kämpft. Konfrontiert mit erbarmungslosen Herausforderungen, von seiner brutalen Verbannung aus Kaven bis hin zum Verlust geliebter Menschen, zeigt Rota eine beeindruckende Stärke und Widerstandsfähigkeit. Seine Reise ist geprägt von dramatischen Wendungen, einschließlich intensiver Kämpfe, tiefen emotionalen Bindungen und der ständigen Bedrohung durch das Krass-Virus. Rotas Beziehung zu Mallen, der Tochter des Bürgermeisters, und die unerwartete Verbindung zu Dai, einem Krasianer-Mädchen, fügen dem Roman eine weitere Ebene der Komplexität und Menschlichkeit hinzu. Der Roman bietet eine außergewöhnliche Mischung aus Action, Emotionen und tiefgründigen Reflexionen über die menschliche Natur. Er ist eine Hommage an die Stärke des Geistes und die Kraft des menschlichen Herzens in Zeiten größter Prüfungen. Mit "Roter Teufel" erlebt Ihr nicht nur ein Abenteuer, sondern taucht ein in eine Geschichte über Überleben, Liebe, Verlust und die unendliche Suche nach Anerkennung und Gerechtigkeit. Eine Geschichte, die Euch nicht mehr loslassen wird.
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Seitenzahl: 575
Veröffentlichungsjahr: 2024
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ROTER TEUFEL
Inhalt
Prolog
Präludium – Historie -
Rota Gevill
Quälgeister
Mallen
Nachsitzen
Verborgene Kräfte
Zuhause
Treffen
Es vergeht ein Jahr...
Alles ändert sich...
Böses Erwachen
Im Schatten der Anklage
Widerhall der Vorwürfe
Gefangener des Spotts
Schatten der Hoffnung
Das Tribunal
Verbannung
Weg zur Höhle
Jake, Bogen, Tunnel,..
Wildnis
Zwischen Mut und Zweifel
Dai
Neuigkeiten
Die Falle
Zwischen zwei Baumstämme
Rama Rama Maranna Whahai
Winter
Abschied und Auferstehung
Begegnung
Unheil in Kaven
Träume und Wirklichkeit
Wiedersehen
Befreiung
Leben und Tod
Nachwort des Autors
Kurzbeschreibung
Essenzpoem
Geboren im Kampf, im Schatten der Zeit,
Sucht jeder nach Sinn, in der Ewigkeit.
Existenz ein Rätsel, tief und so weit,
Anerkennung ein Ziel, in der Menschlichkeit.
Im Spiegel der Welt, so klar und verwundet,
Strebt jeder nach Liebe, oft unverbunden.
In Stürmen des Lebens, so rau und so bunt,
Ist Anerkennung der Schlüssel, stets gesund.
So ringen wir täglich, in Hoffnung und Schmerz,
Für einen Platz in des Lebens Herz.
Im Kampf um Dasein, so stark und so zart,
Ist A unser stärkster Halt.
"Roter Teufel", ein Kampf so schwer,
Eine Odyssee, tief und mehr.
《In der tiefsten Dunkelheit der Verzweiflung entzündet sich oft das Licht der Veränderung. Wie der Phoenix aus der Asche, so erwächst auch aus größtem Leid eine neue Kraft. 》
-Eröffnungspoem-
In der Zelle, kalt und klein,
liegt Rota, geplagt von Pein.
Angst umhüllt ihn ohne Kleid,
vor dem Marsch in die Öffentlichkeit.
Nacktheit und Schmerz, sein größter Feind,
in der Stunde, die sein Schicksal vereint.
Schritte hallen, Schlüssel drehen,
sein Leidensweg wird weiter gehen.
Essenz:
-Rota's schwerer Gang zum Strafvollzug-
Die Morgendämmerung kroch langsam durch das kleine Fenster meiner Zelle, und der unaufhaltsame Moment meiner Verbannung aus Kaven rückte näher. Ein beklemmendes Gefühl der Angst stieg in mir hoch, ließ mein Herz rasen und gegen meine Brust hämmern. Angst, die mich stets daran hinderte die Nacht über zu schlafen und mich zwang diese quälend lange Zeit des Wartens bewusst durchleben zu müssen.
So wie ich es unzählige Male in den vergangenen Nächten getan hatte, stand ich wieder auf und versuchte verzweifelt, diese unerträgliche Angst von mir abzuschütteln. Ich durchquerte meine enge Zelle in einem endlosen Kreislauf, atmete tief und gleichmäßig und versuchte mir einzureden, dass letztendlich alles so kommen wird, wie es kommen muss, und dass ich letztlich nichts daran ändern konnte. Das Beste tun, standhaft bleiben und akzeptieren, was auch immer auf mich zukommen mochte – mehr konnte ich nicht tun. Nach einer Weile fand ich schließlich wieder Ruhe. Doch bald darauf schlichen sich dann doch wieder diese sinnlosen und quälenden Fragen in meine Gedanken: Wie qualvoll werden die Stockschläge sein? Werde ich die Schmerzen ertragen können? Gab es vielleicht doch noch irgendein Ausweg? Wie viele werden Zeuge meiner Bestrafung sein und wie viele werden daran sogar teilnehmen? Und dann, die Frage, die mir am meisten das Herz zerriss: Würde Mallen auch dort sein und zusehen?
All diese Fragen, auf die ich ohnehin keine Antwort hatte und erst Antworten erhalten würde, wenn es denn soweit war.
Am schlimmsten aber war die Vorstellung, mich vor allen auch noch völlig nackt zeigen zu müssen. Das Urteil verlangte nämlich, dass der Verurteilte diese erniedrigende Strafe unbekleidet erleiden musste. Dieser Gedanke, allein schon, war für mich so demütigend und erfüllte mich mit so viel Furcht, dass ich jedes Mal vor Angst erstarrte, sobald ich wieder daran denken musste.
Und diese Vorstellung verfolgte mich ständig, nachdem man mich bereits tags zuvor gezwungen hatte, mich ganz auszuziehen und mir meine Kleider wegnahm – Kleider, die ich wahrscheinlich nie wiedersehen werde.
Aber, wie es immer so war im Leben, verging auch diese unerträgliche Zeit des Wartens und ich hörte irgendwann schließlich die Geräusche, die ich die ganze Zeit schon befürchtet hatte. Erst Schritte, dann Stimmen und schließlich hallte das Entriegeln des Zellenschlosses in meine Ohren. Die Gefängniswärter. Ein eiskalter Schauer durchfuhr mich, und meine Glieder erstarrten vor Angst. Wenn ich doch nur weglaufen könnte.
Die schwere Tür des Kerkers öffnete sich mit einem knarrenden Ächzen, und der Wärter, der mich bereits gestern, kurz nach der Verurteilung, zwang mich ganz auszuziehen, betrat meine Zelle. Seine Uniform spannte sich über seinen massigen Bauch, während sein Blick, der die Spuren vieler durchzechter Nächte zeigte, mich mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Überlegenheit betrachteten. Ein finsteres Lächeln spielte um seine Lippen und ich spürte wieder die Bedrohung, die von ihm ausging.
„Zeit, zu gehen, Teufelsgesicht. Ganz Kaven ruft nach dir“, spottete er mit einer rauen, heiseren Stimme, die das Ergebnis jahrelangen Trinkens zu sein schien. Sein Blick durchbohrte mich, als er sich langsam auf mich zubewegte.
Da ich nicht gleich reagierte, packte er mich mit seinen groben Händen und schleuderte mich schließlich aus der Zelle. Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam mich, als meine Füße über den schmutzigen Boden rutschten. Ein weiteres Mal dröhnte seine selbstgefällige Stimme hinter mir: „Zeit zu gehen habe ich doch gesagt!“
In meinem Inneren tobte ein Sturm aus Angst und Unsicherheit, der meine Sinne betäubte. Ich stolperte über meine eigenen Füße, die sich wie Fremdkörper anfühlten, und landete schließlich vor den abgetretenen Stiefeln eines weiteren Mannes – eines zweiten Wärters, den ich zuvor noch nicht in dieser Hölle erblickt hatte. Er war jünger als der Erste, doch sein Blick trug die gleiche finstere Verschlagenheit, wie die des fetten Wärters. Sein Grinsen entblößte unregelmäßige, dunkle Zähne, während sich sein Gesicht in einem Ausdruck des Ekels verzerrte.
„Boah… Pfui! Hättest du mich nicht warnen können? Der stinkt ja wie... ausgekotzte Scheiße! Das ist ja ekelhaft!“ stöhnte er und sorgte mit ein paar Tritten gegen meine Rippen auch gleich dafür, dass ich mich schleunigst wieder aufraffte, um nicht noch mehr schmerzhafte Hiebe zu kassieren.
„Wenn ich dir einen Rat aus meiner langjährigen Erfahrung geben darf...“, sagte der dicke Wärter mit einem schelmischen Grinsen, als er sich langsam zu seinem jüngeren Kollegen beugte, „anfangs magst du den Gestank hier vielleicht als widerwärtig empfinden, aber mit der Zeit, vielleicht schon nach ein paar Jahren, wirst du dich mit Sicherheit so daran gewöhnt haben, dass du den Geruch nicht mehr bemerken wirst, glaub mir. Und jetzt, halt dich fest…“, der Wärter hob nun seinen rechten Zeigefinger, „und wenn du erst so lange hier warst wie ich, und du diesen Duft bei deinen 'Schützlingen' wieder wahrnimmst, wirst du ihn so schätzen, dass du zu dir selbst sagen wirst, -ja, du hast alles richtig gemacht- und dann wirst du außerordentlich dankbar für deine Arbeit hier sein.“ Sein Grinsen verzerrte sich zu einem bizarren Bild der Zufriedenheit, nachdem er die Worte ausgesprochen hatte.
Der jüngere Wärter verzog das Gesicht zu einer säuerlichen Grimasse. „Also, ich denke vor allem erstmal… nur eins: Du warst definitiv zu lange hier! An diesem Gestank werde ich mich jedenfalls nie gewöhnen!“, stieß er verächtlich aus und schüttelte angewidert dabei seinen Kopf, bevor er mich dann grob in die Richtung schubste, die vermutlich aus diesem verhassten Kerker und vor den Toren der Zitadelle führte.
Die Wärter trieben mich unbarmherzig voran, als wären meine Schmerzen für sie bedeutungslos. Kalte, feuchte Steinmauern hoben den Kontrast zu meiner bloßen Haut hervor, die ich krampfhaft mit meinen Händen zu bedecken versuchte. Der Gang durch dieses Labyrinth wurde zu einer einzigen Qual. Jeder falsche oder zu langsame Schritt wurde mit weiteren Tritten und Stößen durch die düsteren Gänge des Kerkers bestraft.
Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, taumelte ich unsicher aus dem finsteren Kerker ins Freie. Doch sofort durchzuckte mich ein stechender Schmerz in den Augen. Reflexartig kniff ich die Augen zu und schlug mir die Hände vors Gesicht. Nach all den Wochen in der dunklen Zelle war ich das grelle Licht nicht mehr gewohnt- Dabei schien noch nicht einmal die Sonne.
Schließlich führten sie mich zu einem Wagen, vor dem zwei kräftige Pferde gespannt waren. Die anfängliche Blendung ließ langsam nach, und zwischen meinen Fingern konnte ich erkennen, dass sich auf dem Wagen eine große Kiste befand.
„Los, hoch da!“ schnauzte jemand hinter mir. Zwei Männer von der Stadtwache standen auf dem Wagen und beugten sich in meine Richtung. Der kalte, nasse Wind biss schmerzhaft in meine durch die Misshandlungen gezeichneten Glieder und ein eisiges Gefühl der Erstarrung breitete sich in mir aus. Jede Faser meines Körpers wollte fliehen, doch ich war wie gelähmt, während meine Füße unwillkürlich einen Schritt zurückwichen.
„Idiot! Ich sagte, hoch da und nicht weglaufen!“ Die Worte wurden von einem kräftigen Stoß begleitet, der mich wieder vorwärtstrieb, direkt in Richtung des Wagens. Und bevor ich es überhaupt realisierte, wurde ich auch schon von den Händen der beiden Männer auf den Wagen gepackt und auf den Pferdewagen gezogen.
„Das ist alles?“ wunderte sich der, der meinen Arm hinter meinem Rücken verdrehte und mich am Nacken festhielt. „Ehrlich gesagt, da bin ich aber ziemlich enttäuscht. Ich hatte einen Teufel erwartet, und nicht so einen kleinen, stinkenden Hosenscheißer, der sich vor Angst kaum rühren kann.“
Spöttisches Lachen folgte, während er mich in diese finstere Kiste bugsierte. „Vorsichtig, Kort!“ warnte der andere mit einem breiten Grinsen. „Meine Mutter sagt immer: Die Gefährlichsten sind oftmals die, von denen man es am wenigsten erwartet!“ Kort lachte kurz auf. „Deine Mutter scheint eine kluge Frau zu sein“, erwiderte er trocken, „ein Jammer, dass sie dir nicht beigebracht hat, wann es Zeit ist, einfach mal das Maul zu halten.“ Dann knallte die Tür zu, verriegelt mit einem scharfen Klicken, das wie das Urteil meines Schicksals in der kühlen Luft meines neuen Gefängnisses widerhallte.
In der Kiste herrschte die erwartete undurchdringliche Dunkelheit. Ich tastete mich vorsichtig vorwärts und fand schließlich Halt in der hinteren rechten Ecke. Mein Rücken lehnte sich gegen das kalte Holz, und um mich weniger nackt und schutzlos zu fühlen, begrub ich gleich meine Beine bis zu meiner Hüfte mit dem Heu, welches hier zur Genüge herumlag.
Auf dem Weg von meiner Zelle bis hierher, hatte ich kaum etwas von mir und meiner Umwelt wahrgenommen. Meine Ängste, meine Nacktheit, die Kälte... alles war auf diesem Weg in weite Ferne gerückt. Ich versuchte mich nur auf das zu konzentrieren, was man von mir verlangte. Zu mehr war ich nicht in der Lage gewesen. Erst als der Mann, der den Zweispänner lenkte, den Pferdewagen ins Rollen brachte, löste sich diese Taubheit von mir und mir wurde langsam wieder meine ganze Situation bewusst. Mein Herz schlug heftig, während Wellen der Angst unaufhörlich durch meinen vor Kälte verkrampften Körper jagten und ihn in regelmäßigen Abständen erbeben ließen. Ich versuchte mich wieder zu beruhigen und mich auf das Bevorstehende zu konzentrieren. Musste aber schnell feststellen, dass ich dazu kaum noch in der Lage war. Nur das ständige schmerzhafte Aufprallen meines Hinterkopfs gegen die rauhe Wand, gegen die ich mich gelehnt hatte, ließ mich über den physischen Schmerz diese geistige Qual vergessen.
Langsam näherten wir uns dem Rathausplatz, und schon von Weitem drangen vereinzelte Schreie in meine Ohren, die meinen zweiten und seit langem verhassten Namen - „Teufel“ - brüllten, begleitet von anderen unflätigen Beschimpfungen gegen mich.
Mit jedem Hufschlag des Pferdewagens, der sich seinen Weg durch das Kopfsteinpflaster bahnte, schwoll der Lärm der aufgebrachten Menge an. Ich konnte die Welle aus Hass und Verachtung förmlich spüren, wie sie unaufhaltsam näher rollte. Ein eiskalter Schauer der Furcht durchzog mich, ließ meine Beine zittern und meine Kehle trocken werden. Die Angst umklammerte mich erbarmungslos und drohte, meine Sinne zu lähmen. Mein Herz hämmerte in meinen Ohren, laut und rhythmisch wie der Schlag einer unablässigen Trommel in der Ferne.
Das knarzende Geräusch der sich öffnenden Tür meines Käfigs riss mich aus meinen Gedanken. „Raus da!“, befahl einer der Wachmänner, seine Stimme kalt und brutal. Seine groben Hände packten mich, zerrten mich aus der trostlosen Enge meines Gefängnisses. Als ich stolpernd ins Freie trat, traf mich das ohrenbetäubende Getöse der Menge wie ein Schlag in die Magengrube. Der gesamte Platz schien im Chaos zu versinken, eine tobende See aus Gesichtern, die mich mit Abscheu und Neugier anstarrten. Es schien, als hätte sich fast die gesamte Stadt hier versammelt, um Zeuge meines düsteren Schicksals, meiner Verbannung, zu werden.
Immer mehr Stimmen aus der Menschenmenge schlossen sich einem Sprechchor an, der rhythmisch immer wieder die gleichen Worte widerhallte: „Den Teufel zum Teufel jagen... Den Teufel zum Teufel jagen...“ Bei diesen Leuten handelte es sich bei den meisten um die sogenannten Exekutoren, da viele von ihnen eine Weidenrute, die sogenannten Treiber, in der Hand hielten und wild damit herumfuchtelten. Schmähungen prasselten auf mich nieder. „Mörder! Verschwinde! Du Abschaum der Hölle! SATAN... GEH DAHIN, WO DU HINGEHÖRST!“ Andere bewarfen mich mit faulem Obst und Dreck. Ich konnte sogar einige meiner ehemaligen Mitschüler erkennen. Einige von ihnen hielten ebenfalls diese gefürchteten Treiber in der Hand, gierig darauf aus, sich an dieser Maßregelung zu beteiligen.
Schließlich wurde ich von den Wärtern zu einer von mehreren Wächtern bewachten und abgesperrten Bühne geführt. Ich konnte nicht mehr klar denken, war wie paralysiert und vollends damit beschäftigt mich nur noch auf meine Schritte zu konzentrieren. Nur nicht umkippen. Die Bühne war gut einen Meter hoch und hatte eine weitere, zweite Treppe, die zu einer Art Gasse führte. Die linke und rechte Seite der Gasse wurde mit Hilfe von jeweils rund einem Meter hohen und mehreren hundert Metern langen Zäunen abgegrenzt. Rechts und links hinter den Zäunen verteilten sich die Exekutoren mit ihren Treibern in der Hand und dahinter wiederum das Publikum. Die Gasse selbst, die ich offenbar wie einen Spießrutenlauf durchlaufen musste, war etwa gut zwei Meter breit. Und weil man mir es mit meinen bloßen Füßen auch nicht zu einfach machen wollte, hatte man diese Gasse bereits mit vielen kantigen Steinen und spitzen Dornenzweigen beworfen.
Ganz vorne an der linken Seite der Gasse erkannte ich die alte Marla und ihren Sohn Debbie. Beide standen sie da und starrten mich mit ihren vom Hass verzerrten Gesichtern an.
Warum?
Was hatte ich ihnen getan?
Glaubten sie wirklich ich hätte Zisko, ihrem Hund, etwas zu Leide tun können?
Auch Justin konnte ich entdecken, ebenfalls wild fuchtelnd mit einer Weidenrute in der Hand, in der Menge dieses Mobs. Und weiter hinten erkannte ich auch meinen Onkel Jaron, seine Frau Petra und Sophie. Auch sie waren tatsächlich gekommen um sich dieses Spektakel, meine Verbannung aus Kaven anzusehen. Sie, die mich vor Jahren noch pflichtbewusst in ihre Familie aufgenommen hatten.
„Ihr Irren!“, dachte ich nur. „Wie könnt ihr nur?“ Blanke Wut packte mich und ließ dabei endlich mein Gefühl der lähmenden Angst vergessen. Ihr werdet diesen Tag noch bereuen! Für das, was ihr mir hier antun wollt, werdet ihr noch bezahlen. Das schwöre ich euch.
《In der düsteren Vergangenheit, wo Wissenschaft und Technik einst blühten, lag unser Stolz – nun sind wir geerdet, in der Stille und dem Kampf ums Überleben..》
-Eröffnungspoem-
In der Zukunft, fern und weit,
nach dem Fall der alten Zeit.
Ein Virus namens Krass, des Schicksals Schwert,
hat die Welt ins Dunkel gekehrt.
Technik's Glanz, verloren, bleich,
neu entsteht ein Reich, dem alten ungleich.
In der Einfachheit, ein neues Gebot,
im Einklang mit der Natur, trotzt man dem Tod.
Essenz:
-Entstehungsgeschichte-
Wir schreiben das Jahr 2875, und beinahe acht Jahrhunderte waren verstrichen, seit ein Virus namens Krass das Leben auf unserer Welt in einer Weise verändert hatte, die bis heute immer noch nachhallt.
In der Schule wurde uns erzählt, wie die Vorfahren, bevor das Virus sie heimsuchte, mit erstaunlichen Errungenschaften die Welt dominiert hatten. Sie besaßen Wissen und Fähigkeiten, die heute eher wie Legenden aus alten Büchern klangen. Sie fuhren in Metallungetümen, die sich von alleine bewegten und die sie „Autos“ nannten. Diese Gefährte konnten nicht nur über Land rasen, sondern auch über Ozeane gleiten und sich hoch in den Himmel erheben. Und in den schwärzesten Nächten, wenn der Himmel klar war und die Sterne funkelten, erzählten uns die Lehrer von den mächtigsten Maschinen, den „Raketen“. Diese Raketen sollen Menschen in den Raum getragen haben, jenseits der Wolken und der Atmosphäre, zu Orten, von denen wir nur träumen konnten, wie unseren Mond und unseren benachbarten Planeten.
Es hieß, dass damals noch viele andere erstaunliche Dinge erschaffen wurden, darunter sogenannte Geräte für bewegte Bilder und Maschinen, die sprechen konnten. Doch für die meisten von uns erschienen diese Geschichten heute wie aus alten Märchenbüchern, fast zu fantastisch, um wahr zu sein. Und der Gedanke, dass es solche technologischen Wunderwerke wirklich einmal gegeben haben sollen, erschien vielen in unserer heutigen, einfacheren Zeit nur noch absurd. Aber hier und da gab es immer noch stumme Zeugen dieser vergangenen Epoche - verrostete Überreste und zerbröckelnde Ruinen, die den Erzählungen Glaubwürdigkeit schenkten.
2079 war das Jahr, in dem der „Krass“-Virus die Welt im Griff hatte. Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer, entzündete die Menschheit mit einem Fieber der Zerstörung. Innerhalb von nur zwölf Monaten reduzierte es die Weltbevölkerung um mehr als die Hälfte. Wer sich infizierte, zeigte zuerst Symptome eines hartnäckigen Fiebers und Hustens, gefolgt von den berüchtigten roten Flecken, die sich über die Haut ausbreiteten. Einmal infiziert, schien der Tod unvermeidlich und näherte sich mit rasender Geschwindigkeit.
Als der „Krass“-Virus sich ausbreitete, durchzog eine eisige Welle der Angst die Gesellschaft. Straßen wurden zu verlassenen Schluchten, in denen sich der Wind zwischen den Gebäuden hindurchschlängelte, und das lebhafte Treiben der Städte wurde von einem beklemmenden Schweigen erstickt. Angetrieben von der Angst vor dem Virus, zogen sich die Menschen zurück, verschlossen sich in ihren vier Wänden, und somit kam das gewohnte Leben schlagartig zum Stillstand. In kurzer Zeit stürzte die Wirtschaft ins Bodenlose, und die Lagerregale leerten sich. Eine Angst vor dem Verhungern kam hinzu und so wurde der tägliche Gang zum Lebensmittelgeschäft zu einem risikoreichen Unterfangen.
Bewaffnet bis an die Zähne - mit allem, was die Menschen in die Hand bekommen konnten - entflammten erbitterte Kämpfe um Nahrung, Medikamente, Trinkwasser und auch um Waffen. So manche Straße wurde zu einem Schlachtfeld, auf dem sich Nachbarn gegenüberstanden und in einem verzweifelten Kampf ums Überleben sich gegenseitig bekriegten. In den darauffolgenden drei Jahren führte dieser Überlebenskampf sogar zu mehr Todesfällen als der „Krass“-Virus selbst.
Die Krise legte die Schwachstellen einer hochspezialisierten Gesellschaft offen. Die drastische Arbeitsteilung, die zuvor das Markenzeichen fortschrittlicher Zivilisationen gewesen war, wurde zu ihrer Achillesferse. Jeder Mensch hatte sich auf eine kleine Nische spezialisiert, wurde in dieser zum Experten und verdiente damit sein tägliches Brot. Doch das Verständnis für das große Ganze, das Zusammenspiel der vielen Einzelteile, war bei den meisten verloren gegangen.
Die Menschen waren erschreckend abhängig von ihren Technologien und der modernen Medizin. Ohne diese technologischen Hilfsmittel waren sie hoffnungslos verloren, wie Kinder in einem unendlichen Wald ohne Kompass. Die Ironie lag darin, dass sie eine Tomate kaum von einer Kartoffel unterscheiden konnten, geschweige denn die einfachsten Heilmethoden anwenden, um Verletzungen zu versorgen. Das einst lebensrettende Wissen unserer Vorfahren über Landwirtschaft, Jagd und Konservierung von Nahrung war fast in Vergessenheit geraten. Und die Wenigen, die diese essentiellen Kenntnisse noch besaßen, fielen größten Teils den ersten Jahren der Katastrophe auch noch zum Opfer, sei es durch den Virus oder durch die daraus resultierenden Konflikte.
In dieser düsteren Ära schien die Menschheit am Rande des Abgrunds zu stehen. Innerhalb kürzester Zeit löschten Chaos und Anarchie die Glut der menschlichen Zivilisation aus, die über Jahrtausende hinweg genährt worden war. Die modernen Waffen und Munitionsvorräte, einst Symbole der Macht, wurden schnell aufgebraucht und die Überlebenden mussten sich zunehmend auf primitivere Mittel verlassen.
Ein Jahrhundert nach der Katastrophe waren die ehemals pulsierenden Metropolen verfallene Ruinen und von der Natur zurückerobert worden. Wilde Tiere durchstreiften die Straßen, und der Wind wehte eisige Melodien durch zerstörte Fensterhöhlen. Die verbliebenen Munitionsvorräte waren durch Temperaturschwankungen unbrauchbar geworden oder längst aufgebraucht.
Der Überlebenskampf der Menschheit fing an sich in zwei Lager zu spalten. Einige strebten danach, soziale Strukturen und Lebensgrundlagen wiederherzustellen und vereinten sich im Laufe der Zeit zum mächtigen Bund, wie wir ihn heute kennen. Andere jedoch zogen es vor, die Errungenschaften ihrer Mitmenschen zu plündern, um zu überleben.
Zwei weitere Jahrhunderte vergingen, und die Erinnerungen an die einstige Welt verblassten zusehends. Wo einst riesige Städte waren, breiteten sich nun dichte Wälder aus. Die Überlebenden jagten mit primitiven Waffen wie Bögen und Speeren und suchten Zuflucht in den Schatten alter, von der Natur zurückeroberten Wolkenkratzer.
Es wurde gemunkelt, dass in dieser Zeit Fremde – vielleicht aus weit entfernten Ländern – in diese Region kamen und sich langsam inmitten von räuberischen Banden, die einst in diesen Gegenden wüteten, vermischten und etablierten und sich so im Laufe der Jahrhunderte zu dem heutigen Krasien entwickelten.
Nach wiederum zwei weiteren Jahrhunderten hatte sich das Antlitz der Erde radikal weiter gewandelt. Die gewaltigen Bauten der alten Welt bröckelten und stürzten ein. Üppige Wälder überzogen das Land, und kaum noch etwas von der einstigen Zivilisation war noch zu erkennen. Die Menschen versammelten sich mehr und mehr um ihre Lagerfeuer, und die Geschichten von der vergangenen Welt wurden zu Legenden, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden.
Und heute, fast acht Jahrhunderte nach der verheerenden Katastrophe, war aus der solidarischen Gemeinschaft des Bundes eine neue Zivilisation entstanden. Die neu gegründeten Städte, in ihrer Bauweise schlichter als die der alten Welt, waren zu Knotenpunkten eines blühenden Handelsnetzwerks geworden. Mit jedem Jahr wuchsen sie, wurden stärker und waren zunehmend in der Lage, sich gegen die ständige Bedrohung durch die Krasianer zu verteidigen.
Der Erfolg des Bundes war untrennbar mit den verbliebenen Ressourcen verknüpft. Als die Munition und die funktionstüchtigen Waffen rar wurden, mussten sich die Menschen neu orientieren. Es wurde mehr Wert auf Diplomatie gelegt, Vertrauensbündnisse wurden geschmiedet. Die Gefahr der Krasianer-Überfälle zwang die verschiedenen Gruppen von Menschen, die sich in der Zeit gebildet hatten zur Zusammenarbeit, und langsam erblühte der Handel aufs Neue. Menschen wandten sich wieder den Grundlagen zu: Sie bauten an, fischten, jagten, konstruierten und webten. Ein neues Zeitalter der Spezialisierung und des Wiederaufbaus begann.
Die bitteren Erkenntnisse der Vergangenheit hinterließen im Bewusstsein des Bundes jedoch unauslöschliche Narben. Die blinde Abhängigkeit von Technologie und Maschinen hatte ihre Zivilisation an den Rand des Abgrunds geführt. Daher verankerte der neu formierte Bund in seinen Grundsätzen ein tiefes Misstrauen gegenüber diesen „Flüchen der Bequemlichkeit“. Elektrizität und Maschinen, die eigenständig agierten, sogenannte Automaten, einst die Kronjuwelen menschlicher Erfindungsgabe, wurden zu Geächteten, zu Relikten einer Ära, die man nie wieder aufleben lassen wollte. Das Wissen darüber wurde als gefährliches Erbe betrachtet, das verbannt und versiegelt wurde. Wer es dennoch wagte, dieses strikte Verbot zu missachten, sah sich einer unerbittlichen und harten Bestrafung gegenüber.
Um die Unabhängigkeit und das Überleben des Bundes zu gewährleisten, wurde beschlossen, dass jede Person zumindest in den Grundlagen aller essenziellen Handwerkskünste ausgebildet werden sollte. Es wurde als notwendig erachtet, dass ein Jäger nicht nur die Fähigkeiten der Jagd beherrschte, sondern auch wusste, wie man Getreide anbaute, Rohstoffe abbaute, Metalle herstellte, Gebäude errichtete, Krankheiten heilte und Werkzeuge, Papier sowie manuell betriebene Maschinen herstellte.
Die Schulen erlebten eine Neubelebung: Sie dienten nicht nur als Bildungsstätten, sondern auch als Lebensschulen, die das Überleben in dieser neuen Welt sicherstellen sollten. In den ersten sieben Jahren ihrer Ausbildung, ab dem Alter von 10 Jahren, wurden die Schüler intensiv in den Kernfächern wie Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Bauwesen, Jagd, Produktion essenzieller Güter, Verteidigung sowie Heil- und Kräuterkunde unterrichtet. Anschließend durchliefen sie eine siebenjährige Lehrzeit, in der sie jedes Jahr in einem dieser Fachgebiete praktische Erfahrungen sammeln sollten.
Der Schatten des Krass-Virus hing jedoch immer noch wie eine düstere Wolke über der Welt. Obwohl man dachte, dass das Virus mit den Jahren seinen tödlichen Stachel verlieren würde, schlug es in unregelmäßigen Abständen immer wieder zu. Wie ein Feind, der nie ganz besiegt wurde, lauerte es im Verborgenen und suchte immer wieder Möglichkeiten, seine tödliche Ernte zu fordern.
Der rätselhafte Zyklus des Virus folgte einem fast schon mystischen Muster. Im späten Winter, wenn die ersten Schneeflocken ihre weiße Decke über das Land legten und die Tage kurz und dunkel waren, regte sich das Krass-Virus in einer beunruhigenden Regelmäßigkeit. Seltsamerweise schien es durch die Kälte aktiviert zu werden und verlor seine Macht in der sengenden Hitze des Sommers.
Jeder Bürger des Bundes kannte das Gesetz: Sobald die ersten Anzeichen einer neuen Welle sichtbar wurden, wurde eine dreiwöchige Quarantäne verhängt. Die Städte verwandelten sich in gespenstische Geisterstädte, während die Menschen in ihren Behausungen Schutz suchten, hoffend, dass sie von dem unsichtbaren Feind verschont blieben. Über die Jahre hatten sich die Bürger darauf eingestellt, ihre Vorratskammern für diesen verhängnisvollen Zeitraum prall zu füllen. Doch trotz aller Vorsicht und Vorkehrungen war der Krass-Virus stets ein Schritt voraus, oft fegte er mit einer unheimlichen Effizienz durch die Orte und ließ nichts als Stille und Trauer zurück.
Das unberechenbare Erwachen des Virus trug zur ständigen Angst und Anspannung bei. Es konnte ein friedliches Jahrzehnt vergehen, in dem die Menschen kaum an die Plage dachten, nur um dann ohne Vorwarnung von einer weiteren tödlichen Welle überrascht zu werden. Andere Male folgten nur wenige Jahre des Friedens auf eine Eruption der Krankheit. In dieser unvorhersehbaren Welt lebten die Menschen in ständiger Wachsamkeit, immer bereit, sich vor dem Schrecken zu schützen, der in den Schatten lauerte.
《Schwierigkeiten und Hindernisse des Lebens sind dazu da, um diese zu überwinden und daran zu wachsen.》
-Eröffnungspoem-
In Kavens Schatten, still und weit,
lebt Rota Gevill, in steter Einsamkeit.
Ein Feuermal, sein stilles Leid,
in einer Welt voll Unverständigkeit.
Verlust der Eltern, tief und schwer,
führt ihn auf Pfade, einsam, leer.
Bei Onkel, Tante, fremd und kalt,
sein Herz gefangen, wie in Basalt.
Essenz:
-Rota's Welt, Geschichte und Situation-
Oft dachte ich an die Tage zurück, als wir in Tenna lebten - ein gutes Jahrzehnt bevor der verheerende „Krass“-Virus ausbrach. In dieser Zeit war ich gerade einmal sechs Jahre alt, doch in den verschwommenen Erinnerungsfetzen meiner Kindheit spürte ich noch immer das Gefühl der Geborgenheit, das meine Eltern mir schenkten. Obwohl ihre Gesichter mit der Zeit verblichen waren, blieb ihr liebevoller Einfluss in meiner Erinnerung lebendig. Sie akzeptierten meine Andersartigkeit und ohne Vorbehalt ließen sie mich spüren, dass ich normal war, dass ich dazugehörte.
Mein Vater hatte auch immer eine besondere Art, mich aufzumuntern, wenn es mir schlecht ging. Oft begann er mit den Worten: ‚‚Du musst verstehen, mein Junge...“, er legte dabei immer liebevoll seine Hand auf meinen Kopf. „Jede Schwierigkeit, die wir erleben, ist eine Lektion, die uns auf die Herausforderungen des Lebens vorbereitet. Je mehr wir bewältigen, umso stärker werden wir“. Er blickte mich dann ernst an und fügte hinzu: „Und bei dir, mein Sohn, hat der da oben wohlscheinbar etwas Außergewöhnliches im Sinn“. Jedes Mal, wenn er das sagte, fühlte ich mich etwas besser oder zumindest besser als zuvor.“
Mein Vater war ein Händler, der hauptsächlich mit Lebensmitteln und Kleidung handelte. Er verstand es, so erzählte man mir, meisterhaft, Waren von den Erzeugern zu günstigen Preisen zu erwerben und sie dann gewinnbringend an andere Händler oder direkt an die Menschen zu verkaufen. Meine Mutter hingegen war eine begabte Näherin, die uns in Zeiten, in denen das Geschäft meines Vaters mal nicht so gut lief, mit ihrem Schneiderhandwerk den notwendigen Lebensunterhalt sicherte. Unser Familienleben war von Bescheidenheit geprägt, wir lebten nicht im Überfluss, aber auch nicht in Armut. Wir waren nur eine kleine Familie gewesen und waren glücklich. So hatte ich jedenfalls meine Familie in Erinnerung.
Als mein Vater eines Tages jedoch erschöpft und krank von einer langen Handelsreise zurückkehrte, sollte sich mein behütetes Leben auf einen Schlag verändern.
Die anfänglichen Fieberschübe überkamen mich genauso wie die anderen, doch im Gegensatz zu meinen Eltern und den meisten anderen überlebte ich diese verheerende Krankheit. Ich erinnerte mich noch daran, wie meine Mutter, mein Vater und ich, von der Krankheit geschwächt, eng umschlungen im Bett meiner Eltern lagen und jegliche Kraft verloren hatten, um noch irgendetwas zu tun oder zu unternehmen. Und uns allen bewusst war, dass unsere Zeit hier bald ein jähes Ende nehmen würde.
In diesen dunklen Stunden kam jedoch eine Wendung. Während der Zustand meiner Eltern von Stunde zu Stunde schlimmer wurde, spürte ich am dritten Tag unserer bedrückenden Bettlägerigkeit, wie das Fieber bei mir allmählich nachließ und meine Kräfte langsam zurückkehrten. Dennoch blieb ich vorerst an der Seite meiner Eltern, zum einen wohl aus Erschöpfung und andererseits, weil ich die Vorstellung, die schützende Geborgenheit meiner Eltern zu verlassen, wohl nicht ertragen konnte. Vielleicht war es auch so, dass ich mich erst rührte, als meine Eltern bereits in einem Zustand waren, in dem sie ihre Umgebung nicht mehr wahrnehmen konnten. Ich bezweifelte, dass sie von meiner Genesung überhaupt etwas mitbekamen.
Mein Vater war schließlich der Erste, der dem gnadenlosen Griff dieses Virus erlag. Sein Atem kämpfte immer verzweifelter gegen die unsichtbare Dunkelheit an, bis er schließlich in einem letzten, erschöpften Atemzug nachgab. Gleichwie viele andere, rang auch er vergeblich einen aussichtslosen Kampf, nur um letztendlich zu unterliegen.
Der Tod meines Vaters entglitt der Wahrnehmung meiner Mutter. Und ein endloser Tag verstrich, begleitet von mühsamem Atmen, schmerzvollem Stöhnen und einer düsteren Ausweglosigkeit, bis schließlich auch meine Mutter dem furchtbaren Schicksal dieses Virus erlag.
Ich erinnerte mich noch lebhaft an den Moment, als ich zwischen den leblosen Körpern meiner Eltern lag, Tränen auf meinen Wangen, mein Herz von Trauer erfüllt. Ich sehnte mich danach, ihnen in die Dunkelheit zu folgen, in das Rätselhafte, das ihnen nun gehörte. Doch das Leben, so grausam es manchmal sein mochte, forderte mich heraus, mich zwischen dem Liegenbleiben und dem Aufstehen zu entscheiden.
Inmitten der Einsamkeit und der Dunkelheit, die sich über das Haus legten, quälte mich vor allem jedoch ein unaufhörlicher Durst. Und weil der große Kübel mit Wasser, den wir uns ans Bett gestellt hatten, völlig leer getrunken war, trieb mich der Durst letztendlich aus dem Sterbebett meiner Eltern.
Mit wankenden Schritten begab ich mich zur Speisekammer und begann wieder, etwas zu trinken und zu essen. Tage vergingen, bevor der unerträgliche Geruch des Verfalls mich zwang, das elterliche Haus zu verlassen und Kontakt zu den Überlebenden aufzunehmen, die dem Virus entkommen waren. Doch da die Angst vor einer Ansteckung allgegenwärtig war, wagte es niemand, mich aufzunehmen.
Einige wenige hatten jedoch noch so viel Mitgefühl, dass sie mir gelegentlich Lebensmittel zuwarfen, was mir ermöglichte, die nächsten Wochen zu überleben.
Erst als die Auswirkungen des Virus abklangen, erschien der Bruder meines Vaters, Jaron, und nahm mich bei sich auf. Er brachte mich in seine Heimatstadt Kaven, wo ich seitdem bei ihm und seiner Familie lebte.
„Kaven, eingebettet am Fuße einer majestätischen Gebirgslandschaft, war weithin bekannt für seine imposante und massiv errichtete Stadtmauer, die den gesamten Ort umspannte und die rund viertausend Einwohner vor ungebetenen Eindringlingen sicher schützte. Die mächtigen Mauern erzählten Geschichten von vergangenen Herausforderungen und waren ein eindrucksvolles Symbol für die Stärke der Stadt.
Kaven, wie auch Tenna und andere bedeutende Städte und Regionen, gehörten dem mächtigen Bund an, der sich gegen das wilde Volk Krasiens, den Rebellen und andere Gesetzlose zusammengeschlossen hatte. Obwohl der Bund den Gedanken der Eigenständigkeit und Autarkie jeder Stadt und Region in den Vordergrund stellte, um im Notfall auf sich allein gestellt überleben zu können, blieben die Produktion von lebenswichtigen Gütern, insbesondere Landwirtschaft und Viehzucht, nach wie vor von zentraler Bedeutung für jede Stadt, einschließlich Kaven.
Dennoch hatte Kaven, wie alle anderen Mitglieder des Bundes, eine Spezialisierung entwickelt. Ihr besonderes Fachgebiet lag in der Porzellanproduktion, was ihr erfolgreiche Handelsbeziehungen mit anderen Städten im Bundesgebiet ermöglichte. In dieser florierenden Welt der Porzellanherstellung spielte mein Onkel Jaron eine entscheidende Rolle. Er zeichnete sich durch seine Position in der Planung und Entwicklung aus und unterstützte die Geschäftsleitung in verschiedenen Aufgaben. Sein exzellenter Ruf basierte auf seiner Aufrichtigkeit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Viele schätzten ihn als vertrauenswürdigen Ratgeber in zahlreichen Angelegenheiten. Sein makelloses Ansehen brachte ihm auch die Ehre ein, Mitglied im Kavener Rat zu werden.“
Bedauerlicherweise beschränkte sich die Freundlichkeit und Güte meines Onkels nur auf einen kleinen Kreis von Menschen, zu dem ich nicht gehörte. Dieser Kreis war sorgfältig ausgewählt und umfasste Personen, die ihm entweder nahestanden oder von denen er sich Vorteile versprach. Natürlich zählten seine Frau Petra und seine leiblichen Kinder, Justin und Sophia, dazu. Doch auch sein Vorgesetzter Robert, der Bürgermeister Johnas Goldan, unsere Nachbarn und andere wohlhabende oder einflussreiche Personen gehörten zu diesem exklusiven Kreis.
Diese ausgewählten Individuen konnten stets auf die Unterstützung meines Onkels zählen. Er bewies ihnen gegenüber eine Hilfsbereitschaft, die nicht selten über das erwartete Maß hinausging, und sicherte sich dadurch ihre Anerkennung und Zuneigung. Im krassen Gegensatz dazu standen Menschen wie ich, die in seinen Augen keinen ersichtlichen Nutzen boten. Für ihn waren diese Menschen lediglich ein Ärgernis, ein unbequemer Teil seines Lebens, die er ohne Bedauern ignorierte.
Obwohl mein Onkel auch mein Pate war, schien die Pflicht, mich in seine Familie aufzunehmen, mehr eine Bürde als eine Herzensangelegenheit zu sein. Er erinnerte mich ständig an diesen Akt der Nächstenliebe, betonte, wie dankbar ich ihm sein sollte und spekulierte laut, wie düster meine Zukunft ohne seine Großzügigkeit ausgesehen hätte. Genauso häufig erwähnte er, wie viel einfacher ihr Leben ohne meine Anwesenheit gewesen wäre. Seine ständigen Vorwürfe waren eine quälende Melodie in meinem Alltag, aber mit der Zeit lernte ich sie zu ignorieren und die Sticheleien zu ertragen. Seine Worte wurden zu einem Hintergrundgeräusch, das ich gelernt hatte einfach auszublenden.
Sein Sohn Justin war siebzehn Jahre alt und abgesehen von seinen Haaren war er eindeutig die jüngere Ausgabe seines Vaters. Seine Augen lagen, genau wie die von Jaron, tief in ihren Höhlen, umrahmt von den gleichen markanten Gesichtszügen, die von einer schmalen, spitzzulaufenden Nase bis zu einer robusten Mund- und Kinnpartie reichten. Doch während sein Vater seine Haare kurz und praktisch trug, ließ Justin seine dunklen Locken lang wachsen. Er steckte eine Menge Zeit und Energie in ihre Pflege, so dass sie stets glänzten und geschmeidig fielen. Diese Haarpracht trug er mit einer Art stolzem Selbstbewusstsein, das sich in seinem ganzen Wesen widerspiegelte.
Seine Sorgfalt für sein Äußeres war für mich ein klares Zeichen seiner Eitelkeit und Selbstzufriedenheit. Er war ein Narzist, der sein Bild in jeder glänzenden Oberfläche bewunderte. Und was seinen Charakter betraf, zeigte er deutlich, dass der Apfel nicht weit vom Stamm gefallen war. Wie sein Vater schätzte auch Justin den Umgang mit denen, die ihm gesellschaftliches Ansehen oder Vorteile bieten konnten. Sein Kreis war wohl ausgewählt und exklusiv, bestehend aus Personen, die nach seiner Auffassung einen gewissen Status oder Einfluss hatten.
Die Art und Weise, wie er durch die Welt navigierte, mit einer Mischung aus Arroganz und berechnender Freundlichkeit, ließ kaum Raum für Echtheit. Diejenigen, die nicht in sein soziales Schema passten, waren für ihn unsichtbar, oder schlimmer noch, sie waren wie Staub, der unangenehm in seiner perfekt gestylten Welt wehte. Er maß den Wert eines Menschen nach dessen Nutzen oder gesellschaftlicher Stellung, und diese Oberflächlichkeit entlarvte ihn in meinen Augen vollständig.
Von dem Moment an, als mein Onkel mich aus Tenna abholte und in das Haus der Gevills in Kaven brachte, war die Abneigung, die Justin mir gegenüber hegte, unübersehbar. Es war ein frostiger Empfang, der nicht nur durch die kühle Luft dieses nebligen Tages betont wurde, sondern auch durch die eisige Atmosphäre, die Justin umgab.
Am Anfang, als mein eigenes Zimmer noch nicht fertig war, sollte ich vorübergehend mit Justin ein Zimmer teilen. Doch der bloße Gedanke daran brachte Justin zur Weißglut. Sein Protest war ein Sturm, der durch das Haus fegte, ein unaufhaltsamer Ausbruch von Wut und Verachtung, der niemanden in der Familie unberührt ließ. Er schrie sich die Seele aus dem Leib, dass er niemals mit jemandem wie mir im gleichen Zimmer, geschweige denn im gleichen Bett, schlafen könne. Er weinte und behauptete, ich würde ihm Angst einjagen, er würde Alpträume bekommen, sollte ich auch nur in seine Nähe kommen. Er tobte darüber, dass dies ein unerträglicher Zustand sei, den man doch seinem eigenen Kind niemals zumuten dürfe.
Sein Zorn tobte ohne Unterlass und mit solch intensiver Energie, dass ich schließlich gezwungen war, in der Küche zu schlafen, bis mein Zimmer später im Keller hergerichtet wurde.
Mit der Zeit entwickelte sich Justins Hass zu einer konstanten, kalten Präsenz, die sich immer dann bemerkbar machte, wenn etwas in seinem Leben schief ging. Wenn seine Wünsche nicht erfüllt wurden, wenn Familienstreitigkeiten entbrannten, oder wenn ein unerwünschter Pickel auf seiner sonst makellosen Haut auftauchte, war ich der Sündenbock. Seine Schuldzuweisungen waren wie Pfeile, die er in meine Richtung schoss, immer bereit, mich für sein Unglück verantwortlich zu machen.
Warum er mich als Ursache all seiner Missgeschicke ansah, hatte ich nie wirklich begriffen, und ehrlich gesagt, es interessierte mich auch nicht mehr. Seine unbegründete Abneigung wurde zu einem Hintergrundrauschen, einem stetigen Dröhnen, das ich gelernt hatte, zu ignorieren.
Sophia, die Tochter, war die unangefochtene Prinzessin der Familie, umgeben von einer Aura des Wohlstands und der Bequemlichkeit, die sie wie eine zweite Haut trug. Jeder ihrer Wünsche wurde mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Liebe erfüllt, oft bevor sie überhaupt die Chance hatte, sie auszusprechen. Mit sechzehn Jahren gehörte sie zu den beliebtesten und ansehnlichsten Schülerinnen von Kaven, ein Status, den sie mit beträchtlichem Aufwand an Zeit und Mühe erreicht hatte. Ihr Gespür für Mode war makellos; jede Locke ihres Haares war sorgfältig platziert, jede ihrer Bewegungen durchdacht und voller Grazie.
In Sophias glänzendem Universum existierte ich lediglich als ein unsichtbares Phantom, ein Randaspekt ihrer perfekt inszenierten Welt. Wenn ihre Freundinnen zugegen waren, schlüpfte sie in die Rolle der fürsorglichen Schwester, die unermüdlich versuchte, mich in das familiäre Gefüge einzubinden. Mit Geschick malte sie ein Bild von sich selbst als jemand, der sich stets bemühte, trotz der ständigen Enttäuschungen durch mein Verhalten und meine Eigenarten. Doch dies war nichts weiter als eine sorgfältig aufgebaute Fassade. Hinter diesem Schein kümmerte Sophia sich nie wirklich darum, tiefer zu blicken,über den oberflächlichen Glanz hinaus, der ihr Leben umgab. Ihr Interesse an anderen schien nur so weit zu reichen, wie ihr sozialer Status oder ihre äußere Erscheinung es zuließen.
Eines Tages, aus Gründen, die mir nie ganz klar waren, entschied sie, dass es einfach keinen Sinn mehr machte, sich weiter um mich zu bemühen. Seit diesem Moment hatte ich keinen Platz mehr in ihrer rosigen Welt und meine Existenz war für sie in die Bedeutungslosigkeit gefallen.
Petra, die Ehefrau meines Onkels, wurde oft als einstige strahlende Schönheit beschrieben. Auch wenn die Jahre ihre Spuren hinterlassen hatten, zählte sie für mich unbestritten zu den anziehendsten Frauen in ganz Kaven, besonders wenn ihr Lächeln mich auf diese ganz besondere, warme Weise traf. Doch leider war dieses Lächeln mir gegenüber in letzter Zeit selten geworden.
Petra war von ruhiger und besonnener Natur, stets bereit, ein offenes Ohr für die Probleme anderer zu haben, und war die Verkörperung von Harmonie in der ansonsten oft stürmischen Atmosphäre des Gevill-Haushalts. Als ich neu in der Familie war, schien Petra eine besondere Anstrengung zu machen, um eine Verbindung zu mir herzustellen. Sie kam jeden Abend in mein Zimmer, setzte sich neben mich und versuchte, Gespräche über mein Leben, meine Interessen oder einfach nur über den Tag zu führen. Ihre Gesten der Freundlichkeit waren kleine Lichtstrahlen in der anfänglichen Dunkelheit meiner Tage in diesem neuen, fremden Zuhause.
Doch als ich begann, Fehler zu machen und meine jugendliche Rebellion und Unreife durchkamen, zog sie sich allmählich zurück. Die Abendbesuche wurden seltener, die Gespräche weniger tiefgründig und das warme Lächeln, das einst eine gewisse Mutterliebe zu zeigen schien, wurde seltener. Es war, als ob eine unsichtbare Mauer zwischen uns gewachsen war, eine Mauer aus Enttäuschung und vielleicht auch aus einer Art von Resignation.
Auch wenn sie nie direkt ihre Gefühle oder ihre Enttäuschung ausdrückte, konnte ich spüren, dass auch sie wohl lieber gehabt hätte, wenn ich niemals zu ihnen gekommen wäre. Trotzdem blieb Petra für mich in dieser Familie diejenige, die mir am nächsten stand, diejenige, die zumindest versuchte eine Brücke zu bauen, auch wenn diese Brücke später von den Herausforderungen der Realität zu bröckeln begann.
Die allgemeine Abneigung, die mir von meisten meiner Mitmenschen entgegengebracht wurden, ließ sich wohl hauptsächlich auf mein Äußeres zurückführen. Mein Körperbau bewegte sich hierbei im durchschnittlichen Rahmen – ich war weder zu dick noch zu dünn, und meine Gesichtszüge waren auch nicht verzerrt und durchaus regelmäßig. Ich hätte mit meinem Erscheinungsbild so gesehen auch durchaus zufrieden sein können, wäre da nicht die Farbe meiner Haut. Denn seit meiner Geburt prangte ein tiefes Blutrot auf mein Gesicht, ein gewaltiges Feuermal, das sich bis zu meinen Schulterblättern und vorne bis zur Höhe meiner Brust in zackigen, flammenähnlichen Spitzen erstreckte.
Diese blutrote Färbung, kombiniert mit meinem rabenschwarzen Haar, verlieh mir ein beinahe dämonisches Erscheinungsbild, das in den Augen vieler unheimlich und bedrohlich wirkte. Es war, als ob die Farbe meiner Haut eine Barriere zwischen mir und der Welt errichtet hatte, eine unüberschreitbare Grenze, die von Vorurteilen und Ängsten genährt wurde. Einige sahen in mir sogar eine Kreatur der Hölle und mieden mich genauso wie dieses Virus „Krass“.
Und da es schon fast wie ein ungeschriebenes Gesetz der Natur war, dass diejenigen, die anders waren als die anderen, schikaniert, gequält und geärgert wurden, gab es natürlich auch viele, die sich regelrecht genötigt fühlten, dieses „Gesetz“ auch auszuleben; und für einige von ihnen sogar mit der Überzeugung, der Welt dadurch einen guten Dienst zu erweisen.
Abgesehen von wenigen Ausnahmen schien niemand an der Schule – weder unter den Schülern noch unter den Lehrern – wirklich meine Anwesenheit zu respektieren oder mir das Gefühl zu geben, dazuzugehören. Einige bemühten sich zwar um einen respektvollen Umgang, doch die Distanz in ihren Augen, die feine Linie der Toleranz, die sie nicht überschritten, war unübersehbar. Ihr Respekt war höflicher Natur, doch die Wärme, die echte Akzeptanz begleitete, fehlte.
Mein Vater hatte mir oft genug versichert, dass Schwierigkeiten die Voraussetzungen für Erfolg waren, und dass Gott, gemessen an den Herausforderungen, die er mir offensichtlich in den Weg gelegt hatte, Großes mit mir vorhatte. Seine Worte waren ein schwacher Trost, wenn die Blicke der anderen oftmals nur kalt und abweisend waren. Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, wie die anderen zu sein und hätte es im Leben einfacher gehabt.
Anfangs lehnte ich die Rolle des Außenseiters noch vehement ab und unternahm alles Erdenkliche, um in einer Gemeinschaft anerkannt und akzeptiert zu werden. Doch meine Verzweiflung führte mich zu Taten, die bis heute dunkle Schatten auf meine Seele warfen und für die ich mich immer noch schämte. Wenn mir die Möglichkeit geboten wurde, in einer Gruppe aufgenommen zu werdenn, wenn ich etwas Bestimmtes erledigte, dann hatte ich das in meiner Naivität und Verzweiflung auch immer wieder getan. Leider drehten sich diese Bedingungen oft nur darum, jemand anderen zu verletzen, zu quälen oder jemandem etwas wegzunehmen oder zu zerstören. Alles, was ich wollte, war dazuzugehören, nicht mehr alleine zu sein. Doch am Ende lachten sie immer nur und hatten ihren Spaß auf meine Kosten. Mich akzeptiert, hatte man aber letztlich nie.
„Roter Teufel“ – so werde ich aufgrund meiner Erscheinung und meiner Taten oft genannt, ein Spitzname, den ich besonders häufig von einem meiner Mitschüler zu hören bekam: Jaden. Jaden stach durch seine Körpergröße und Stärke hervor; seine entschlossene, fast schon wagemutige Art positionierte ihn als Anführer. Er polarisierte: Einige verehrten ihn regelrecht, während andere ihn fürchteten. Sein Äußeres mochte eine andere Geschichte erzählen, doch für mich war er nichts weiter als ein machthungriger Schwätzer und ein Sadist. Die Freude, die er aus der Qual anderer zog, und seine schamlose Respektlosigkeit verliehen ihm beträchtlichen Einfluss über seine Mitschüler. Niemand wagte es, sich mit Jaden anzulegen. Doch ich muss zugeben, er zeigte eine unerschütterliche Loyalität seinen Freunden gegenüber. Wenn seine Kameraden in Schwierigkeiten steckten, stand er immer für sie ein – und das schätzten sie an ihm. Und diese Loyalität machten ihn für seine Opfer, mich eingeschlossen, besonders gefährlich.
Für eine gewisse Zeite gehörte ich sogar zu Jaden’s Gefolge, die bereit waren, alles für ihn zu tun, insbesondere jene Aufgaben, die ihm zu niedrig erschienen. In meinem Fall jedoch stempelte er mich zum „Oberdeppen“ ab. Denn egal, welchen Dienst ich auch für ihn verrichtete, anders als bei den anderen, nutzte er jede Gelegenheit, um mich zu demütigen und mich nie wie seine übrigen Getreuen zu behandeln. Das ging so lange, bis ich es irgendwann kapierte und keine Lust mehr darauf hatte, für ihn den Trottel zu spielen. Seitdem scheint Jaden nun aber ein regelrechtes Vergnügen daran zu haben, mich zu verspotten und zu demütigen. Kaum ein Tag verging, ohne dass er sich über mein Äußeres lustig machte oder versuchte, mich auf jede erdenkliche Weise zu schikanieren. So fand er beispielsweise ein Heidenspaß daran, meine Sachen zu verstecken oder Widerwärtiges, wie tote Tiere, sowie die Habseligkeiten anderer Schüler in meine Schultasche zu stecken. Auch amüsierte er sich köstlich, wenn er hinter meinem Rücken Grimassen schnitt – oder, wenn ihm sonst nichts einfiel, fand er es schlichtweg belustigend, mich einfach anzuspucken oder zu schubsen.
Trotz der ständigen Ablehnung, die mir von allen Seiten entgegenschlug, hatte ich allmählich meinen Frieden mit der Rolle des Außenseiters gemacht und mich an das triste Leben des Alleinseins gewöhnt. Doch selbst inmitten dieser tristen Tage, funkelten gelegentlich kleine Lichtblicke, die meinen Alltag immer wieder belebten. Ein solcher Lichtblick waren Marla und Debbie Gruden, insbesondere ihr Hund Zisko. Sie lebten am Rand des weitläufigen Waldes von Kaven, ein Ort, der auf meinem Schulweg lag.
Marla war sehr alt und die Zeit schien auf ihrem Rücken eine schwere Last zu tragen. Ihr Gang war langsam und bedächtig, ihr Krückstock ein ständiger Begleiter, der bei jedem Schritt auf dem Boden aufschlug. Ihre Augen, getrübt vom Alter, funkelten jedoch noch immer, wenn sie Geschichten aus ihrer Jugend erzählte.
Debbie, ihr einziger Sohn, besaß den Körper eines in die Jahre gekommenen Mannes, doch sein Geist schien in der Kindheit stehen geblieben zu sein. Seine Beine waren unterschiedlich lang, was seinen Gang ungleich und holprig machte, und doch hatte er eine Art kindliche Freude an der Welt, die in seinem Lächeln sichtbar wurde. Doch mir gegenüber blieb er zurückhaltend, fast ängstlich. Bei meinen Besuchen geriet er immer in eine nervöse Unruhe, und wenn ich ihm zu nahekam, floh er oft überstürzt aus dem Raum, als würde meine Nähe eine unsichtbare Bedrohung darstellen.
Trotz dieser Reaktionen besuchte ich sie regelmäßig und bot meine Hilfe an, soweit es mir möglich war. Marla schätzte die Unterstützung, das spürte ich, doch ihr Misstrauen war wie ein Schatten, der zwischen uns lag. Ihre Dankbarkeit, wenn ich ihr bei den täglichen Arbeiten half, war offensichtlich, doch ihre Erleichterung, wenn ich ging, war ebenso spürbar. Ihr Blick, wenn sie mir zum Abschied winkte, war ein Gemisch aus Dankbarkeit und einer Art Beruhigung.
Zisko, der treue Wachhund von Marla und Debbie, war ein Mischlingshund mit dem eleganten Erscheinungsbild eines Hamilton Spürhunds. Sein Fell war kurz, dicht und glänzte im Sonnenlicht, wobei die dreifarbige Mischung aus Schwarz, Braun und Weiß besonders hervorstachen. Da Marla und Debbie, aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen, sich kaum um Zisko kümmerten, hatte ich diese Verantwortung übernommen, mich um ihn zu sorgen. Und vielleicht war das der eigentliche Grund, warum ich immer wieder gern zu den Grudens ging und ihnen aushalf. Zisko war der Einzige, der sich nicht an meiner Erscheinung störte. Sein freudiges Bellen und das aufgeregte Wedeln seines Schwanzes, sobald er mich sah, waren immer ein herzliches Willkommen.
Es war eine wahre Freude, mit Zisko durch den dichten Wald zu streifen und zu meiner selbst gebauten Baumhütte zu gehen, die ebenfalls erheblich dazu beitrug, mein eher sonst trostloses Leben hier zu ertragen. Die Hütte, versteckt hoch oben in den starken Ästen eines stattlichen Malvenbaums, war mein ganzer Stolz. Ich arbeitete nahezu täglich daran, sie zu verbessern und zu verschönern, und die, meiner Überzeugung nach, auch bisher noch von niemandem entdeckt worden zu sein schien.
Trotz ihrer unscheinbaren äußeren Erscheinung, war die Baumhütte erstaunlich geräumig. Sie verfügte über zwei Räume: den Hauptraum, in dem sich ein Liegeplatz, ein rustikaler Tisch, ein kleiner Schrank und ein Stuhl befanden, und einen kleinen Nebenraum, der als Lager für Werkzeuge und die vielen Dinge diente, die sich im Laufe der Zeit angesammelt hatten. Die einfache, aber zweckmäßige Einrichtung der Hütte und die Ruhe, die sie mir bot, waren für mich ein Stück Freiheit in einer Welt, in der ich mich nicht zugehörig fühlte.
Bevor ich vor gut vier Jahren mit dem Bau dieser Hütte begann, trieb ich, wie bereits erwähnt, viel Unfug und wusste mit meiner freien Zeit kaum etwas Sinnvolles anzufangen. Doch dann, angetrieben zunächst nur von Langeweile, fing ich mit dem Bau dieser Hütte an und entdeckte nach und nach, dass in mir mehr steckte, als ich es selbst je vermutet hätte. Mit jedem Tag, den ich an dieser Hütte arbeitete, wuchs mein Selbstbewusstsein, und das Gefühl mich nutzlos zu fühlen verlor sich immer mehr.
《Das Leben muss nicht leicht sein, wenn es nur inhaltsreich ist.》
Lise Meitner
-Eröffnungspoem-
Im ersten Schein des Tages erwacht,
findet Rota, in seiner Kammer, die Nacht.
Einfach und still, sein kleines Domizil,
schaut zum Glockenturm, stetig und still.
Unruhe greift ihn, unbekannt und schwer,
ein Schatten in seiner Seele, immer mehr.
Familie, Schule, ein täglicher Leidenslauf,
Hänselei und Ausgrenzung nehmen ihren Lauf.
Essenz:
-Die Geschichte beginnt - Rota's Quälgeister-
Mehr als ein Jahr zuvor...
Die Kühle des frühen Morgens drang durch das kleine, leicht beschlagene Fenster meiner Kammer und schien schärfer und beißender als an anderen Tagen. Die Vorhänge bewegten sich zart im Rhythmus meiner flachen, unruhigen Atemzüge, als würden sie zu einem stummen Lied tanzen. Der schwache Schein des anbrechenden Tages warf lange, düstere Schatten auf meine spärlichen Möbel. Ein alter, wackeliger Holzstuhl stand neben einem schlichten Tisch, auf dem ein Stapel vergilbter Schulbücher ruhte. An der Wand hing ein Regal, gefüllt mit abgegriffenen Romanen und wenigen, aber bedeutsamen, Erinnerungsstücken. In der Ecke, ein kleiner Schrank, dessen Türen leicht offenstanden und einen Blick auf meine wenigen Kleidungsstücke gewährten.
Vom Fenster aus bot sich mir der Blick auf den Glockenturm von Kaven. Er erhob sich gegen den blassen Morgenhimmel, als wolle er über die schlafende Stadt wachen. Die regelmäßigen, tiefen Schläge der Turmuhr durchbrachen die Stille, ein stetes Echo, das die flüchtige Zeit verkündete.
Ein beklemmendes Gefühl umklammerte mein Herz, als ich schließlich erwachte. Unruhe trieb mich dazu, rastlos auf der harten, strohgefüllten Matratze hin und her zu rollen. Die Erinnerungen an den vorherigen Abend wirbelten quälend in meinem Kopf. Das Lachen und die Gespräche meiner „geliebten“ Adoptionsfamilie, die aus dem Wohnzimmer zu mir herüberschallten, hinterließen ein brennendes Stechen in meinem Herzen. In der umfassenden Dunkelheit meines Zimmers fühlte ich mich allein und verlassen. Ihr unbeschwertes Leben, ihre scheinbare Sorglosigkeit und Heiterkeit – ich beneidete sie dafür und verachtete sie zugleich. Es schmerzte mich tief, dass sie, ob bewusst oder unbewusst, mein Fehlen, das schwarze Schaf der Familie, so offensichtlich genossen.
Es war mir zwar nicht fremd, mit Ängsten einzuschlafen und aufzuwachen, doch normalerweise konnte ich diese Gefühle einordnen und hatte immer einen greifbaren Grund. Dieses Mal jedoch schien eine undefinierbare Unruhe in mir zu nagen, ohne dass ich einen klaren Auslöser für diese Besorgnis erkennen konnte. Wovor fürchtete ich mich? Vor dem, was mich in der Schule erwarten könnte? Es schien mir kaum vorstellbar, dass noch Schlimmeres auf mich zukommen könnte. Die Erniedrigungen durch Jaden und die anderen Peiniger waren längst zu einem vertrauten Bestandteil meines Daseins geworden, ebenso wie die Erfahrung, von den meisten ignoriert oder herablassend betrachtet zu werden. Diese Begebenheiten hatte sich längst zur Normalität entwickelt. Warum also diese ungewöhnliche Unruhe und Angst?
Doch ich beschloss, diesen Gedanken nicht weiter Raum in meinem Kopf zu geben. Sie führten zu nichts, außer dass ich mich nur noch schlechter fühlte, je länger ich darüber nachdachte. So beendete ich die nutzlosen Gedanken und richtete mich auf. Es war an der Zeit aufzustehen, bevor Jaron, Petra, Justin und Sophie erwachten und möglicherweise meinen Weg kreuzten, da sie immer nach dem zweiten Glockenschlag am Morgen, pflegten gemeinsam zu frühstücken.
Es gab einmal eine Zeit, in der wir alle gemeinsam noch am Frühstückstisch saßen. Doch diese gemeinsamen Morgen sind längst Geschichte, und das nicht ohne Grund. Einerseits fühlte ich mich stets wie ein Fremdkörper in dieser Runde, andererseits führte unsere Zusammenkunft meist zu Auseinandersetzungen und zu Streit, besonders zwischen Justin und mir. Schließlich begann ich irgendwann früher aufzustehen und alleine zu frühstücken und siehe da, still und unausgesprochen kamen wir zu der Erkenntnis, dass dies wohl keine so schlechte Idee war und wir dies bis heute, ohne je ein Wort darüber gesprochen zu haben, auch so beibehielten.
Nachdem ich mich für die Schule fertig gemacht und gefrühstückt hatte, machte ich mich auf den Weg dorthin. Die Schule von Kaven lag etwa eine halbe Stunde Fußmarsch von meinem Onkel’s Haus entfernt – ein Weg, den ich stets genoss. Besonders schätzte ich die morgendliche Stille, da um diese Zeit kaum jemand unterwegs war. Zudem führte mich meine Route durch den Wald, wo meine geliebte Baumhütte versteckt lag.
Ein Stück abseits des Weges, steuerte ich, vorbei an knorrigen Bäumen, üppigem Unterholz und durch das grüne Dickicht, zielstrebig auf meine versteckte Baumhütte zu. Es war ein Pfad der Stille und Geborgenheit für mich, fernab von Menschen und abfälligen Blicken meiner Mitschüler. Hier, in der Abgeschiedenheit des Waldes, fühlte ich mich frei und sicher.
Als ich schließlich den Fuß der majestätischen Malve erreichte, spürte ich erneut das Kribbeln der Vorfreude. Es war fast so, als würde der Baum mich jedes Mal willkommen heißen und seine knorrigen Rindenarme ausstrecken, um mir den Aufstieg zu erleichtern.
Verborgen in einer baumumschlungenen Nische wartete eine Zugleine darauf, die Strickleiter herabzulassen. Die Strickleiter führte dann etwa fünf Meter nach oben zu meiner geräumigen Baumhütte. Doch heute werde ich wieder einen anderen Weg wählen, einen schwierigeren, aber lohnenswerten Pfad. Ich begann, den Baum auf der anderen Seite kletternd zu erklimmen, die Rinde unter meinen Fingern spürend, während ich mich nach oben arbeitete. Schließlich erreichte ich meine Baumhütte, ein für mich verborgenes Reich zwischen den Ästen und Blättern. Hier oben fühlte ich mich erhaben, fast wie ein König in seiner Burg. Der Ausblick war atemberaubend – ein Meer von grünem Blattwerk und schattigen Geheimnissen erstreckte sich jedes Mal vor mir. Hier oben fühlte ich mich nicht mehr wie ein Außenseiter, sondern wie ein stiller Beobachter, der die Geheimnisse des Waldes entdecken durfte.
Das Besondere an meiner Baumhütte war, dass sie trotz ihrer großzügigen Ausmaße – etwa drei Meter in der Breite, zweieinhalb Metern in der Tiefe und zwei Metern in der Höhe – sowohl aus der Ferne als auch aus der Nähe nahezu unsichtbar war.
Mit alten Brettern, die ich aus einer verfallenen Hütte in der Nähe des Waldes gerettet hatte, errichtete ich die Grundstruktur. Das Dach und die Außenwände wurden mit Pech abgedichtet und mit Ästen sowie Mooslappen bedeckt, um sie zu tarnen. Mein Baumhaus war mit einer kleinen Tür und sogar einem Fenster, wenn auch ohne Glas, ausgestattet. Letzteres verfügte jedoch über eine Klappe, die an kalten und windigen Tagen geschlossen werden konnte.
Die Baumhütte war für mich jedoch noch nicht fertiggestellt. Ich hatte weitere Pläne. Ich wollte diesen Ort zu meinem eigenen machen, ihn zu einem Ort der Stärke und Zuflucht gestalten. Größer, mehr Räume, ein kleines Bett, einen größeren Schrank für all meine Habseligkeiten und vielleicht sogar ein improvisierter Ofen – all diese Ideen wirbelten in meinem Kopf herum. Hier wollte ich nicht nur Zuflucht finden, sondern vielleicht sogar eines Tages selbstbestimmt meine Zeit verbringen.
An diesem Morgen hüllte dichter Nebel die Umgebung ein, und die Sicht war stark eingeschränkt. Dennoch entschied ich mich dazu, einige dringend nötige Reparaturen am Dach meiner Baumhütte durchzuführen. Das benötigte Werkzeug, – Hammer, Säge und ähnliches – hatte ich vor einigen Tagen aus der nahegelegenen alten Scheune besorgt. Nach etwa einer halben Stunde beendete ich meine Bemühungen um die Baumhütte und setzte meinen Weg zur Schule wieder fort.
Auf meinem Weg sah ich Patric, der gerade von der rechten Abzweigung auftauchte und ein Stück vor mir lief. Seine helle Haut wirkte im Kontrast zu seinem dunklen Mantel noch blasser, und seine schlaksige Figur gab ihm beinahe eine geisterhafte Erscheinung. Patric war ein Mitschüler von mir und genauso wie ich, gehörte auch er zu den Außenseitern unserer Schule.
Ich erinnerte mich noch an den Tag, an dem ich den Mut aufbrachte ihm näherzukommen, in der Hoffnung, dass wir vielleicht Freunde werden könnten. Doch als ich versuchte, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, zuckte er nur zurück, als hätte er sich irgendwie verbrannt. Und ohne ein Wort zu sagen, rannte er davon, und ich konnte nur beobachten, wie seine Gestalt in der Entfernung immer kleiner wurde. Erst als er sicher war, weit genug von mir entfernt zu sein, drehte er sich um. Mit zitternder Stimme und panischem Blick schrie er: „Du Teufel! Ich will mit dir nichts zu tun haben! Hörst du? Niemals…!“
Seit jenem Vorfall hatte ich keinen weiteren Versuch unternommen, Patric näherzukommen. Selbst jetzt, als er wenige Schritte vor mir ging, spürte ich, wie er sein Tempo erhöhte, um Abstand zwischen uns zu bringen. Es war frustrierend. Doch um Patric gerecht zu werden: In der Zeit, als ich noch unter Jaden’s Einfluss stand, war er oft genug Ziel meiner Gemeinheiten gewesen. Es war daher nicht überraschend, dass er mir zutiefst misstraute und dies wahrscheinlich auch nie mehr tun würde. Verübeln konnte ich es ihm daher so gesehen auch nicht.
Ich erreichte schließlich den Eingang der Schule von Kaven. Jedes Mal, wenn ich den Schulhof betrat, tat ich es mit einem beklemmenden und gemischten Gefühl. Es war ein täglicher Kampf: Jaden, der starke Gero, der immer gutaussehende Ceddric und der muskulöse Elwin versammelten sich am Tor, zusammen mit einer inzwischen stetig anwachsenden Anzahl anderer neugieriger Schüler, die gespannt zusahen. Sie taten so, als würden sie harmlos plaudern, aber ihre Absicht war klar – sie lauerten wie eine düstere Meute nur auf mich, begierig darauf, ihre bösartigen und makabren Spielchen erneut mit mir zu treiben.
Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich mich dem Tor näherte. Eine innere Stimme flüsterte mir zu, einfach an ihnen vorbeizugehen, den Kopf hochhaltend, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Doch eine andere Seite in mir wünschte sich fast, dass sie mich wieder quälen würden – eine verdrehte Form der Selbstbestrafung vielleicht aufgrund meiner früheren Sünden.
Der Konflikt tobte in meinem Inneren, als Jaden’s Blick mich erfreut fand und er nun mit einem übertriebenen mitleidigen Gesichtsausdruck auf mich zuging und schließlich ganz dicht an mein Gesicht mich mit einem fragenden Blick ansah. „Hallihallo... Teufelchen! Na, hast du dich bei deinem morgendlichen Tête-à-Tête wieder so über dich selbst geärgert, dass du noch immer knallrot im Gesicht und kurz vorm Platzen bist?“ Seine Stimme trug die gewohnte Mischung aus Spott und Bosheit. Er lächelte mich nun auf eine aufmunternde Art an. Da ich ihm und seiner Show nun aber keine weitere Aufmerksamkeit mehr schenken wollte, wandte ich mich von ihm ab und setzte meinen Weg fort. „Warte mal, vielleicht kann ich dir ja ein wenig von deinem ganzen Druck nehmen“. Wie ich nun gerade noch aus dem Augenwinkel sehen konnte, hielt Jaden die Luft an, presste sich das Blut in den Kopf und lief mir, als ich meinen Blick von ihm vollends abwandte, vermutlich wie ein wildgewordener Affe mit puterrotem Kopf hinterher. Ceddrik, Elwin und Gero sowie die meisten der umstehenden Schüler brachen in schallendes und grölendes Gelächter aus.
Die Versuchung, einfach weiterzugehen, den erbärmlichen Vorfall zu ignorieren, war stark. Doch da war auch die masochistische Anziehung, mich wieder auf groteske Weise lächerlich zu machen – und die Befriedigung meiner Peiniger, wenn sie mich in meinen Ausbrüchen beobachteten, schien beinahe eine Art Erleichterung für mich zu sein. In einer seltsamen Weise stillte ihre Grausamkeit mein inneres Verlangen nach Strafe.
Während der Konflikt in mir tobte, hallten Jaden’s Worte wider, und die Menge starrte mich neugierig an, erwartungsvoll darauf wartend, wie ich dieses Mal reagieren würde. Eine Ewigkeit schien in dieser Momentaufnahme zu vergehen.
Obwohl ich längst wusste, dass es klüger wäre, nicht auf ihre Provokationen einzugehen, gab ich ihnen wieder einmal die Genugtuung, das zu sehen und zu hören, wonach sie lechzten. Ich legte eine gequälte Miene auf, atmete tief durch und schritt wütend auf Jaden zu, spürbar bereit für eine Auseinandersetzung. „Ich habe dir nichts getan! Warum machst du das immer wieder? Hör auf damit!“ Meine Stimme wurde lauter, mein Atem beschleunigte sich. „UND LASS MICH ENDLICH IN RUHE!“ Meine Fäuste ballten sich, und ich mimte eine Angriffshaltung. Stille herrschte, die Luft schien einzufrieren, und seltsame Blicke hafteten auf mir. Schließlich drehte ich mich weg, setzte meinen Weg fort, das Gesicht gekränkt. Bald darauf erfüllte lautes, höhnisches Gelächter die Luft. Ich hatte es wieder geschafft – Jaden und seine Schergen waren so amüsiert über meine Reaktion, dass sie vor Lachen nicht mehr konnten und mich vorerst in Ruhe ließen.