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Die Schmerzen der letzten Monate sind in Vergessenheit geraten. Alle Wunden sind verheilt. Ruhe und Normalität bestimmen das Leben von Ruby und Nils. Doch mit einem mysteriösen Autounfall, der Ruby fast das Leben kostet, beginnt alles von vorne. Während Ruby von der Polizei beschützt wird, geht Nils durch seine eigene grausame Hölle. Sie stehen vor einem Rätsel. Wer trachtet ihnen nach dem Leben und weshalb? Die Schatten der Vergangenheit holen sie ein und es gibt kein Zurück ... Jetzt geht’s erst richtig los!
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Dannie Rubio ist im beschaulichen Städtchen Schaffhausen in der Schweiz aufgewachsen. Schon in der Schule liebte sie es, Aufsätze zu schreiben, Geschichten zu erzählen und auf Papier zu bringen. Ihr Lebensweg hat sie durch verschiedene Etappen geführt. So lebte sie in Los Angeles, Madrid, Solothurn, Extremadura, Zürich, Luzern und in Alicante, wo sie mit ihrem Mann, Sohn und Hund sesshaft geworden ist. Hier erwachte auch wieder ihr lang gehegter Traum des eigenen Buches. Dannie verschlingt Bücher aus dem Thriller Genre wie andere Schokolade. Die Geschichte von Ruby nahm allmählich Form an und schließlich wurde sie aufs Papier losgelassen. Ruby ist in ihrem Herzen entstanden. Dannie wollte eine Geschichte schreiben, die berührt, zum Nachdenken bewegt, schockiert, Hoffnung macht, herausfordert, aber einen auch zum Lachen bringt. Und das ist ihr gelungen.
Dannie Rubio hat die Ausbildung zu Rennreiterin in der Schweiz absolviert. Pferde begleiteten sie ihr ganzes Leben lang. Bis sie das BMX-Rad vor 3 Jahren neu entdeckte. Seither findet man sie jeden Tag auf ihrem BMX-Rad am Trainieren. Sie fährt Rennen in Europa, startete 2019 an der Weltmeisterschaft in Belgien.
© 2021 Dannie Rubio
Herausgeber: HumanTalent & Me
Autor: Dannie Rubio
Umschlaggestaltung, Illustration: © Phönix Graphics Spain
Lektorat: Holger Bruns/ Human Talent & Me Verlag
Verlag & Druck: Human Talent & Me Verlag/ LLAR digital Spain
Calle Bonitol 4
03110 Mutxamel/Spain
ISBN: 978-619-91805-1-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Es gibt immer einen Ausweg
1. 6 Monate später
Heute ist ihr großer Tag. Rubys und Nils‘ Hochzeit. Ab sofort wird sie Frau Kramer sein. Ruby Bergmann wird nicht mehr existieren. Der Beginn eines neuen Lebens. Es ist eine kleine Feier, sie haben nur ihre besten Freunde eingeladen. Ruby sieht bezaubernd aus in ihrem schlichten, aber wunderschönen Hochzeitskleid und Nils atemberaubend in einem schwarzen Anzug, dunkler Weste und dem rosa Hemd. Christina Dummauge wurde es nicht gestattet zu kommen. Die Gefahr, dass sie sich bei seinem Anblick nicht im Zaum halten kann, war zu hoch. Mirjam ist mit ihrem Mann extra aus London gekommen. Obschon Nils und Ruby nicht auf ihrer Hochzeit waren. Natürlich sind Rubys Mom und ihr Freund und bald Ehemann Bernd dabei. Ralf und Maja, Rodrigo kam extra aus Alicante angeflogen,Nils‘ Schwester, Anna und weitere Freunde. Es ist ein wunderschöner Tag. Sie feiern gut gelaunt. Alle schweigen gespannt, als der Pfarrer spricht: „Wollen Sie, Nils Kramer, Ruby Bergmann lieben und ehren, in guten und in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch scheidet?“ Nils antwortet gerührt: „Ja, ich will“. „Und wollen Sie, Ruby Bergmann, Nils Kramer lieben und ehren, in guten und in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch scheidet?“, fragt er nun Ruby und bei dem Wort Tod zieht es ihr den Magen zusammen. Mit Tränen in den Augen sagt sie: „Ja, ich will.“ Als der Pfarrer verkündet: „Sie dürfen die Braut jetzt küssen“, weiß Ralf genau, was als nächstes kommt. Erst applaudieren die Leute, während die beiden verliebt aneinanderkleben, dann lachen sie und als sie bemerken, dass es Stunden dauern kann, stimmen sie ein Pfeifkonzert an. Erst dann lassen sie voneinander ab. Ausgelassen feiern sie bis spät in die Nacht. Ruby, Nils, Ralf und Maja sind schließlich die Letzten, die sich auf den Heimweg begeben. Rubys Herkules ist lustig bemalt: Just Married steht dort. Glücklich verabschieden sie sich voneinander. Nils fährt, er öffnet die Tür und möchte sich gerade hinsetzen, als sein Herz zwei Schläge aussetzt. Ruby schaut ihn erschrocken an: „Was ist los Nils?“ Er stiert auf den Fahrersitz. Angstvoll richtet Ruby ihren Blick auf den Sitz. Ungläubig starrt sie darauf. Ihr Herz beginnt zu rasen, sie zittert. Was sie sieht, zieht ihr den Boden unter den Füßen weg. Es ist ein blutverkrustetes Stoffpferdchen, identisch dem, das Ruby in den vier Tagen ihrer Entführung begleitet hat. „Verdammt, was soll das?“, ruft Nils entsetzt. Ralf und Maja kommen herangespurtet. „Was ist los, Nils?“, fragt Ralf besorgt. Nils streckt ihm das Pferdchen entgegen. „Scheiße, das soll wohl ein übler Scherz sein?“ „Wenn das ein Scherz ist, dann ist er alles außer witzig.“ Ruby sitzt zitternd auf dem Beifahrersitz. Die Höllentore wollen sich auftun und sie verschlingen, aber sie hält dagegen an, wehrt sich mit aller Kraft. Tränen bahnen sich ihren Weg über ihre Wangen. Nils drückt Ralf das Pferdchen in die Hand. „Kannst du es bitte mitnehmen? Ich möchte es nicht im Wagen haben.“ „Ja, klar.“ Ralf ist besorgt, Nils sieht es ihm an. „Wir sehen uns in einer Woche im Revier“, sagt Nils schließlich. „Ja ok, genießt die Flitterwochen in Venedig“, erwidert Ralf. Nils steigt in den Audi TT zu Ruby. Sie schluchzt. „Wer tut so etwas Nils? Was soll das bedeuten? Geht die ganze Scheiße wieder von vorne los? Ich dachte, es wäre vorbei.“ Behutsam legt er seine Hand auf ihr Bein. „Vielleicht ist es nur ein makabrer Scherz, lass uns die Flitterwochen genießen. Wenn wir zurückkommen, sehen wir, was wir tun können. OK?“ Allmählich gewinnt Ruby wieder die Kontrolle über ihren Körper und ihre Gedanken. Sie betrachtet Nils von der Seite, als sie sagt: „ Ich habe Angst.“ Nils blickt sie mit seinem schiefen Lächeln, das Ruby so sehr liebt, an. „Hab keine Angst, alles wird gut.“ Er will nicht, dass sie weiß, dass auch er Angst hat. Zu Hause angekommen, parkt Nils den Audi direkt vor der Haustür. Elegant sprintet er um den Wagen, öffnet ihr die Beifahrertür und bittet sie auszusteigen. Ruby lächelt ihn an, ihre Augen funkeln. Mit Schwung hebt er sie in seine Arme und trägt sie über die Schwelle ins Haus. Verliebt kichern und lachen sie, als sie die Wohnung betreten. Fluffy versteht die Welt nicht mehr, er weiß gerade nicht, ob das jetzt eine Gefahrensituation ist und er einen der beiden beißen muss, oder ob alles okay ist. Er geht auf Nummer sicher und beißt Nils voller Überzeugung in die Wade. Nils schreit auf. Sanft setzt er Ruby auf sicherem Boden ab. Jetzt ist Fluffy wieder glücklich, er hat die Situation in Ordnung gebracht. „Du dummer kleiner Hund!“, schimpft Nils und Ruby kann nicht mehr vor Lachen. Nils findet es überhaupt nicht lustig, vorsichtig krempelt er seine schwarze Hose hoch und betrachtet einen beachtlichen blau-violetten Hundebiss. „Guck was die Bestie getan hat“, jammert er mitleidig. „Im Ernst Nils? Soll ich aufzählen, was du im letzten Jahr alles überlebt hast? Hör auf rum zu jammern, wegen eines kleinen Hundebisses und komm gefälligst hierher.“ Verdutzt schaut Nils Ruby an. „Was sind denn das für Töne, Frau Kramer? Das werde ich so nicht durchgehen lassen.“ Mit langsamen Schritten nähert er sich Ruby, er fixiert sie, sie grinst, er macht sie nervös. „Herr Kramer, sie verunsichern mich ein klein bisschen.“ Jetzt steht er vor ihr, in seiner vollen Größe. Noch immer ist sie in ihn verliebt wie am ersten Tag. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch starten durch, machen sich auf, auf ihre Mission. „Ich liebe dich Ruby.“ „Ich liebe dich Nils.“ Und zack kleben sie aneinander. Ruby wollte ihm schon den ganzen Tag diesen verdammt heißen Anzug vom Leibe reißen. Stürmisch öffnet sie die Knöpfe von seinem rosa Hemd. Ein Knopf nach dem anderen fliegt quer durch das Zimmer. Nils grinst. „Nicht so stürmisch junge Frau.“ „Das Hemd brauchst du nicht mehr“, erwidert Ruby und macht weiter, bis fast alle Knöpfe ab sind.
2. Sonntag
Früh am Morgen machen sie sich auf den Weg nach Venedig, in die Flitterwochen. Da Nils nicht fliegen kann, weil er in Panik den ganzen Flieger kurz und klein schlagen würde, waren sie genötigt, ein Reiseziel aussuchen, das mit dem Auto gut erreichbar ist. Venedig ist nur 11 Stunden Autofahrt entfernt. Weder Ruby noch Nils waren jemals zu Besuch in der italienischen Hafenstadt. Fluffy laden sie vor der Reise bei Ralf ab. Maja freut sich, jemanden um sich zu haben, der über ihre Witze lacht. Nils fährt nonstop durch bis nach Venedig. Die Stimmung ist gelöst und glücklich. Das Stoffpferdchen ist für den Moment in den Hintergrund gerückt. Als sie über die italienische Grenze fahren, sendet Nils ein Stoßgebet gen Himmel: „Lieber Gott, bitte lass die Polizisten in Italien nicht so gut aussehen wie die Polizisten in Spanien.“
3. 1 Woche danach
Die beiden haben wunderschöne, romantische und leidenschaftliche Flitterwochen verbracht. Mit einer Gondel haben sie die Kanäle Venedigs bewundert. Auf dem Markusplatz haben sie sich eine total überteuerte Cola gegönnt. Eine für beide. Abends haben sie die Zweisamkeit im Hotel genossen. Und keine Gelegenheit ausgelassen, sich zu lieben, zu küssen und zu liebkosen. Nils kann es noch immer nicht verstehen, was zwischen ihnen beiden abläuft. Es ist so intensiv, wie er es nie zuvor erlebt hat. Auch mit Helena, seiner verstorbenen Frau nicht. Er ist überzeugt, dass es so etwas nur einmal im Leben gibt. Und das Beste, sein Gebet wurde erhört, die italienischen Polizisten können den spanischen optisch, nicht annähernd das Wasser reichen. Italien ist sein neues Lieblingsreiseziel.
Wieder in Berlin holen sie zuallererst Fluffy bei Ralf und Maja ab. Maja tritt vor die Tür und übergibt ihnen das dicke Tier. Er sieht
aus wie eine Wurst auf vier Beinen. Wie kann ein Hund in einer Woche so furchtbar fett werden? Ruby staunt, aber sie schweigt, sie ist froh und dankbar, dass Ralf und Maja auf Fluffy aufpassen. Maja lächelt mit ihrem langen Gesicht. „Geht es euch gut? Hat euch keiner niedergestochen?“ Ruby denkt nach, sie weiß nie, wann diese Frau Witze macht oder wann es ihr Ernst ist. Soll sie grinsen, oder doch lieber nicht. Nils geht es gleich, sie kann es ihm ansehen. Dann plötzlich quiekt Maja laut auf. Das war ein Lachen. „Ich habe einen Witz, gemacht!“, quietscht sie vergnügt. Das hätte sie vorher sagen müssen, dann hätte man angemessen lachen können. Beide grinsen verlegen. Müde von der Reise nehmen sie Fluffy entgegen und fahren nach Hause. Im trauten Heim angelangt setzt sich Nils auf das Sofa, Ruby zieht sich um. Zeit für ihr Sternchen-Pyjama. Er grinst sie an, müde legt sie sich auf das Sofa, den Kopf auf seinem Schoss. Er streicht ihr über die Haare und übers Gesicht, so sanft und liebevoll, dass sie fast vergeht. So soll ihr Himmel aussehen. 24 Stunden lang, 7 Tage die Woche. Plötzlich fragt Nils: „Möchtest du eigentlich gerne Kinder haben?“
Ruby stockt der Atem. „Wozu?“ Nils muss lachen. „Na ja, es gehört irgendwie zu einem Paar dazu, eine Familie zu gründen.“
„Wir sind eine Familie, du, ich und Fluffy, wir brauchen kein Kind.“ Ruby ist nervös, das Thema beunruhigt sie. „Willst du Kinder?“, fragt sie ihn.
„Ich denke schon, stell dir vor, wie entzückend, eine kleine Ruby oder ein kleiner Nils.“ Ruby wird schlecht. Sie erinnert sich an die Worte ihres Vaters. „Du wirst niemals eine gute Mutter sein, niemals.“ „Ich weiß nicht Nils. Das stört doch nur, so ein Kind.“ Diese Aussage macht ihn unheimlich betroffen, weil es ihre eigene Erfahrung widerspiegelt und es ist ihr nicht einmal bewusst. Das hat sie empfunden, als sie ein Kind war, sie war der Störfaktor. Ohne sie wäre alles besser gewesen. Das glaubt sie auch heute noch.
„Wir haben Zeit Ruby, entspann dich“, sagt Nils und streicht ihr über die Haare.
4. Montag
Heute geht der Ernst des Lebens los. Nils nimmt seine Arbeit bei der Polizei wieder auf und Ruby arbeitet an ihrem eigenen kleinen Phönix Grafik-Projekt. Es läuft bestens, sie kann sich nicht beklagen. Mittlerweile verdient sie mehr als früher, während sie bei Graphics 4 You gearbeitet hatte. Es bereitet ihr Spaß, frei über ihre Zeit verfügen zu können, alleine zu entscheiden, was gut ist und was nicht. Es war Nils‘ Idee, sich selbstständig zu machen und eine seiner besten. Nils kommt gegen 18 Uhr nach Hause, gegen 20 Uhr hat sich Rubys Mutter angemeldet. Wozu? Ruby weiß es nicht. Irgendetwas ist in die Brüche gegangen in der Beziehung zu ihrer Mutter. Seit sie ihren Vater umgebracht hat, nimmt sie ihre Mutter mit anderen Augen wahr. Es ist, als ob ein Schleier von ihr abfiel und sie sehen kann, wie sie wirklich ist. All die Jahre hat sie ihre Mutter in Schutz genommen, was ja eigentlich schon verrückt ist. Hat sich eingeredet, dass Melissa aus Not und Angst Ruby nie beigestanden hat. Jetzt sieht sie es anders, sie war ihrer Mutter gleichgültig. Ihrer Mutter gefiel ihr Leben, sie hatte Geld für alles, was sie sich leisten oder unternehmen wollte. Ruby war nur im Weg – ein Störfaktor. Deshalb weiß sie jetzt gar nicht, was sie von ihr will. Trotzdem fällt es ihr schwer, sie abzuweisen.
Sie geht nur ein paarmal kurz mit Fluffy auf die Straße, sodass er sein Geschäft verrichten kann. Erst als Nils nach Hause kommt, spazieren sie zu dritt zum Park, denn Ruby schafft es noch immer nicht, alleine in den Park zu gehen, nachdem sie letztes Jahr von Alexander Friedrich, ihrem Psychiater, auf dem Weg dorthin entführt wurde und vier Tage durch die Hölle ging. Er hat sie gefoltert und vergewaltigt. Es war schwer für sie, wieder zurück ins Leben zu finden.
Nils hat noch weniger das Bedürfnis, Rubys Mutter zu sehen, als sie selbst. Aber wie immer gibt er sich Mühe. Schließlich ist er es, der Punkt 20 Uhr Rubys Mutter die Tür öffnet.
„Hallo Herr Krämer.“ Kramer, denkt er genervt. Melissa weigert sich, ihn Nils zu nennen. Aber es ist ihm so was von gleichgültig.
„Hallo Ruby Schatz.“ Sie stürmt zu Ruby in die Küche.
„Hi Mom“, sagt Ruby wenig begeistert.
„Ich habe Cheesecake mitgebracht“, erklärt Melissa begeistert.
„Wir haben noch nicht gegessen und wollten eine Pizza bestellen“, erwidert Ruby. „Willst du auch eine?“
„Ihr könnt doch nicht immer dieses ungesunde Zeugs essen. Das wird euch noch umbringen“, entgegnet Melissa aufgeregt.
„Das tun wir auch nicht, aber ich hatte viel Arbeit heute und Nils auch. Wir haben keine Lust zu kochen.“ Und außerdem geht es dich einen Scheiß an, was wir essen. Langsam, aber sicher kocht die Wut in ihr hoch.
„Nein danke, ich will keine Pizza, du hättest wirklich kochen können, du bist doch den ganzen Tag zu Hause.“
„Mom, nur weil ich zu Hause bin, heißt das nicht, dass ich nicht arbeite.“
Nils sitzt am Esstisch, sein Kopf in die Hände gestemmt, er hat es nicht anders erwartet.
„Jaja schon gut, dein Ehegemahl könnte dir ja auch ein bisschen helfen.“
Hhmm – 1 – 2 – 3 – hhmm – 1 – 2 – 3 – hhmm … Ruby versucht sich zu beruhigen. Schließlich gelingt es ihr, zwei Pizzen zu bestellen. Während sie hungrig auf diese warten, legt Melissa mit weinerlicher Stimme los.
„Kind, ich habe viel über uns nachgedacht. Ich weiß, dass ich vieles falsch gemacht habe, aber ich möchte dich nicht verlieren. Ich möchte unsere Beziehung auffrischen und verbessern.“ So wird das nichts, Frau Bergmann, denkt Nils unberührt.
„Ich, also ich und Bernd, wir haben entschieden, dass wir doch in Berlin bleiben.“ Verdammte Scheiße! Fast wäre es Nils laut rausgerutscht. Zum Glück hat er es nur gedacht. Es klingelt an der Tür, er springt auf. Der Pizzakurier übergibt ihm die heißen Pizzen. Es riecht lecker. Lieblos wirft er sie auf den Tisch. Melissa straft ihn mit einem bösen Blick und schüttelt verächtlich den Kopf. Er holt Servietten aus der Küche und setzt sich zu Ruby und Melissa an den Esstisch. Ruby beobachtet ihn aufmerksam. Es geht eine seltsame Ausstrahlung von ihm aus. In Zeitlupe öffnet er den Karton. Dann, Ruby kann es nicht anders ausdrücken, frisst er die Pizza in fünf großen Bissen. Sie hat noch nicht einmal angefangen zu essen, als er schon fertig ist. Mit verschmiertem Mund grinst er die beiden an. Ruby muss lachen. Was ist denn mit dem los, wundert sie sich amüsiert. Ihre Mutter ist sichtbar entsetzt.
„Also Herr Krämer, das war jetzt mehr als unangebracht.“ Sie schaut ihn böse an. Treudoof guckt er zurück und … Ruby kann es nicht fassen … rülpst Melissa mitten ins Gesicht. Ruby prustet los. Melissa springt entsetzt auf.
„Herr Krämer, ich muss schon bitten, sie sind doch ein erwachsener Mann. So etwas habe ich ja noch nie erlebt, schämen sie sich!“ Nils steht auf, sagt emotionslos:
„Ich geh Fernsehen gucken.“ Er hält Ruby sanft am Kinn und küsst sie erst zärtlich und zaghaft, dann immer forscher. Um Himmels willen, was ist mit meinem Mann los. Denkt sie und weiß nicht, ob sie ehrlich entsetzt oder amüsiert ist. Er lässt von ihr ab und schlurft schließlich ins Wohnzimmer.
„Benimmt er sich immer so daneben?“ Melissa ist entsetzt.
Nur wenn du da bist, denkt Ruby.
„Eigentlich nie“, antwortet sie.
„Ich habe ja nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich ihn nicht mag. Aber jetzt bist du verheiratet und kommst nicht so leicht davon.“
„Mom, du magst ihn nicht, das ist dein Problem, nicht meines. Ich liebe ihn von Herzen. Und ich möchte dich bitten, nicht mit diesem Thema fortzufahren, sonst musst du gehen. Ich möchte, dass du akzeptierst, dass wir zusammen sind und zusammen gehören. Du
sagst, du willst unsere Beziehung auffrischen, dann musst du ihn akzeptieren.“
Melissa schaut Ruby lange an.
„Du hast recht Schatz, es tut mir leid.“ Sie küsst ihre Tochter auf die Wange. „Wird diese Narbe auf deiner Wange noch verschwinden?“, lenkt sie ab.
„Wahrscheinlich nicht“, antwortet Ruby genervt. Sie schafft es immer wieder: Fröhlich spaziert ihre Mutter von einem Fettnäpfchen ins andere.
„Ich schneide den Kuchen auf, dann essen wir ein Stück zusammen, ja?“
„Ja gut.“
Sorgsam schneidet sie drei Stück von dem Kuchen ab und legt jedes Teil auf einen kleinen Teller. Zwei davon stellt sie auf den Esstisch, das dritte Stück bringt sie zu Nils ins Wohnzimmer.
„Es tut mir leid Herr Krämer, nehmen sie meine Entschuldigung bitte an und essen sie ein Stück von meinem leckeren Kuchen.“ Sie lächelt ihn an. Nils studiert sie misstrauisch.
„Okay, danke“, sagt er knapp. Zufrieden geht sie zurück zu ihrer Tochter ins Esszimmer.
„Hattet ihr schöne Flitterwochen in Venedig?“, fragt Melissa neugierig. Ruby bejaht und zeigt ihr Bilder, die sie mit ihrem Handy geschossen hat. Kanäle, Gebäude, Nils, Selfies, Ruby und Nils, das Hotel, das Hotelzimmer und … ähm ja, okay. Ruby grinst verlegen.
„Wir wollen im Oktober heiraten,“ verkündet Melissa glücklich.
„Schön, wir werden kommen“, erwidert Ruby.
„Das hoffe ich doch sehr.“ Melissa lächelt versöhnlich. Plötzlich hören sie besorgniserregende Geräusche aus dem Bad. Ruby rennt sofort dorthin. Fluffy sitzt davor und legt seinen Kopf abwechselnd nach links, dann wieder nach rechts.
„Nils?“, ruft sie besorgt. Sie hört, wie er sich übergibt. Melissa steht nun neben ihr. Ruby versucht die Tür aufzumachen, aber sie ist abgeschlossen.
„Nils mach auf.“ Und wieder hört sie ihn erbrechen. Schade um die Pizza, findet sie. Endlich öffnet sich die Tür. Ruby erschreckt sich. Er sieht schlimm aus. Blass, die Augen tränen.
„Geht es wieder?“
„Nein, ich fühle mich mies.“ Er wankt zum Sofa.
„Wollen wir ins Krankenhaus?“, fragt Ruby. Sie fühlt sich nicht wohl, hat Angst um ihn.
„Nein, kein Krankenhaus, nie mehr.“ Er legt sich hin.
„Sie hätten ihre Pizza nicht so schnell essen sollen, das musste ja so kommen“, sagt Melissa besserwisserisch. Nils hört sie nicht mehr, er schläft.
„Mach dir keine Sorgen Schatz, ein bisschen schlaf und er wird wie neu sein“, prophezeit Melissa.
„Ich hoffe es.“ Besorgt schaut sie Nils an, achtet genau auf seine Atmung.
„Ich glaube, du gehst jetzt besser Mom, ich muss nach ihm sehen.“
„In Ordnung, wenn du etwas brauchst, ruf mich an.“
„Danke.“ Melissa küsst Ruby zum Abschied auf die Wange.
„Auf Wiedersehen Herr Krämer,“ sagt sie total unangebracht.
Was ist los mit ihm? Es muss die Pizza gewesen sein, den Kuchen hat er nur zur Hälfte aufgegessen. Aus dem Schlafzimmer holt sie die Decke und sein Kopfkissen. Mühsam schiebt sie seinen Kopf auf das Kissen. Gott, wie ist es möglich, dass ein Kopf so schwer ist. Liebevoll deckt sie ihn zu. Voller Sorge setzt sie sich auf den Lesesessel, dreht ihn so, dass sie ihn beobachten kann. Fluffy kommt und leistet ihr Gesellschaft auf ihrem Schoss. Ruby macht diese Nacht kein Auge zu, sie starrt unablässig auf Nils‘ Atmung und beobachtet wie die Decke sich im gleichen Rhythmus auf und ab bewegt. Als er gegen 7 Uhr aufwacht, ist sie schon oder immer noch wach.
„Hey“, sagt sie leise. Er stöhnt.
„Verdammt, mein Kopf.“
„Kopfschmerzen?“, fragt sie nach.
„Aber wie“, antwortet er flüsternd.
„Ich bring dir ein Glas Wasser und Schmerzmittel.“ Der Badezimmerschrank ist voll mit Medikamenten. Beide waren sie im letzten Jahr gute Kunden der Pharmaindustrie.
Sie drückt ihm das Glas und die Tabletten in die Hand.
„Himmel Nils, du siehst furchtbar aus. So kannst du nicht zur Arbeit gehen. Soll ich anrufen, dass du nicht kommst?“
„Nein, es geht schon.“ Behäbig steht er auf und fällt gleich wieder aufs Sofa. „Okay, es geht nicht.“
„Brauchst du etwas? Willst du etwas essen?“
„Um Himmelswillen nein, nicht essen.“ Nur bei der Vorstellung davon, etwas zu essen, wird ihm schlecht. Er schaut sie mit kleinen glasigen Augen an.
„Hast du diese Nacht geschlafen?“
„Nein, ich habe dich beobachtet.“ Er grinst sie liebevoll an.
„Du hast Fieber“, vermutet Ruby aufgrund seiner glasigen Augen. Sie steht auf, sucht das Fiebermesser, dass entweder in der Küche, im Bad, im Büro oder sonst irgendwo ist. Erleichtert findet sie es auf ihrem Schreibtisch, was auch immer es da zu suchen hat. Sorgenvoll misst sie die Temperatur. Er ist heiß im doppelten Sinne. Er glüht. „40,5 Grad. Scheiße Nils, das ist superhohes Fieber. Du musst zum Arzt.“
„Kein Arzt“, sagt er bockig. Und da wundert sich einer, weshalb wir so gut zusammen passen, bemerkt Ruby. Besorgt macht sie ihm kalte Wickel und legt gekühlte Waschlappen auf seine Stirn. Selig schläft er wieder ein, während Ruby vor Angst fast durchdreht. Nils schlummert beinahe den ganzen Tag, währenddessen versucht sie zu arbeiten, steht aber alle zehn Minuten auf, um nachzusehen, ob er noch atmet. Diese Angst, diese furchtbare Angst, ihn zu verlieren, sie ist so tief in ihr verankert. Gegen Abend wacht er auf. Sein Fieber ist weg, trotzdem sieht er erbärmlich aus.
„Hi“, sagt er verschlafen.
„Hi, wie geht es dir?“
„Hhmm besser, glaub ich. Noch etwas Kopfschmerzen, aber sonst geht es. Was zur Hölle war das?“, entgegnet er verwundert.
„Das passiert, wenn man meiner Mutter ins Gesicht rülpst“, grinst Ruby. Endlich kann sie entspannen. Und wie aus heiterem Himmel wird sie von einer schweren Müdigkeit überrollt. Sie hat die ganze Nacht kein Auge zugetan.
„Ja, das kann gut sein, ich werde es nie wieder tun. Du siehst auch nicht wirklich frisch aus“, bemerkt er.
„Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen wegen dir.“ Er sieht sie mitleidig an.
„Leg dich hin, ich komme alleine zurecht.“
„Nein, ich gehe erst etwas später, sonst wache ich mitten in der Nacht auf.“
Liebevoll hält sie seine Hand fest. „Ich hatte solche Angst um dich.“
„Du solltest doch langsam wissen, dass ich nicht so schnell kaputt gehe.“
Rubys Smartphone klingelt. Ihre Mutter.
„Was will sie denn schon wieder“, sagt Ruby genervt. Nils muss nicht fragen, er weiß, wer am anderen Ende der Leitung ist.
„Ja, Mom?“
„Hallo Schatz, ich wollte nur fragen, wie es deinem – ähm – Mann geht.“
„Es geht ihm besser, danke Mom.“
Stille in der Leitung, dann. „Das freut mich Ruby, ich habe mir Sorgen gemacht, er sah ja wirklich nicht gut aus gestern.“
„Nein nicht wirklich.“
„Soll ich noch vorbeikommen, brauchst du etwas?“
Um Himmelswillen, nein. „Nein Mom, alles okay hier, wir werden einen ruhigen Abend vor dem TV haben. Alles gut.“
„Okay, dann bis bald.“
„Tschüss.“
5. Mittwoch
Nils ist auf der Arbeit und Ruby sitzt nichts ahnend am Computer, konzentriert bearbeitet sie gerade ein Logo für eine Arztpraxis. Als
eine WhatsApp-Nachricht auf ihrem Smartphone eingeht. Nummer unterdrückt. Ein Foto und eine Nachricht, die zerstörender nicht sein könnte. „Dein Mann geht fremd.“ Auf dem Foto ist Nils zu sehen, wie er den Arm um eine langhaarige Blonde legt. Lachend spazieren sie durch die Stadt. Zugegeben, das Bild ist unscharf, aber Nils ist zweifellos erkennbar. Rubys Herz rast, sie sieht plötzlich alles verschwommen. Erschüttert zerfällt sie in tausend Einzelteile. Eine große dunkle Hand packt sie und zieht sie hinein in die Dunkelheit, in ihre Dunkelheit. Die verloren geglaubte Hölle der kleinen Ruby. Die Traurigkeit raubt ihr den Atem und die Kraft. Es ist ihr unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Leer und verzweifelt sitzt sie da und starrt auf den Bildschirm. Sie starrt immer noch auf den Bildschirm, als der Screensaver schon lange seine farbigen Runden dreht und Nils unbemerkt zur Tür reinkommt.
„Hey ist einer zuhause?“, fragt er und lächelt Ruby an. Als er sie sieht, vergeht ihm das Lachen.
„Was ist los?“, hakt er beunruhigt nach. Ruby sagt nichts, sie kann nicht. Emotionslos hält sie ihm ihr Smartphone mit dem Foto und der Nachricht vor die Nase.
„Verdammt was soll das?“, entgegnet er und klingt ehrlich erstaunt.
„Warum Nils?“, flüstert Ruby.
„Ruby, das bin nicht ich, also das bin ich, aber ich kenne diese Frau nicht, glaub mir bitte.“
Sie schaut ihn verloren an. Nils vermag ihren tieftraurigen Blick kaum aushalten. Er möchte ihre Hand halten, doch sie zieht sie weg.
„Ruby, irgendjemand hat es auf uns abgesehen, das Bild muss bearbeitet sein.“ Er starrt das Bild an und denkt nach. „Ich schicke es sofort zu unserem Computerspezialisten, der soll es auseinandernehmen.“
Ruby ist nicht mehr anwesend. Seit Langem hat sie wieder einmal Platz genommen in ihrer und Klein Rubys Hölle. Und auch ihr Vater beteiligt sich an dem gefürchteten Wiedersehen.
„Ach Ruby, kleine naive Ruby. Du dachtest, er wird dich für immer lieben, bis dass der Tod euch scheidet. Das gibt es im wirklichen Leben nicht. Nur in deiner kleinen abgedrehten Welt. Willkommen in der Wirklichkeit. Ein Mann braucht nun mal Abwechslung.“
„Ruby! Ruby! Hey, bist du hier? Ich gehe schnell duschen, okay. Danach reden wir.“ Er schaut sie an, steht auf und geht ins Bad.
Ruby richtet sich auch auf, sie muss raus. Es ist ihr egal, alleine rauszugehen, sie fühlt nichts, nur schwarz, dunkel, Trauer. Mit eiligem Schritt macht sie sich auf Richtung Park. Es ist ein milder Sommerabend, sie trägt ihre Jeans und ein weißes T-Shirt.
Nach einer Weile kommt Nils frisch geduscht aus dem Bad.
„Ruby? Hey, wo bist du? Verdammte Scheiße.“ Er ahnt es, sie ist weg. Eilig zieht er sich an und stürmt auf die Straße. Instinktiv geht er Richtung Park. Aus der Ferne nimmt er eine Menschentraube wahr, die einen Kreis um etwas oder jemanden am Boden bilden. Sein Herz schlägt schneller, er rennt los. „Bitte nicht, bitte nicht“, wiederholt er leise. Doch dann ist es traurige Gewissheit. Die Menschen stehen um Ruby, einige wenden sich ab.
„Was ist los? Was ist passiert? Ich bin Polizist, lassen sie mich durch.“ Mühsam kämpft er sich durch die glotzende Menschenansammlung. Es zieht ihm den Boden unter den Füßen weg, als er sie auf der Straße liegen sieht. Eine Blutlache hat sich um ihren Kopf gebildet, die Schulter blutet. Offensichtlich ist sie bewusstlos, oder … Er weigert sich daran zu denken.
„Hat jemand Hilfe gerufen?“, ruft er in die Menge. Eine Frau antwortet ihm aufgeregt.
„Ja, ich habe den Krankenwagen gerufen.“
„Was ist passiert? Hat jemand etwas gesehen?“
Ein Mann erhebt das Wort.
„Die junge Frau lief über die Straße, als ein Wagen direkt auf sie zuhielt, er bremste nicht. Sie hatte keine Chance. Der Fahrer ist geflüchtet.“
„Hat jemand das Nummernschild notiert?“, fragt Nils nach.
„Der Wagen hatte kein Nummernschild“, erwidert derselbe Mann aufgeregt. Nils schaut ihn ungläubig an.
„Ruby, hörst du mich?“ Keine Reaktion. Wird das je ein Ende haben, was läuft falsch in ihrem Leben. Das kann doch nicht normal sein. Erleichtert hört Nils die Sirenen. Er steht auf und treibt die Menschenmenge weg. Die Sanitäter kommen eilig herangeeilt. Er lässt sie ihre Arbeit erledigen. Sie lassen ihn im Krankenwagen mitfahren. Angestrengt blockiert er jeden Gedanken, der sich in seinem Kopf einnisten will. Nils kennt den Ablauf nur zu gut. Aus dem Krankenwagen raus und im Warteraum eine gefühlte Ewigkeit im Ungewissen verharren. Und genau da sitzt er jetzt. Alleine im Wartesaal. Was war geschehen? Wer hat dieses verdammte Foto gesendet? Wer hat Ruby überfahren? Es liegt auf der Hand, dass es jemand auf sie abgesehen hat. Aber wer und weshalb?
„Herr Kramer“, hört er eine ihm schon bekannte Stimme.
„Doktor Schröder.“ Der Arzt legt seine Hand behutsam auf Nils‘ Schultern.
„Ihre Frau hat ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Sie liegt im Koma.“ Nils muss sich setzen. Er kann die Tränen nicht zurückhalten, verzweifelt hat er versucht, sich dagegen zu wehren. Ungehemmt heult er los. Doktor Schröder fällt es sichtlich schwer, weiterzusprechen.
„Es kann sein, dass sie in einigen Stunden aufwacht, es kann sein, dass sie in ein paar Tagen aufwacht.“ Nils beendet seinen Satz in Gedanken. Es kann sein, dass sie nie mehr aufwacht.
„Wir tun alles in unserer Macht stehende, Herr Kramer.“
„Kann ich sie sehen?“, bittet Nils, obwohl er sich davor fürchtet.
„Morgen“, sagt der Arzt ruhig.
Nils bleibt im Wartesaal sitzen. Als er sich wieder etwas gefangen hat, ruft er Ralf an.
„Hey schöner Nils, was willst du?“, entgegnet Ralf gut gelaunt auf seinen Anruf.
„Ralf, ich bin im Krankenhaus.“
„Was ist los, Nils?“, fragt Ralf beklommen.
„Ruby, sie wurde von einem Auto angefahren.“ Er räuspert sich. „Sie liegt im Koma.“
„Scheiße Nils.“ Was ist los mit den beiden, lastet etwa ein Fluch auf ihnen, wundert sich Ralf ernsthaft besorgt. Obwohl er gar nicht an solche Sachen glaubt.
„Ich komme sofort.“
„Nein lass nur, ich wollte dich fragen, ob du Fluffy abholen kannst, du hast doch einen Schlüssel zu unserer Wohnung, oder?“
„Ja klar Nils, ich hol den Kleinen sofort ab. Ich komme danach zu dir ins Krankenhaus.“
„Nein, ich werde fragen, ob ich hier irgendwo schlafen kann.“
„Gut, aber morgen komme ich ohne Widerrede.“
„Danke Ralf.“
„Sie wird schon wieder.“ Nach allem, was sie durchgemacht hat, kann sie ja wohl nicht einfach so sterben, denkt Ralf.
6. Donnerstag
Doktor Schröder hat dafür gesorgt, dass Nils in einem freien Bett schlafen kann. Schlafen ist übertrieben. Seine Gedanken liefen im Non Stop Loop. Das Foto, wer hat das Foto gesendet? Er hat es zur Polizei geschickt, zu ihrem Computer Spezialisten. Er soll es sich genau unter die Lupe nehmen. Früh morgens steht er auf und begibt sich in die Intensivstation. Ein freundlicher junger Arzt fragt ihn, wen er besuchen möchte. Nils antwortet ihm. Das mitfühlende Gesicht des Arztes gefällt ihm gar nicht. Er führt ihn durch eine Schleuse in Rubys Zimmer. Nils muss sich setzen, der Anblick ist einfach nur herzzerreißend. Jede Menge Schläuche und Kabel überall an ihrem kleinen Körper. Um den Kopf ein Riesenverband. Der rechte Arm ist in einer Armschlaufe verborgen.
„Was ist mit ihrem Arm?“, fragt Nils vorsichtig.
„Der Oberarm und das Schlüsselbein sind gebrochen. Sie können mit ihr reden, wenn Sie wollen.“ Nils reibt sich sein Gesicht mit beiden Händen. Zögernd setzt er sich neben sie. Er hält ihre Hand, die einfach nur schlaff in seiner liegt.
„Ruby, komm zurück, okay? Komm einfach nur zurück.“ Er kann seine Emotionen nicht mehr kontrollieren und weint. Keiner beachtet ihn, die Ärzte und Pfleger auf dieser Station sind es gewohnt, der Trauer der Angehörigen ins Gesicht zu schauen. Er würde gerne schlafen, einfach schlafen, nichts denken, bis sie wieder aufwacht. Er muss raus hier. Traurig geht er ins Klinikrestaurant. Es ist schon 10 Uhr. Lustlos trinkt er seine Cola light und knabbert an einer Stulle. Da klingelt sein Smartphone. Es ist Peter von der Computerabteilung.
„Hallo Nils.“
„Hallo Peter, hast du etwas herausgefunden?“
„Ja, das Bild ist bearbeitet, ziemlich gut gemacht, da hat sich jemand mächtig ins Zeug gelegt. Sag mal, hast du Feinde?“
„Es scheint so, vielen Dank Peter, ich schulde dir etwas.“
„Ja, das tust du. Bye.“
Nils kommt auf keinen grünen Zweig. Was soll das? Und vor allem, wer steckt dahinter? Kaum hat er den Gedanken fertig gedacht, klingelt das Smartphone schon wieder. Oh nein, Melissa, Rubys Mutter. Ich muss es ihr sagen, denkt er. Nein, er wird Doktor Schröder darum bitten. Er kann es nicht.
Drei Stunden später sitzt er immer noch im Restaurant, gelangweilt surft er im Internet. Als er eine ihm bekannte Stimme wahrnimmt.
„Herr Krämer, was fällt ihnen ein, meinen Anruf nicht anzunehmen?“ Rubys Mutter in voller Größe und gewohnter Manier. Er antwortet nicht.
„Was ist denn jetzt schon wieder geschehen?“ Nils bleibt stumm, er schaut sie lediglich mit leerem, gleichgültigen Blick an.