Ruhe sanft am IJsselmeer - Monika Arend - E-Book

Ruhe sanft am IJsselmeer E-Book

Monika Arend

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Beschreibung

Das Angebot klingt verlockend: ein Job im beschaulichen Stavoren, Kost und Logis frei. Die Schauspielerin Melinda Caspari reist aus dem Ruhrgebiet ans IJsselmeer, um die Hauptrolle in einem Theaterstück zu übernehmen. Sie hofft, dass der Stalker, der ihr seit Wochen das Leben zur Hölle macht, sie dort nicht aufspürt. Der Plan scheint aufzugehen. Doch dann stößt Melinda in der Nähe des einsam gelegenen Ferienhauses auf eine Leiche.

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Ruhe sanft am IJsselmeer

Monika Arend

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet - www.herzsprung-verlag.de

© 2022 – Herzsprung-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Erstauflage 2022

Lektorat: CAT creativ – www.cat-creativ.at

Cover gestaltet mit einem Foto von © Monika Arend

ISBN: 978-3-98627-020-9 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-98627-021-6 - E-Book

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Inhalt

Prolog

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Nachwort

Danksagung

*

Prolog

Lange betrachte ich dein Gesicht.

Es sieht friedlich aus.

Deine Macht war eine unsichtbare Haut, die mich umgab. In deiner Nähe fühlte ich mich winzig und gedemütigt. Doch das ist Vergangenheit. Niemand soll erfahren, was wirklich geschehen ist. Auch unsere Kleine nicht. Sie ist längst erwachsen, aber genau wie ich war sie nie frei.

Nun häute ich mich wie eine Schlange.

Vollkommen schmerzlos.

Ein neues Leben beginnt.

*

1

Endstation. Melinda stieg aus dem Zug und schaute sich um. Ihr Haar tanzte im warmen Wind. Ein hoch aufgeschossener Mann kam auf sie zu. Die grauen Locken reichten ihm bis zu den Schultern. Wie alt mochte er sein? Anfang sechzig? Unterhalb der leicht schräg stehenden Brauen strahlte er sie aus hellgrauen Augen an. Eine schmale, gekrümmte Nase zierte sein Gesicht. Zur dunklen Jeans trug er ein weißes Poloshirt. Die großen Füße steckten in abgetragenen Mokassins. Er breitete die Arme aus. Wollte er sie umarmen?

„Henk van der Mispel“, stellte er sich vor und fügte hinzu: „Nenn mich Henk.“

Er nahm ihren alten Lederkoffer. Melinda folgte ihm zu einem dunkelblauen Wagen, der seine besten Zeiten offensichtlich lange hinter sich hatte. Henk verstaute das Gepäck auf der Rückbank und öffnete die Beifahrertür. Bevor sie einstieg, warf sie einen flüchtigen Blick auf den Hafen von Stavoren, in dem ein Boot hinter dem anderen lag. Dann fuhren sie stadtauswärts. Nachdem sie eine letzte Siedlung passiert hatten, sah Melinda Felder, Wiesen und Kühe. Laaksum las sie auf einem Ortsschild direkt am IJsselmeer.

Henk parkte am Straßenrand und sie verließen das Auto.

„Das ist hoffentlich ein Missverständnis“, dachte Melinda. „Warum bringt er mich an einen so abgelegenen Ort? Ich soll doch nicht etwa hier wohnen?“

Ein Möwenschrei holte sie aus den Gedanken. Sie folgte Henk, der mit großen Schritten einen Pfad hinunterlief. Kies knirschte unter den Füßen. Der Koffer, dessen Griff Henk mit langen, schlanken Fingern umklammerte, pendelte hin und her.

Der Geruch von fruchtigem Rasierwasser drang in Melindas Nase. Sie gingen auf ein zweistöckiges Backsteingebäude mit blassroten Dachziegeln zu, das – umgeben von saftig grünem Rasen – in einer weitläufigen Senke lag. Auf dem Dach thronte eine Satellitenschüssel, die nicht zu der malerischen Umgebung passte. Daneben glänzte ein schmaler Aluminiumschornstein, der ebenfalls fehl am Platz wirkte. Vor dem Haus prangten Hortensienbüsche. In einem meterlangen Beet blühte Schopflavendel und im Hintergrund öffneten sich erste Blüten der Rosenstöcke. Auf der Wiese standen ein Tisch, umringt von vier gusseisernen Stühlen, und in einiger Entfernung ein Liegestuhl.

Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Melinda spürte einen kühlen Windzug im Nacken. Sie schaute nach rechts zu einer Steinbrücke, über die man in ein Wäldchen gelangen konnte. Es gab keinen Zaun, der Unbefugte am Betreten des Grundstückes gehindert hätte.

Melinda trat neben Henk, der vor dem Hauseingang stand. „Wie viele Häuser gibt es eigentlich in Laaksum?“, fragte sie.

„Vielleicht ein Dutzend.“

„Wohnen hier noch weitere Gäste?“, hakte sie nach und ließ den Blick wieder über die Fassade gleiten.

„Nein. Du sollst deine Ruhe haben.“

Leichte Panik erfasste Melinda. Sie würde nachts die Flöhe husten hören, das stand außer Frage.

Henk drehte den Schlüssel im Schloss herum und stieß die Tür auf. Dann verschwand er in einem engen Flur.

„Ich sollte es mir zumindest angucken“, dachte sie und ging hinein. Sie schnupperte Farbe.

Henk schaute sich um. „Ich bin gestern erst mit Renovieren fertig geworden.“ Er deutete auf die Wände und einen glänzenden Türrahmen rechts vor ihnen. „Hier vorne ist die Gästetoilette. Daneben die Küche.“

Sie betraten ein großes Wohnzimmer mit Panoramafenster und Terrassentür. Gardinen und Vorhänge gab es keine. Melinda sah ein graues Sofa, dazu passende Sessel und einen Glastisch. An der Wand hing ein Zettel mit dem WLAN-Passwort.

„Da liegt der Arbeitsvertrag.“ Henk wies auf eine Mappe auf dem Kieferntisch, bedeutete Melinda, Platz zu nehmen, und setzte sich ebenfalls. „Du musst noch unterschreiben.“

Die Bedingungen bezüglich ihres Engagements hatte er ihr per Mail übermittelt. Nichts sprach dagegen, die nächsten Wochen in die Rolle einer berühmten Person zu schlüpfen. Melinda überflog den Text und setzte ihren Namen darunter. Sie erinnerte sich, wie sie Anfang März zu einer Zeit, als sie nach unzähligen Castings eine Absage nach der anderen kassiert hatte, auf ein ungewöhnliches Stellenangebot gestoßen war.

Die Gemeinde Stavoren sucht eine Schauspielerin für die Hauptrolle in dem Theaterstück „Das Frauchen von Stavoren“. Es handelt sich um eine Inszenierung in deutscher Sprache.

Davon, dass die Bewerberin Niederländisch sprechen musste, war nicht die Rede gewesen. Setzte man es voraus? „Das ist meine Chance, im Sommer nicht am Hungertuch nagen zu müssen. Außerdem kann ein Ortswechsel nicht schaden“, hatte Melinda überlegt. Sie hatte im Internet über die Wirkungsstätte recherchiert und war sicher, dass sie es in dem Städtchen mit Sandstrand, Schwimmbad, Museum und Theater den Sommer über gut aushalten würde.

Dann rief tatsächlich der Leiter des Fremdenverkehrsamtes, Henk van der Mispel, mit der tiefen, melodischen Stimme und dem niederländischen Zungenschlag an. Er sagte: „Wir würden uns freuen, wenn du die Rolle übernimmst. Reisekosten bezahlen wir und eine Unterkunft bekommst du gestellt.“ Ihre Stimmung hatte sich schlagartig gebessert.

Drei Monate später saß sie ihm nun gegenüber. Er redete ohne Unterbrechung. Sein Deutsch war fast fehlerfrei.

Nachdem er ihr eine Kopie des Vertrages ausgehändigt und das Original zurück in die Mappe gelegt hatte, machten sie einen Rundgang durch das untere Stockwerk. Henk öffnete zahlreiche Türen. Kaum hatte Melinda die Nase in eines der Zimmer gesteckt, hastete er zum nächsten. Alles war in tadellosem Zustand, glänzende Böden und frisch getünchte Wände. Danach zeigte er ihr die Räume in der ersten Etage.

„Hier könnte ja eine Großfamilie wohnen“, überlegte Melinda.

„Eine Putzfrau habe ich nicht“, sagte Henk. „Wenn es dir nichts ausmacht …“

„Ach, natürlich halte ich alles sauber.“ Sie lachte.

„Gut, dann wäre das geklärt. Das Haus werde ich also nie unangekündigt betreten. Aber um den Garten kümmere ich mich.“

„Wie komme ich denn in die Stadt?“, fragte sie, als sie wieder im Eingangsbereich standen. Am Telefon hatte Henk von einem Fahrzeug gesprochen, das man ihr zur Verfügung stellen würde.

„Komm mit, ich zeig es dir!“

Draußen reckte sie den Hals, aber außer seinem war weit und breit kein anderes Auto zu sehen. Er verschwand in einer Scheune, die sich an das Hauptgebäude schmiegte, und kehrte mit einem mintgrünen Hollandrad zurück, das er an dem geschwungenen Lenker neben sich herschob. Es hatte einen tiefen Einstieg und einen braunen Ledersattel.

„Das Fiets ist fast neu. Bis ins Zentrum sind es ungefähr fünf Kilometer. Der kürzeste Weg führt am Deich entlang.“ Henk machte eine ausholende Handbewegung Richtung Straße.

Melinda bemühte sich, dankbar zu lächeln. In Essen radelte sie viel, es gab aber auch öffentliche Verkehrsmittel, was in diesem Örtchen vermutlich nicht der Fall war. Sie sah sich durch den strömenden Regen strampeln und patschnass ihren Dienst antreten. Oder durch die Dunkelheit huschen, nachdem sie mit den Kollegen einen Absacker getrunken hatte. Nicht auszudenken, wenn sie mitten auf der Strecke eine Panne hätte.

Henk konnte anscheinend Gedanken lesen. „Bei schlechtem Wetter rufst du mich an, dann hole ich dich ab.“

Was verstand ein Friese unter schlechtem Wetter?

„Jetzt will ich dir den berühmten Hafen zeigen.“ Er verschwand noch einmal im Haus, kehrte mit der Vertragsmappe unter dem Arm zurück, schloss ab und lief zur Straße. Nachdem er die Unterlagen ins Auto gelegt hatte, marschierte er weiter. Melinda konnte kaum Schritt halten. Am Ziel angekommen, stutzte sie. Ein paar Holzpflöcke, eine kurze Kaimauer. Rechts und links wucherte Schilf. Das sollte der berühmte Hafen sein?

Auf einem Schild las Melinda, dass hier bereits 1664 Fischer gelebt hatten. Der letzte Satz:

Laaxum wordt in de volksmond ook wel het kleinste visserhaventje van Europa genoemd.

Bekannt war er also deshalb, weil er früher als kleinster Fischerhafen Europas gegolten hatte.

Sie betrachtete die Bilder – zwei historische Schwarz-Weiß-Aufnahmen und ein aktuelles Farbfoto. Im Moment dümpelten an der Kaimauer ein Kahn und, mit gebührendem Abstand, ein Fischerboot. Henk und Melinda gingen zu einem hellen Steinhäuschen mit roten Dachziegeln und Sprossenfenstern. Auf der gepflasterten Terrasse standen Sitzgruppen aus Aluminium. An einem Mast neben einem Geranienkübel flatterte eine riesige blau-weiß gestreifte Fahne mit roten Herzen.

„Ist das die Flagge Frieslands?“, fragte Melinda.

Henk nickte. Stolz lag in seinem Blick. „Das ehemalige Hafengebäude wurde rekonstruiert. Solltest du dir mal von innen anschauen. Man verkauft dort Kaffee und Kuchen, aber auch kleine Gerichte und Souvenirs.“ Er ging wieder Richtung Hafenbecken. Deutete auf eine Jolle, die am äußersten Ende vertäut lag. „Siehst du das Boot?“

„Ja.“

„Das gehört mir. Du kannst es gerne nutzen.“

Henk überschätzte offenbar ihre Segelkenntnisse.

Er steuerte auf ein Imbisslokal zu, genau genommen eine Ansammlung von Tischen und Stühlen auf einer teilweise naturbelassenen Fläche. Rechts waren Netze zwischen Bäumen gespannt, ein Tau baumelte von einem dicken Ast herunter. Außerdem gab es eine mit grobem Sand gefüllte Grube mit einem Kinderbagger darin. Am Rande dieses unkonventionellen Spielplatzes wuchsen unzählige Mohnblumen und Margeriten. Die Zweige eines Fliederstrauchs bogen sich im Wind.

„Bei Ineke bekommst du fangfrischen Fisch. Die Öffnungszeiten sind wetterabhängig.“ Henk ging zu dem kleinen Gebäude im Hintergrund. Aus dem Inneren ertönte das Klappern von Geschirr. Eine zierliche Frau mit dunklen Haaren, etwas älter als Melinda, stellte soeben zwei mit Kibbeling und Fritten beladene Teller auf den Tresen. Sie griff zu einem Mikrofon und sprach einen Namen hinein. Ein Gast eilte herbei, um das Essen entgegenzunehmen. Dann notierte die Frau mit Bleistift auf einem Blöckchen die Bestellung eines Paares in Radfahrkleidung.

„Hoi Ineke. Dit is Melinda“, sagte Henk kurz darauf. „Sie arbeitet die nächsten Wochen für die Gemeinde. Ich habe sie in meinem Ferienhaus untergebracht.“

Inekes hellbraune Augen leuchteten und sie strahlte Melinda an. „Hallo Melinda.“

„Hallo Ineke. Schön, dich kennenzulernen. Wohnst du auch in Laaksum?“

Die Angesprochene schüttelte den Kopf. „Nein, im Nachbarort, in Warns.“

Henk zupfte Melinda am Ärmel. „Meisje, ich muss wieder ins Büro.“ Er winkte Ineke zum Abschied zu.

„Du möchtest dich bestimmt ein bisschen ausruhen“, sagte er, als sie zu seinem Auto zurückgekehrt waren. „Morgen stelle ich dir die Kollegen vor. Sei bitte um 15 Uhr an der Touristeninfo.“

„Okay.“

„Solltest du Fragen haben, kannst du mich jederzeit auf meinem Mobiltje anrufen.“ Henk drückte ihr den Hausschlüssel in die Hand und sprang in den Wagen.

Kurz darauf stand Melinda allein auf der schmalen Straße. Sie checkte die Uhrzeit. Fünf. Mit wem konnte sie die Abende verbringen? Ineke war wohl keine Option, wenn ihr Laden so brummte.

Beim erneuten Betreten des alten Gebäudes überkam sie das Gefühl, etwas würde ihr die Luft abschnüren. Sie verschwand im kleinen Bad im Parterre, wusch sich die Hände und spritzte sich kühles Wasser ins Gesicht. Ihre Kehle fühlte sich trocken an. Es musste Stunden her sein, dass sie etwas getrunken hatte.

Unter dem Fenster in der Küche entdeckte sie einen Kasten Mineralwasser. Medium, wie sie es liebte. Sie goss ein Glas voll und leerte es zügig.

An den hellgrünen Wänden hingen Aquarelle, auf denen Kräuter abgebildet waren: Schnittlauch, Rosmarin, Oregano, Thymian. Es war alles vorhanden, was einen modernen Haushalt ausmachte. Geschirr und Besteck gab es reichlich. Beim Blick in den Kühlschrank und die Speisekammer schlug Melindas Herz höher. Henk hatte sie letzte Woche per Mail darum gebeten, ihm eine Liste mit ihren bevorzugten Lebensmitteln durchzugeben. Sie fand Kaffee, Rooibostee, Schwarzbrot, Margarine, Milch, Gouda und Zartbitterschokolade vor. Außerdem Zutaten für ein Pasta-Gericht. Auf dem Tisch stand eine große Schüssel – randvoll mit Nektarinen. Melinda schnappte sich eine, wusch sie und biss hinein. Nachdem sie den Kern im Abfall entsorgt hatte, beschloss sie, einen Spaziergang zu machen. Den Koffer würde sie später auspacken.

Sie trat vor die Tür und nahm einen tiefen Atemzug. Die Luft roch nach Gras. Das seltsame Gefühl, das sie beim Betreten des Hauses verspürt hatte, war wie weggepustet.

*

2

Melinda ließ sich auf einer Bank an der Hafenausfahrt nieder. Sie wollte ein Foto machen. Ihr fiel ein, sie hatte das Smartphone im Haus vergessen. Sollte sie zurückgehen und es holen?

„Ich werde die Landschaft erst mal so auf mich wirken lassen“, beschloss sie. Ihr Blick glitt über die Weite des IJsselmeers. Kaum zu glauben, dass es sich um ein Binnengewässer handelte.

Laut ihrer Recherche über den größten See der Niederlande hatte man 1932 an der Verbindungsstelle der ehemaligen Zuiderzee zur Nordsee den 32 Kilometer langen und 90 Meter breiten Abschlussdeich gebaut, der genau genommen ein Damm war.

Ein Segelboot fuhr vorbei. Melinda schaute ihm hinterher, bis es nur noch ein winziger Punkt war. Der Wind sorgte für Wellengeplätscher. Langsam fiel die Anspannung der letzten Stunden von ihr ab. Seit dem frühen Morgen war sie mit der Bahn unterwegs gewesen, hatte bei Temperaturen um die 30 Grad mehrmals ihr Gepäck von einem Gleis zum anderen schleppen müssen. Melinda schloss die Augen und nickte ein. Durch das Trippeln einer Möwe vor ihren Füßen schreckte sie hoch. Im ersten Moment wusste sie nicht mehr, wo sie war.

„Ich bin in Laaksum, quasi am Ende der Welt“, erinnerte sie sich. Henk hatte erzählt, dass es nicht weit von hier ein Ausflugsziel, das Rode Klif, gab. Sie musste nur der Straße Richtung Stavoren folgen. Melinda glitt von der Bank und lief am Fischlokal vorbei, in dem immer noch fast alle Tische besetzt waren. Kurz vor dem Ortsausgang entdeckte sie Häuser. In einem Garten zupfte ein Mütterchen Unkraut. In einem anderen spielten Kinder lautstark Nachlaufen.

Auf dem Deich kreisten Melindas Gedanken um die nächsten Tage und Wochen. Würde die Zusammenarbeit mit den Kollegen funktionieren und sie vielleicht auch privat Anschluss finden? Würden die Vorstellungen gut besucht sein?

Der Wind frischte auf. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und blickte zur Straße. Stutzte. Zahlreiche Kühe tummelten sich dort. Ein Radfahrer bahnte sich den Weg durch die Herde, was die Tiere nicht sonderlich zu beeindrucken schien. Melinda überquerte die Fahrbahn und lief bergan bis zu einem Plateau aus dicken Pflastersteinen, dem Rode Klif, wie sie auf einer Tafel las. Sie trat vor einen Felsbrocken, der an einen überdimensionalen Pilz erinnerte. Leaver dea as slaef stand unter der Jahreszahl 1345 und sollte ausdrücken, dass die Bevölkerung damals den Tod einer Versklavung vorgezogen hätte.

Melinda setzte sich auf einen Mauervorsprung und genoss die Aussicht aufs IJsselmeer. Kinder planschten nicht weit entfernt im Wasser und sie lauschte eine Weile den fröhlichen Stimmen.

Als sie sich viel später auf den Rückweg begab, war kein Mensch mehr zu sehen. Auch die Kühe waren verschwunden. Dicht über ihrem Kopf flogen Schwäne mit lauten Flügelschlägen.

Zurück in Laaksum steuerte sie wieder den Hafen an. Die Mitarbeiter des Fischlokals stellten geräuschvoll die Stühle hoch und leerten die Abfalleimer. Ein finales Aufbäumen an Hektik. Dann legte sich Stille wie ein Federbett über das Dörfchen. Schafe blökten in der Ferne. Und die Möwen? Anscheinend hatten sie mit der Restaurantbelegschaft Feierabend gemacht.

Sie schlenderte um das Hafenbecken herum. Betrachtete den dunklen Kahn, dessen Bugfenster an tote Augen erinnerten. Die Sonne versank rot im IJsselmeer. Die Wölkchen am hellgrau-violetten Himmel wirkten wie fluffige Fußspuren, als hätte sich jemand aus dem Staub gemacht.

Mit Einsetzen der Dämmerung tauchten Bilder auf. Das Zimmer mit dem uralten Bettgestell, das Melinda von der Oma geerbt hatte. Der Abend nach einem anstrengenden Drehtag, an dem sie auf der dicken Matratze hatte abschalten wollen. Ein bisschen lesen, die Ruhe genießen … Plötzlich hatte das Telefon geklingelt, exakt zur gleichen Zeit wie am Vortag. Sie schleppte sich in den Flur, hob ab und nannte ihren Namen. Schwere Atemzüge. Sie fluchte und drückte die Austaste.

Kurz darauf läutete es wieder. Und wieder. Bis sie den Stecker zog.

Einige Zeit blieb es ruhig. Dann erhielt sie eine anonyme Nachricht auf dem Smartphone. Mein Honigtrank stand da. Die Bedeutung ihres Vornamens. In der Familie oder im Freundeskreis nannte sie niemand so. Dieser Textnachricht folgten weitere. Grundsätzlich freute sie sich über nette Worte, Fans konnte man als Schauspielerin nie genug haben. Aber der Ton war übergriffig. Hieß es zunächst noch: Du bist immer in meinem Herzen, hatte sie vor zwei Wochen gelesen: Wir gehören zusammen. Ich werde es dir beweisen. Danach hatte sie sich eine neue Handynummer zugelegt, die nur enge Freunde kannten. Das mulmige Gefühl in der Magengegend war geblieben. Selbst hier. Weit weg von zu Hause.

„Nach Laaksum trauen sich keine Verbrecher, schon aus Angst, der Allmächtige könne ihnen hier persönlich das Handwerk legen.“ Sie summte einen Hit, der seit dem Morgen in ihrem Kopf herumspukte. Eiskalt. Es war wirklich kühl geworden. Sie schlang die Arme um den Körper. Eine Fledermaus sauste vorbei.

„Wie schön wäre es, wenn jetzt Fischer mit Zigarette im Mundwinkel auf ihren Booten hocken, die Netze flicken und den Tag mit einem Bier ausklingen lassen würden“, dachte sie.

Mit großen Schritten überquerte sie die Wiese, bis sie Henks Grundstück fast erreicht hatte. Wieso fühlte sie sich plötzlich beobachtet? Sie drehte sich um. Am Ufer entdeckte sie eine Gestalt mit Kapuze, die eine Angel ins Wasser hielt. Soweit Melinda erkennen konnte, steckten die Beine in Gummistiefeln und Latzhose. Neben dem Mann, der auf einem Klappstuhl saß, lag eine große Tasche. Er wandte ihr für Sekunden den Kopf zu, blickte dann wieder aufs IJsselmeer.

Sie hastete zum Haus, schloss auf und huschte hinein. Zog die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel zweimal herum. Was war es, was sie an dem Angler irritiert hatte? Erst als sie im Bad vor dem Spiegel stand und ihr zerzaustes Haar betrachtete, fiel es ihr ein: Trotz hereinbrechender Nacht hatte er eine Sonnenbrille getragen.

*

3

Du bist stark und schwach, selbstbewusst und verletzlich, fröhlich und melancholisch zugleich. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Ich konnte mich von deinem Anblick kaum losreißen. Seitdem schwebe ich vor Glück und ich weiß: Bald bist du für immer mein.

*

4

„Leide ich unter Verfolgungswahn?“, fragte sich Melinda. „Bestimmt braucht der Angler die Sonnenbrille zum Schutz vor dem Wind.“

Überzeugt von dieser Theorie war sie nicht.

Sie biss in eine Scheibe Schwarzbrot, dick belegt mit Gouda, kaute lange und trank danach ein paar Schlucke Tee.

Nach dem Abendessen inspizierte sie alle Räume. Neben der Küche befand sich ein hellblau gestrichenes Zimmerchen mit Etagenbett, Tisch und Stuhl davor, und einem Holzregal. Melinda schloss die Tür wieder und huschte in die Wohnstube.

Sie betrachtete die Couch, dekoriert mit bestickten Kissen, und die beiden Sessel. Auf einem Schränkchen thronte ein Flachbildschirm. In einer Ecke stand die Essgruppe, an der sie mit Henk gesessen hatte. An den Wänden hingen auf weißen Karton geklebte Landschaftsaufnahmen. Ob die Fotos in Laaksum gemacht worden waren?

Sie kehrte zurück in den Flur und balancierte Koffer und Rucksack die steile Treppe hinauf. Im größeren Zimmer mit Dachschräge und Fenster stand ein Doppelbett.

„Von hier aus kann ich die Sterne betrachten“, dachte sie.

An einer Wand hing die Zeichnung einer jungen Frau mit langem, geflochtenem Zopf. Eine Verwandte von Henk? War er verheiratet? Hatte er Kinder? Egal. Sein Privatleben ging sie nichts an.

Das blau-weiße Bettzeug, die Nachbildung eines Fischernetzes an der Decke und die Nachttischlampe in Form einer Bootslaterne sorgten für maritimes Flair. Links gab es ein Räumchen mit einem weiteren Doppelbett. Rechts führte eine Tür in ein großes Bad mit Dusche, Toilette und Bidet. Melinda konnte sich in den Kacheln fast spiegeln. Sie schnappte sich ihre Waschtasche und verteilte den Inhalt auf den Ablageflächen. Sofort wirkte der Raum wohnlicher. Sie betrachtete die Waschmaschine. Henk hatte erzählt, er habe sie erst vor ein paar Wochen gekauft und noch nicht benutzt. Die Anleitung lag obenauf.

Nachdem Melinda geduscht hatte, wickelte sie ein Handtuch um die Haare und schlüpfte in einen Frotteeschlafanzug.

Gemächlich packte sie den Koffer aus und verstaute alles im Schrank. Sie hatte sich bei der Garderobe auf das Nötigste beschränkt und vorwiegend legere und wetterfeste Kleidung mitgenommen. Im Hinblick auf die bevorstehenden Radtouren eine kluge Wahl.

Plötzlich vernahm sie aus dem Erdgeschoss das Geräusch einer ins Schloss fallenden Tür. Sie erstarrte. Hielt den Atem an. Lauschte. Nichts.

Hatte sie sich geirrt? Sie stieg die Treppe hinab, bemüht, keinen Lärm zu machen, und lief ins Wohnzimmer. Ihr fiel ein, dass sie nach dem Lüften vergessen hatte, die Terrassentür zu schließen. Der Wind musste sie zugedrückt haben. Entschlossen drehte Melinda den Griff nach unten. Sie betrachtete den Boden.

Gras! Vielleicht hatten Henk oder sie es hereingetragen. Oder hatte doch ein Fremder das Haus betreten? Was, wenn es sich dabei um den Stalker handelte? Unbehaglich hielt sie wieder die Luft an und horchte.

Totenstille.

„Ich brauche dringend Gesellschaft, damit ich auf andere Gedanken komme. Henk könnte ruhig noch ein oder zwei Gäste hier unterbringen“, überlegte sie. Sie würde ihn am nächsten Tag darauf ansprechen.

In Essen teilte sie sich eine Altbauwohnung mit Tamara und Jessica. Wehmütig dachte sie an die vergnüglichen Abende, an denen sie gemeinsam kochten, ins Kino oder in eine Kneipe gingen. Sie würde den beiden vorschlagen, ihr bald einen Besuch abzustatten.

Zurück im Schlafzimmer legte Melinda sich aufs Bett und angelte das Smartphone vom Nachttisch. Sie schrieb eine lange Nachricht an Tamara und Jessica. Kaum hatte sie das Handy aus der Hand gelegt, fielen ihr die Augen zu.

Mitten in der Nacht schreckte sie hoch. Ein Blitz zuckte am Himmel. Sekunden später folgte ein gewaltiger Donner. Regen prasselte auf das Fenster. Sie wälzte sich im Bett. Der Wind wurde stärker und rüttelte an den Dachpfannen. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Die erfolglose Stellensuche der letzten Wochen ging ihr durch den Kopf. Melinda hatte noch keinen Plan, wie es nach dem Frieslandaufenthalt weitergehen sollte. Doch sie haderte nicht mit der Berufswahl.

Als Kind hatte sie bereits gewusst, dass sie Schauspielerin werden wollte, es geliebt, in Rollen zu schlüpfen, andere zum Lachen zu bringen, und in Schulaufführungen oft die Protagonistin gespielt. Nach dem Abitur hatte sie eine Schauspielschule besucht und zu der Zeit schon mit Theaterspielen Geld verdient. Meist verkörperte sie die aufsässige Tochter. Nach dem Abschluss wirkte sie jahrelang als Assistentin eines Kommissars in einer deutschen Krimireihe mit. Vor vier Jahren war die Serie eingestellt worden. Kurz nach dem letzten Drehtag lernte Melinda den Agenten Jörg Heuser kennen. Ein Glücksfall, wie sie zunächst dachte. Er nahm sie unter Vertrag und vermittelte ihr ein Engagement nach dem anderen. Sie verdiente gut und reiste durch die Republik. Doch dann unterliefen Jörg zunehmend Fehler. Als ihr die Hauptrolle in einem Thriller durch die Lappen gegangen war, weil er den Termin für das Casting nicht weitergegeben hatte, beendete sie die Zusammenarbeit. Obwohl sie seitdem den Markt aufmerksam beobachtete und sich unermüdlich bewarb, ließen Verträge auf sich warten.

Das Angebot, im Theaterstück Die Frau von Stavoren mitzuwirken, war der Spatz in der Hand gewesen. Es ging um eine reiche Kaufmannswitwe, die den Hals nicht vollbekam.

„Da bin ich ganz anders“, dachte Melinda. „Aber es muss in Zukunft wieder besser laufen.“

Sie hatte sich vor der Abreise vergewissert, dass es in der Unterkunft WLAN gab, und den Laptop mitgenommen, damit sie das Internet durchforsten, Bewerbungen schreiben und täglich Mails checken konnte.

Irgendwann musste sie wieder eingeschlafen sein, denn als sie aufwachte und aus dem Dachfenster in den Himmel blickte, graute der Morgen. Melinda schaute auf das Handy. Kurz nach fünf.

Mit nackten Füßen stapfte sie die Treppe hinunter und holte sich aus der Küche eine Flasche Mineralwasser. Dann lief sie ins Wohnzimmer, um es sich auf der Couch bequem zu machen. Sie erspähte einen Schatten vor dem Fenster. Ihr Puls beschleunigte sich. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie einen Busch, an dessen Zweigen der Wind zerrte.

Mit der Flasche in der Hand sank sie auf das Sofa, trank ein paar Schlucke und zappte durch die TV-Kanäle. Bei einem deutschen Frühstücksmagazin blieb sie hängen. Nach kurzer Zeit fielen ihr die Augen zu. Im Traum sah sie sich im Klassenzimmer, umgeben von wildfremden Menschen. Dann stand sie plötzlich auf einer Bühne. Der Vorhang ging auf. Das Ensemble verbeugte sich Hand in Hand und ein Zuschauer reichte Melinda einen Strauß roter Rosen. Aus den Blumen troff Farbe, die sich in Windeseile vor ihren Füßen ausbreitete.

Blut!

Sie fuhr hoch und schaute auf die Erde. Der Steinfußboden war blitzeblank.

*

5

Jo hasste seinen Job. Die Arbeit bot kaum Abwechslung und das Umfeld war deprimierend. Zu dem Beruf, den er seit mehr als fünfzehn Jahren ausübte, gehörte der Umgang mit Leichen. Bisher hatte ihm das nie etwas ausgemacht. Doch im April war sein Vater gestorben. Beim Handballtraining zusammengebrochen. Wiederbelebungsversuche erfolglos. Jo war zu der Zeit auf einer Fortbildung in Süddeutschland gewesen, vollkommen überflüssig, wie er später feststellte. Seit der Beerdigung musste er bei jedem Toten an seinen Papa denken.

Er beneidete die beiden auf der Rückbank. Junge Juristen, gingen im Beruf auf, hatte er zumindest den Eindruck. Aber jetzt war Urlaub angesagt. Zwei Wochen würde er keinen Gedanken an die Arbeit verschwenden.

In Lemmer angekommen, parkte er in Hafennähe. „Jungs, ich bin mit Adriaan verabredet. Das Finanzielle regeln“, rief er. „Vielleicht geht ihr was essen oder schaut euch die Stadt an. Ich rufe euch gleich an und sag euch, wo ihr die Fantje findet.“

Seine Mitreisenden nickten, sprangen aus dem Auto und schlenderten von dannen.

Eigentlich war Jo ebenfalls hungrig. Aber es konnte nicht schaden, wenn er eine Mahlzeit ausließ.

Er lief Richtung Zentrum und erblickte Adriaan vor einer Kirche. Das musste die Herformde Kerk sein, die der Kumpel als Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Adriaans blonde Haare standen in alle Richtungen, im Kontrast zum ordentlich ausrasierten Kinnbärtchen. Als Jo ihn vor zwei Jahren während einer Regatta in Kiel kennengelernt hatte, war da noch ein Vollbart gewesen.

Im Winter hatte der Niederländer ihm Fotos von der Fantje geschickt, die er von seinem Onkel übernommen hatte. Jo wäre am liebsten sofort nach Lemmer gefahren, um sich das Boot anzuschauen. Doch ständig war etwas dazwischengekommen.

Vor ein paar Wochen hatten seine Segelfreunde Henri und Patrick Jo auf einen gemeinsamen Törn angesprochen. Er hatte daraufhin Adriaan gefragt, ob sie die Fantje mit ihm als Skipper chartern könnten.

Die Antwort hatte gelautet: „Wann wollt ihr kommen?“

Jetzt strahlte Adriaan mit der Sonne um die Wette. Er trug ein Ringelshirt, dunkelblaue Shorts und graue Leinenschuhe. In Uniform konnte Jo ihn sich kaum vorstellen. Aber der Niederländer war Polizist aus Überzeugung, wie er oft betonte. „Jo! Toll, dich zu sehen!“

„Hi Adriaan!“

„Hattet ihr eine gute Fahrt?“

„Wir sind super durchgekommen. Ich bin so gespannt auf die Fantje.“

Sie liefen an unzähligen Schiffen vorbei, bis sie vor einem dunkelgrünen Plattbodenschiff mit massiver Ruderpinne, riesigen Schwertern und einem stabilen Mast standen. Jo pfiff durch die Zähne. Er folgte Adriaan aufs Achterdeck. Atmete den Geruch des frisch gestrichenen Holzes ein. „In Natur sieht sie noch viel geiler aus als auf den Fotos“, schwärmte er.

„Ich habe viel Arbeit reingesteckt. Ein Freund von mir ist Bootsbauer. Er hat mir bei der Instandsetzung geholfen, sonst wäre ich jetzt pleite.“

„Schade, dass du nicht mitkommen kannst“, seufzte Jo.

„Das find ich auch. Mein Kollege ist krank geworden, und ich bekomme keinen Urlaub. Ich würde allerdings gerne eine Probefahrt mit euch machen. So ein altes Meisje hat seine Eigenheiten.“ Er zwinkerte Jo zu.

„Das wäre prima. Später holen wir dann unser Gepäck.“

Sie setzten sich in die Plicht. Jo gab Adriaan den Umschlag mit der vereinbarten Chartersumme. Ein Freundschaftspreis. Adriaan gab erste Erklärungen zum Inventar ab. Eine Weile fachsimpelten sie. Dann beschrieb Jo seinen Mitseglern per Handy den Weg zum Liegeplatz.

Es dauerte nicht lange, bis sich zwei von ihnen dem Schiff näherten. Der Dritte im Bunde hielt Abstand und starrte in die Luft.

„Da kommt mein Dream-Team“, sagte Jo und winkte den Männern zu. Zwei winkten zurück.

*

6

Verflixter Gegenwind! Melinda fuhr am Deich entlang. Die Oberschenkelmuskeln brannten. Sonnencreme lief ihr in die Augen, die permanent tränten.

„In Stavoren gibt es bestimmt eine Möglichkeit, wo ich mich frisch machen kann“, dachte sie.

Sie erspähte das Ortsschild. Endlich! Vor einem hellen Bauwerk stoppte Melinda an einer Informationstafel – davon gab es in dieser Gegend wirklich viele – und erfuhr, dass es sich um die 1966 erbaute elektrische Pumpstation handelte.

Sie schob das Rad die kurze Strecke bis zum Wasser. Zugbrückenklappen ragten senkrecht gen Himmel. Zahlreiche Boote tuckerten vorbei. Sie warf einen Blick auf die Karte, die ihr Henk am Vortag in die Hand gedrückt hatte. Sie befand sich an der Johan-Friso-Schleuse. Das Museum ’t Ponthús war gelb im Stadtplan markiert.

Inmitten eines Pulks leicht bekleideter Radfahrer gelangte Melinda auf die andere Seite. Vor sich sah sie Häuschen mit verzierten Giebeln und Vorgärten. Gegenüber dümpelten Plattbodenschiffe. Aber nicht nur Wasserstraßen prägten das Stadtbild, sondern auch die üppige Begrünung. Uralte Bäume, dazwischen Blumenampeln mit Hängepetunien. An Geländern hingen Kästen mit Fleißigen Lieschen, Geranien, Männertreu und Fuchsien. Der Blumenduft lag in der Luft.

Nach einer Kurve erblickte Melinda links ein Backsteingebäude. Weiße Buchstaben auf einer schwarzen Fahne verrieten, sie hatte ihr Ziel erreicht. Vor dem Museumseingang informierte eine Tafel über Öffnungszeiten und Eintrittspreise. Im linken Fenster stand ein riesiges Modellschiff, im rechten ein Regal, bestückt mit Vasen in verschiedenen Größen, Büchern und Kleinkram.

Melinda schloss das Rad ab und betrat das Gebäude durch den metallverkleideten Vorbau. Das Foyer wirkte hell und gemütlich. Es roch nach Holz. Sie stellte sich der freundlichen Frau an der Kasse als Mitglied des Ensembles vor, woraufhin sie keinen Eintritt zahlen musste. Aus einer Broschüre erfuhr Melinda, dass ’t Ponthús übersetzt Fährhaus hieß. Früher hatten an diesem Ort Heizer, Maschinisten und andere Reedereimitarbeiter gewohnt. Jetzt wurde hier die Geschichte von Stavoren anschaulich erklärt. Anhand einer Zeitleiste, die an der Wand entlang bis in das Obergeschoss führte, informierte Melinda sich unter anderem über die Schlacht von Stavoren, das St. Odulfkloster, das von den Fluten vernichtet worden war, und die Plünderungen durch die Normannen. Sie war beeindruckt von der Vielzahl der Ausstellungsstücke in Vitrinen oder auf Regalen. Sie hätte Stunden in dem Museum verweilen können und sich am liebsten alle Texte auf den Schautafeln durchgelesen, aber jetzt ging es ihr vor allem um die Sage des Frauchens von Stavoren.

In einem menschenleeren Raum mit Leinwand und weißen Drehstühlen wurde ein Film auf Niederländisch gezeigt. Melinda hatte von Beginn an das Gefühl, in die Zeit vor vielen hundert Jahren einzutauchen, als Stavoren eine Handelsmetropole gewesen war. Gebannt lauschte sie der Musik und den Dialogen. Es ging um eine reiche Kaufmannswitwe, die den Kapitän eines ihrer Schiffe beauftragte, ihr das Kostbarste herbeizuschaffen, was es in der Welt zu kaufen gab. Nach einer langen Reise kehrte er mit hochwertigem Weizen zurück. Seine Herrin, die mit Gold und Juwelen gerechnet hatte, befahl ihm, das Getreide ins IJsselmeer zu kippen.

Ein alter Mann aus dem Volk rief ihr zu: „Du wirst für deinen Hochmut bestraft werden!“

Unbeeindruckt nahm sie den Ehering vom Finger, warf ihn in die Wellen und rief: „Falls der Ring jemals zurückkehrt, werde ich an den Bettelstab kommen.“

Die Magd fand den Schmuck im Bauch eines Fisches wieder, den sie für das Mittagessen zubereiten wollte. Einige Tage später erhielt die Witwe die Nachricht, dass die gesamte Flotte in einem Sturm gesunken war. Diese hochnäsige Person würde Melinda nun wochenlang verkörpern.

Nachdem sie sich von der Frau an der Kasse verabschiedet hatte, verließ sie das Museum, schloss das Rad auf und schob es an Lädchen mit bunten Auslagen vorbei. Melindas Magen knurrte. Das musste an der Luft und der sportlichen Betätigung liegen. Sie kehrte in einem kleinen Café ein. Nach einem Blick in die mehrsprachige Karte bestellte sie een mineraalwater zonder prik, een appeltaart und een koffie verkeerd, ein Mineralwasser ohne Kohlensäure, ein Stück Apfelkuchen und einen Milchkaffee, wie die Übersetzung lautete. Bevor der Kuchen und die Getränke serviert wurden, verschwand sie auf der Toilette, wusch sich das Gesicht, schminkte sich ein wenig nach und kämmte ihr Haar.

Zehn vor drei machte sie sich auf den Weg zum Treffpunkt. Vor dem Hafen sah sie links ein Haus mit schwarzem Schieferdach, auf das mit weißen Buchstaben das Wort Hotel gepinselt war. Im Hof standen riesige Weinfässer. Bei näherem Hinsehen erkannte Melinda: Es handelte sich um Fremdenzimmer. Übernachten in einem Fass. Witzige Idee.

Vor der Brücke über den Kanal erspähte sie die Person, der sie den Job zu verdanken hatte: Die Bronzefigur der Frau von Stavoren thronte auf einem Sockel, den Blick in die Ferne gerichtet. Melinda imitierte den hochmütigen Gesichtsausdruck.

Von Weitem sah sie einen Pavillon. Davor eine riesige Flagge mit dem Aufdruck VVV, der niederländischen Abkürzung für das Fremdenverkehrsamt. Melinda kam an einem Brunnen vorbei, mittendrin ein überdimensionaler braun-weiß gefleckter Fisch aus Stein. Wasser sprudelte aus zahlreichen Düsen im aufgerissenen Maul.

Besucher gaben sich die Klinke der Touristeninformation in die Hand. Männer in Cordhosen und gestreiften Hemden bildeten neben dem Gebäude einen Kreis und unterhielten sich auf Niederländisch.

Nachdem Melinda das Rad abgeschlossen hatte, sah sie Henk, der in Begleitung einer großen, schlanken Frau herbeieilte. Er lächelte. „Meisje, dit is Judith, meine Schwester. Sie spielt die Magd.“

Judith hatte das braune Haar, das von silbernen Strähnen durchzogen war, zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug zum knielangen Jeansrock ein Shirt mit Blumendruck. „Hallo Melinda.“ Judith strahlte. Dann begrüßte sie die Männer, deren Füße in Holzschuhen steckten, mit einem: „Hoi.“

„Deine Kollegen.“ Henk nickte ihnen zu.

Die Friesen nannten ihre Namen: Klaas, Piet und Jan.

Henk zeigte auf einen drahtigen Mann mit nach hinten frisiertem, weißem Haar, der etwas abseits stand und soeben ein Telefonat beendete. Er näherte sich mit großen Schritten. „Das ist Ruud, der Regisseur.“

Ruud gab ihr die Hand und sagte: „Melinda! Ein schöner Name. Ich freue mich, dass du da bist.“

Plötzlich quietschten Bremsen. Henk zog Melinda zu sich heran und rief: „Hoi Sander!“

Der junge Mann schwang sich vom Rad. „Is dit unser Frauchen?“, fragte er atemlos.

Sie lachte und sagte: „Ja, ich bin Melinda.“

Sander grinste über das sommersprossige Gesicht. Eine lockige Strähne fiel ihm übers Auge, die er sich hinter das linke Ohr streifte, in dem ein Kristallstecker aufblitzte. „Sander spielt den Kapitän“, erklärte Henk.

Kurz darauf dirigierte er die Truppe zu einem Platz hinter der Touristeninformation, wo eine Bootsattrappe stand. Vermutlich die Bühne. „Wenn es regnet, findet der Auftritt im Museum statt. Da sind auch der Probenraum und die Garderobe. Kommt mal mit!“ Henk setzte sich wieder in Bewegung.

Die Schauspieler folgten ihm wie einem Stadtführer. Melinda und Sander liefen hinter Judith und Klaas. Das Ende der kleinen Prozession bildeten Jan, Piet und Ruud. Unterhielten sie sich auf Friesisch? Melinda hatte gelesen, dass es erhebliche Unterschiede zur niederländischen Sprache gab.

„Gefällt es dir in Stavoren?“, fragte Sander. Er hatte einen federnden Gang.

„Das ist wirklich eine schöne Stadt“, antwortete sie.

Sie betraten das Museum. Henk schloss eine Tür auf und alle versammelten sich in einem Raum mit Spiegelschrank und Kleiderstange, vollgehängt mit in Folie verpackten Kostümen. In einer Ecke sah Melinda eine spanische Wand und in der anderen eine weitere Schiffsattrappe, ähnlich der, die am Hafen stand. Die Luft war stickig und Klaas öffnete das Fenster.

Henk drückte Melinda ein Kleid in Grasgrün mit roten Stickereien in die Hand und reichte ihr einen silbernen Hut, an dessen Spitze ein Schleier befestigt war. „Zieh mal an! Wenn es nicht passt, wird das geändert“, sagte er.

Sie verschwand hinter der Trennwand. Das Kostüm saß wie angegossen. Als sie sich wieder zu den Kollegen gesellte, rief Sander: „Lekker!“ Er trug inzwischen eine Jacke mit goldenem Revers und Knickerbockerhosen. Auf seinem Kopf thronte ein Dreispitz. Imposant. Ob man früher so zur See gefahren war?

„Grins nicht so. Schau mal in den Spiegel!“, sagte Henk.

Die anderen Männer mussten sich passend zu den Friesenhemden Wollmützen aufsetzen. Judith war in ein graues Gewand gehüllt und band sich einen geflochtenen Gürtel um die Hüfte.

Henk klatschte in die Hände. „An die Arbeit. Ruud, ich überlasse dir das Feld.“ Dann sah er Melinda an, als wäre ihm soeben noch etwas eingefallen. Er nahm sie zur Seite.

„Ihr müsst das Stück auch auf Niederländisch aufführen. Habe ich dir das schon gesagt?“

„Wie bitte?“

„Ja, ihr gebt erst eine Vorstellung auf Deutsch und nach einer Pause eine auf Niederländisch.“ Er lachte und reichte ihr eine Mappe. „Ich habe dir den Originaltext ausgedruckt.“

„Du meinst, ich soll Niederländisch sprechen?“, fragte sie.

Er nickte.

Also doch!

*

7

Die Deutsche war da. Melinda. Ein herzallerliebster Mensch mit positiver Ausstrahlung. Nicht der Typ Frau, der Männern den Verstand raubte, doch beim näheren Hinsehen wurde man von ihrem Wesen gefesselt. Der überraschte Gesichtsausdruck, als Henk ihr erklärte, dass sie die Rolle auch auf Niederländisch spielen musste. Hätte sie sich das nicht denken können?

Klaas sprach Friesisch, Niederländisch und ein bisschen Deutsch. Er hatte sein ganzes Leben in Stavoren verbracht. Mehr als vierzig Jahre hatte er hier auf der Werft gearbeitet. Seit ein paar Monaten war er im Ruhestand.

Er kroch stets früh aus den Federn. Erledigte die Hausarbeit oder kümmerte sich um den Garten. Dann ging er einkaufen und fuhr zu seinem Vater. Aß mit ihm zu Mittag. Als Klaas’ Mutter vor drei Jahren an einer Blutvergiftung gestorben war, hatte es dem Alten im wahrsten Sinne des Wortes für immer die Sprache verschlagen.

Zwei Monate später war Fryda aus dem Leben geschieden. Auch sie hatte nicht lange leiden müssen. Trotzdem hatte es einige Zeit gedauert, bis Klaas realisierte, dass er nun ebenfalls Witwer war. Die Schicksalsschläge bildeten ein unsichtbares Band zwischen ihm und seinem Vater.

Klaas’ Nachmittage verliefen immer gleich. Er bummelte durch den Ort und traf meist jemanden, mit dem er ein Schwätzchen halten konnte. Er kannte fast jeden hier – und jeder kannte Klaas.

Momentan füllte sich die Stadt mit Fremden. Plattbodenschiffe kippten Schulklassen, Kegelklubs oder Familien auf den Kai. Normalerweise scheute Klaas Menschenansammlungen. Dieses Jahr war alles anders. Den Touristen hatte er den neuen Job zu verdanken, auf den er sich jetzt sehr freute.

Er erinnerte sich, wie Henk zum ersten Mal von dem Theaterstück gesprochen hatte. Klaas hatte sofort Interesse bekundet und war tatsächlich zum Kreis der Mitwirkenden auserkoren worden.

Er kannte die Geschichte des Frauchens von Stavoren seit der Kindheit. Seine Grundschullehrerin, Frau Boonstra, hatte oft mit großem Augenaufschlag gesagt, man dürfe im Leben niemals gierig sein.

Ausgerechnet Judith, die vor vielen Jahren ihren Märchenprinzen gefunden hatte, spielte die Magd. Was andererseits niemanden wunderte, war sie doch Henks Schwester.

Als sie nun neben Klaas trat und ihn anlächelte, beschleunigte sich sein Puls.

*

8

Melinda schwitzte unter dem Hut. Die Luft war stickig, obwohl das Fenster weit geöffnet war.

„Henk, mein Niederländisch ist very basic. Und die Aussprache ist für uns Deutsche kompliziert. Da brauche ich Wochen, bis …“

Henk lachte. „Du bekommst das hin. Lern einfach die Sätze auswendig. Oder lass dich von Ruud coachen. Der ist pensionierter Deutschlehrer.“

Er winkte den Regisseur heran und fragte: „Kannst du Melinda mit dem Text helfen? Sie spricht kein Niederländisch.“

„Das mache ich gerne“, antwortete der.

Henk hob die Hand und rief in die Runde: „Tot ziens! Succes hè!“ Drehte sich um und verschwand.

Ruud trat vor die Truppe. „Wir freuen uns, dich begrüßen zu dürfen, Melinda.“ Er legte einen Arm um ihre Schultern. „Während der Proben sprechen wir deutsch, damit du alles versteht. Stellst du dich bitte mal vor?“

Melinda trat einen Schritt vor. „Meinen Namen kennt ihr ja schon, ihr könnt mich gerne Melli nennen. Ich lebe in Essen, im Ruhrgebiet, bin 32. Ich freue mich, mit euch auftreten zu dürfen.“ Sie schaute in strahlende Gesichter. „Und ihr?“

„Ich bin Judith“, sagte Henks Schwester. „Ich lebe mit meinem Mann in Stavoren. Wir haben zwei erwachsene Kinder.“ Sie stupste Klaas an, der neben ihr stand. Kleiner als sie und ziemlich rund. Dichtes dunkelgraues Haar und buschige Augenbrauen. In seinem Blick lag etwas Unergründliches. Er sagte: „Klaas, uit Stavoren!“

Stille.

Jan, ebenfalls untersetzt, aber größer als Klaas, übernahm: „Ik heet Jan. Ik heb twee kinderen en drie kleinkinderen.“ Er hatte also zwei Kinder und drei Enkel. So viel verstand Melinda schon.

Der spindeldürre Piet, dessen Schnurrbart viel zu groß für sein Gesicht erschien, vermeldete als Nächster: „Ik ben Piet en heb twee kinderen en fijf kleinkinderen.“ Er hielt fünf Finger in die Luft und schaute Jan triumphierend an.

Gelächter.

Dann war Sander an der Reihe. „Sander Molendijk. 24 Jahre alt und Single.“

„Dann wird es Zeit, dass du eine Frau findest“, rief Jan. Piet grinste.

Unbeeindruckt fuhr Sander fort: „Ich studiere und habe den Ferienjob bekommen, um den sich die Jungs in der Stadt gerissen haben.“ Er klopfte sich auf die Schulter.

„Vielen Dank.“ Ruud lächelte. „Zu meiner Person: Ich bin Ruud van Norden, 64 Jahre alt, ehemaliger Lehrer.“ Er hob die Hände und sagte feierlich: „Auf eine gute Zusammenarbeit.“ Dann machte er ein paar Schritte auf die Bootsattrappe zu. Die anderen folgten. „Bei schlechtem Wetter wird der Kahn ins Foyer gestellt, dann treten wir dort auf. Aber wirklich nur, wenn es schüttet. Am Hafen ist mehr Platz für Zuschauer.“ Er zog eine Kiste heran und kramte darin herum. Kurz darauf hielt er einen goldenen Plastikring in die Höhe. „Melli, steck dir den schon mal an den Finger.“

Sie probierte ihn an. Ziemlich locker, aber besser als zu eng.

Ruuds Hand tauchte erneut in den Karton ein. „Hier ist der Fisch, der den Ring verschluckt.“

Das bunte Gummitier hatte riesige Augen. Sander prustete.

„Man kann ihn in der Mitte aufklappen. Seht ihr, so.“ Ruud demonstrierte es.

„Dit is leuk!“, rief Sander.

Ruud zog eine blaue Plastikplane aus der Kiste und breitete sie auf dem Boden aus. „Das ist das IJsselmeer. Du musst nachher ja den Ring, ins Wasser werfen, Melli. Und der Weizen steht da.“ Er zeigte auf einen großen weißen Sack. „Dann haben wir alles, was wir brauchen.“ Er schaute die Kollegen an. „Weiß jeder, was er zu tun hat?“

Allgemeines Nicken.

Klaas, Jan und Piet kletterten an Deck.

„Genau da gehört ihr hin!“, rief Ruud. „Du stehst vor dem Boot, Melli, stemmst die Hände in die Hüften. Sander sitzt neben dir auf der entladenen Fracht. Ich spiele übrigens den Mann aus dem Volk.“ Er nahm ebenfalls Position ein. „Und bitte!“

Die Männer summten eine Melodie. Es folgte ein Dialog zwischen Melinda und Sander. Der stieg in das Boot und die anderen lösten die Leinen. Ruud hielt einen Globus in die Höhe und zeigte auf die Länder, die das Schiff ansteuerte. Schließlich trat Melinda wieder in den Vordergrund. Sander gesellte sich zu ihr und präsentierte den Weizen. Daraufhin schrie sie ihren Kollegen – so verlangte es das Skript – an und überhäufte ihn mit Schimpfworten. Er duckte sich und antwortete kleinlaut. Melinda fluchte erneut, zog den Ring vom Finger und deutete an, ihn ins Wasser zu werfen. In Wirklichkeit steckte sie ihn Judith zu, denn die sollte ihn später rein zufällig wiederfinden. Als Judith den Fisch aufklappen wollte, klemmte der Verschluss. Klaas ging von Bord und eilte ihr zur Hilfe.

„Ich schaue mir das Teil gleich noch mal an“, sagte Ruud. „Das mit dem Ring ist auch nicht gut. Melli, man konnte sehen, wie du ihn Judith zugesteckt hast. Ich kümmere mich darum, dass wir einen zweiten bekommen. Und jetzt alles von vorne.“

Am Schluss applaudierte er. „Das war schon richtig gut. Fragen oder Anregungen?“

Sander meldete sich. „Das Ende gefällt mir nicht. Das Frauchen sitzt einfach nur als Bettlerin auf der Straße. Da muss mehr Action rein. Der Kapitän könnte die Witwe ins Wasser werfen. Er darf sich doch nicht alles gefallen lassen.“ Er schaute Melinda an. „Oder was Romantisches. Sie verliebt sich in ihn. Dann heiraten sie und wenn sie nicht gestorben sind …“

„Der Junge hat Fantasie, aber an dem Skript wird er nichts ändern können“, dachte Melinda.

„Nix da!“, bestätigte Ruud ihre Vermutung. „Du gehst mit der Flotte unter.“ Er blickte noch einmal in die Runde.

„Wenn ihr keine Fragen mehr habt, machen wir Feierabend. Den Probenplan hat jeder bekommen. Wir treffen uns diese Woche jeden Tag um 15 Uhr. Freitag ist Generalprobe vor dem VVV und Samstag Premiere. Ab dann treten wir täglich außer montags auf. Plakate und Flyer wurden in der Stadt verteilt.“

Aus den Worten „een drankje neemen“ schloss Melinda, dass Jan und Piet noch einen trinken gehen wollten. Sander und Judith verabschiedeten sich.

Melinda wandte sich an Ruud. „Können wir den niederländischen Text durchsprechen?“

Mit Blick auf die Uhr antwortete er: „Okay. Ein halbes Stündchen habe ich noch.“ Er verließ den Raum und kehrte mit zwei Stühlen zurück. Sie nahmen nebeneinander Platz.

„Was die Phonetik angeht, empfehle ich dir einen Link. Wenn du mir deine Nummer gibst, schick ich ihn dir aufs Handy.“ Ruud zückte sein Smartphone und Melinda diktierte.

„Eine Gruppe habt ihr nicht angelegt?“, fragte sie.

„Nee.“ Er lachte. „Zwei von uns haben gar kein Handy. Sollte was sein, gibst du mir Bescheid und ich informiere die anderen.“ Er nahm Block und Stift zur Hand. „Wir fangen mit ein paar Beispielen an.“

Hoe gaat it met jou? schrieb er auf ein Blatt.

„Man spricht es so aus: Hu chaat it met jau. Also das g wird wie ein ch in Drachen gesprochen.“

Melinda versuchte es.

„Nicht ganz so hart“, sagte Ruud.

Sie wiederholte das Wort einige Male, bis Ruud nickte.

„Sch schreiben wir meist als sj, wie in meisje.“

Das Wort ging ihr gut über die Lippen.

„Prima! Bei den Kombinationen st, sp und sk spricht man erst das s und dann den nächsten Buchstaben. Das machen die Norddeutschen genauso. Die Sache mit dem sspitzen Sstein.“

„Verstehe.“

„So, jetzt lies mal deinen Text. Übung macht den Meister.“

Melinda sprach die ersten Worte mit Bedacht. Ruud korrigierte freundlich, aber bestimmt. Nach kurzer Zeit schwirrte ihr der Kopf.

„Klappt doch schon prima, Melli. Lass es sacken und dann übst du noch ein bisschen zu Hause“, sagte er.

„Vielen Dank für deine Geduld, Ruud.“

Er kniepte ihr zu: „Dank u wel oder bedankt. Und ich sage: Graag gedaan. Gern geschehen.“

Sie verließen das Museum. Auf der Straße strich er ihr kurz über die Wange und verabschiedete sich dann von ihr: „Tot ziens, bis bald, Melli.“

„Tot ziens, Ruud.“ Sie lief zur Touristeninformation und holte ihr Fahrrad.

Auf dem Rückweg erblickte sie auf der anderen Seite des Kanals einen Supermarkt, der wie auf einer Insel lag. Gut zu wissen. Momentan war Melinda jedoch noch versorgt.

Der Wind schob sie zurück nach Laaksum. Am Ferienhaus angekommen, verstaute sie den Drahtesel in der Scheune. Sie lief zur Aussichtsbank am Rand des Hafenbeckens, um den niederländischen Text zu pauken. Zog ihn aus dem Rucksack, las die erste Seite, gähnte und packte ihn wieder weg. Sie beschloss, zunächst das Starren aufs IJsselmeer zu üben.

In der Ferne erspähte sie ein dunkelgrünes Holzboot mit rotbraunen Segeln und Seitenschwertern, das Kurs auf den Hafen nahm. Während einer Klassenfahrt hatte Melinda einen Törn auf einem Plattbodenschiff gemacht. Dieses hier war wesentlich kleiner.

Kurz vor der Anlegestelle startete der Steuermann den Motor. Zwei weitere Besatzungsmitglieder holten die Segel ein und positionierten sich rechts und links am Bug.

Der eine hielt die Festmacherleine in der Hand, der andere setzte zum Sprung auf die Kaimauer an. Nach dem Anlegemanöver verstauten sie die Segel und rollten die Schoten auf. Der Kapitän verschwand im Bootsinneren und kehrte mit einigen Flaschen Bier zurück. Die Besatzung ließ sich im Cockpit nieder. Die Männer prosteten sich zu, redeten und scherzten. Melinda meinte, deutsche Brocken aufzuschnappen.

Aus der Kajüte kroch ein junger Typ. Er schwankte leicht. Plötzlich beugte er sich über die Reling.

*

9

Aus einem nahen Gebüsch erklang der Gesang einer Amsel. Klaas spürte unbändige Lust, Judith zu berühren. Ihre vollen Lippen und die haselnussbraunen Augen zogen ihn immer noch in den Bann.

Die Holzbank in der Grünanlage am Jachthafen war inzwischen durch ein Aluminiumgestell ersetzt worden. Das Wasser vor ihnen glitzerte. Wie oft hatten sie sich nach der Schule hier getroffen, herumgealbert, Zärtlichkeiten ausgetauscht oder einfach nur geschwiegen? Henk, Judiths großen Bruder, hatte Klaas von der Schule her gekannt, die Mutter jedoch nie zu Gesicht bekommen. Erst Jahre später hatte er von ihren Alkoholproblemen erfahren.

Mit einem Wortschwall brach nun aller Unmut aus Judith heraus. Sie redete von finanziellen Problemen und dem Haussegen, der schief hing. Wie konnte es sein, dass ein Ingenieur nicht genug verdiente, um eine Familie zu ernähren? Sie erzählte, ihr Bruder habe ihnen unter die Arme greifen müssen.

Klaas wusste, dass Henk aus dem Elternhaus ein Schmuckkästchen gemacht hatte. Ein schönes Nebeneinkommen, wenn er demnächst an Feriengäste vermieten würde. Aber jetzt wohnte erst einmal Melinda dort. Ob ihr das nicht zu abgelegen war?

Judith schaute Klaas an. Nicht so wie früher, wenn sie einerseits schüchtern, anderseits verlangend darauf gewartet hatte, dass er sie küsste. Verzweiflung lag in ihrem Blick. Brauchte sie Hilfe?

*

10

„Sind das wirklich Deutsche?“, überlegte Melinda.

Das Boot fuhr unter niederländischer Flagge. Fantje las sie auf einem Schild am Bug. Sie erhob sich, schlenderte am Hafenbecken entlang und glitt auf eine Bank in der Nähe der Kaimauer. Der junge Mann ließ sich im Cockpit mit etwas Abstand zu den anderen nieder. Melinda zog das Manuskript aus der Tasche und hielt es sich vors Gesicht.

„Fred, das geht vorbei“, hörte sie einen der Segler mit basslastiger Stimme sagen.

Sie ließ die Blätter ein wenig sinken, um den Mann zu betrachten. Er saß neben der Ruderpinne, die langen Beine von sich gestreckt. Dichtes, blondes Haar und Vollbart. Typ Seebär.

„Ich dachte, du müsstest schon wieder göbeln. Aber kann ja nix mehr drin sein“, rief ein anderer mit Sonnenbrille und Piratentuch. „Kein Wunder, dass es dir schlecht geht! Hockst den ganzen Tag in der Kajüte und starrst aufs Handy.“

Fred nuschelte etwas.

„Jo hat dir geraten, auf den Horizont zu gucken oder dich hinzulegen“, sagte ein Dritter. Er und der andere sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Sie waren schlanker als der Skipper und vermutlich kleiner. Die rotblonden krausen Haare hatten sie zum Zopf gebunden. Gerade hoben sie die Köpfe und schauten in Melindas Richtung.

Schnell senkte sie den Blick.

„Außerdem hast du dir ein riesiges Frühstück reingeschaufelt, obwohl du wusstest, dass Starkwind vorhergesagt war.“

Der Seebär mit dem Namen Jo polterte: „Es reicht! Gar nichts zu essen, ist keine Lösung. Bei Kreuzsee rollt das Boot, da spielt mancher Magen verrückt.“ Er wandte sich an den Jungen. „Morgen wird der Wind ähnlich stark sein. Außerdem sind wir dann länger unterwegs. Packst du das?“

„Auf keinen Fall“, stöhnte Fred.

Erneut schaltete sich einer der Zwillinge ein. „Ganz toll! Sollen wir dich hier zwischenparken? Wir haben nicht mal ein Zelt. Und Hotel ist keine Option.“

Melinda heftete ihren Blick auf Fred, dem die knielangen Jeans um die Beine schlackerten. Er ging von Bord, legte sich rücklings auf den Asphalt und streckte alle viere von sich. Wie alt mochte er sein? Höchstens 18.

Wieder sprach einer der Zwillinge. „Das Boot geht wirklich gut ab. Dachte immer, Plattbodenschiffe hätten kaum Schräglage. Zum Glück hatten wir die Schränke verrammelt, sonst hätten wir das Essen vom Boden kratzen können.“

„Schönwettersegler!“, rief Jo und lachte.

Fred stand auf, kletterte in die Plicht und nahm Platz. Jo wuschelte dem Jungen durchs Haar. Neben dem Seebären wirkte er wie eine Bohnenstange.

Melinda schaute auf das Smartphone. 21 Uhr. Am liebsten hätte sie sich zu den Seglern gesellt, aber ihr Magen knurrte und sie musste etwas trinken. Sie erhob sich und, ohne sich noch einmal umzudrehen, lief sie zurück zum Ferienhaus. Am Grundstück angekommen, konnte sie die Männer nicht mehr hören. Die Tatsache, dass sie in ihrer Nähe übernachteten, beruhigte sie allerdings.

Zurück im Haus begab sie sich in die Küche, um ein Abendessen zuzubereiten. Nachdem sie Nudeln, Zwiebeln, Knoblauch, Tomaten und eine Zucchini zurechtgelegt hatte, kramte sie im Schrank nach einem Topf, in den sie Wasser füllte, und einer Pfanne. Sie schälte Zwiebeln und Knoblauch, wusch das restliche Gemüse, zerkleinerte alles mit einem großen Messer und goss Öl in die Pfanne. Dann hob sie den Deckel vom Topf und starrte gedankenverloren hinein. Eine Blase waberte auf dem Boden, löste sich und drang an die Oberfläche. Melinda ließ die Nudeln ins Salzwasser rauschen. Sie wandte sich wieder der Pfanne zu. Als sie die Zwiebeln ins knisternde Fett gab, ging eine Nachricht ein.

Ich muss mit dir reden.

Melindas Hand zitterte. Wie kam Sascha an die Nummer?

Öl spritzte aus der Pfanne, in der die Zwiebeln anbrannten. Sie nahm sie vom Herd und schaltete ihn aus.

Der Tag vor eineinhalb Jahren, an dem sie einen Schlussstrich unter die Beziehung gezogen hatte, lief vor ihren Augen ab. Sie hatte bei einem Casting eine lukrative Rolle erhalten, eine Flasche Sekt gekauft und war durch die Wohnung getanzt. Sascha kam spät nach Hause und war offensichtlich nicht in Feierlaune. Zögernd erzählte er, man habe ihn aus der Band geschmissen. Ein neuer Keyboarder stand schon am Start. Sie wollte Sascha Mut machen, sagte: „Kopf hoch. Du findest bestimmt was Neues.“

„Ist das alles, was dir dazu einfällt?“ Saschas Stimme vibrierte. „Seit Wochen werde ich von Benno gemobbt und jetzt hat er es geschafft, die anderen auf seine Seite zu ziehen. Das macht mich krank. Aber du …? Du raffst gar nichts.“

Was sollte sie dazu sagen? Melinda räumte schweigend auf.

Das brachte ihn endgültig auf die Palme. „So habe ich mir das vorgestellt: Du läufst grinsend hier rum. Alles easy, alles cool. Für meine Probleme interessierst du dich nicht die Bohne.“ Er wurde immer lauter. So kannte sie ihn nicht. Aus heiterem Himmel landete seine Faust in ihrem Gesicht. Eine leichte Gehirnerschütterung und eine gebrochene Nase waren das Resultat gewesen.

Tamara war noch am gleichen Abend gekommen, hatte sie ins Krankenhaus gebracht und überredet, nach der Genesung zu ihr in die Wohngemeinschaft in Essen zu ziehen.

Melinda fasste sich an die Nase, die plötzlich wieder schmerzte. Bildete sie sich jedenfalls ein. Der Appetit war ihr vergangen. Sie räumte die Lebensmittel in den Kühlschrank. Versuchte, Tamara zu erreichen. Fehlanzeige.

An Lesen oder Textlernen war nicht mehr zu denken. Melinda kreiste durch das Wohnzimmer, starrte die Bilder an den Wänden an. Steine im Wasser, eine startende Möwe, ein Kahn im Schilf.

Was wollte Sascha?

Sie öffnete die Terrassentür und atmete durch. Dann wählte sie die Nummer.

Er antwortete nach dem ersten Ton. „Melli! Danke für deinen Anruf.“

Ihr Magen verkrampfte sich. „Ich habe nicht viel Zeit. Was gibt’s?“, fragte sie. Ein Schaf blökte. Sie schloss die Tür.

„Okay, hör zu!“ Er klang ernst. „Jemand hat mein Auto beschädigt.“

„Seit wann hast du ein Auto?“ Sie kannte Sascha nur auf einem klapprigen Herrenrad.

„Ist doch egal. Aber das war nicht irgendein Randalierer.“

„Was habe ich damit zu tun?“, fragte Melinda.

„Auf der Scheibe stand eine Botschaft.“

„Und wie lautete die?“

„Du wirst nie wieder eine Frau schlagen!“

Sie schluckte.

„Melli? Bist du noch dran?“

„Du glaubst nicht wirklich …“

„Nein, natürlich nicht. Aber ich muss wissen, wer mir ans Bein pissen will. Die Buchstaben erinnerten an verlaufenes Blut. Total krank. Warte, ich schick dir ein Foto.“

Ausgerechnet Sascha hatte die Hosen voll?

„Ich will das nicht sehen!“, rief sie. „Wie kommst du überhaupt an meine Nummer?“

Er schwieg.

Warum legte sie nicht auf?

„Hast du einen Freund?“, fragte Sascha.

„Das geht dich nichts an!“ Ihre Stimme bebte. „Was sagt denn die Polizei?“

„Habe ich nicht eingeschaltet. Was ist mit Elfi? Die hat es doch damals im Netz verbreitet.“

„Elfi? Sachbeschädigung? Niemals. Sascha, ruf mich nie mehr an.“

„Melli, hör zu! Der Rausschmiss aus der Band hatte auch sein Gutes. Ich habe mit einem Freund einen Musikladen eröffnet. Läuft super. Außerdem habe ich ein Anti-Aggressivitäts-Training absolviert. So was wie damals passiert mir nie wieder.“

„Ich muss wirklich Schluss machen.“ Melinda drückte auf Beenden.

Saschas Stimme lag noch in ihrem Ohr. Sie sah sein grau meliertes Haar, den Silberblick, der sie vom ersten Tag an in den Bann gezogen hatte. Melinda ballte die Faust. Boxte in die Luft. Wieder und wieder.

*

11

Drei Enten zogen schnatternd am Heck vorbei. Nicht weit entfernt klammerte sich eine Jolle an einen Pfahl. Jo kannte keinen Hafen, in dem es abends so still war.

Die Sonne ging hinter einer Landzunge unter, die wie ein Bügeleisen auf dem IJsselmeer lag. Der Himmel leuchtete violett und die hellgrauen Zirruswolken erinnerten an Wellenkämme. Jo griff zur Spiegelreflexkamera, ohne die er nie auf Reisen ging. Er optimierte die Einstellung und machte zahlreiche Aufnahmen. Patrick und Henri hatten sich in die Koje am Bug verzogen. Fred lag auf der Bank im Salon auf Backbord. Gleich würden die ersten Sterne am Himmel auftauchen. Für den nächsten Tag war perfektes Segelwetter vorhergesagt. Aber es gab ein Problem: Fred.

Die Zwillinge hatten kurz vor der Abreise verkündet, dass der Bruder mitkomme. Jo kannte ihn nur flüchtig. Eigentlich ein fröhlicher Typ. Mit Henri und Patrick hatte Jo in einer Kölner Segelschule diverse Scheine gemacht. Sie unternahmen gelegentlich Wochenendtrips gemeinsam. Jetzt wollten sie an den tollen Törn in Kroatien vom Vorjahr anknüpfen. Warum hätte es mit Fred an Bord anders sein sollen?

Auf der Hinfahrt hatte er frustriert gewirkt. Patrick hatte etwas von Liebeskummer erzählt. Während der Einführungsrunde mit Adriaan war Fred an Land geblieben. Jo hätte Tacheles reden müssen. Jetzt lagen sie in Laaksum und der Junge wollte nicht mehr mit. Was sollten sie tun? Tagestrips unternehmen? Den Urlaub abbrechen? Nur, wenn es sich nicht vermeiden ließe.

Jo dachte an die Frau auf der Bank. Hatte sie die Diskussion verfolgt? Zumindest hatte man es ihr nicht angemerkt. Woher kannte er sie? Er betrachtete den Himmel. Endlich. Sterne über Sterne. Jo konnte sich nicht sattsehen. Er sichtete den kleinen Wagen und den Skorpion, sein Sternzeichen. Erst nach Mitternacht kroch er in den Schlafsack.

Fred wälzte sich auf der gegenüberliegenden Seite hin und her.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Jo.

„Mir ist immer noch schlecht.“

„Das geht vorbei. Hab übrigens erfahren, was los ist. Kann mir denken, wie du dich fühlst. Hab auch eine Bruchlandung hinter mir.“

„Echt?“

„Ja, das war blöd.“

Yvonne. Ein Energiebündel. Witzig. Attraktiv. Wenn sie sprach, wippten die Spitzen ihrer zum Bob geschnittenen Haare. Das Wort Verlobung war gefallen. Sie ging gerne ins Kino und in edle Restaurants. Segeln war nicht ihr Ding. Sie machte Überstunden, arbeitete am Wochenende. Als sie ihm vor einem Jahr eröffnet hatte, sie wolle das Leben fortan mit ihrem Chef teilen, war Jo wenig überrascht gewesen.

Ihm fiel ein, dass Yvonne am nächsten Tag ihren 35. Geburtstag feiern würde. Sollte er ihr gratulieren?

„Irgendwann verliebst du dich neu“, sagte er in die Dunkelheit.

Fred antwortete nicht mehr.

*

12

Melindas Handy vibrierte auf dem Küchentisch.

Lass uns skypen!

Sie sprintete ins Wohnzimmer und fläzte sich mit dem Laptop auf die Couch. Auf dem Bildschirm ploppte eine Mähne perlenverzierter Zöpfchen auf, darunter dicke, runde Brillengläser. Warum trug Tamara keine Kontaktlinsen?

„Hi, Tammy. Wie war dein Tag?“

„Chaotisch. Heute Morgen habe ich eine Linse verloren. Hab sie immer noch nicht wiedergefunden. Ich hasse die Brille.“ Tamara lächelte schief. „Egal. Und bei dir so? Du siehst aus, als wäre dir ein Gespenst begegnet. Liegt es an mir?“ Sie rollte mit den Augen.

Melinda versuchte, zu lächeln, was misslang. „Sascha hat sich gemeldet.“

„Sascha?“ Tamara hob die Hände, als hätte sie sich die Finger verbrannt. „Er wagt es …“

Melinda schwieg.

„Wie kommt der an deine Nummer?“

„Das frage ich mich auch.“

„Und was wollte er?“

„Dass ich ihn anrufe.“

„Was du hoffentlich nicht getan hast.“

„Doch.“

Tamara hielt sich kurz die Hände vor das Gesicht. „War ja klar.“

Melinda gab keine Widerworte.

„Worum ging es?“

Sie erzählte die Geschichte mit der beschmierten Windschutzscheibe.

„Krass!“, rief Tamara. „Geschieht ihm ganz recht.“

„Schon, aber Sachbeschädigung geht gar nicht“, sagte Melinda heftiger, als beabsichtigt. „Er wollte wissen, ob ich was damit zu tun hätte.“

„Als ob du …“ Tamara runzelte die Stirn. „Bist du sicher, dass er die Story nicht erfunden hat?“

Melinda überlegte kurz und antwortete dann: „Fantasie hat er.“

„Er soll dir ein Foto schicken.“