Ruby Fairygale (Band 8) - Das Buch der vergessenen Wunder - Kira Gembri - E-Book

Ruby Fairygale (Band 8) - Das Buch der vergessenen Wunder E-Book

Kira Gembri

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Beschreibung

Der Zauber der Herrscherkrone Ruby lebt auf einer windumtosten Insel. Dort kümmert sie sich um verletzte Tiere und magische Fabelwesen … Auf Patch Island hat sich einiges verändert, und Ruby macht sich große Sorgen um ihre Freunde in der Feenwelt! Der Nachtelf Nocturno hat die Herrscherkrone an sich gerissen und sämtliche Portale an Land zerstört. Als es Ruby endlich gelingt, nach den Fabelwesen zu sehen, erwartet sie ein schrecklicher Anblick: Das Licht ist aus dem magischen Wald verschwunden. Banshees und Ghule treiben ihr Unwesen, und niemand scheint sich Nocturno zu widersetzen. Da stößt Ruby auf ein geheimnisvolles Buch, das alles verändert … Band 8 der spannenden Fantasyreihe zum Eintauchen in eine andere Welt. Im finalen Band dieser Fantasy-Reihe wartet ein neues Abenteuer auf Ruby und ihre Freunde. Voller Fantasie und untermalt von stimmungsvollen Illustrationen erzählt Bestseller-AutorinKira Gembri das letzte Kapitel der Geschichte für Kinder ab 10 Jahren. - Freundschaft, Fabelwesen und große Gefühle: Eine atmosphärische Reihe, die zum Wohlfühlen einlädt. - Humorvoll und spannend: Jedes Abenteuer von Ruby entführt in eine Welt voller Magie! - Besonderes Setting: Ruby lebt auf einer windumtosten irischen Insel. - Leseförderung mit Antolin: Der Titel ist bei Antolin gelistet und fördert spielerisch die Lesekompetenz.

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Seitenzahl: 297

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Langersehnter Besuch

Die Sorgen der Kobolde

Paradies für Todesfeen

Nocturnos Fluch

Mit Weintrauben ins Glück

Das verlorene Buch

Meerjungfrauen-Taxi

Unterwegs mit der Königstochter

Die Heilerin des Feenvolks

Ein gefährlicher Handel

Flucht auf Riesenschwingen

Eine gewaltige Hürde

Magische Post und ein großes Trara

Lawine aus Lügen

Hochzeitsfieber

Überraschungsgäste

Kein Frieden in Sicht

Mitten im Pookarudel

Ein schauriges Paket

Tausend Sorgen

Der letzte Streich

Es wird eng

Viel Liebe und Magie

Die ganze Wahrheit

Bitterböse Drohungen

Kampf um Patch Island

Hinter Gittern

Die Mächte des Meeres

Ein neuer Hoher Rat

Hochzeitsglocken und Ascheflocken

Noch eine Überraschung

Verhängnisvolle Post

Ein Ende und ein Anfang

1. KAPITEL

Langersehnter Besuch

Ich wusste nie genau, ob ich eigentlich abergläubisch war oder nicht. Natürlich glaubte ich an Fabelwesen und Magie, so wie an Schafe und Gummistiefel – ganz einfach, weil ich jeden Tag damit zu tun hatte. Doch wenn der alte Fergus seine typischen Vorträge über Glück und Pech vom Stapel ließ, musste ich meistens nur lachen.

Allerdings nicht an jenem Donnerstag, dem 31. Dezember.

„He, Kinder. Schon bemerkt?“, krächzte Fergus, als wir ihm vor der Bäckerei begegneten, und reckte einen Finger in die Luft.

„Was denn?“, fragte mein Bruder Flynn, der Schmuggel an der Leine hatte. Unser Wolfshund schaute drein, als wollte er sagen: Na toll. Stehen wir uns also mal wieder bei elender Kälte die Beine in den Bauch.

„Klebt da vielleicht irgendwas dran?“, erkundigte sich Noah und musterte Fergus’ Finger. Die Miene des Alten verdüsterte sich.

„Er meint die Wolke da oben!“, zwitscherte meine Feenfreundin Felicity. „Die, die an einen Kohlkopf erinnert – oder vielleicht auch an ein schrumpeliges Häschen. Oh, was für ein süßes Schrumpelhäschen!“

„Brumpelbläschen“, blubberte Bobby in meinen Armen und wackelte vergnügt mit der Schwanzflosse.

Nur ich hatte erraten, wovon der alte Fergus tatsächlich sprach. „Der Wind hat gedreht, hab ich recht?“, fragte ich beklommen. „Weht er jetzt nicht mehr aus Westen?“

„Nein. Es ist Ostwind“, knurrte Fergus. „Wenn sich das nicht bald ändert, können wir uns auf eine Wagenladung Pech gefasst machen! Denkt immer an den Spruch: Neujahrswind aus Westen, ja, das ist am besten! Neujahrswind aus Osten wird uns sehr viel kosten …“

Auch sein Kumpel Mr Ghul hatte etwas beizutragen. „Zerfall und Verderben. Elendiglich sterben“, röchelte er, und die zahme Möwe auf Fergus’ Schulter stieß ein unheilvolles Kreischen aus.

Flynn und Noah schnaubten im Chor. Mein Bruder war viel zu sachlich, um solche Dinge ernst zu nehmen, und Noah fand unsere irischen Bräuche oft einfach nur komisch. Mir hingegen war kein bisschen nach Spotten zumute. Völlig egal, aus welcher Richtung der Wind wehte – wir hatten es schon längst mit einer Wagenladung Pech zu tun! Nocturno, der fiese Nachtelf, hatte kurz vor Weihnachten die Herrscherkrone an sich gerissen und alle Portale im Feenwald ausgelöscht. Seit über einer Woche herrschte zwischen uns und der magischen Welt Funkstille. Was mochte inzwischen dort geschehen sein? Am liebsten wäre ich sofort durch das geheime Unterwasserportal geschwommen, um bei den Fabelwesen nach dem Rechten zu sehen. Leider waren Nana und Mam strikt dagegen, und auch sie selbst konnten diese Aufgabe nicht übernehmen. Schließlich besaß Nana keine magischen Fähigkeiten, und Mam hatte sich böse den Knöchel verstaucht … Doch zum Glück gab es jemanden, der für so eine Mission wie geschaffen war. Jemanden, dessen Ankunft ich kaum erwarten konnte!

Als hätte Kathleen meine Gedanken gelesen, lehnte sie sich in diesem Moment aus der Tür der Bäckerei. „Hallo, ihr Lieben!“, rief sie und zeigte uns eine volle Papiertüte. „Wieso steht ihr denn da draußen herum? Ich habe euch schon ein paar Stücke Früchtebrot eingepackt – mehr als sonst, weil ihr ja heute Besuch bekommt. Nicht wahr, Ruby?“

Dann fiel ihr Blick auf den alten Fergus, und ihr Lächeln wurde schmaler. Immer noch hielt Fergus seinen Finger in die Luft wie ein Schulkind, das eine dringende Meldung zu machen hatte. (Ein sehr grimmiges Schulkind. Mit grauen Bartstoppeln am Kinn.)

„Ach, du verbreitest wieder Panik“, sagte Kathleen und schnalzte rügend mit der Zunge. „Kann ich denn auch etwas für dich tun, mein allerbester Fergus?“

Endlich ließ der Alte seinen dürren Arm sinken. „Kathleen O’Sullivan“, blaffte er, „ich erwarte meine Silvester-Lieferung bis spätestens heute Abend: einen ganzen Laib Früchtebrot! Oder hast du das etwa vergessen?“

„Ich vergesse gleich meine guten Manieren, wenn du noch einmal davon anfängst!“, gab Kathleen zurück und reichte mir die Papiertüte. „Mit Essen wirft man nicht. Haben wir uns verstanden?“

Ich bezahlte und machte mich dann eilig aus dem Staub, um nicht in den alljährlichen Streit der beiden hineingezogen zu werden. Noah, Flynn und Felicity kamen mir verwirrt hinterher.

„Was sollte denn das schon wieder?“, fragte Noah und nahm mir Bobby ab, der sein Maul verdächtig nahe an das Kuchenpaket herangeschoben hatte.

„Es geht um einen Neujahrsbrauch“, erklärte ich, während ich mit meinen Gummistiefeln durch die Pfützen vom letzten Regen platschte. „Wenn man ein Brot gegen die Wände und Türen seines Hauses schmettert, soll das Glück für die nächsten zwölf Monate bringen. So ähnlich wie der Westwind, versteht ihr? Kathleen wird aber jedes Jahr sauer, wenn Fergus das macht.“

„Zu Recht! Man verschwendet doch keine von Kathleens Köstlichkeiten für so einen Quatsch!“, sagte Flynn mit gespielter Entrüstung.

„Erstens isst Fergus das Brot hinterher trotzdem, und zweitens …“ Ich stoppte und schaute niedergeschlagen zwischen den Jungs und Felicity hin und her. „Momentan würde ich auch fast alles tun, um noch mehr Pech von uns fernzuhalten. Egal, wie albern es wirkt. Ihr etwa nicht?“

Flynn stieß einen Seufzer aus. „Ich weiß, was du meinst“, gab er zu. „Es macht mich echt fertig, dass wir noch nicht mal einen Plan gegen Nocturno schmieden können. Wie soll das gehen, wenn wir keine Ahnung haben, was der Ekelelf gerade treibt?“

„Vielleicht ist er zur Vernunft gekommen“, piepste Felicity und senkte dann schnell den Kopf. Sie wusste selbst, dass von ihrem Onkel alles Mögliche zu erwarten war – aber bestimmt nicht das.

„Vielleicht wurde er von einem Ghul gefressen“, sagte Noah hoffnungsvoll.

„Vielleicht ist er –“, begann Flynn.

„DAD!“, kreischte ich, und die anderen starrten mich einen Moment lang ausgesprochen verdattert an, ehe sie meinem Blick zum Hoftor folgten. Dort wartete mein Vater André in seiner üblichen strammen Haltung auf uns. Ich stürmte los und warf mich in seine Arme. Das Kuchenpaket wurde zwischen uns beiden zerdrückt, aber das kümmerte mich nicht. „Du bist schon da!“, jubelte ich. „Wir hatten dich erst viel später erwartet!“

Ein bisschen linkisch schob Dad das Früchtebrot beiseite und zog mich an seine Brust. „Cormack hat mich vor wenigen Minuten am Hafen abgesetzt“, sagte er mit seinem leichten französischen Akzent. „Ich habe mein Gepäck auf dem Kutter zurückgelassen und bin sofort hergekommen, ma petite.“

Als ich zu ihm hochblickte, sah ich ein paar letzte schwarze Federn in seiner Haut verschwinden. Er hatte den Weg vom Hafen also in Vogelgestalt zurückgelegt, um möglichst schnell bei mir zu sein! Der Gedanke brachte mein Herz zum Hüpfen, und für einen kurzen Moment vergaß ich sogar meine Sorgen. Einfach, weil ich mich so sehr über unser Wiedersehen freute – nicht, weil Dad die Lösung unserer Probleme war.

Doch genau das war er! Und sobald wir uns aus unserer Umarmung gelöst hatten, fiel es mir wieder ein.

„Duhu, Dad“, begann ich vorsichtig. „Bist du eigentlich erschöpft von deiner Reise? Oder vielleicht hungrig?“

Mein Vater hatte eben die anderen begrüßt und wandte sich nun wieder zu mir. „Eigentlich nicht“, meinte er. „Die Überfahrt war sehr angenehm, und Cormack hatte ein riesiges Proviantpaket von seiner Frau dabei. Das haben wir uns zusammen auf seinem Kutter schmecken lassen. Aber der Kuchen in dieser Papiertüte duftet trotzdem verlockend …“

„Es ist Früchtebrot, und du bekommst ein extragroßes Stück, wenn du uns bei einer bestimmten Sache hilfst“, sprudelte ich hervor. „Bei einer Sache am Meer, genauer gesagt. Wir müssen jetzt sowieso zum Hafen, um dein Gepäck zu holen, hab ich recht?“

Neben mir schnalzte Flynn leise mit der Zunge. Das sollte wohl heißen: Kaum ist dein Dad angekommen, hast du schon eine magische Aufgabe für ihn. Aber er versuchte nicht, mich zu stoppen. Erstens machte er sich genauso große Sorgen um die Fabelwesen wie ich, und zweitens wusste er wahrscheinlich noch nicht so richtig, was er von meinem Vater halten sollte. Das letzte Mal, als er André in Menschengestalt gesehen hatte, war dieser noch unser Feind gewesen – und danach war Dad monatelang in Hundegestalt geblieben. Manchmal vergaß ich auch, dass Flynn nie einen Vater gehabt hatte. Sein eigener Dad war bereits vor seiner Geburt gestorben. Ein seltsamer Gedanke, dass Mam zu uns beiden gehörte, aber André nicht!

Mit leicht zusammengekniffenen Augen beobachtete Flynn, wie mein Vater sich auf dem leeren Hof zwischen unserem Wohnhaus, Nanas Praxis und der Tierpflegestation umschaute. „Nun ja, eigentlich wollte ich zuerst Keela und Cleo begrüßen“, sagte Dad zögernd. „Aber die beiden sind anscheinend beschäftigt. Dann kann ich mir genauso gut eine extragroße Portion Früchtebrot verdienen!“

„Super, danke!“ Aufgeregt wirbelte ich herum und eilte allen voran in Richtung Meer. Jetzt konnte es mir gar nicht schnell genug gehen! Unterwegs erzählte ich möglichst knapp, was in letzter Zeit alles passiert war, und Dad hörte schweigend zu. Mam hätte an seiner Stelle sicher mehrmals dazwischengerufen, Nocturno verflucht und tausend Fragen gestellt. Doch mein Vater sagte am Ende nur mit ruhiger Stimme: „Je suis partant.“

„Du bist was?“, fragte ich. Meine Französischkenntnisse passten leider auf einen Teelöffel.

„Dabei“, antwortete Dad schlicht. „Was auch immer notwendig ist, um diesem Tyrannen das Handwerk zu legen – ihr könnt auf mich zählen.“

Inzwischen hatten wir den Hafen erreicht, und beim Anblick des Ozeans lief ein freudiges Kribbeln durch meine Adern. Dabei wusste ich natürlich, dass es jetzt nur um die erste und allerkleinste Hürde ging. Nocturno auszuspionieren, war bestimmt ein Klacks im Vergleich dazu, diesen Ekelelfen ganz und gar loszuwerden. Aber zumindest unternahmen wir jetzt endlich was!

Ich zog Bobby aus Noahs Armen und blickte tief in seine Glubschaugen. „Ruf bitte eine Meerjungfrau zu uns“, sagte ich eindringlich. „Am besten gleich Una, die Älteste, ja?“

„Schmerjungblau herblommen“, hakte Bobby ernsthaft nach.

„Genau!“ Bäuchlings legte ich mich auf den Pier, um das kleine Seeungeheuer ins Wasser zu setzen. Ich hatte keine Angst mehr, dass Bobby einfach davonschwimmen könnte. Mittlerweile hatte er sich an den Ozean gewöhnt und durfte jeden Tag ein bisschen darin herumplanschen. Vergnügt schaukelte er auf den Wellen, das Maul knapp unter der Wasseroberfläche, und blubberte vor sich hin.

„Darf ich fragen, was dieses Wesen gerade tut?“, erkundigte sich mein Vater verwirrt.

„Er benutzt Wellenschall, seine angeborene Sprache“, erklärte ich und rappelte mich auf. „Seine Rufe reichen zwar nicht besonders weit, weil er noch so klein ist, aber irgendeine Meerjungfrau wird sie schon wahrnehmen.“

Und wirklich dauerte es nicht lange, bis eine glitzernde Schwanzflosse die Wellen durchbrach. Dann erschien ein Kopf … mit langen grünen Haaren.

Neben mir hörte ich Noah etwas murmeln, das wie „Verflixtes Ostwindpech“ klang. Bobby hatte nicht einfach irgendeine Meerjungfrau herbeigelockt, sondern ausgerechnet Dads frühere Gefangene Fiona! Mit kreidebleichem Gesicht starrte sie zu uns hoch und stotterte: „W…was hat der denn bei euch zu suchen?“

Ich ließ mich auf die Knie fallen und streckte beschwichtigend die Hände aus. „Er ist mein Vater, und du musst keine Angst vor ihm haben. Was damals passiert ist, tut ihm schrecklich leid!“

Dad räusperte sich verlegen, doch Fiona kam ihm zuvor. „Du meinst, er wollte mich damals gar nicht einsperren und mit einem ekligen, magiebetäubenden Mittel besprühen?“, fragte sie schrill. „Das war alles nur ein Versehen?!“

„Nein, aber er hat sich geändert“, beteuerte ich. „Jetzt will er uns beim Kampf gegen Nocturno helfen! Dafür musst du ihn nur durch euren geheimen Tunnel in den Feenwald führen. Ich würde es ja selbst tun, wenn Nana und Mam es mir nicht verboten hätten …“

„Niemals!“ Fiona schlug so heftig mit ihrer Schwanzflosse, dass Bobby erschrocken quiekte. „Ich werde diesen Feind der Magie auf gar keinen Fall durch unser Reich schwimmen lassen. Nicht, solange das Meer salzig ist!“

Und mit diesen Worten verschwand sie in den Tiefen des Ozeans.

2. KAPITEL

Die Sorgen der Kobolde

Eine Stunde später saßen wir dicht gedrängt um den Esstisch in unserer gemütlichen Stube. Wir hatten Dads Gepäck ins Haus geschleppt und Mam und Nana alles erzählt. Jetzt starrten wir ratlos in unsere Tassen.

„Ah, dieser Duft“, sagte Dad nach einer Weile, um unser beklommenes Schweigen zu brechen, und schnupperte genüsslich an seinem Tee. „Der ist für mich nicht mehr wegzudenken!“

„Trinkst du denn auch in Frankreich immer Spezialtee?“, wollte ich wissen.

„Natürlich, ma petite: aus Salbei, Schafgarbe und Brennnessel. Genau, wie du es mir beigebracht hast!“

„Aber wahrscheinlich trinkst du ihn aus vergoldeten Tassen“, brummelte Mam.

„Pardon?“, fragte Dad mit einem höflichen Lächeln.

„Ach, nichts.“ Mam goss sich noch ein bisschen Tee nach – allerdings auf ihren Teller statt in ihre Tasse. Sie bemerkte ihren Fehler und griff nach einer Scheibe Toast, um die Sauerei wegzuwischen. Dann lehnte sie den Toast zum Trocknen gegen die Teekanne. Dads Besuch brachte sie offenbar ganz durcheinander!

„Was sollen wir denn jetzt tun?“, fragte Flynn, der Mams Benehmen kopfschüttelnd beobachtet hatte. „Fiona hat sich nicht so angehört, als würde sie nur eine leere Drohung aussprechen. Ich wette, sie hat den anderen Meerjungfrauen längst gesagt, dass sie André nicht durch ihr Reich lassen dürfen!“

„Im Moment können wir leider gar nichts tun“, meinte Nana und tippte nachdenklich gegen ihren einzelnen Ohrring. „Fionas Misstrauen ist ja berechtigt. Entschuldige bitte, André, aber dein Verhalten damals war unter aller Kanone. Wir können uns nur bemühen, den Meerjungfrauen zu zeigen, dass man dir jetzt vertrauen kann.“

„Ich weiß auch schon, wie“, zwitscherte Felicity aufgeregt. „Heute Nacht werden doch die verschiedensten Wesen zusammen Silvester feiern: Pookas, Feen, Kobolde, ein Ghul … und vielleicht kommen auch ein paar Selkies zur Party! Wenn Rubyleins Dad mitmacht und die Meerjungfrauen erfahren, wie friedlich alles war, können sie ihn nicht mehr für einen ‚Feind der Magie‘ halten!“

„Gute Idee“, sagte Dad. „Ich möchte ohnehin an allem teilnehmen, was zu einem Neujahrsfest auf Patch Island gehört.“

„Ach ja?“ Mam verschränkte herausfordernd die Arme. „Nach irischem Brauch muss aber vor den Feierlichkeiten das Haus blitzblank geputzt werden – ohne die Hilfe von Dienstboten, versteht sich. Und weil man das neue Jahr mit vollem Bauch beginnen soll, kochen wir anschließend ein Festmahl. Bist du denn auch dazu bereit?“

Dad lächelte. „Du vergisst, dass ich Pharmazeut bin“, sagte er sanft. „Sauberkeit gehört zu meinem Beruf. Und ich habe früher oft für dich gekocht, weißt du nicht mehr, Keela?“

Mam erwiderte nichts. Stumm griff sie nach dem teegetränkten Toast und aß ihn auf.

In den folgenden Stunden zeigte Dad, dass er sein Versprechen absolut ernst meinte. Er schrubbte das Haus fast ebenso gründlich, wie Mrs Silverton es getan hatte – nur, dass er dabei wesentlich netter wirkte. Mam lag auf dem Sofa, den verletzten Fuß auf einem Kissen, und schaute ihm stirnrunzelnd zu. Als wir mit dem Putzen fertig waren, schälte Dad fleißig Kartoffeln für Colcannon, einen buttrigen Eintopf mit Frühlingszwiebeln und Kohl. Auf Patch Island war es üblich, dass am Silvesterabend alle erst mal zu Hause blieben und sich mit ihren Lieblingsspeisen die Bäuche vollschlugen. Erst später würden wir kreuz und quer über die Insel spazieren, die anderen treffen und ihnen ein gutes neues Jahr wünschen. Aber natürlich hatte sich bereits herumgesprochen, dass Dad hier war. Solche Neuigkeiten machten auf Patch Island schneller die Runde, als ein Kobold eine Tüte Bonbons leer futtern konnte.

„Ich geh schon!“, rief ich mit einer bösen Vorahnung, als es am frühen Nachmittag klingelte. Leider folgte mir Dad zur Tür, und so wurde er im nächsten Moment von mehreren Inselbewohnern angeglotzt.

„Wir wollten nur sehen, ob die Gerüchte wahr sind“, flötete Tratschtanten-Tilda und strahlte über das ganze Gesicht. „Mr Lavall, ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie so … so gut aussehen! Sagen Sie, ist Ihre Haarfarbe echt?“

Vor Scham wäre ich am liebsten im Boden versunken.

„Ja, in der Tat. Dunkle Haare sind bei den Lavalls üblich“, sagte Dad. „Ruby kommt da ganz nach ihrer Mutter.“

„Offensichtlich!“, rief Tilda entzückt. „Sie müssen nachher unbedingt bei mir vorbeischauen, um auf das neue Jahr anzustoßen. Aber Ruby, Schätzchen … du weißt schon.“

„Anschließend kommen Sie bitte zu mir“, mischte Brenda sich ein. „Und Ruby, dich und deine Mam sehe ich später, ja?“

„Kurz nach Mitternacht bei mir, Mr Lavall“, krächzte Fergus, ehe er mir einen stechenden Blick zuwarf. „Fräulein Fairygale – wehe.“

Noch ein paar weitere Einladungen für Dad und Ermahnungen an mich wurden ausgesprochen, dann marschierte das Grüppchen davon. Dad blieb wie vom Donner gerührt in der offenen Haustür stehen. „Na, die sind ja sehr gastfreundlich“, sagte er. „Oder habe ich etwas falsch verstanden?“

Da musste ich trotz aller Peinlichkeit lachen. „Tut mir leid, denen geht es nur wieder um einen irischen Aberglauben. Wenn als erste Person im neuen Jahr ein dunkelhaariger Mann das Haus betritt, soll das Glück bringen. Ein rothaariges Mädchen dagegen wäre eine absolute Katastrophe. Darum bitten sie mich jedes Jahr, bloß nicht zu früh aufzutauchen!“

„So was Dummes“, schimpfte Mam, die ihren Kopf aus der Stube streckte. „Ich musste zum Jahreswechsel auch immer in meinem Zimmer hocken, weil ich rothaarig bin. Das hat mich sogar noch mehr geärgert als die Sache mit Efeu und Mistel …“

Sie brach ab, doch natürlich fragte Dad: „Was für eine Sache mit Efeu und Mistel?“, und Mam sagte mit Todesverachtung: „Angeblich träumt eine junge Frau in der Neujahrsnacht von ihrem zukünftigen Ehemann, wenn sie so ein blödes Grünzeug unter ihr Kopfkissen legt.“

„Ich finde, das klingt nach einem sehr netten Brauch“, meinte Dad, und seine Augen funkelten fast wie Noahs, wenn der mich neckte. „Soll ich diese Pflanzen gleich mal für dich besorgen? Schließlich habe ich versprochen, bei allem zu helfen.“

„Untersteh dich!“ Mam warf schnaubend ihren tomatenroten Zopf nach hinten. „Ich werde sowieso niemals heiraten. Und Träume haben rein gar nichts zu bedeuten!“

„Haben sie wohl! Hier stinkt es nach Kohl!“

Verdutzt schauten wir alle durch die offene Tür nach draußen. Mitten auf dem Hof standen die Kobolde Giddy, Paddy und Fitz. Der erste versuchte, dem zweiten den Mund zuzuhalten, und der dritte versteckte irgendetwas hinter seinem Rücken.

„Äh, ich meine“, nuschelte Paddy an Giddys Fingern vorbei, „einfach weiterstreiten. Ihr sollt uns nicht hören, wir wollen nicht stören …“ Und mit engelsgleichen Mienen trippelten die drei rückwärts zum Hoftor. Fitz pfiff dabei sogar vor sich hin, als wäre er die Unschuld in Person.

Mam und Dad kauften ihnen dieses Schauspiel tatsächlich ab. Sie kannten die Kobolde eben nicht so gut wie ich! Schulterzuckend gingen sie wieder zu den anderen, während ich blitzschnell in meine Gummistiefel schlüpfte. „Bin gleich zurück!“, rief ich, dann stürmte ich den Kobolden hinterher.

Auf einem Hügel neben unserem Hof holte ich sie ein. Sie hatten einen länglichen Gegenstand in die matschige Wiese gestellt und schienen sich miteinander zu beraten. Als ich näher kam, erkannte ich eine Flasche – eine, die ich schon unzählige Male gesehen hatte.

„Das darf nicht wahr sein!“, japste ich, während ich die letzten paar Schritte den Hügel hinaufrannte. „Habt ihr die etwa bei uns geklaut?!“

Die Kobolde stoben auseinander. „Nicht doch! Nein, nein!“ – „Kann gar nicht sein!“ – „Dort fliegt ein Schwein!“, versuchten sie hektisch, mich abzulenken. Ich schnappte mir die Flasche und hielt sie anklagend in die Luft. Auf dem Etikett stand in Nanas Handschrift Husten- und Fiebersaft.

Unter meinem strengen Blick sanken die drei ein bisschen in sich zusammen. „Also ja, also schön“, krähte Fitz schließlich. „Hab mich dran erinnert, dass mir die Menschenfrau diesen Trank gegeben hat, als ich Li-La-Lungenentzündung hatte. Und da dachte ich …“

„… ihr könntet so was auch einfach zum Spaß trinken?“, beendete ich fassungslos seinen Satz.

Die Kobolde schüttelten so heftig die Köpfe, dass ihre Hüte wackelten. „Kein Spaß in Sicht! Wir scherzen nicht!“, klagten sie – und da war es mit meiner Empörung schlagartig vorbei. Wenn Kobolde nicht zum Scherzen aufgelegt waren, musste die Lage wirklich ernst sein!

„Die Medizin ist für Oldie Goldie“, platzte Paddy heraus. „Sie ist die älteste Koboldfrau aus dem Clan der Kratzbärte. Sozusagen die Oma von uns allen! Als es in der magischen Welt immer kälter wurde, hat sie einen gar gruselig-grauseligen Husten bekommen. Und jetzt haben wir geträumt, dass es ihr noch viel schlechter geht!“

„Nur keine Panik“, versuchte ich, ihn zu beruhigen. „Ihr habt ja gehört, was meine Mam vorhin gesagt hat: Träume bedeuten überhaupt nichts.“

„Die Träume von unsereinem schon, jawohl“, beharrte Paddy, und die anderen beiden riefen im Chor: „Träumt ein Kobold hell und klar, sind die Träume meistens wahr!“

Nachdenklich knabberte ich an meiner Unterlippe. Konnte es sein, dass Kobolde hellseherische Fähigkeiten besaßen, so ähnlich wie Meerjungfrauen und Feen? Wenn ich ehrlich war, verband ich mit den kleinen Kerlen nur Streiche und Quatschgedichte. Aber vielleicht hatte ich ihnen damit Unrecht getan …

„Gehen wir mal davon aus, dass das stimmt“, sagte ich zögernd. „Wie hättet ihr die Medizin denn zu Oldie Goldie bringen wollen? Portale gibt es ja nur noch unter Wasser, und ich bezweifle, dass ihr so gut schwimmen könnt!“

Da fing Paddy an zu weinen. Dicke Tränen kullerten über seine Wangen und versickerten in seinem orangefarbenen Bart. „Das ham wir nicht bedacht! Der Plan war schlecht gemacht! Drum wird niiie mehr gelacht“, wimmerte er und zog lautstark die Nase hoch. Auch die anderen sahen aus, als wären sie den Tränen nahe. So aufgewühlt hatte ich die Kobolde noch nie zuvor erlebt! Bestürzt schaute ich zwischen ihnen hin und her, dann fasste ich einen Entschluss.

„Hört zu“, sagte ich leise. „Wenn ihr mir erklärt, wo ich Oldie Goldie finden kann, werde ich euch helfen. Fest versprochen, okay? Ich schwimme heimlich in die magische Welt und bringe ihr die Medizin.“

Vor Verblüffung hörte Paddy schlagartig zu weinen auf. Mit kugelrunden Augen starrte er zu mir hoch und wisperte: „Das würdest du wagen? So ganz allein?“

„Ich kann noch jemanden fragen – mein Brüderlein!“, verkündete ich, und dann freute ich mich über den begeisterten Jubel der Kobolde. Erst etwas später dämmerte mir, dass Flynn meinen Plan wohl nicht ganz so „wi-wa-wundervoll“ finden würde wie die drei.

3. KAPITEL

Paradies für Todesfeen

Kleine Schwester“, sagte Flynn bedächtig, „du spinnst doch komplett.“ Mit hochgezogenen Schultern starrte er auf die Wellen, die vor uns ans Ufer klatschten. Seine Lust, in dieses eisige Nass zu tauchen, hielt sich eindeutig in Grenzen.

„Du brauchst nicht mitzukommen, wenn du nicht willst. Zu zweit wär’s vielleicht praktischer, aber ich schaff das auch allein“, entgegnete ich. Dabei vergewisserte ich mich noch einmal, dass der Hustensaft sicher in meiner Jacke verstaut war. Als Tier konnte ich keinen Rucksack tragen, doch Tascheninhalt verwandelte sich normalerweise samt der Kleidung in Federn, Schuppen oder Fell.

„Natürlich komme ich mit!“ Flynn verdrehte die Augen. „Ich finde nur, wir sollten die Meerjungfrauen um eine Blasenkutsche bitten. Dann könnten uns auch Noah und Felicity begleiten – die werden sowieso nicht begeistert sein, wenn wir das hinter ihrem Rücken machen. Oder noch besser: Die Kobolde reisen selbst zu ihrer Oma!“

„Glaubst du wirklich, die Meerjungfrauen lassen sich heute ein zweites Mal von uns herbeirufen? Noch dazu, nachdem Fiona sich so aufgeregt hat?“ Ungeduldig trat ich von einem Fuß auf den anderen. „Nein, wir müssen das ohne ihre Hilfe erledigen. Die Kobolde sollen sorgenfrei ins neue Jahr starten können. Das habe ich ihnen versprochen, und wir haben das Versprechen feierlich besiegelt!“

„Und zwar wie?“, erkundigte sich Flynn.

„Mit ein paar sehr nassen Koboldküssen.“

„Ach, deswegen hast du Schnodder an der Wange.“ Flynn verzog das Gesicht, dann gab er sich einen Ruck. „Also schön, aber beeilen wir uns lieber“, brummte er und kniete sich hin. „Wenn wir zu lange wegbleiben, merken die anderen, dass wir nicht einfach nur Bonbons kaufen gegangen sind.“ Er legte eine prall gefüllte Papiertüte in den Sand, und ich fischte schnell ein paar Früchtedrops heraus. Nichts konnte einen kranken Kobold besser aufheitern als Süßigkeiten! Kaum hatte ich die Drops in die Tasche gesteckt, wechselten Flynn und ich die Gestalt. Mein Kopf sank immer tiefer, und gleichzeitig schien die Winterkälte um mich herum zu schwinden: Ich hatte dichtes Fell und eine ordentliche Fettschicht bekommen.

Neben mir hob Flynn auffordernd die Schnauze. ‚Nach dir‘, sagte er in Tiersprache, und ohne zu zögern, robbte ich los. Als ich kopfüber in die Fluten tauchte, hatten sich meine Ohren und Nasenlöcher bereits fest verschlossen. Das passierte ganz von allein, genau wie das Schwimmen. Kaum zu glauben, dass ich mich mein Leben lang vor dem Ozean gefürchtet hatte! Als Seehund fühlte ich mich unter Wasser stark und frei, und über das Luftholen musste ich mir erst in einer Viertelstunde wieder Gedanken machen. Zielstrebig schoss ich durch die Wellen, vorbei an Korallen, Felsen und schaukelnden Wasserpflanzen. Zum Glück erinnerte ich mich noch genau an den Weg, den wir einschlagen mussten. Als wir uns dem Portal näherten, drehte ich mich auf den Rücken, weil ich den Meeresgrund auf diese Weise besser im Blick hatte.

‚Sobald wir da durchgeschwommen sind, müssen wir aufpassen, dass uns niemand erwischt‘, warnte ich Flynn. ‚Die Meerjungfrauen sind heute bestimmt nicht gut auf uns zu sprechen. Und in ihrem Reich ist es strahlend hell!‘

‚Wird schon schiefgehen‘, hörte ich meinen Bruder murmeln. Dicht nebeneinander tauchten wir zu dem kreisrunden schwarzen Fleck, der in einem Feld aus Seetang klaffte. Ich machte mich darauf gefasst, dass das Wasser gleich viel wärmer sein würde – fast zu warm für Seehund-Rubys Geschmack. Außerdem würde ich die riesigen, schillernden Blasen wiedersehen, in denen sich Selkies und Meerjungfrauen zum Ausruhen niederlassen. Dazwischen schwammen bestimmt Tausende von Glitzerfischen umher, und goldene Sonnenstrahlen fielen bis auf den Meeresgrund …

Doch auf der anderen Seite des Portals war nichts, wie ich es in Erinnerung hatte. Erschrocken starrte ich durch das grünliche Dämmerlicht, das uns umgab. Hier war es mindestens so kalt und dunkel wie im Meer der Menschenwelt! Nur mit Mühe konnte ich das Korallenriff erkennen, an dem die riesigen Blasen hingen. Nichts glitzerte oder schillerte, und sämtliche Bewohner dieses magischen Reiches blieben in der Finsternis verborgen.

‚Das … das verstehe ich nicht‘, stammelte ich. ‚Schon klar, Nocturno hat den Banshees kalte, dunkle Nächte versprochen, damit sie sich auf seine Seite stellen. Aber ich dachte, zumindest tagsüber dürften die Feen wieder für mehr Licht und Wärme sorgen!‘

‚Ein Gutes hat die Sache‘, hörte ich Flynns Stimme leise in meinem Kopf. ‚So fallen wir wenigstens nicht auf.‘ Er begann, dicht am Meeresgrund entlangzugleiten, und mit seinem schwarzen Fell war er wirklich fast unsichtbar. Ich schaffte es nicht, mich darüber zu freuen. Mein Herz, das bisher ruhig und gleichmäßig geschlagen hatte, trommelte auf einmal viel zu schnell. Die ganze Zeit hatte ich mich gefragt, ob ich Angst um die magische Welt haben musste … Nun gab es daran keinen Zweifel mehr.

Es dauerte eine Weile, bis wir den Tunnel zum Feenwald gefunden hatten. Als wir durch den glitschigen Schacht aufwärts schwammen, wurde mir die Atemluft bereits knapp. Endlich durchbrachen wir die Wasseroberfläche – und im nächsten Augenblick hörten wir jemanden rufen: „Halt! Habt ihr das gehört?“

Ein eisiger Schreck peitschte durch meine Adern. Blitzschnell zog ich den Kopf ein, bis nur noch mein Gesicht aus dem Wasser ragte. Neben mir war Flynn in genau derselben Haltung erstarrt. Die Frauenstimme hatte schrill und trotzdem heiser geklungen, wie rostige Ketten, die aneinanderrieben. Das musste eine Banshee gewesen sein!

„Natürlich haben wir das gehört. Unsere Ohren sind garantiert besser als eure“, antwortete jemand mit einer viel zarteren Stimme – eindeutig eine Fee. „Das war wohl eine dieser widerlichen Schlangen, die im Schlickschleimbrunnen leben. Von denen möchte ich mich ganz bestimmt nicht nass spritzen lassen!“

„Nichts wie weg hier“, sagte eine andere Fee. „Diese Gegend ist sogar noch schlimmer als der restliche Wald.“

Gellendes Lachen ertönte. Es hörte sich an, als sausten drei oder vier Banshees gackernd zwischen den Bäumen umher. Beobachten konnte ich sie nicht, weil mir die Brunnenwände die Sicht versperrten, aber ihr Gelächter wechselte mehrmals die Richtung. Dann höhnte eine der Banshees: „Sagt bloß, euch gefällt nicht, was aus eurem entzückenden Wald geworden ist? Denkt daran: Es geschah alles auf Anordnung von König Nocturno!“

„Finster und kaaaalt im magischen Waaaald“, sangen die anderen Banshees im Chor, und ich war froh, dass ich meine Ohren verschließen konnte. So wurde das Gekreische wenigstens ein bisschen gedämpft.

„Wie auch immer“, hörte ich eine der Feen undeutlich sagen. „Diese Gegend wurde ordnungsgemäß durchsucht, und damit hat sich die Sache. Wir fliegen jetzt nach Hause.“

„Ja, fliegt ihr nur! Beeilt euch, sonst verpasst ihr womöglich ein Gänseblümchenfest!“, spottete eine Banshee, und ihre Freundinnen gackerten wieder drauflos. Trotzdem klang es, als hätten sie sich den Feen angeschlossen. Ihre Stimmen wurden immer leiser, dann kehrte Stille ein.

Flynn reckte den Kopf über den Brunnenrand. ‚Sie sind weg‘, meldete er. ‚Aber … das wird dir nicht gefallen.‘ Mit einem kräftigen Schlag seiner Hinterflossen sprang er aus dem Wasser, und ich beeilte mich, ihm zu folgen. Doch als ich die Umgebung im Blick hatte, wäre ich am liebsten gleich wieder abgetaucht.

Das war nicht der magische Wald, wie ich ihn kannte. Es war die perfekte Kulisse für einen Gruselfilm! Fassungslos starrte ich auf die skelettartigen Bäume, die kein einziges Blatt mehr trugen. Auch Blumen oder grüne Sträucher waren nirgends zu sehen. Nur hier und da wölbten sich Pilze wie Eiterbeulen aus dem toten Laub, und darüber waberte kalter Nebel.

Mein Schock hielt nicht lange an. Im nächsten Moment packte mich die Wut, und ich merkte kaum, wie ich dabei in meine Menschengestalt zurücksprang. „Der Ekelelf hat sie ja nicht mehr alle!“, zischte ich. „Wenn er den Feen keine Naturmagie erlaubt, wird sich der Wald niemals erholen. Aber Hauptsache, man feiert im Palast immer noch Blümchenfeste!“

Flynn hatte sich nun ebenfalls zurückverwandelt. „Ich schätze, mit den Festen hält Nocturno seine Artgenossen bei Laune“, sagte er leise. „Auch die Banshees haben einen zufriedenen Eindruck gemacht, und was aus den übrigen Fabelwesen wird, ist dem König egal.“

Ich schluckte, während ich meinen Blick wieder über die modrige Umgebung wandern ließ. Es stimmte: Das hier war ein Paradies für Todesfeen. In der Banshee-Abteilung der magischen Pflegestation sah es ganz ähnlich aus! Aber alle anderen Wesen litten bestimmt sehr unter der ungewohnten Kälte. „Die Kobolde hatten recht“, sagte ich, „wir müssen dringend nach ihrer Großmutter sehen! Wie haben sie den Weg noch gleich erklärt? Vom Brunnen führt ein Pfad bergab …“

„… macht bloß nicht vor dem Felsbaum schlapp“, ergänzte Flynn, „dem höchsten Baum im ganzen Wald. Geht links durchs Dickicht – bückt euch – halt!“

„Also los.“ Schweigend stapften wir durch das matschige Laub, und ich war froh, dass die Kobolde uns einen klaren Anhaltspunkt geliefert hatten. Der Felsbaum war zwar genauso kahl geworden wie der restliche Wald, aber er überragte die anderen Bäume bei Weitem. Das beschriebene Dickicht hingegen war schwierig zu finden, weil es sich in ein Wirrwarr aus nackten Zweigen verwandelt hatte. Wir zwängten uns hindurch, dann standen wir auf einer kleinen Lichtung. Giddy, Paddy und Fitz hatten erzählt, dass die Kratzbärte hier gern Lagerfeuer machten, ausgelassen tanzten und jede Nacht unter dem Sternenhimmel schliefen. Doch jetzt war niemand zu sehen.

Erschrocken hob ich einen winzigen grünen Hut vom Boden auf. „Wir sind zu spät“, flüsterte ich. „Bestimmt ist den Kobolden etwas Schreckliches zugestoßen. Sie wurden von Banshees überfallen, oder Ghule haben sie –“ Ich brach ab, als Flynn den Kopf zur Seite wandte. Dann hörte ich es auch: ein hohes Keckern, das von einem Zischen beendet wurde.

Mit klopfendem Herzen drehte ich mich im Kreis. „Hallo?“, rief ich leise. „Ist hier jemand vom Clan der Kratzbärte?“

Keine Antwort. Es war genauso still wie bisher, aber diese Stille kam mir nun irgendwie verändert vor. Gespannt und lauernd. Fast, als hielten viele kleine Wesen den Atem an …

„Wir kommen in Frieden!“, sagte Flynn, was nicht gerade überzeugend klang. Wahrscheinlich hätte ein Palastwächter genau dasselbe gesagt, um die Kobolde aus ihrem Versteck zu locken.

„Wir müssen ihnen beweisen, dass sie keine Angst zu haben brauchen“, wisperte ich. „Geben wir ihnen ein Zeichen. Etwas, das nie von einer Fee oder Banshee kommen würde, sondern nur von einem echten Koboldfreund!“

„Was soll das sein?“, wisperte Flynn zurück. Mein schlauer Bruder wirkte ausnahmsweise vollkommen ratlos. Er ahnte nicht, dass ich eine ganz besondere Fähigkeit besaß. Eine, von der ich noch niemandem erzählt hatte!

Kerzengerade richtete ich mich auf, um einen tiefen Atemzug zu machen. Ich ließ so viel Luft wie möglich in meinen Körper strömen, schluckte angestrengt … und rülpste.

Das Geräusch klang in der Stille des Waldes mindestens doppelt so laut. Flynn vollführte vor Schreck einen Hopser und starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Sekundenlang fühlte ich mich wie der größte Schwachkopf aller Zeiten, bis ein Pfeifen und Klatschen ertönte.

Eindeutig Applaus!

„Der war gut, Mädel“, krächzte jemand, und ein anderer grölte: „Gut gerülpst ist halb verdaut! Wer rülpst, verdient, dass man ihm traut!“ Dann raschelte es, Laub flog beiseite, und winzige Gesichter grinsten uns aus einer Erdhöhle heraus an.

4. KAPITEL

Nocturnos Fluch

Flynn und ich lagen platt auf dem Bauch und spähten in das Loch. Längst war meine Hose von der Feuchtigkeit des Waldbodens durchnässt, aber das spürte ich kaum. Ich war viel zu glücklich, dass wir die Kobolde gefunden hatten! Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich, Einzelheiten in der dämmrigen Höhle zu erkennen. Ein Moosteppich bedeckte den Boden, und entlang der Wände lagerten Nüsse und getrocknete Beeren. Allerdings klafften zwischen diesen Vorräten große Lücken, und ich vermutete, dass im Wald nicht mehr viel Essbares zu finden war.

In einer Hängematte aus Wurzeln schaukelten ein paar Koboldkinder, die uns ebenso fasziniert anstarrten wie wir sie. Direkt unter ihnen hockten Erwachsene und tranken ein Gebräu aus umgedrehten Eichelhütchen. Viele Kobolde waren offensichtlich erkältet: Sie hatten rote Schniefnasen und Wickel aus Blättern um den Hals. Am schlimmsten stand es eindeutig um ein schrumpeliges Persönchen mit weißen Zottelhaaren, das auf einem großen Pilz in der Mitte des Raumes lag. Ich brauchte gar nicht erst zu fragen, ob das Oldie Goldie war. Die Koboldfrau stieß ein bellendes Husten aus und rief dann mit einer derart krächzenden Stimme, dass sie sogar dem alten Fergus Konkurrenz machen konnte: „Wildschweinpups und Marderpo, was glotzt ihr Feenkinder so?“

„Wir sind Pookas“, verbesserte Flynn, und ich fügte hastig hinzu: „Wir bringen Geschenke aus der Menschenwelt. Mit lieben Grüßen von Giddy, Paddy und Fitz!“

Da hellte sich Oldie Goldies Miene auf. „Ihr kommt aus der Menschenwelt?“, raunte sie, und ihre schwarzen Äuglein funkelten neugierig. „Ich hör wohl schlecht. – Wie geht das? Sprecht!“

Ich zögerte kurz, dann beschloss ich, die Kobolde einzuweihen. Immerhin hatten sie auch uns ihr Vertrauen geschenkt. „Der Schlickschleimbrunnen führt zu einem Portal unter Wasser“, sagte ich beinahe im Flüsterton. „Aber die Meerjungfrauen wollen nicht, dass jeder davon weiß.“

Zu meiner Verblüffung kam von der alten Koboldfrau ein amüsiertes Keckern. „Hätt ich mir denken können, dass so ein schön schleimiger Ort ein wi-wa-wunderbares Geheimnis in sich birgt“, stellte sie zufrieden fest. Ihre Laune wurde sogar noch besser, als ich den Hustensaft hervorholte. Sie schnippte mit den Fingern, und sofort wuselte ein junger Kobold auf uns zu, um den Saft in Empfang zu nehmen. Er servierte ihn mitsamt einem Eichelhütchen, aber die Alte trank lieber direkt aus der Flasche.

„BÄH!“ Angewidert prustete Oldie Goldie den Saft bis zur Hängematte hinauf, was die Koboldkinder zum Jauchzen brachte. „Was ist denn das für ein Gesöff? Hätten Giddy, Paddy und Fitz mir nichts Besseres aus der Menschenwelt schicken können, verwurmt und vermodert noch mal?“

„Bonbons haben wir auch dabei“, sagte ich höflich und reichte die Früchtedrops durch die Höhlenöffnung. „Der Saft soll gegen deinen Husten helfen. Die drei machen sich Sorgen um dich. Sie denken, du könntest vielleicht bald … Also, na ja …“