Royalteen (1). Kiss the Prince - Randi Fuglehaug - E-Book

Royalteen (1). Kiss the Prince E-Book

Randi Fuglehaug

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Beschreibung

Coming-of-Age-Reihe einer royalen Clique ab 14 über den Mut, zu seiner Vergangenheit zu stehen. Über alte Geheimnisse, neue Freundschaften und eine royale Liebe - Eine Geschichte, die zeigt, dass Liebe keine Hierarchien kennt. Mit ihrer Familie zieht Lena nach Oslo, um Abstand zwischen sich und ihre Vergangenheit zu bringen. Auf der neuen Privatschule lernt sie den Kronprinzen Karl Johan und seine Schwester Prinzessin Margrethe kennen und gehört bald zu ihrem Freundeskreis. Zusammen fahren sie Boot, feiern Partys und machen Kurztrips. Während Lenas Gefühle für den Prinzen immer stärker werden, wachsen auch ihre Zweifel. Er trägt die Verantwortung für das ganze Land, während sie von den Lügen ihrer Vergangenheit fast erdrückt wird. Kann diese ungleiche Beziehung zu einem märchenhaften Happy End führen? Der große Serienauftakt aus Norwegen von einem unschlagbaren Autorinnen-Duo! Besiege deine Ängste, feiere das Leben und stürze dich kopfüber in die Liebe. Verfilmt von Netflix Weitere Bände der Reihe: Kiss the Soulmate (2) Kiss the Enemy (3)

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Seitenzahl: 313

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Karoline Hippe,aufgewachsen an der Ostseeküste, studierte u. a. Skandinavistik und Anglistik in Leipzig und Berlin. Sie übersetzt aus dem Norwegischen, Dänischen und Englischen. Für die Übersetzung des Kinderbuches Sommer ist trotzdem wurde sie gemeinsam mit dem Autor Espen Dekko mit der Silbernen Feder ausgezeichnet. Sie lebt in Oslo und Berlin.

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Halve kongeriket. Arvingen« bei H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS, Norwegen.

Text © 2020 by Randi Fuglehaug and Anne Gunn Halvorsen.

Published in agreement with Oslo Literary Agency.

Diese Übersetzung wurde gefördert von:

1. Auflage 2023

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2023 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe

Umschlaggestaltung: Juliane Lindemann, unter Verwendung einer Illustration von Petra Braun

Cover- und Innenillustrationen: © Petra Braun

E-Book ISBN 978-3-401-81045-4

Besuche den Arena Verlag im Netz:

www.arena-verlag.de

@arena_verlag

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Noch mal von vorn

»Komm schon, Lena!«

Die morgenfrische, aber ziemlich ungeduldige Stimme wehte zusammen mit dem Kaffeeduft aus der Küche zu ihr hinauf.

»Ja, Mama, ich bin schon aufgestanden!«

Lena starrte die kleinen, weichen Pausbacken an, von denen sie einfach nicht genug bekam. Sogar Grübchen hatte Theodor inzwischen. Zwei süße, kleine Punkte, einer links, einer rechts von seinen Mundwinkeln, die immer dann zu sehen waren, wenn er über eine komische Grimasse lachte oder wenn sie ihn kitzelte. Aber er lachte ja ohnehin fast immer und dann musste auch Lena jedes Mal lachen, sogar jetzt, obwohl es noch viel zu früh war und sie viel zu müde. Er stand aufrecht in seinem Gitterbett und wackelte mit dem kleinen, dicken Windelpo. Sie beugte sich zu ihm herunter, stob ihre Nase in seine weiche Wange. Sog seinen Duft ein. Er roch nach Milch und Pups.

Dann hörte sie das gedämpfte Schlurfen der sich nähernden Pantoffeln. Kurz darauf stand ihre Mutter in der Tür, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Na, das nenn ich ja mal eine Übertreibung. Du hast es gerade mal geschafft, dich aus dem Bett zu bewegen, mehr nicht. Anziehen, los!«

Sie selbst war nur in ihren unerträglich hässlichen rosa Bademantel gewickelt, den sie schon seit hundert Jahren hatte. Sie hob Theodor aus dem Bett, der fröhlich mit seinen kurzen Beinchen strampelte. »Dir ist schon klar, dass du um acht in der Schule sein musst? Es macht keinen besonders guten Eindruck, wenn du schon am ersten Tag zu spät kommst. Alle anderen Schülerinnen und Schüler sollen schließlich schon da sein, bevor … die beiden eintreffen.«

Lena schleppte sich Richtung Bad.

»Ich musste natürlich ausgerechnet in dieser Klasse landen. Du weißt schon, dass ich lieber Zeit mit dir verbringe, ne, Theo?«

Ihre Mutter schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, der kleine Chef wird mir nur zustimmen, dass du wirklich Glück hast, diese Chance zu bekommen. Andere träumen nur davon, in diese Klasse zu gehen. Jetzt komm schon, Liebes, zieh dir was Schickes an. Und kämm dir die Haare!«

Lena zwinkerte Theodor zu, dann schloss sie die Tür zum Bad und drehte die Dusche auf. Mit geschlossenen Augen stand sie unter dem warmen Strahl. Etwas länger, als die Zeit eigentlich zuließ.

Sie wickelte sich ein Handtuch um den Leib, eines um den Kopf, verließ das dampfende Bad und öffnete ihren Kleiderschrank, nahm ihre gute weiße Bluse vom Bügel und fischte eine High-Waist-Jeans aus dem oberen Fach. Sie war wie auf Autopilot, ohne darüber nachzudenken, ob dieses Outfit dem Anlass entsprechend war oder welches Signal sie damit senden würde. Früher hatte sie sich oft den Kopf über ihr Erscheinungsbild zerbrochen. In einem anderen Zimmer, in einer anderen Stadt probierte Liv wahrscheinlich gerade ihren halben Kleiderschrank durch, ehe sie sich für die passenden Klamotten entschied. Oder vielleicht hatte sie auch alles schon am Abend vorher rausgelegt. Die beiden hatten ihre Outfits immer mehrere Tage im Voraus geplant.

Jetzt hatte das gar keine Bedeutung mehr.

Als Lena in die Küche kam, saß ihre Mutter bereits am Tisch und fütterte Theo mit Brei. Lena machte sich ein Brot mit Marmelade. Sie aß im Stehen vor dem großen Schneidebrett, während sie sich zum ersten Mal seit mehr als einem Jahr ein Pausenbrot schmierte. Sie spülte die letzten Reste ihres Frühstücksbrotes mit einem Glas Milch herunter und war gerade wieder auf dem Weg Richtung Bad, als die gespielt-fröhliche Stimme ihrer Mutter hinter ihr herwehte.

»Ich sag der Milch Bescheid, dass sie der Marmelade zurück in den Kühlschrank helfen soll.«

Normalerweise hätte Lena geantwortet: »Ich glaub, das schafft die Marmelade schon allein.« Aber nicht heute. Heute sagte sie nichts. In ihr vermischten sich Aufregung und Gleichgültigkeit zu einem ekligen Gefühl, während sie sich die Zähne putzte. Sie war nicht bereit.

Sie war nicht bereit für diesen Tag.

Sie war nicht bereit für dieses Schuljahr.

Elisenberg

Das Elisenberg-Gymnasium war ganz anders als die anderen Schulen, auf denen sie zuvor gewesen war.

Lena blieb vor dem Schultor stehen und schaute an dem enormen gelben Backsteingebäude empor. Es erinnerte ein wenig an ein Schloss. Die großen Fenster, einige von ihnen rechteckig, andere mit Rundbögen. Die breiten, weißen Fensterrahmen. Das Schulgebäude war alt, sah aber ziemlich schick aus, als hätte es sich zum Schulanfang extra aufgemotzt. Das war kein Zufall. Abgeblätterte Farbe und lockere Türgriffe waren hier keine Option.

In Horten wäre das nicht der Rede wert gewesen. Die Gesamtschule Orerønningen – im Volksmund auch Hurerønningen genannt – war auch vor ein paar Jahren saniert worden und trotzdem sah das Gebäude aus wie eine billige graue Baracke. Eigentlich sah Lenas gesamtes altes Viertel aus wie eine müde Arbeiterin im Vergleich zu diesem Viertel im Westen von Oslo. Hier in Frogner war alles so … clean. Die alten Gebäude waren gepflegt und thronten selbstbewusst über den Straßen. Als wären sie schon immer da gewesen, und das waren sie ja irgendwie auch. Elisenberg war über hundert Jahre alt, hatte sie auf Wikipedia nachgelesen.

Der Schulhof füllte sich langsam, Mädchen mit langem, gestriegeltem Haar, Jungs in dünnen Wachstuchjacken, die wie herausgeputzte Zirkuspferde herumstolzierten, mit hoch erhobenen Häuptern. Unnahbar. Doch das machte Lena nichts aus.

Sie war nicht hier, um Freunde zu finden.

Ihre Eltern sagten immer wieder: »Hoffentlich sorgt der Umzug in die Hauptstadt dafür, dass sie wieder etwas sozialer wird.« Sie glaubten, das wird schon wieder, wenn sie einen Neuanfang wagte, wie sie es nannten. Aber sie selbst wollte diese drei Jahre einfach nur hinter sich bringen, ihr Zeugnis abgreifen, damit sie ins Leben starten konnte. Ihre Eltern verstanden das nicht. Doch für sie lag ihre Jugend bereits hinter ihr.

Sie hätten genauso gut in Horten bleiben können. Dort wäre sie auch allein klargekommen, nachdem ihr alle den Rücken zugekehrt hatten. Sie wusste ganz genau, wie sie sich zu verhalten hatte und wohin sie wann gehen konnte, ohne vor lauter Einsamkeit zu zergehen oder jemandem zu begegnen, den sie kannte. Die Dinge funktionierten schon irgendwie. Aber als der Arbeitgeber ihres Vaters ihn nach Oslo versetzen wollte, ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, zu dem sie wieder zurück zur Schule sollte, waren ihre Eltern Feuer und Flamme. Plötzlich erschien es ihnen ziemlich praktisch, mit der ganzen Familie umzuziehen. Lena vermutete, dass die beiden vor allem an sich selbst dachten. Auch sie wollten von vorne anfangen.

Die Schulklingel riss sie aus ihren Gedanken, sie schrak zusammen und blieb für einige Sekunden wie angewurzelt stehen, bis der schrille Klang verhallte und sie sich selbst wieder denken hören konnte. Dann holte sie tief Luft, sog ihre Lungen voll, atmete langsam durch die Nase wieder aus.

»Here goes nothing«, sagte sie leise vor sich hin und trat durch die Tür.

Lena mit A

Lena setzte sich an den freien Doppeltisch am Fenster in der letzten Bankreihe.

Bisher war alles ganz schmerzfrei verlaufen. Der glatzköpfige Lehrer namens Ove begrüßte sie fröhlich und wirkte relativ entspannt dafür, dass es der erste Tag der Oberstufe war. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen und betrachtete ihre neuen Klassenkameraden. Einige saßen ganz allein und sprachen mit niemandem, so wie sie. Andere lehnten sich über die Schulbänke und schienen einander gut zu kennen. Sie fragte sich, ob einige von ihnen schon vorher zusammen in der Mittelstufe gewesen waren. Auf jeden Fall war nicht zu übersehen, dass diese neu zusammengewürfelte Klasse bereits eine Clique hatte: ein paar extrem hübsche, extrem schlanke Mädels in ziemlich teuer aussehenden Klamotten sowie ein leicht übergewichtiger Typ mit einer ansteckenden Lache und einem Selbstbewusstsein, das darauf schließen ließ, dass er viel Geld und viele Freunde hatte.

Niemand nahm Notiz von Lena, zum Glück. Sie wollte nur Beobachterin sein. Und sie beobachtete nun, dass ihre Mutter recht behalten sollte. Die zwei würden wohl ganz zum Schluss dazustoßen.

Sie öffnete ihre Tasche und nahm den Schreibblock hervor, den sie seit über einem Jahr nicht benutzt hatte. Merkwürdig, die eigene Schrift in Kugelschreibertinte auf dem Deckblatt zu sehen. Justin Bieber mit einem Herz umkringelt. Mein Gott, wie kindisch. Lena + Liv 4ever, stand daneben. Es kam ihr vor wie aus einem anderen Leben. Ihre ehemalige beste Freundin hatte heute ihren ersten Tag in der zwölften Klasse am Hortener Gymnasium. Würde sie mit dem Sport-Leistungskurs weitermachen? Sie stellte sich Liv als eingespielte Gymnasiastin in ihrem vorletzten Schuljahr vor. Vielleicht war sie dieses Jahr sogar Vertrauensschülerin. Lena nahm ihren Kugelschreiber und kritzelte über das Herz. Plötzlich vermisste sie ihre Freundin so sehr, dass es ihr einen schmerzenden Stich versetzte.

Das laute Dröhnen eines Motors riss sie aus ihren Gedanken. Sie schaute aus dem Fenster. Ihr Blick fiel auf ein schwarzes blank poliertes Auto, das direkt vor der Eingangstür zum Stehen kam. Durch die getönten Scheiben konnte man nicht hineinsehen. Ein Mann in normalen Klamotten, aber mit einem Knopf im Ohr, stieg aus. Er sah sich kurz um, dann gab er ein schnelles Zeichen Richtung Auto und beinahe gleichzeitig öffneten sich die beiden Hintertüren des Wagens. Da waren sie: Kronprinz Karl Johan und Prinzessin Margrethe. Er trug einen blauen Kapuzenpulli, Jeans und weiße Sneakers. Sie hatte weiße Hosen an, ein rotes T-Shirt und Sandalen. Beide waren sonnengebräunt und hatten viel helleres Haar als in Lenas Erinnerung und es war beinahe seltsam, wie … normal sie schienen. Oder: Natürlich waren sie das! Sie, Lena, war der Bauerntölpel, der nicht aufhören konnte, die beiden anzustarren. Es war einfach so krass, dass die königlichen Zwillinge, die sie so oft im Fernsehen, in der Zeitung und in Klatschblättern gesehen hatte, einfach hier aus diesem Auto stiegen – einfach echte Menschen waren. Sie unterhielten sich fröhlich miteinander auf dem Weg zum Haupteingang, als würden sie das Gespräch, dass sie auf der Fahrt hierher geführt hatten, unbeirrt fortsetzen.

Nur wenige Sekunden später standen sie in der Tür zum Klassenzimmer.

»Gesegnet sei unser Königreich!«, rief der Kronprinz heiter und alle brachen in Gelächter aus.

»Entschuldigung, dass wir zu spät sind«, sagte Prinzessin Margrethe an den Lehrer gewandt. »Das habe ich Kalle zu verdanken, diese Frise stylt sich nicht von selbst.«

»Alles gut«, sagte Ove lächelnd. »Setzt euch doch. Dann können wir ja anfangen. Ich heiße euch alle herzlich willkommen am Elisenberg-Gymnasium!«

Margrethe nahm sofort in der ersten Reihe Platz und umarmte die beiden Mädchen rechts und links von sich zur Begrüßung. Lena beobachtete, dass einige die Zwillinge schon von früher zu kennen schienen. Andere starrten das königliche Geschwisterpaar mit großen Augen an. Lena versuchte, nicht eine von denen zu sein, die glotzten, aber das war gar nicht so einfach. Da waren sie, in echt! Karl Johan ließ sich von den Blicken nicht aus dem Konzept bringen, er schenkte allen und niemandem ein breites Grinsen und schlenderte selbstsicher auf die letzte Bankreihe zu.

O Gott, er wollte doch wohl nicht herkommen? Lena starrte wie gebannt auf die Tischplatte und bereute sofort, dass sie sich neben einen freien Platz gesetzt hatte. O nein. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie er sich auf den leeren Stuhl neben ihr fallen ließ. Sie spürte, dass er sie ansah. Zum Glück war in diesem Moment ein lautes Räuspern vom Lehrer zu hören. Ove wischte über das Display seines iPads, stierte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm und blickte dann in die erwartungsvollen Gesichter vor sich.

»Willkommen in der Klasse 11 A. Ja, was soll ich sagen. Ihr seid eine tolle Gruppe. Beziehungsweise, ihr seid noch nicht ganz vollständig, einige von euren Mitschülern werden erst in ein paar Tagen zu euch stoßen.«

Er fummelte an dem iPad herum und blickte erneut auf den Bildschirm. Lena fragte sich, ob der erwachsene Mann etwa nervös war.

»Fangen wir doch mit denjenigen an, die sich bereits hier eingefunden haben«, sagte er und begann, die Namen aufzurufen.

»Karl Johan?«

Die Pausenglocke hatte das Ende der Stunde angekündigt, alle erhoben sich von ihren Plätzen und steuerten auf den Ausgang zu. Aber Norwegens Kronprinz saß immer noch auf seinem Stuhl und streckte nun seine Hand aus.

»Kalle«, stellte Karl Johan sich grinsend vor.

Lena wandte sich ihm zu und schüttelte sie. Dabei versuchte sie, so natürlich und unangestrengt wie möglich zu lächeln.

»Lena«, erwiderte sie.

»Ist mir ein Vergnügen, Lene.«

»Lena«, wiederholte sie sofort.

»Hm?«

»Ich heiße Lena, mit A«, sagte sie und fügte hinzu: »Wie in Kom igjen, Lena.«

»Hä?«

»Na, wie in dem Song. Von Håkan Hellstrøm?«

Lena streckte die Arme aus und imitierte die Tanzbewegungen.

»Du weißt schon … Duduidudi, kom igjen, Leeeena.«

Kalle sah sie mit ausdruckslosem Blick an. Sie sprach immer schneller, um die Erklärung hinter sich zu bringen.

»Wie in dem alten Song. Meine Mutter liebt Håkan Hellstrøm. Sie ist so richtig Hardcorefan und hat darauf bestanden, mich nach dem Song zu benennen. Also: Lena. Hallo.«

Kalle zuckte belustigt mit den Schultern.

»Keine Ahnung, wovon du sprichst. Aber ja, hallo, Lena«, wiederholte er und zwinkerte.

Noch nie zuvor war ihr aufgefallen, wie blau seine Augen waren.

»Wie gesagt, ist mir ein Vergnügen.«

Dann stand er auf, schwang sich seine Tasche über die Schulter und ging. Lena klatschte ihre Hände an ihre feuerroten Wangen. Was für ein Depp sie doch war! Da stellte sie sich dem Prinzen vor, indem sie irgendwas von Håkan Hellstrøm und ihrer Mutter brabbelte und dann auch noch anfing zu singen? Und zu tanzen?

Wie ein Fisch auf dem Trockenen

Das war sicher so eine Schule, in der die Zwölfer und Dreizehner feste Tische in der Mensa hatten und alle Elfer verzweifelt auf der Suche nach einem freien Stuhl waren. Allein bei dem Gedanken hatte Lena schon keinen Bock, jemandem den Platz wegzunehmen und verscheucht zu werden oder noch schlimmer: neben Leuten zu sitzen, die nett sein wollten. Sie ließ sich auf einer Bank im Schulhof nieder, obwohl ein paar dunkle Wolken aufgezogen waren und es sicher gleich regnen würde. Sie liebte den Geruch der Luft, kurz bevor der Himmel alle Schleusen öffnete.

Ihre Begegnung mit dem Prinzen war ihr noch immer peinlich. Sie hatte seit der ersten Pause nicht mehr mit ihm gesprochen und wagte es kaum, ihn anzusehen. Er saß sicher an seinem neuen, festen Platz in der Mensa und erzählte seinen Kumpels von dem komischen Mädel in seiner Klasse. Vielleicht äffte er auch ihren Tanz nach.

O Gott.

Sie packte ihr Pausenbrot aus, der Geruch von Makrele in Tomatensoße drang durch die Alufolie. Als sie den ersten Bissen von ihrer Stulle nahm, fiel ihr auf, dass sie einen absoluten Anfängerfehler begangen hatte. Falsche Bank. Die stand viel zu sehr im Blickfeld der anderen. Sie kaute hastig, musste sich beeilen, um in Deckung zu kommen. Es machte ihr schon lange nichts mehr aus, allein zu sein, es wurde erst nervig, wenn die Leute begannen, sie anzustarren und – allein die Vorstellung war grauenvoll – auf die Idee kamen, ihr Gesellschaft leisten zu wollen.

Sie schluckte das Essen so schnell runter, dass es im Hals wehtat, und ließ ihren Blick über den Schulhof wandern, als hielte sie nach jemandem Bestimmten Ausschau, als hätte sie einen Plan. Sie entdeckte ein paar der anderen, die vor der ersten Stunde mit niemandem gesprochen hatten. Natürlich klammerten sie sich jetzt aneinander. Absolut niemand auf dem Schulhof war allein. So lief das halt. Sie dachte an die Pausen mit Liv und den anderen zurück. Sie saßen immer auf einer ganz ähnlichen Bank und waren extremst in ihre Gespräche vertieft, bis die Pause vorbei war. Es gab stets so viele Themen, die besprochen oder analysiert werden mussten. Wer hatte am Wochenende mit wem rumgemacht, was war auf Snapchat, Jodel und TikTok los. Was konnte sie auf ihrem anonymen Insta-Account Njus posten. Letzteres war nicht gerade Livs Lieblingsthema. Irgendwann durfte Lena Njus nicht einmal erwähnen, ohne dass die Stimmung schlagartig kippte.

Dass sie es geschafft hatte, all das kaputt zu machen.

Es geschah ihr nur recht, hier so einsam herumzuhocken.

»Willst du das Zeug echt essen?«

Lena zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass sich ihr jemand genähert hatte. Sie hob den Kopf und erblickte, nur wenige Meter von ihr entfernt, den Prinzen. Sie sah sich um, wollte sich vergewissern, dass er wirklich mit ihr sprach.

»Was?«

»Das da«, sagte er und trat näher. »Sieht aus wie ein Flugzeugabsturz. Blutender Fisch in einer Blechdose. Ich hätte nicht gedacht, dass Leute das wirklich essen.«

Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen. Ihre Einsamkeit, ihre Traurigkeit wechselten plötzlich die Farbe, wurden zu einer flammend roten, befreienden Gereiztheit. What the fuck? Belästigte er sie in der Pause, um ihr zu sagen, dass ihr Essen eklig war? Dass man zum Essen anderer nicht Igitt! sagte, lernte man doch schon im Kindergarten. Vor allem er sollte doch seine Benimmregeln kennen. Makrele in Tomatensoße, war das etwa nicht gut genug für den Adel, oder was?

»Doch, ich esse Omega 3, Vitamin D und Calcium«, erwiderte Lena. »Und das wird wahrscheinlich dazu beitragen, dass ich viel länger leben werde als du.«

»Jaja. Schon traurig, dass du alleine in einer Hütte im Wald wohnst, fernab von allen anderen Menschen, weil die anderen es in deiner Nähe nicht aushalten.«

Lena steckte sich den Rest ihres Brotes mit einem demonstrativen Haps in den Mund. Sie hielt seinem Blick unentwegt stand, während sie ganz langsam und gemächlich kaute und sich schließlich mit der Zunge über die Lippen leckte, um zu betonen, wie unglaublich gut es schmeckte. Lena ließ sich mit ihrer Antwort Zeit, bis sie heruntergeschluckt hatte. Im Gegensatz zu ihm hatte sie nämlich Manieren.

»Ich werd’s mir in meiner Hütte schon gemütlich machen. Du kannst ja in deinem Schloss hocken und dir mit Sahnetorte und … russischem Kaviar den Wanst vollschlagen.«

Er lachte.

»Russischer Kaviar, also. Hab ich noch nie probiert. Aber würde mir mit Sicherheit nicht schmecken. Ich hasse Fisch und Meeresfrüchte«, sagte er und schüttelte sich vor Ekel.

Lena gab sich Mühe, nicht mit den Augen zu rollen.

»Du hasst Fisch und Meeresfrüchte? Wie alt bist du – sechs?«

»Fast. Sechzehn.«

»Habt ihr keinen Koch zu Hause? Und so fancy Dinnerpartys mit dem Adel? Was isst du, wenn Fisch und Krabben serviert werden? Tiefkühlpizza?«

Es sprudelte nur so aus ihr hervor. Als könnte sie zum ersten Mal seit zwei Jahren einfach drauflosquatschen. Als hätte die gesamte Zeit etwas in ihr gebrodelt. Sie merkte sofort, als sie ihre eigene Stimme hörte, dass sie sich unangemessen verhielt, sich aber nicht mehr bremsen konnte. Shit, wie gut es sich anfühlte, einfach wieder … frech zu sein. Außerdem würde er das wohl abkönnen. Schließlich war er ein Prinz. Und nicht irgendein Prinz, sondern der Skandalprinz höchstpersönlich.

Sie dachte an die Bilder, die letztes Jahr nach Halloween überall aufgetaucht waren. Kronprinz Karl Johan in Baggy Pants, Oversize-T-Shirt, auf dem ARBEITSLOS stand, mit fetter Goldkette um den Hals und – was allein beim Hinsehen wirklich wehtat – Blackface. Am darauffolgenden Tag ging auch das Video viral – der Kronprinz stand auf einer Bühne und rappte. Er musste ziemlich besoffen gewesen sein. Oder high. Es war auf jeden Fall nicht schön anzuhören. Lena wusste nicht, was peinlicher war: dass er so ein rassistisches Verhalten an den Tag legte oder der ganzen Welt zeigte, keinen einzigen Funken Rhythmusgefühl im Blut zu haben. An diesem Wochenende sprach niemand in Horten – vermutlich niemand im ganzen Land – von etwas anderem als vom zukünftigen König, der sich das Gesicht schwarz angemalt hatte. Lena verfolgte die Reaktionen im Netz. Sie selbst saß allein zu Haus und vermisste es, mit jemandem über den Skandal zu tratschen. Sie vermisste es auch, musste sie sich eingestehen, etwas dazu auf Njus zu posten, auch wenn seit ihrem letzten Post ein Jahr vergangen war.

»Königliche Tiefkühlpizza, beste«, konterte Kalle munter.

Plötzlich beugte er sich zu ihr vor. Was war denn jetzt los? Er war plötzlich so nah, dass sie ihn riechen konnte – Seife und typisches Jungsparfum. Er hob seine Hand und strich ihr mit dem Finger über den Mundwinkel.

»So«, sagte er. »Jetzt kannst du zur nächsten Stunde gehen, ohne dass dir die ganze Suppe im Gesicht klebt.«

Grün

Lena ließ die Öse ihres BHs aufschnappen, schlüpfte aus ihrer Bluse, schälte sich aus ihrer Hose, streifte sich den gesamten ersten Schultag von der Haut. Nur mit einer Unterhose bekleidet begann sie, in dem viel zu warmen Zimmer unter dem Dach, das nun ihres war, in einem der großen braunen Umzugskartons zu wühlen. Die Suche nach den leichten Sommerkleidchen stellte sich als unlösbares Projekt heraus. Sie schnappte sich das Luftigste, das sie auf die Schnelle finden konnte, steckte die langen Beine in eine ehemals schwarze, inzwischen ausgebleichte Baumwollshorts von H&M und zog sich ein viel zu großes Shirt mit Spaghettiträgern über den Kopf. Das lange blonde Haar zwirbelte sie sich mit einem geübten Handgriff zu einem Knoten.

So. Endlich frei.

Sie schlängelte sich im Zickzack die Treppe hinunter, vorbei an noch mehr Umzugskartons, die sich auf den Stufen stapelten, und einem großen Blumentopf, für den sie noch keinen optimalen Platz gefunden hatten. Der Flur in der unteren Etage war genauso vollgepackt. Der Dunst von gebratenen Zwiebeln hing im gesamten Haus. Aus dem Wohnzimmer schallte Håkan Hellstrøms aufgesetzte Stimme durch die gesamte Wohnung. Ihre Mutter hatte die Lautstärke voll aufgedreht, um die Dunstabzugshaube in der Küche zu übertönen. Dort saß Theodor in seinem Tripp-Trapp-Stuhl und sah ihr zu, wie sie zufrieden vor dem Herd herumtanzte, während sie eine Soße im Topf anrührte.

Das war ja kaum auszuhalten.

Lena betrat die Küche, hob Theodor aus seinem Stuhl, schlüpfte in ihre Slippers und zog den großen Kinderwagen unter der Treppe hervor.

»Wir gehen eine Runde raus«, rief sie ihrer Mutter über Håkan und das Dröhnen des Dunstabzugs hinweg zu.

»Jetzt?«, rief ihre Mutter. »Sei um halb sechs wieder zu Hause, dann ist das Fischgratin fertig! Willst du Theodor mitnehmen? Das ist nicht nötig!«

»Extra Trainingseffekt«, rief Lena zurück und manövrierte den Kinderwagen durch die Haustür und hinaus auf die Straße.

Der Wagen war alt und schwer wie Blei, aber trotzdem so gut wie neu, laut ihrer Mutter, die das Gefährt mit einer strahlenden Zufriedenheit vom Dachboden ausgegraben hatte, als Theodor unterwegs war. Alle Argumente, dass es wohl um einiges leichtere und nicht zuletzt hübschere Modelle auf dem Markt gab, stießen bei ihr auf taube Ohren.

Lena schlenderte an der Häuserreihe am Waldrand entlang und öffnete die Karte auf ihrem Smartphone. Wenn ihr auch dieser Umzug nicht besonders sinnvoll erschien, so hatte sie wenigstens die Gelegenheit, neue Orte zu entdecken. Sie durchquerte eine Autobahnunterführung und ging auf die grünen Hänge zu, die, wie ihr die Karte verriet, zum Krankenhaus außerhalb der Stadt hinaufführten.

Die Augustsonne brannte auf ihren nackten Schultern. Sie klappte die Sonnenblende des Kinderwagenverdecks schützend über Theodors Köpfchen.

Sie war nicht die Einzige, die an diesem Tag die Stille und Kühle des Waldes aufsuchte. Auf dem Spazierpfad Richtung Nordmarka tummelten sich Jung und Alt. Lena schob den Kinderwagen schnell an einer Mädchenclique vorbei, sie trugen Handtücher über den Schultern und lachten und unterhielten sich lautstark. Aus einer ihrer Strandtaschen dröhnte laute Musik. Sicherlich waren sie auf dem Weg zu einem der Seen, würden sich dort auf einen Felsen am Ufer legen und den ersten Schultag nach den Sommerferien auswerten. Sie erkannte einige von ihnen vom Schulhof wieder. Vielleicht hatten sie eine feste Badestelle, so wie sie und Liv früher. Zu dieser Jahreszeit waren sie nach der Schule immer schnurstracks nach Hause gelaufen, hatten ihre Rucksäcke in den Flur geschleudert und waren mit den Rädern durch den Wald zur Halbinsel Fuchsarsch gefahren, kopfüber in den Fjord gesprungen und hatten ihre Handtücher auf dem Steg ausgebreitet und dort in der Sonne gelegen, bis sie irgendwann unterging.

Lena beschleunigte ihren Schritt. Warum lief sie hier eigentlich so ohne Unterhaltung durch die Gegend? Sie wusste es doch bereits besser. Sie wischte sich durch ihr Handy zu Spotify, steckte sich die Stöpsel in die Ohren und klickte auf eine neue Folge ihres liebsten Promi-Podcasts Harm & Hegseth, um auf andere Gedanken zu kommen. Sie drehte die Lautstärke auf und musste leicht mit dem Kopf schütteln, als der Programmleiter über die neusten Eskapaden der Kardashians herzog. Sie hob den Blick, sah hinauf zu den grünen Baumkronen und marschierte im Takt den Kiesweg entlang. Eine Mücke setzte sich bedrohlich nah an ihr Ohr. Sie verscheuchte sie und merkte dabei, dass ihre Wange ganz feucht war.

Reiß dich zusammen, Lena.

Die nächste Folge des Podcasts war automatisch angesprungen. Abrupt blieb sie stehen. Eigentlich müsste sie schon längst an der Hütte sein, die das Ziel ihres Spaziergangs war. Stattdessen erhob sich vor ihr eine steile Anhöhe. Das war bestimmt eine 90-Grad-Steigung. Erst jetzt bemerkte Lena, dass all die anderen Menschen um sie herum verschwunden waren und der Weg eigentlich längst kein Weg mehr war. Dicke Wurzeln ragten aus dem Boden hervor, scharfkantige Steine und große Fichtenzapfen bedeckten den schmalen Trampelpfad. Sie konnte es vergessen, den Kinderwagen diesen Hügel hinaufzukriegen.

Lena öffnete die Karte auf ihrem Handy. Sie war doch immer der blauen Markierung gefolgt, auf dem letzten Schild stand: Ullevål-Hütte, 3 km. Und das war mindestens vier Kilometer her! 10 % Akku blinkte plötzlich auf dem Display auf.

Shit.

Sie schaltete sofort den Stromsparmodus an und schaffte es gerade noch zu sehen, dass es bereits Viertel vor sechs war – Viertel vor sechs! – bevor der Bildschirm schwarz wurde.

Doppelshit!

Ein Stein drückte ihr von unten in die Fußsohle. Warum zur Hölle musste sie ausgerechnet in Slippers in den Wald gehen? Und warum war die Nordmarka so verlassen? Litt Oslo nicht an Überbevölkerung, war diese Stadt nicht voller Extremsportler, die sich hier im Wald auf irgendeinen Marathon oder Staffellauf vorbereiteten?

Ihr blieb nichts anderes übrig, als umzukehren. Ihre Mutter fragte sich sicher schon, wo sie abblieb. Lena zog sich die Stöpsel aus den Ohren und schob das tote Handy in die Tasche am Kinderwagen. Da hörte sie es. »Ppsshh«, ein Zischen aus Theodors Richtung. Sie beugte sich runter.

Trippelshit.

Einer der Reifen hatte dem unwegsamen Untergrund nicht standgehalten und war nun platt. Dadurch ließ sich der Wagen nur noch schwerer schieben. Lena drehte sich um und versuchte stattdessen, ihn hinter sich herzuziehen. Es fühlte sich an, als würde sie eine extrem schwere Holzkiste hinter sich herschleppen. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie seit dem Brot in der großen Pause nichts gegessen hatte. Theo vielleicht auch nicht? Sie wühlte in der Wickeltasche, die stets in der Ablage unter dem Wagen lag. Komm schon, komm schon … bitte.

»Yes!«, rief Lena, als ihre Finger einen Plastikdeckel berührten. Sie zog ein Quetschie aus der Tasche, drehte den Deckel auf und reichte es Theodor, der mit beiden Händen danach grapschte. Dann würden sie hier wenigstens nicht verhungern. Zumindest Theodor nicht, dachte Lena und legte die Hände auf ihren eigenen knurrenden Magen. Vor einer ganzen Podcast-Episode war sie in den Weg mit der blauen Markierung eingebogen, der laut Schild zur Ullevål-Hütte führen sollte. Also vor knapp einer Stunde. Könnte sie den Wagen einfach hier stehen lassen und Theodor nach Hause tragen?

Sie hockte sich auf den Trampelpfad und starrte zu Theo, der das Erdbeerpüree aus dem Quetschie in seine runden Pausbacken saugte.

»Mein pummeliger, kleiner Mops. Was machen wir denn jetzt? Soll ich dich wirklich eine Stunde lang auf dem Arm rumschleppen?«

Theo quietschte und gurgelte.

»Daaaah«, sagte er.

Lena seufzte und ließ sich rücklings auf den Boden sinken.

Bergauf

Zuerst hörte Lena das Schnaufen und Keuchen. Dann die schweren Schritte. Ein Typ in Trainingsshorts kam mit nacktem Oberkörper den steilen Hang hinuntergepest. Sie setzte sich auf und blinzelte in seine Richtung. Gerade noch dachte sie, dass sie ihn um Hilfe bitten oder zumindest den Wagen vom Pfad ziehen könnte, um nicht umgerannt zu werden, als er ganz abrupt auf dem Absatz kehrtmachte und den Hügel wieder hinaufrannte. Oben angekommen, drehte er sich wieder um und trippelte langsam bergab – nur um dann wieder bergauf zu sprinten.

Ein anderer Mann tauchte am Gipfel des Hügels auf, auch er in Trainingsklamotten, aber nicht mit demselben Tempo. Ganz im Gegenteil – er blieb einfach oben stehen und starrte auf sein Handy. Ein Telefon, dachte Lena erleichtert, das darf ich bestimmt mal ausleihen. Der Mann blieb oben auf der Anhöhe stehen, der Shortstyp spurtete ein weiteres Mal den Hang hinab. Das sah anstrengend aus. Sein Oberkörper war goldbraun von der Sonne, der Schweiß perlte auf den Wölbungen seines Sixpacks. Der elastische Stoff seiner Shorts klebte an der Haut seiner Oberschenkel, das blonde Haar kräuselte sich vor seinen Augen – und als er es sich mit der Hand aus der Stirn strich, erkannte Lena, wer es war.

»Hey, Kalle!«, sagte sie und bürstete sich ein paar Fichtennadeln von ihren Shorts.

Kalle sah vom Pulsmesser an der Armbanduhr auf.

»Lena?«

Lena registrierte zufrieden, dass sich ein leichter rosa Schimmer über sein ohnehin gerötetes Gesicht legte. Sie versuchte, sich nicht besonders davon beeindrucken zu lassen, dass er sich an ihren Namen erinnern konnte. Thronfolger waren sicher darauf abgerichtet, sich Namen zu merken. Und außerdem hatte sie ja auch eine Riesensache aus ihrem Namen gemacht.

»Was machst du hier? So tief im Wald? Läufst du? Machst du auch Hügeltraining?«

Die Worte purzelten nur so aus seinem Mund. War er gestresst? Lena schaffte es gerade so, ihren Kopf zu schütteln, als er schon weiterquasselte.

»Das ist nämlich der beste Hügel in der ganzen Stadt und hier ist eigentlich nie jemand. Also erzähl’s nicht weiter. Aber … Ah, du bist mit dem Kinderwagen unterwegs. Babysittest du gerade?«, fragte er und deutete mit einem Kopfnicken auf Theo.

»Ja. Oder nein. Ähm … das ist mein Bruder und jetzt ist einer der Reifen platt und ich komm mit dem Wagen hier nicht weg. Wir wollten eigentlich zur Ullevål-Hütte und sind die ganze Zeit den blauen Markierungen gefolgt, aber dann war der Weg plötzlich verschwunden, der Kinderwagen hat den Geist aufgegeben, mein Akku ist tot und meine Mutter wartet schon auf uns … Also, deswegen hängen wir hier rum«, erklärte sie und versuchte es mit einem Lächeln, stellte dann aber mit Erschrecken fest, dass sich ihr Mund wie ein schiefer, zitternder Schlitz anfühlte.

O nein! Sie durfte jetzt auf keinen Fall anfangen zu heulen!

Kalle sah sie mit ernsten Augen an und sprach jetzt ruhiger.

»Wenn du mit dem Kinderwagen zur Ullevål-Hütte willst, musst du dem befestigten Weg folgen. Also nicht auf die Sommerroute einbiegen«, sagte er, setzte sich in die Hocke und streckte Theo die Zunge raus.

Das Kleinkind quietschte vergnügt.

»Wie meinst du das?«

»Die roten Markierungen zeigen die Winterroute an, also die Strecke, die auch im Winter zu Fuß begehbar ist. Die blaue Route wird im Winter zur Loipe, im Sommer ist da nur Wildnis. Mit dem Kinderwagen kommst du also auf der blauen Route nicht weit … Du bist nicht nur neu an der Schule, du bist neu in der Stadt«, stellte er fest und stand wieder auf.

Lena nickte, dankbar, dass sie nonverbal antworten konnte. Der Kloß in ihrem Hals ließ sie keinen Ton hervorbringen.

»Jaja. Also erstens ist die Ullevål-Hütte gerade viel zu überlaufen. Die Badestrände am Sognsvann übrigens auch. Und zweitens bist du tatsächlich gar nicht so weit vom Båntjern entfernt, das ist ein viel besserer Badesee. Eigentlich wär es ziemlich nice, da jetzt mal vorbeizugehen, aber das ist vielleicht nicht so einfach …«, sagte er und machte kreisförmige Bewegungen mit seinem Zeigefinger Richtung Theo, »… das da mitzunehmen.«

Lena schluckte den Kloß herunter.

»Das da heißt Theodor!«, sagte sie empört.

»Nein, ich meinte doch nicht ihn, du Depp! Ich meinte dieses …«, sagte er und begann wieder, mit dem Zeigefinger herumzufuchteln, »… dieses Raumschiff, mit dem er unterwegs ist.«

Lena lachte leise auf, verstummte aber sofort.

»Ja, ich weiß. Das ist tatsächlich mein alter Wagen. Aber Mama meinte, warum einen neuen kaufen, wenn der alte noch was hergibt«, erklärte sie mit einem ironischen Unterton und schaukelte den Wagen auf und ab.

Der platte Reifen knirschte demonstrativ.

»Ja. Gut sieht das nicht aus. Wie kommst du nach Hause? Wartest du auf jemanden, der dich abholt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Glaubst du, ich könnte mir mal … sein Handy leihen?«, fragte sie, unsicher, wie sie den shortstragenden Mann mit Headset nennen sollte, der immer noch oben auf dem Hügel stand und betont gleichgültig in den Wald hineinstarrte.

»Rolfs Handy? Bestimmt. Aber wo wohnst du? Von hier aus ist es ja gar nicht weit bis zur S-Bahn-Station.«

»Grevlingveien 75. Direkt am Tennisplatz.«

Kalles Gesicht leuchtete auf.

»Am Hemingplatz? Da kannst du ja einfach hier quer durch den Wald gehen, dann kommst du zurück zur Hauptstraße. Ich glaube, das ist weniger Aufwand, als jemandem zu erklären, wo du gerade bist.«

Beide starrten für einige Sekunden schweigend in das dichte Gebüsch vor ihnen und dann zu dem großen Kinderwagen.

»Also … wenn du deinen Bruder nimmst, kümmer ich mich um den Wagen«, schlug er vor.

Lena nickte, klickte den Sicherheitsgurt auf und hob Theo auf den Arm. Dann gab sie sich alle Mühe, Kalle nicht anzustarren, als er den Wagen mit seinen starken Armen über den Kopf hob und geradewegs in den Wald hineinstratzte. Mitten ins Dickicht. Kein Weg, kein Trampelpfad, nichts.

»Äh … du weißt, was du tust?«, fragte Lena und warf Leibwächter Rolf einen Blick zu, der jetzt den Hang hinunter auf sie zukam, anscheinend vollkommen unbeeindruckt davon, dass der Herr Thronfolger mit nacktem Oberkörper inmitten von Gestrüpp und Dornen stand.

»Jupp, bleib einfach immer direkt hinter mir, dann bahne ich uns einen Weg mit dem Raumschiff hier.«

Langsam kämpften sie sich durchs Gebüsch. Kalle hatte Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren. Lena stellte sich schon vor, wie er kopfüber den Abhang hinunterpurzelte und im hohen Bogen im Kinderwagen landete, und plötzlich konnte sie sich das Lachen nicht mehr verkneifen. Wie großartig das wäre, wenn das wirklich passierte! Es kribbelte in ihrem Bauch.

Kalle musste auch lachen.

»Das ist gut für die Bauchmuskeln und für den Bizeps, das kannst du deiner Mutter mit lieben Grüßen ausrichten. Wie geht’s euch dahinten?«

»Gut«, antwortete Lena und folgte dem nackten goldenen Rücken ins dichte Grün.

Bereits nach einigen Minuten konnten sie das Rauschen der Autos von der Hauptstraße hören. Kurz darauf fanden sie sich auf einem kleinen Rasenstück vor einem Fahrradweg wieder. Von hier aus konnte sie den Tennisplatz und sogar den Schornstein ihres Hauses sehen. Herrje, was für einen Umweg sie gelaufen wäre, wenn er diese Abkürzung nicht gekannt hätte!

Vorsichtig setzte Kalle den Wagen auf den Boden und streckte die Arme nach Theo aus.

»So, jetzt darfst du wieder rein«, sagte er und setzte ihn behutsam in seine Schale.

Lena starrte Kalle an. An seinen Armen waren Kratzer von Zweigen und Geäst zu sehen.

»Tausend Dank. Und entschuldige! Diese Aktion hat auch echt ihre Spuren hinterlassen. Du blutest ja«, sagte sie und zeigte auf sein Schulterblatt.

Kalle drehte sich so schnell um, dass ihre Finger seine schwitzende Brust streiften. Blitzschnell zog sie die Hand zurück. Er verrenkte sich, um sich die Wunde genauer anzusehen.

»Das werde ich schon überleben. Ich hätte alles getan, um nicht noch einmal diesen Hang hinaufzumüssen«, sagte er und schnipste gegen ein kleines Tier auf seiner Brust.

Doch das Tier bewegte sich nicht vom Fleck.

Er versuchte, es mit der Hand wegzufegen. Doch es half nichts.

»Ach, Scheiße«, fluchte er und trippelte ein paar Schritte zur Seite. »Fuck, fuck, fuck. Es geht nicht weg, es geht nicht weg! Igitt, igitt, igitt, was ist das?«

Seine Stimme war plötzlich hoch und schrill. Er begann, fieberhaft an dem schwarzen Punkt zu kratzen. Ohne nachzudenken, packte Lena ihn am Handgelenk.

»Nicht kratzen«, sagte sie mit Nachdruck und beugte sich vor, um das schwarze Tierchen zu betrachten, das sich an ihm festgesaugt hatte.

Entschlossen packte sie das Insekt mit Daumen und Zeigefinger und drehte es gegen den Uhrzeigersinn. Die kleine Zecke löste sich von Kalles Brust. Sie hielt ihm das Tier vors Gesicht.

Er machte erschrocken einen Satz nach hinten.

»Voilà!«, sagte sie. »Hier ist der Schlawiner. Du darfst nicht kratzen, weil es dann passieren kann, dass der Kopf stecken bleibt. Aber guck mal.«

Sie trat einen Schritt näher an ihn heran.

Angewidert wich er zurück.

»Äh. Ich hab nicht vor, sie dir noch mal auf den Hals zu hetzen. Guck doch mal!«, forderte sie ihn auf.

Kalle schluckte und ging langsam auf sie zu.

»Zecken haben acht Beine. Hier siehst du, dass alle Beine intakt sind, und auf deiner Brust«, sagte Lena und strich mit dem Zeigefinger sanft über den roten Fleck auf seiner Haut, wo die Zecke sich festgebissen hatte, »ist nichts mehr zu sehen. Aber sobald sich da plötzlich ein roter Ring bilden sollte, müsstest du das sofort vom ärztlichen Bereitschaftsdienst checken lassen. Oder wo auch immer du wegen so was hingehst.«

Ein kleines Lächeln umspielte Kalles Lippen. Er winkte Leibwächter-Rolf zu sich.

»Gib mir mal mein Handy.«

Dann stellte er sich ganz nah an Lena.

»Halt sie mal hoch«, bat er und zeigte auf die Zecke.