Rühr mich nicht an - Molly Katz - E-Book

Rühr mich nicht an E-Book

Molly Katz

0,0

Beschreibung

Ein Psychothriller der Extraklasse – typisch Molly Katz: Schlaflose Nächte garantiert! Die junge und erfolgreiche Talkshow-Moderatorin Lynn findet nach vielen unglücklichen Beziehungen endlich den Partner fürs Leben. Es ist ein Mann wie aus dem Bilderbuch. Er ist der perfekte Liebhaber und scheint die geheimsten Wünsche der Frauen zu kennen. So erobert er nicht nur Lynn, sondern auch ihren gesamten Freundes- und Bekanntenkreis im Sturm. Sehr früh kommen ihr allerdings Zweifel an seinem Auftreten. Und es dauert nicht lange, bis sie erkennt, dass sie es mit einem gefährlichen Psychopathen zu tun hat, der nur von einem einzigen Wunsch besessen ist: sie vollständig zu beherrschen. Er arbeitet mit allen erlaubten und unerlaubten Tricks, und nur mit Mühe gelingt es Lynn, Hilfe zu finden. Denn kein Mensch in ihrer Umgebung glaubt ihr, dass dieser Traummann teuflisch ist... "Hochspannung bis zur letzten Seite!" (Norddeutscher Rundfunk)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 519

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ein Psychothriller der Extraklasse – typisch Molly Katz: Schlaflose Nächte garantiert!

Die junge und erfolgreiche Talkshow-Moderatorin Lynn findet nach vielen unglücklichen Beziehungen endlich den Partner fürs Leben. Es ist ein Mann wie aus dem Bilderbuch. Er ist der perfekte Liebhaber und scheint die geheimsten Wünsche der Frauen zu kennen. So erobert er nicht nur Lynn, sondern auch ihren gesamten Freundes- und Bekanntenkreis im Sturm. Sehr früh kommen ihr allerdings Zweifel an seinem Auftreten. Und es dauert nicht lange, bis sie erkennt, dass sie es mit einem gefährlichen Psychopathen zu tun hat, der nur von einem einzigen Wunsch besessen ist: sie vollständig zu beherrschen. Er arbeitet mit allen erlaubten und unerlaubten Tricks, und nur mit Mühe gelingt es Lynn, Hilfe zu finden. Denn kein Mensch in ihrer Umgebung glaubt ihr, dass dieser Traummann teuflisch ist...  

"Hochspannung bis zur letzten Seite!" (Norddeutscher Rundfunk)

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel "Nobody Believes Me" Edel eBooks Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2015 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © der Originalausgabe 1994 by Molly Katz

Copyright © der deutschsprachigen Erstausgabe 1995 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH

Ins Deutsche übersetzt von Anna Kuhlig-Wilkinson

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-665-6

facebook.com/edel.ebooks

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

1. KAPITEL

Mit gepflegten, rosalackierten Fingernägeln zog die Frau ihren linken Ärmel hoch. Kamera 1 fuhr zur Nahaufnahme dicht an die blauverfärbte Stelle an ihrer Schulter heran. Sie war dort fehl am Platz, ein buntschillerndes Mal auf reiner, schimmernder Haut.

»Das bleibt für immer«, sagte die Frau mit sanfter Stimme.

Lynn Marchette, die mit dem Rücken zum Publikum im mittleren Gang stand, blickte in den ihr am nächsten stehenden Monitor.

»Für immer?« Lynn sprach in ihr Handmikrofon. »Handelt es sich um eine Tätowierung?«

»Nein. Das ist ein blauer Fleck.«

»Blaue Flecken gehen ja für gewöhnlich wieder weg. Aber Sie sagen, der hier bleibt?«

Die Frau nickte. »Wenn wir irgendwo hingefahren sind und uns verfranst haben, hat mich mein Mann immer hier draufgeboxt. Das hat er so oft gemacht, daß der blaue Fleck schließlich nicht mehr weggegangen ist.«

Die anderen Gäste in der Gesprächsrunde, lauter Frauen, blickten sie traurig und verständnisvoll an. Lynn befragte sie weiter. »Waren Sie denn in irgendeiner Weise Schuld daran, daß er sich verfahren hatte?«

»Nein, überhaupt nicht.«

»Er hat Sie dennoch einfach geboxt?«

»Ja.«

Keine der anderen Frauen in der Runde wirkte auch nur im mindesten überrascht. Da sie allesamt ihre eigenen Erfahrungen mit Gewalt in der Ehe hatten, waren sie derart abnormes Alltagsverhalten gewöhnt.

»Sie haben also niemals irgend etwas gesagt oder getan, aber Ihr Mann hat Sie trotzdem geboxt, wenn er sich unterwegs verfahren hat?«

»Ja«, sagte die Frau.

»Er hat seinen Frust abreagiert. Sie buchstäblich als Sandsack benutzt.«

»Genau.«

Kopfschüttelnd wandte sich Lynn um und nahm Fragen aus dem Publikum entgegen. Sie hielt einer schwarzen Frau um die Dreißig das Mikro hin.

»Ich möchte die anwesenden Frauen jetzt gerne fragen, weshalb sie sich schließlich um Hilfe bemüht haben.«

Während sie die Antworten moderierte, suchte Lynn im Publikum nach weiteren Fragestellern. In der Vorbereitungsstunde, während der sie sich mit allen Beteiligten bekannt machte, bekam sie einen ersten Eindruck, wer was fragen würde. Die Fähigkeit, eventuelle Entwicklungen zu erahnen, während Auge und Ohr auf eine Vielzahl anderer Aufgaben konzentriert waren, war ein kostbares Talent. Oprah und eine Reihe anderer Talkmaster besaßen es. Sie hoffte nur, daß sie auch über deren andere Fähigkeiten verfügte. Bei der Geschäftsleitung von Channel 3 glaubte man es anscheinend.

Ab und zu glaubte es sogar Lynn.

Ein muskulöser, blonder junger Mann fragte, ob einige Frauen vielleicht übertrieben. Als im Publikum Buhrufe ertönten, brachte Lynn die Gäste behutsam zum Schweigen und verschaffte sich Gehör. Sie wandte sich an die einzige bisher stumme Diskussionsteilnehmerin, eine grauhaarige Großmutter mit gehetztem Blick, die ständig ihre Haare aus dem Gesicht strich.

»Was wollen Sie uns zeigen, Vera? Können wir die Kamera bitte einmal auf Vera richten?«

In Sekundenschnelle zeigten sämtliche Monitore eine zentimeterbreite Narbe, die von Veras Ohr bis zur Augenbraue verlief.

»Wie ist das geschehen?« wollte Lynn wissen.

»Er ist mit einem Meißel auf mich losgegangen. Hat mir damit das ganze Gesicht zerschrammt.«

Lynn, die ein Zeichen von der Studioregie bemerkte, wandte sich zur Kamera. »Wir melden uns gleich wieder zurück. In wenigen Minuten erfahren Sie mehr über diese tapferen Frauen.«

Als die Gäste nacheinander das Studio verließen, schüttelte Lynn ihnen die Hände und wünschte ihnen alles Gute. Ein paar umarmten sie.

Was die Gefühle gegenüber ihren Gästen anging, neigte sie zu Extremen. Zu gerne entlarvte sie während ihrer Sendung Buhmänner, wie zum Beispiel Vermieter, die ihre Häuser kriminell vernachlässigten, verabscheute es aber, hinterher auch nur in ihre Nähe zu kommen. Die armen Opfer wollte sie am liebsten mit nach Hause nehmen und mit heißer Suppe verwöhnen.

Kara Millet, ihre Produktionsleiterin, klopfte ihr auf die Schulter, als sie sich gerade von der letzten mißhandelten Ehefrau verabschiedete. Kara war pummelig, hatte kupferrote Haare und trug lange Röcke im Zigeunerlook.

»Tolle Sendung.«

Lynn wandte sich um. »Danke.«

»Erinnere mich bitte nicht daran, daß wir dieses Thema eigentlich nicht noch mal einplanen wollten.«

Lächelnd schüttelte Lynn ihre dunklen Locken. »Ich wußte, daß ich recht hatte. Über familiäre Gewalt kann es gar nicht genug Beiträge geben. Die Leute ziehen sich das rein und brüllen nach mehr.«

»Es liegt daran, wie du das Thema anpackst. Du verhehlst nicht, was du davon hältst. Du hast die Zuschauer in der Tasche, weil sie bei dir nie den Eindruck haben, daß du die Gäste ausnutzt oder dich am Thema aufgeilst.«

Lynn fischte sich ein Stück Krapfen aus dem Chaos rund um die Kaffeemaschine. »Na ja, im Grunde ist jeder Fernsehmensch ständig auf der Suche nach etwas Neuem. Hier ist Geraldo«, sagte sie und warf sich in Pose, »mit kleptomanischen Nonnen. Hier ist Sally... mit schizophrenen Oberinnen. Dagegen fallen die wahren Probleme oft unter den Tisch, weil sie nicht genug Unterhaltungswert bieten. ›Was, noch eine geprügelte Ehefrau? Gähn. Gibt’s nicht irgendwo eine Show‹?«

»Iß das nicht.« Kara nahm das Stück Krapfen. »Ich hole dir einen frischen.«

Lynn nahm ihn sich wieder. »Ich will ihn ja gar nicht ganz essen. Ich bin zum Abendessen bei meinem Bruder eingeladen. Er wird sauer, wenn ich mich nicht vollstopfe.«

»Oh, deine Schwägerin hat angerufen. Sie möchte wissen, ob du jemanden mitbringst.«

»Ich habe ihr doch schon gesagt, daß ich allein komme.«

Das Wandtelefon klingelte. Kara drückte auf den Leuchtknopf. »Lynn-Marchette-Show. Kann ich Ihnen helfen? ... Sie steht gleich neben mir.«

Kara drückte den Hörer an die Brust und flüsterte tonlos: »Orrin.« Lynn schnappte sich den Hörer.

»Dennis?«

»Hallo, Lynn. Das war eine Höllensendung.«

»Hat sie Ihnen gefallen?«

Der Programmdirektor gluckste. »Das hat sie, aber ich war nicht der einzige. Fünf Leute von QTV haben sie sich in meinem Büro mit angesehen.«

Ihr Herz hämmerte. »Was haben sie davon gehalten?«

»Sie waren beeindruckt. Die sprechen von einer Übernahme.«

»Ja, wirklich? O mein Gott! Dennis, warum haben Sie mir nicht gesagt, daß die hier sein werden?«

»Ich wollte, daß sie Sie von Ihrer besten und natürlichsten Seite erleben. Und ich konnte mich selbst nicht groß darauf einstellen. Sie sind heute morgen eingeflogen und schon wieder auf dem Rückweg nach Los Angeles.«

»Und es hat ihnen wirklich gefallen?«

»Die waren wie gebannt. Sie haben alle die Luft angehalten, als Sie diesen Moment inszeniert haben, in dem die Frau ihre Narbe zeigt.«

»Ich inszeniere nichts –«

»Ich weiß, ich weiß, aber egal, wie Sie es nennen, sie haben jedenfalls diese Atmosphäre mitbekommen. Sämtliche Gäste, das ganze Publikum – das hätten Ihre Brüder und Schwestern sein können.

Diese Herrschaften sind die ganze Woche im Land herumgefahren und haben sich Probesendungen angesehen. Die waren völlig groggy, als sie hier in Boston angekommen sind. Aber Sie haben sie aufgeweckt.«

Lynn faltete die Hände. »Was passiert jetzt? Werden sie mich anrufen?«

»Die möchten, daß Sie nächsten Mittwoch nach Los Angeles kommen.«

An diesem Abend störte Lynn nicht einmal der Verkehrsstau auf der Tobin Bridge. Sie ließ die Fenster des Lexus offen, damit die kühle Luft an ihr erhitztes Gesicht dringen konnte. Das Radio war an, aber sie nahm es kaum wahr. Sie suchte nicht einmal nach den örtlichen Telefon-Talk-Shows.

Erstaunlich, was ein Anruf aus Hollywood bewirken konnte.

Sie konnte es kaum erwarten, zu Booboo und Angela zu kommen und es ihnen zu erzählen.

Ihr Bruder würde johlen und toben und seine mächtige Gestalt verrenken, um sie mit einer pythonartigen Umarmung zu umschlingen. Angela würde die Umsichtige spielen, Fragen stellen und sie beide zu beruhigen versuchen. Aber dennoch würde Booboo das Ganze mit ihr auskosten, ihr beistehen, bis sie selbst glaubte, daß es ihr nicht mehr entgleiten konnte.

Für sie war Glück erst dann greifbar, wenn sie es mit Booboo teilen konnte.

»Brauchst du denn keine neue Kleidung?« fragte Angela, während sie Kaffee eingoß. Sie schnüffelte. »Ist das etwa wieder dieses französische Zeug? Ich dachte, wir wollten heute abend die Javamischung probieren.«

»Ich habe einfach zur erstbesten Tüte gegriffen«, sagte Booboo. »Den Java können wir ja zum Frühstück trinken.«

Lynn trank einen Schluck. »Ein Kleid, nehme ich an. Oder ein Kostüm. Vielleicht kaufe ich mir auch gar nichts. Ich habe tonnenweise Sachen zum Anziehen.«

»Aber das ist in Kalifornien«, sagte Angela. Sie faßte nach ihrem feinen, modisch hochgerafften Haar.

»Und ich bin aus Boston. Das wissen sie. Genau das wollen sie ja haben.« Geistesabwesend betrachtete Lynn den Tisch, während sie in Gedanken ihren Kleiderschrank durchging. Aber sie war noch immer viel zu aufgekratzt, konnte sich kaum besser konzentrieren als vorhin im Auto.

»Ich glaube, ich habe alles, was ich brauche«, erklärte sie.

Booboo lächelte. »Vom Selbstbewußtsein mal abgesehen. Zu schade, daß es keinen Versandhauskatalog gibt, wo man sich das bestellen kann.«

»Na ja, du bist ja da.«

»Und nicht bloß ich. Sondern auch noch dein Chef und deine Produktionsleiterin. Und all die Menschen, die dir zuschauen, und diejenigen, die dir schreiben, und jetzt dieses Syndikat.«

Kara blickte auf ein paar Mannequins in Abendkleidern, geschmeidige weibliche Wesen mit unmöglichen Hüftknochen.

Aber eine von ihnen trug ein Kleid, das wie für Lynn geschaffen war.

Sie entdeckte ein Münztelefon.

»Fünfzehn Meter vor mir ist das umwerfendste Kleid, das ich je gesehen habe. Du mußt kommen und es dir ansehen. Vergeude den Samstag nicht mit deiner blöden Post.«

»Aber ich bin nächste Woche drei Tage weg.«

»Das kriegen wir schon hin. Und jetzt komm und sieh dir dieses Kleid an.«

»Bist du in einem dieser Läden, wo die Kleider an Models vorgeführt werden? Damit man nicht sieht, wie viele sie noch auf Lager haben?«

»Nein. Ich bin bei Lord und Taylor. Erster Stock. Wir treffen uns am Fahrstuhl.«

Binnen zwanzig Minuten war sie da (typisch Lynn), bekleidet mit Leggings, Sneakers und Schlabbersocken zu einem langen, übergroßen Pullover (sehr untypisch für Lynn). Sie verbrachten so viel Zeit bei der Arbeit miteinander, daß Kara immer wieder vergaß, daß Lynn auch so aussehen konnte – eher wie achtzehn denn wie achtunddreißig, eher Klassensprecherin als Fernsehprofi.

»Ich weiß nicht, was ich hier soll«, grummelte Lynn, noch bevor der Fahrstuhl oben war. »Ich brauche nichts.«

»Ebenfalls einen wunderschönen guten Tag.«

»Oh, entschuldige. Tut mir leid.« Sie umarmte Kara und drückte ihre üppige Schulter. »Ich bin nicht ganz bei mir.«

»Du bist durchaus bei dir. Du zerbrichst dir bloß den Kopf wegen deiner Reise. Vielleicht lenkt dich das hier etwas ab. Da drüben ist es.«

»O mein Gott!« Lynn trat näher, während sie von dem breiten, herzförmigen Ausschnitt zu den schulterfreien Hängeärmeln blickte ... auf die riesigen Pailletten, mit denen es rundum besetzt war. Die Perlmuttscheiben, in denen sich pastellfarben funkelnd das Licht brach, waren so groß wie halbe Dollar. Sie verdeckten den Stoff und baumelten von dem kurzen Rocksaum.

»Probier es an«, sagte Kara.

»Ich trau mich nicht. Ich könnte mich darin verlieben. Aber ich habe keine Verwendung dafür.« Sie blickte auf das Schild. »Vierhundertneunzig Dollar. Kommt überhaupt nicht in Frage.« Trotzdem machte sie keine Anstalten zu gehen.

Kara berührte eine Paillette. »Du fliegst an die Westküste. Du stehst kurz vor dem großen Durchbruch. Es wird Partys geben.«

»Wenn es welche gibt, kann ich mir immer noch etwas kaufen.«

»Niemand findet ein Kleid, wenn er unter Druck steht. Das ist ein Naturgesetz.« Sie schob Lynn näher zu dem Mannequin hin. »Dieses glänzende Zeug wird toll an dir aussehen.«

Die Verkäuferin, die aussah wie Chers Großmutter, führte sie zu einem Umkleideraum. Sie beäugte Lynns Sneakers, ging hinaus und tauchte mit einem Paar gebrauchter rosa Pumps wieder auf.

»Ich hatte recht«, sagte Kara, als Lynn alles angezogen hatte. »Gefällt es dir?«

»Ja.« Lynn zupfte den einen Ärmel zurecht. Sie verzog das Gesicht. »Zuviel Speck hier«, sagte sie und bewegte die Oberarme, so daß das Fleisch wackelte. »Das muß straffer werden.«

»Oder etwas brauner. Dann kann man viel mehr Haut zeigen. Also, nimmst du’s nun?«

Schicksalsergeben blickte Lynn Kara im Spiegel an. »Ja.« Sie drehte sich um, um sich von der Seite zu betrachten, blieb mit einem Pfennigabsatz im Teppichboden hängen und stolperte.

Kara fing sie auf. »Paß auf, welche Schritte du machst«, sagte sie. »Du weißt nie, ob jemand da ist, der dich auffängt.«

»Wieviel Torschlußpanik traust du mir eigentlich zu?«

»Mäßige bis große.«

Lynn sah sich ironisch lächeln.

»Ich sollte nicht soviel Geld ausgeben«, sagte sie. »So ein Kleid zieht man nur für jemand Besonderen an, der verrückt nach einem ist. Und wenn so jemand in der Nähe sein sollte, hat er sich jedenfalls gut versteckt.«

»Hör auf damit. Nimm das Kleid. Du brauchst nichts weiter zu tun, als es anzuziehen, und schon stehen die Typen Schlange. Aber bloß für den Fall, daß«, sagte Kara, während sie den Reißverschluß öffnete. »Sehen wir doch mal, wieviel sie für die Schuhe wollen.«

Lynn konnte nicht aufhören, aus dem Flugzeugfenster zu sehen. Es war ihr gleichgültig, ob die Leute sie für provinziell hielten.

Sie war in ihrem Leben so selten geflogen. Bislang war sie nur auf lokaler Ebene erfolgreich gewesen. Das würde sich nun vielleicht ändern.

Aber sie konnte sich nicht darauf verlassen. Die mögliche Übernahme konnte so oder so ausgehen. Sie war lange genug beim Fernsehen, um das zu wissen, hatte oft genug Bostoner Spitzenleute erlebt, die man geschminkt und gepudert, bewirtet und umschmeichelt hatte. Und die am Ende eiskalt fallengelassen worden waren.

Nicht persönlich gemeint. Sie verstand das durchaus. Um sich landesweit durchzusetzen, mußte man absolut die Beste sein. Stellte sich heraus, daß man es nicht war – nun, dann schnitt man sich zwar nicht gerade die Pulsadern auf, aber man wurde auch keine landesweit bekannte Persönlichkeit.

Nun lag es an ihr, es herauszufinden.

Sie flogen gerade über Iowa. Die Landschaft unter den Wolkenfetzen war parzelliert, lauter grüne und braune Flächen, dazwischen grau schimmernde Teiche, Gebäudeansammlungen. Sie war zu hoch, um Tiere erkennen zu können, doch Lynn wußte, daß welche da sein mußten. Sie wußte noch viel mehr als das.

Als kleines Mädchen hatte sie sich auf der Farm ihrer Eltern im Osten von Tennessee um die Hühner und Schweine gekümmert. Es war nur eine von vielen Pflichten, aber ihre liebste, denn wenn sie mit ihrem Tagewerk fertig war, wurden die Tiere ihr Publikum. Sie las ihnen immer die Schulaufsätze und die Gedichte vor, die sie geschrieben hatte. Sie waren die einzigen, die Zeit zum Zuhören hatten.

Im Grunde genommen war sie also wirklich eine Landpomeranze.

Sie wandte sich vom Fenster ab und griff zu der Illustrierten, in die sie noch keinen Blick geworfen hatte.

Mit ihren schmalen Hüften und dem wild herumfliegenden dunklen Haar hatte sie damals auch entsprechend ausgesehen. Wenigstens war das jetzt in Mode. Sie hatte ihre Redeweise ändern müssen – nicht bloß ihren Akzent, sondern auch die Feld-Wald-Wiesen-Ausdrucksweise, durch die Farmerskinder immer wie Siebzigjährige klangen. Die Sprache ihres Bruders verriet noch immer seine Herkunft. Seine Freunde und Kollegen in der Bank neckten ihn andauernd deswegen.

Aber andererseits stammten zahlreiche Medienstars aus der Provinz. Alles, was sie in ihrem Beruf wußte, hatte sie von Phil Donahue gelernt – und der war selbst ziemlich provinziell, hatte doch seine märchenhafte Karriere in Dayton, Ohio, angefangen.

In ihrem ersten Jahr im College hatte Lynn sich seine Methode genau angesehen, als Phil seine Sendungen noch vor Publikum in Dayton moderierte.

»Ich brauche Ihre Hilfe«, hatte Phil dem Publikum erklärt. »Sie sind die Show. Ich brauche Sie. Sie müssen gute Fragen stellen, damit ich nicht dumm dastehe.« Er hatte ihre Namen auswendig gelernt und während der Werbepausen mit ihnen geredet: »Wie geht’s denn so, Betsy? Lassen Sie sich eine gute Frage an den Senator einfallen, Joe.«

Natürlich waren sie begierig darauf, ihm zu helfen, konnten kaum erwarten, daß Phil sie brauchte. Und weil das so war, hatten die Zuschauer daheim das Gefühl, sie stünden auf und stellten dem Senator Fragen.

»Man lebt und stirbt mit seinem Publikum«, war Phil einmal zitiert worden. Und Lynn hatte diese Ermahnung genauso ernst genommen wie eine neue Lektion in der Schule.

Von den gemeinsamen provinziellen Anfängen einmal abgesehen, konnte sie nur hoffen, daß sie heute zumindest halb soviel Können an den Tag legte wie er.

Aber war der Provinzialismus nicht nur ein Ablenkungsmanöver? Im Grunde genommen machte sie sich doch nur darüber Sorgen, daß es mit ihrer Übernahme nicht klappen könnte.

Daß sie nicht gut genug war.

Oder viel wahrscheinlicher, daß zwar alles gut genug war und auch klappte. Und sie es dann selbst sabotieren würde. Wieder in die eine oder andere ihrer destruktiven Gewohnheiten verfallen würde. Es selbst vermasselte, weil sie der Meinung war, sie würde es nicht verdienen.

Sie legte die Illustrierte hin und reckte wieder den Hals, um aus dem Fenster zu gucken.

Nach den Konferenzen wurde Lynn in ein wunderschönes Restaurant namens Geoffrey’s in Malibu ausgeführt – einer der Treffpunkte von Hollywood, wie man ihr sagte. Es lag direkt am Pazifik. Sie saßen alle draußen an einem Tisch für sechs, inmitten von Schalen mit betörenden Blütenpflanzen. Auf Säulen aufgebaute Heizstrahler erwärmten die salzige Brise.

Lynn saß zwischen Vicky Belinski, bei QTV Vizepräsidentin für landesweite Verbundsendungen, und Len Holmes, dem stellvertretenden Programmchef. Der Nachmittag hatte aus einem drei Stunden langen, trügerisch entspannten Geplauder in stillen, malvenfarbigen Büros bestanden, Gesprächen, in denen jeder noch so bruchstückhafte Gedanke angeschnitten worden war, den sich Lynn je über das Fernsehen gemacht hatte. Ihre Herkunft. Ihr Wissensstand. Direkte Fragen, indirekte Fragen, gar keine Fragen. Vicky lachte oft ausgelassen, Len war eher zurückhaltend.

Sie hatte sich nicht vorbereitet, wenn man von dem einen oder anderen Übungsball absah, den sie sich von Kara hatte zuwerfen lassen. Zuviel zu proben wäre ein Fehler gewesen. Ihre Spontaneität war es, die sie kaufen wollten, und die konnte sie ihnen nur auf eine Art vermitteln.

Aber sie war erschöpft. Selbst dieses Essen war ermüdend. Die größte Hürde war genommen, aber sie wurde noch immer von fünf Menschen eingeschätzt, die sich überlegten, ob sie ein Vermögen in ihre Person investieren sollten ... nicht gerade die beste Voraussetzung für ein lockeres Beisammensein.

Vicky reichte ihr einen Korb mit Brot. Der Korb war rosa und silbern lackiert, und die Brotscheiben in dem warmen Tuch waren knusprig weich und mehlig. Der Duft erinnerte sie mit einem Mal daran, wie hungrig sie war. Sie nahm ein Stück und bestrich es mit Butter.

Unter ihnen klatschte die Brandung, Dunst tanzte um die Heizstrahler. Durch die Nahrungsaufnahme wurde sie etwas gelöster. Und als sie gelöster wurde, fühlte sie sich allmählich auch besser, genoß die Freude über das, was da geschah.

Weil es geschah. Sie wußte, daß sie sämtliche Prüfungen bestanden hatte und sie auch weiter bestehen würde, während sie hier saßen. QTV, einer der gewichtigsten Verbundsender, war überaus interessiert, ihre Sendung einzukaufen. Aus ihr eine Art Oprah zu machen, eine Sally Jessy.

EineLynnMarchette.

Mit diesem Gedanken vertilgte sie das letzte Stück Brot und nahm sich eine neue Scheibe.

An einem Abend vor neun Jahren hatte sie ebenfalls Brot in der Hand gehalten. Aber es war nicht warm und kroß gewesen, sondern weiß und mit Mayonnaise und Thunfischöl getränkt.

Ihre Wohnung bestand damals aus zwei winzigen, über einer Pizzeria an der Huntington Avenue gelegenen Zimmern. Sie kostete 280 Dollar im Monat, kaum erschwinglich bei dem Gehalt, das sie für das Auswählen von Studiogästen für die Carl-Cusack-Show beim WBHJ-Radio erhielt – ein Job, den sie trotz des Hungerlohnes bereitwillig angenommen hatte, da Carl dafür bekannt war, daß er seine Helfer auf Sendung gehen ließ. Für eine Möchtegern-Talkmasterin, die neu in Boston war und deren bisherige Anstellungen beim Radio ihr noch keine derartige Chance geboten hatten, war das ein Traumangebot.

Weniger bekannt indessen war die Tatsache, daß Carl einen Preis für die Publicity forderte. Nichts vordergründig Schmutziges – auf diese Weise verschaffte sich der Mann nicht sein Vergnügen. Carl Cusack raste und tobte vielmehr und erniedrigte seine Mitarbeiter. Er köderte sie und stellte ihnen Fallen.

Bislang hatte Lynn ihm aus dem Weg gehen können, hatte schweigend oder ruhig, mit logischen Antworten auf seine Sticheleien reagiert. Noch war sie nicht das auserwählte Opfer des Tages geworden – aber sie war auch noch nicht auf Sendung gewesen. Weil sie noch nicht darauf gekommen war, daß man reagieren mußte – weinen und zittern und sich vor Angst ganz klein machen –, wenn man sich die Belohnung verdienen wollte.

An diesem Januarabend kam sie nach einem Kiefereingriff mit geschwollener Wange zur Arbeit. Der Zahnarzt hatte darauf bestanden, sie solle nach Hause gehen und sich mit einem Eisbeutel hinlegen, doch das konnte sie nicht; die Kosten der lange hinausgeschobenen Behandlung hatten ihre letzten Reserven aufgezehrt, unter anderem auch den Großteil der Miete für den laufenden Monat. Carl bezahlte einen nicht, wenn man nicht da war.

»Was haben Sie denn angestellt, ein halbes Backenhörnchen gegessen?« sagte Carl zur Begrüßung. Sein flinker, trockener Witz war einer der Gründe, weshalb er bei den Kritikern ebenso beliebt war wie bei den Zuhörern.

»Zahnbehandlung«, sagte Lynn, die so deutlich sprach, wie das bei einer Zunge möglich war, die sich anfühlte, als habe ihr jemand ein ganzes Ei in den Mund gestopft.

Carl hob die Augenbrauen.

»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte Lynn, noch bevor er irgendwelche Zweifel äußern konnte, ob ihre Anwesenheit sinnvoll sei.

Irrtum. »Ich entsinne mich nicht, mich nach Ihrem Befinden erkundigt zu haben.«

Lynn nickte mit gesenkten Augen, während sie am gemeinschaftlichen Schreibtisch der Assistenten die Werbebeiträge überflog.

»Ja?« brüllte Carl. »Habe ich da etwa ein Ja von Ihnen gehört? Auf welche Frage, wenn ich das wissen dürfte?«

Lynn blickte auf. Seine ständig geröteten Augen waren weit aufgerissen und auf sie gerichtet.

»Ich wollte bloß bestätigen, was Sie sagten.«

Sie sprach nicht besonders gut; bei dem langen Wort hatte sie eine Silbe verschluckt. Und die Wirkung des Novocains verflog, so daß sie die schmerzhaft pochende Wunde hinter ihren rechten oberen Backenzähnen spürte.

»Zitieren Sie die Präambel der Verfassung«, sagte Carl.

Lynn runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

Carl bückte sich, so daß sein Gesicht auf gleicher Höhe mit dem ihren war. »Wir ... das ... Volk«, nölte er. »Fahren Sie fort. Wir ... das ... Volk ...«

»Lieber nicht.«

»Kennen Sie sie etwa nicht? Hier ist was Leichteres – die Ansprache von Gettysburg. ›Vor siebenundachtzig Jahren ...‹ Führen Sie das bitte zu Ende.«

»Sie möchten, daß ich die Ansprache von Gettysburg aufsage?«

»Genau«, sagte Carl mit gespielter Langmut.

Lynn stieß mit der Zunge an die Wunde und zuckte zusammen. Der Schmerz breitete sich über ihre ganze rechte Kopfseite aus. Sie kannte diese Kopfschmerzen nur zu gut, wußte, daß sie durch die Zahnschmerzen schlimmer wurden.

Sie schaute Carl mit festem Blick an, während sie zu dem Entschluß kam, daß sie sich am besten aus der Affäre zog, indem sie es durchstand.

»Vor siebenundachtzig Jahren ... wurde auf diesem Erd ... Erd ...«

»Erd-teil.«

Lynn lehnte sich zurück, um seinem starren Blick und seinem Atem zu entgehen. » ... eine Nation geschaffen, die, in Freiheit geboren, dem Grundsatz ...«

Sie mußte abbrechen und eine Sekunde innehalten. Bei bestimmten Klängen rieb ihre Wange an der Wunde, und jede Berührung rief Schmerzen hervor.

» ... hul ... huldigt, daß ...«

Carl schlug auf den Schreibtisch. »Raus hier.«

»Was? Nein, bitte ...«

»Wie können Sie es wagen, sich in meine Sendung zu drängen, wenn Sie mehr als nutzlos sind? Ich brauche fähige Assistenten am Telefon, keine lallenden, stammelnden Trottel. Das ist ja unerhört. Sie sind daran schuld, daß ich in letzter Minute unterbesetzt bin.«

»Ich bin durchaus arbeitsfähig. Ich –«

»Raus hier, habe ich gesagt. Und nehmen Sie Ihre Habseligkeiten gleich mit. Sie arbeiten nicht mehr für mich.« Er drehte sich um und ging mit langen Schritten weg.

Lynn schnappte nach Luft. Es klang fast wie ein Schluchzen. Sie rannte hinter Carl her, packte ihn an seinem Wollsakko. »Bitte. Ich brauche diesen Job. Ich muß nur noch ein paar Excedrin nehmen. Ich werde –«

»Wie können Sie es wagen!« Sein Atem fauchte sie an. »Sie brauchen den Job? Und deshalb sollte ich zulassen, daß in einem hochklassigen Programm an entscheidender Stelle Unterdurchschnittliches geleistet wird?« Er hob den Arm, als wolle er sie schlagen, hieb aber nur an die Wand. »Was Sie brauchen, ist Nachhilfeunterricht in Selbsteinschätzung, aber ich habe nicht die Zeit, Ihnen den zu geben – ich muß eine andere Assistentin finden, damit ich auf Sendung gehen kann.« Wieder schlug er an die Wand. »Und machen Sie sich nicht die Mühe, beim Gehen die Tür zuzuschlagen. Soviel Krach wie ich können Sie gar nicht machen.«

Mel Medoff, der Programmdirektor, war noch in seinem Büro. Er hörte sich lediglich den Anfang von Lynns Geschichte an, verdrehte die dunklen, wissenden Augen und komplimentierte sie hinunter in die Cafeteria gegenüber vom Sender.

Irgendein Überlebensinstinkt setzte sich durch, und trotz des pochenden Loches in ihrem Mund war Lynn hungrig. Sie stopfte den Großteil eines Thunfischbrotes in sich hinein, während Mel ihr die harten Tatsachen darlegte.

»Der Sender engagiert, feuert oder bezahlt Carls Leute nicht. Wie Sie sicher wissen. Sie haben recht – er ist ein Arschloch. Aber ich kann mich nicht einmischen.«

»Gibt es andere freie Jobs beim Sender?«

Mel schüttelte den Kopf, noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte. »Carl würde Gift und Galle spucken, wenn wir Sie einstellen würden.« Er breitete die Arme aus. »Was soll ich sagen? Sie sind ausgetrickst worden. Es ist nicht fair. Aber er hat die Einschaltquoten ...«

Als sie nach Hause ging, hatte sie in einer Serviette eine Scheibe Brot bei sich; das war alles, was von der Mahlzeit übriggeblieben war. Sie konnte sich nicht einmal einen anderen Job suchen, bevor sie wieder sprechen konnte, und ihre Speisekammer war genauso leer wie ihr Geldbeutel.

Es gab niemanden, von dem sie sich etwas hätte borgen können. Den Pizzabäckern unten schuldete sie dauernd Miete, und Booboo, der damals noch nicht bei der Bank arbeitete, kam daheim in Tennessee mit Mühe und Not über die Runden, indem er das zusammenzuhalten versuchte, was von der Farm übriggeblieben war.

Wasfür eineIronie desSchicksals, lautete ihr letzter Gedanke, bevor sie in den Schlaf sank, nachdem sie ihre Stirn gekühlt und vier Excedrin geschluckt hatte.

Schon jetzt war sie gierig auf die aufgeweichte Brotscheibe, die sie wie Hänsel und Gretel würde rationieren müssen, weil sie ihre einzige Nahrung für die nächsten Tage war.

In Boston hatte sie den Durchbruch schaffen wollen: erst bei der Cusack-Show, dann bei noch einer und noch einer, und dann hätte man einen neuen Star zu bewirten und zu umgarnen ...

Als der Kaffee kam, war es bereits dunkel. Die Lichter im Freien, die Blumen, die warme Luft von den Heizstrahlern, all das war wie ein tropischer Baldachin, den man über Lynn ausgebreitet hatte. Nach etlichen Gläsern Wein und dem ausgezeichneten kalifornischen Essen kam es ihr vor, als könne sie gar nicht mehr aufhören zu lächeln.

Die Leute an ihrem Tisch waren mit einer Gruppe Werbeleute von einer Agentur aus Los Angeles am Nebentisch ins Gespräch gekommen. Zwei der Werbemenschen kannten einen der Männer von QTV. Lynns Gedanken schweiften von der Unterhaltung ab, und sie blickte eine Weile aufs Meer und kostete die betörende Aussicht aus, daß Orte wie dieser für sie bald alltäglich sein würden. Als sie sich wieder den anderen zuwandte, reichte Len Holmes gerade die Schokoladentorte an den anderen Tisch weiter.

»Es macht Ihnen doch hoffentlich nichts aus«, sagte Len. »Wir dürfen dafür deren Pflaumensorbet probieren.«

Lynn lachte und nahm den Teller, den man ihr reichte. Sie probierte die lila Schaumspeise. Es war sagenhaft. Alles war sagenhaft.

»Toll, was?« fragte sie eine katzenhaft wirkende Frau am Nachbartisch. »Bitte, greifen Sie zu. Je weniger übrig ist, desto besser für meine Hüften. Übrigens, ich bin Joanne.«

»Lynn. Und was Sie hier treiben, ist der masochistische Nahrungsverweigerungsmechanismus Nummer zweiundachtzig B. Ich kenne ihn nur zu gut.«

»Eine Schwester im Geiste!«

»Sie auch?« sagte Vicky.

Lynn reichte ihr das Sorbet. »Sehen Sie sich doch nur an, was wir hier tun. Wir sind alle mehr oder weniger schlank, attraktiv und erfolgreich. Und irgendwo in uns ist da ein Wesen, das sich damit nicht zufriedengibt. Ständig setzen wir uns selbst die Pistole auf die Brust.«

»Haben Sie darüber schon mal eine Sendung gemacht?« fragte einer der Mitarbeiter von QTV.

»Mehrere. Das Phänomen nimmt viele Formen an. Darüber könnte ich Hunderte von Sendungen machen.«

»Weil es in der Luft liegt«, sagte Vicky.

Lynn nickte. »Es ist wie eine Epidemie.«

Len beugte sich zu ihr. »Genau das ist das bemerkenswerte an Ihnen, das, was uns fasziniert hat. Sie sind eher, wie soll ich sagen ...«

»Nicht zwanghaft darauf fixiert, im Mittelpunkt zu stehen«, sagte Vicky. »Es ist Ihnen schnurzegal.«

Einen verrückten Augenblick lang stellte sich Lynn eine Reklametafel für ihr neues landesweites Programm vor: DIE LYNN-MARCHETTE-SHOW. IHR IST ALLES SCHNURZEGAL. Um nicht loszukichern, trank sie rasch einen Schluck Kaffee.

»Ihr Verhältnis zum Publikum ...« Vicky schüttelte den Kopf. »Erstaunlich.«

Man bestellte noch mehr Kaffee; zwei der Leute von QTV gingen heim. Die Leute am anderen Tisch umarmten einander, bevor einige von ihnen ebenfalls aufbrachen. Dann zogen Joanne und zwei Männer an Lynns Tisch um.

Wegen der Zeitumstellung hätte sie eigentlich müde sein müssen, aber sie war viel zu aufgekratzt. Sie fühlte sich mit jeder Minute wacher. Dies war eine traumhafte Situation an einem traumhaften Ort, an dem die Menschen lachten und sich umarmten und eine tolle Zeit verlebten. Sie wünschte sich, es möge niemals enden.

»Was habe ich da von einer Sendung gehört?« fragte Joanne.

»Lynn macht in Boston eine Talk-Show«, erklärte ihr Len. »Wir sind im Begriff, sie zu übernehmen.«

Im Begriff. Lynns Herz machte einen Satz.

»Dann sind Sie also aus Boston?« fragte einer der Werbemenschen. Er war braungebrannt, sah stattlich aus und lächelte frei und ungezwungen. »Wie gefällt es Ihnen in der Traumfabrik?«

»Ich glaube, es gefällt mir sehr. Ich habe noch nicht viel gesehen.«

»Na.« Vicky schlug auf den Tisch. »Wie unhöflich wir doch sind! Einen ganzen Tag da, und Sie waren noch nicht auf Stadtrundfahrt.«

»Noch keine Stadtrundfahrt?« fragte Joanne. »So springt man nicht mit Fremden um. Machen wir doch jetzt eine.«

»Warum nicht?« sagte Len. »Lynn? Haben Sie Lust?«

»Unbedingt.«

Die Rechnungen wurden bezahlt, und dann gingen sie hinaus zu Vickys Auto, einem großen Mercedes. Lynn saß vorn zwischen Vicky und Len. Joanne fuhr mit Greg, dem so nett lächelnden Mann, auf dem Rücksitz mit.

Sie kutschierten durch Bel Air, sahen sich Melrose und die Läden am Rodeo Drive an.

»Mann’s Chinese Theatre«, sagte Vicky. »Das müssen wir mitnehmen.«

Lynn starrte auf die Hand- und Fußabdrücke, auf die in den Zement geschriebenen Namen. Sie kaufte für Kara eine Butterschale in Form einer Lassie-Figur. Alles, was sie tat, kam ihr unwirklich und zugleich auf eine intensive Art echt vor, so als betrachte man eine Handlung durch ein scharfes Fernglas.

Es war bereits nach elf, als Vicky wieder auf den Parkplatz des Restaurants in Malibu fuhr.

»Ich bringe Lynn zum Hotel«, sagte Len. »Vicky wohnt gleich hier in der Nähe«, erklärte er Lynn.

»Wohnen Sie in der Stadt?« fragte Greg.

»Ja. Im Hyatt Tower.«

»Dann kann ich Sie doch mitnehmen. Es liegt auf meinem Heimweg.«

Der Portier des Hyatt, ein Teenager mit Bürstenschnitt, streckte die Hand aus, um Lynn aus Gregs BMW zu helfen.

»Danke«, sagte sie zu Greg. »Für die Stadtrundfahrt und fürs Mitnehmen.«

Er schenkte ihr sein offenes Lächeln. »Die Stadtrundfahrt war nicht gerade die Megaversion. Aber ich hoffe, sie hat Ihnen gefallen.«

»Ich war begeistert.« Sie rutschte zur Tür.

»Morgen wieder heim nach Boston?«

»Ja. Ich hoffe, ich komme bald wieder hierher. Ich habe ja bis jetzt fast nichts gesehen.«

Er beugte sich dicht zu ihr. »Sie sehen gar nicht müde aus. Nach Bostoner Zeit ist es schon furchtbar spät, aber habe ich nicht recht? Sie fühlen sich wie ein Kind, das nicht vom Geburtstagsfest weg möchte, solange noch Eis und Kuchen übrig sind.«

Lynn lachte. Bei der Vorstellung mußte sie an das weiße Paillettenkleid oben in ihrem Zimmer denken. Nachdem sie es sorgfältigst eingepackt und den ganzen weiten Weg mitgeschleppt hatte, hing es nun im Hyatt in der Kleiderkammer, die so groß war wie ihre erste Wohnung in Boston - und wartete auf Eiscreme und Kuchen.

Sie hatte es nicht gebraucht. Aber anscheinend hatte es das bewirkt, wozu es von vornherein gedacht gewesen war.

Sie schielte zu dem Portier, der es offenbar nicht gewohnt war, daß Gäste des Hyatt Tower zögerten, bevor sie seine Hand ergriffen. Da sie nicht in Anspruch genommen wurde, ließ er sie einfach hängen.

Greg schnippte mit den Fingern. »Farmers Market.«

»Ich habe davon gehört. Was ist das?«

»Eine Spezialität von Los Angeles. Sollte man sich nicht entgehen lassen, vor allem abends. Es ist ein Labyrinth aus lauter Verkaufsbuden, an denen alles mögliche unter freiem Himmel angeboten wird: allerlei Dinge zu essen, Nippes, Souvenirs.« Er tippte ihr mit dem Finger auf die Hand. »Ich habe diese Butterschale gesehen.«

»Die ist für meine Produktionsleiterin. Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, einander abscheuliche Andenken mitzubringen. Wenn man eins kriegt, muß man es in Gesellschaft benutzen, ohne jede Erklärung.«

»Auf dem Markt können wir viel schlimmere Sachen als eine Butterschale auftreiben.«

Lynn klatschte in die Hände. »Auf geht’s.«

Der Portier war nach wie vor unschlüssig. Greg beugte sich über Lynn hinweg und faßte nach dem Türgriff. »Danke, aber wir fahren noch mal weg.«

Als er aufs Gas ging, kratzte sich der Knabe den spärlichen Haarschopf.

»Aber ich hatte doch bereits Nachtisch«, sagte Lynn. »Mehrmals sogar, glaube ich.«

»Das waren bloß Happen. Da ist so viel hin- und hergereicht worden, daß Sie gar nicht viel abbekommen haben können. Aber warten Sie. Ich weiß eine Lösung.«

Er nahm ihre Hand und führte sie an einer Reihe von Obstständen vorbei. »Sehen Sie.«

Sie war nicht sicher, was sie sehen sollte.

»Da«, sagte er.

Sanft dirigierte er ihren Kopf, so daß sie zu einem Stand blickte, wo geeister Joghurt mit allerlei Fruchtsoßen angeboten wurde. Wieder stieg ihr der Duft in die Nase, der ihr bereits aufgefallen war, als er sich im Auto über sie gebeugt hatte, ein sinnliches, weihrauchartiges After-shave.

»Eisbecher ohne jedes Schuldgefühl. Wo sonst gibt’s so was, außer in Kalifornien?« sagte er. »Ich hole mir einen, und Sie können dann kosten, bevor Sie sich selbst entscheiden.«

Während der Eisbecher zusammengestellt wurde, ergriff Greg erneut ihre Hand und führte sie zu einem riesigen Souvenirstand. Er hatte recht – dagegen wirkte die Butterschale beinahe geschmackvoll.

Lynn griff nach einem Sortiment Serviettenringe. Auf jedem war Elizabeth Taylor mit einem anderen Ehemann zu sehen.

»Was habe ich Ihnen gesagt? Nein, überlassen Sie das mir«, sagte Greg, als sie ihre Handtasche aufmachte. »Ich wollte sowieso noch ein paar andere Sachen kaufen.«

Sie wollte protestieren, ließ es aber sein. Darauf kam es nun wirklich nicht an. Eine liebe Geste; kein Grund, daraus einen Wettstreit in Sachen Höflichkeit zu machen.

Alles war so einfach, wenn man obenauf war.

»Probieren Sie mal.« Er reichte ihr den Eisbecher. Noch bevor er mit seinen Einkäufen zurück war, hatte sie das fruchtige Allerlei fast aufgegessen. Noch etwas, das sie an einem normalen Abend niemals getan hätte.

Sie liefen durch die Gänge und Gassen. Durch die leuchtenden Laternen über ihnen und das Gewimmel ausgelassener Menschen wirkte das Ganze wie ein Eingeborenenbasar.

»Sogar das Obst ist anders«, sagte Lynn. »In Boston kriegen wir nur eine oder zwei Pfirsicharten. So ein Angebot wie hier gibt’s dort gar nicht. Das müssen acht bis zehn Sorten sein. Was sind denn das für riesige rote Dinger? Die sehen lecker aus.«

Er griff nach einem.

»Nein«, sagte sie. »Ich bin total voll, und zum Mitnehmen ist es zu empfindlich. Herr im Himmel, diese Artischocken. Die sind ja so groß wie Kürbisse.«

Greg lachte. »Sie sind aber nicht immer so, oder?« fragte er und strich ihr über die Haare. Er spielte mit einer Locke. »Heute ist Ihre Nacht. Sie sprühen regelrecht. Es ist ein Vergnügen, daran teilzuhaben.«

Lynn berührte seinen Arm. »Vielen Dank.«

Einen Augenblick lang standen sie im Zwielicht einer Laterne und blickten einander an. Sie war knapp einszweiundsechzig groß, und er mußte den Kopf neigen.

»Joghurt«, sagte er und wischte ihr mit dem Daumen einen Klecks vom Kinn. Doch anstatt die Hand wegzuziehen, hob er ihr Gesicht an und küßte sie auf den Mund.

Wieder umfing sie sein Duft, doch diesmal war es sein ganzer Geruch, nicht nur das After-shave. Er war warm und männlich und so auserlesen wie alles an diesem Abend.

Langsam entzog sie sich ihm. Ein kleiner, feuchter Fleck schimmerte an seiner Oberlippe. Lynn mußte den Impuls unterdrücken, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und ihn abzulecken.

»Ich sollte Sie jetzt besser zurückbringen«, sagte er leise, »bevor Sie sich in eine Artischocke verwandeln.«

Der Portier mußte zur Pausenmilch sein. Niemand kam aus dem Hotel zum Wagen gestürmt. Greg fuhr an den Bordstein.

Lynn hatte sich gefragt, ob er wohl mit hochkommen wollte und was sie sagen sollte, falls dem so wäre. Nein, natürlich konnte sie am Tag ihres Vorstellungsgespräches nicht mit jemandem schlafen, der die Verantwortlichen bei ihrem künftigen Sender kannte. Aber wie sollte sie dieses Nein ausfallen lassen, was für die Zukunft andeuten?

Sie hätte sich gar keine Sorge machen müssen. Der Augenblick ging vorüber wie alles andere in Kalifornien, ohne daß sie auch nur etwas dazutun mußte.

»Ich weiß, es ist nicht der passende Moment ... noch nicht«, sagte Greg. Er legte ihr zwei Finger an die Lippen. »Nicht, daß ich nicht versucht wäre, darauf zu drängen. Ich habe Sie gerade kennengelernt, und jetzt fahren Sie schon wieder weg.«

Ihr Mund kribbelte unter der Berührung.

»Aber ich werde nicht aufgeben. Ich bin bloß geduldig. Ein bißchen geduldig.« Er zog die Hand weg, holte dann Stift und Block aus dem Türfach. Fragend blickte er auf.

»Harbor Landing drei-achtzehn, Apartment drei-acht-null-fünf, Boston null-zwo-eins-fünf-sechs.« Sie nannte ihre private und ihre dienstliche Telefonnummer.

Er schrieb konzentriert mit, riß das Blatt ab und hielt es ihr zur Bestätigung hin. Er faltete es, steckte es in seine Hemdtasche. Er schaute Lynn an – ein heißer Blick aus katzengrauen Augen. Dieser Blick war es, der sie schließlich aus dem Glücksgefühl völligen Losgelöstseins herausriß, in dem sie sich den ganzen Tag und den Abend über befunden hatte.

In diesem Moment wußte sie, daß er sie begehrte und sie ihn. Bilder wirbelten vor ihrem Gesicht, und sie sah diese grauen Augen über sich, während sie auf dem Rücken lag. Sie sah, wie sich die Leidenschaft über das, was sie gerade taten, darin widerspiegelte. Wie ihre Schultern sich im Rhythmus des ...

Schluß.

Sie rutschte auf dem Autositz ein Stück weg.

Zu schade, daß es dafür keinen Joghurtersatz gab.

»Ich muß hinein«, sagte sie.

»Das sehe ich.« Sein Tonfall klang leicht belustigt, oder bildete sie sich das nur ein?

»Lachen Sie etwa über mich?« fragte sie.

»Ja. Auf die netteste Art, die es gibt.« Er lehnte sich zurück, legte die gebräunten Arme in den Nacken und reckte sich. Längst hatte er seine Anzugjacke abgelegt, und unter den kurzen Hemdsärmeln waren kräftige Muskeln und mit dunklen Haaren bedeckte Arme zu sehen.

»Ich habe es hier mit einer Frau zu tun, die sich nach Kräften bemüht, ihre Prioritäten zu wahren. Eine leidenschaftliche Frau, innerlich ebenso schön wie äußerlich, die weiß, daß sie aus hundert Gründen keine andere Wahl hat, als aus diesem Auto zu steigen, nach oben zu gehen, ihre Vitamine zu nehmen und sich schlafen zu legen ... die aber sehr versucht ist« – er beugte sich zu ihr und küßte sie, eine rasche, süße Berührung mit Mund und Zunge – »sehr versucht ist zu sagen, zum Teufel mit der Vernunft. Ich möchte unter diesem Kerl liegen.«

Bei den letzten Worten schaute er ihr direkt in die Augen. Er traf es so genau auf den Punkt, daß ihr keine Erwiderung einfiel. Doch ihre Hand ging zum Türgriff, als wolle sie sie daran erinnern, daß dieser Körperteil vernünftig bleiben würde, auch wenn die anderen meutern sollten.

»Deswegen habe ich gelacht«, sagte er. »Weil ich Ihnen die Gedanken vom Gesicht ablesen konnte. Und weil ich mich geschmeichelt fühle.«

Er stieg aus dem Wagen, ging außen herum und hielt ihr die Tür auf.

»Ich verabschiede mich hier«, sagte er und legte ihr die Arme um die Taille. »Denken Sie einfach immer daran, daß wir in absehbarer Zeit den Abend irgendwo anders beenden sollten, wenn es keine Gründe mehr dagegen gibt. Dann wird es mir ein großes Vergnügen sein, Ihre Phantasien Wirklichkeit werden zu lassen.«

Mit beiden Händen drückte er sie an sich. Niemand war in der Nähe, und sie würde allein nach oben gehen, und bald schon würde sie ein landauf, landab bekannter Fernsehstar werden. Und daher erwiderte sie gierig seinen Kuß, und ihre Hände erkundeten durch das Hemd seinen Rücken, den sie irgendwann in absehbarer Zeit viel besser kennenlernen würde.

2. KAPITEL

»Er klingt wunderbar.« Kara drückte sie an sich. »Ich fiebere regelrecht mit dir.«

»Er ist derjenige, der für dein Geschenk verantwortlich ist.«

»Hat er das gekauft?« Kara griff zu der Butterschale.

»Nein, die Serviettenringe. Er war dabei, als ich die Butterschale besorgt habe, und als er sie später nochmals erwähnte, habe ich ihm von unserer Gewohnheit erzählt. Und da sagte er dann, daß ich unbedingt zum Farmers Market gehen müsse. Er meinte, daß ich dort Sachen finden würde, gegen die die Butterschale regelrecht altmodisch wirkt.«

Vorsichtig stellte Kara die Butterschale weg und widmete sich wieder dem mexikanischen Essen, das sie sich hatten kommen lassen. Sie tunkte eine Brezel in die Salsa.

»Um Himmels willen! Nimm ein Dorito.« Lynn schob ihr die Tüte zu. »Wir feiern schließlich.«

»Wir können auch ohne Fettklumpen feiern.«

»Uff! Scharf.« Lynn griff nach ihrem Wasserglas.

»Hast du ihm auch von dieser speziellen Gewohnheit erzählt? Daß du immer die schärfste Salsa bestellst und dich dann darüber beschwerst?«

Lynn wischte eine Träne weg. »Sinnlos, den Mann auf einmal mit meinen ganzen Macken zu belasten.«

»Na, das klingt ja toll. Du hast die Konferenzen überstanden und darüber hinaus noch einen netten Typ kennengelernt.«

»Ich kann es selbst noch nicht glauben, daß ich das alles durchgestanden habe. Ich wünschte, du wärst dabeigewesen.«

»Hör mal ... QTV würde doch für die Übernahme keine andere Produktionsleiterin einstellen, oder?«

Lynn blickte auf. »Und wenn, dann würde das sowieso keine Rolle spielen.«

»Würdest du darauf bestehen, daß ich bleibe?«

»Ohne dich würde ich die Sendung niemals machen.«

Sie sah, wie Kara erleichtert die Schultern sinken ließ, und fühlte sich mies. Wieso hatte sie nicht schon früher daran gedacht, ihr den Rücken zu stärken? Wie unsensibel und ichbezogen von ihr, zu vergessen, daß sie nicht der einzige ehrgeizige Mensch beim Fernsehen war.

»Und wie«, sagte Kara, »ist dein neuer Freund mit der Tatsache zurechtgekommen, daß du eine Berühmtheit werden wirst? Keinerlei Schwierigkeiten?«

»Er schien hingerissen von der Idee.«

»Irre!«

»Er ist schlau, witzig, er hört zu. Er ist aufmerksam. Und romantisch.

»Dieser ganze Abend hört sich ja an wie ein Film. Das Meer, der Dunst, der umwerfende Fremde, die Stadtrundfahrt ...«

»Er ist der aller – na ja ...« Lynn senkte die Stimme. »Die Art, wie er mit mir redete ... diese aufreizenden Sachen, die er sagte ... Ich meine, Kara, wie lange habe ich den Mann gekannt, ein paar Stunden? Und da redet er davon, was er im Bett alles machen will, errät meine Phantasien – und ich habe ihm das nicht nur durchgehen lassen, ich habe es genossen. Es ging alles so schnell.«

Kara drückte Lynns Arm. »Du kannst dich beglückwünschen. Wie viele Shows haben wir darüber gemacht, was für Schwierigkeiten Menschen haben, aufeinander einzugehen? Und wer ist dabei wohl Problemkind Nummer eins?«

»Kannst du glauben, daß ich in dieser Nacht am liebsten auf der Stelle mit ihm geschlafen hätte?«

»Du? Nein.«

Lynn lachte. »Na ja, irgendwann mußten meine Träume wohl mal wahr werden.«

»Mehr hast du also nicht gebraucht. Nur das Gefühl, ein Star zu sein.« Kara grinste. »Du solltest mal einen Artikel drüber schreiben. So ein einfaches Rezept dürfte für Cosmo-Leserinnen ein gefundenes Fressen sein.«

Dennis Orrins Büro war voller Bilder von einstigen und derzeitigen Prominenten von Channel 3. Als Lynn die Tür öffnete, hängte er gerade ihr Porträt an die Wand zurück.

»Was soll das werden?« fragte sie. »Zielübungen etwa?«

Dennis wandte sich um. Er kam herüber und drückte sie heftig an sich. »QTV hat angerufen. Sie möchten eine Pilotsendung machen.«

»Ha!« Lynn schlug ihm auf den Rücken.

»Ich wußte es doch. Und Sie hätten es auch wissen sollen.«

»Irgendwie habe ich das ja auch. Aber die haben eine ganze Woche dazu gebraucht.«

»Wie oft muß ich es Ihnen denn noch sagen? Die trödeln ewig herum, bevor sie eine Entscheidung treffen.« Er strich sich mit der Hand über sein stark gelichtetes Haar. »Aber Sie haben QTV davon überzeugt, daß Sie eine Wucht sind. Die halten Sie für eine Art Barbara Walters.«

»Wirklich?«

»Die sind hin und weg von Ihnen. Eine Entscheidung innerhalb einer Woche, das ist, als hätten sie’s über Nacht getan.«

Lynn zuckte mit den Schultern. »Es war wie Zauberei. Sämtliche Gespräche liefen gut. Wir sind alle bestens miteinander klargekommen. Alles hat geklappt.«

»Wie rasch?« Kara griff zu ihrem Notizbuch. »Wo?«

»Ein, zwei Monate. Möglicherweise hier, aber mit einem etwas schickeren Studio, möglicherweise irgendwo anders, falls sie ein größeres Publikum möchten.«

»Und ... ich bin die Produktionsleiterin?«

»Natürlich.«

Kara legte ihr Notizbuch weg. »Vielen Dank.«

»Bedank dich nicht bei mir. Ich bin auf dich angewiesen.«

»Ich produziere eine landesweit ausgestrahlte Pilotsendung. O mein Gott!«

»Und es geht nicht nur darum, daß die Pilotsendung toll sein muß. QTV möchte mit einer Marktanalyse beginnen, so daß jede Sendung, die wir von jetzt an machen, für mehrere Märkte ausgesucht werden könnte.« Lynn ging in ihrem Büro auf und ab. Eine glühende Oktobersonne stach durch das Dreifachfenster. »Ich bin so aufgeregt. Ich kann einfach nicht mehr stillsitzen.«

»Ich habe an einer Liste mit Themen gearbeitet. Damit können wir erst mal anfangen. Oh! Ich habe was vergessen.« Kara stürmte hinaus und kam mit einem riesigen Paket zurück, das sie kaum tragen konnte. Gemeinsam stellten sie es auf den Tisch. Lynn musterte den Aufkleber. »Per Expreß. Aus Los Angeles.«

Kara schlitzte das Klebeband auf, und sie öffneten das Paket. Darin befand sich eine aus leichtem Holz gezimmerte Kiste, unterteilt in lauter viereckige Fächer, in denen jeweils gut geschützt ein Pfirsich lag.

Wunderschöne Pfirsiche, sechs verschiedene Arten.

Lynn schlug die Karte auf.

In Gregs Handschrift stand darauf: Pfirsiche für einen Pfirsich. Fehlt Ihnen L.A.? Ich hoffees, denn Sie fehlenmir.AllesLiebe. Kuß,Greg.

Kara strich über eine der großen, roten Flaumkugeln. »So was habe ich noch nie gesehen.«

»Das habe ich am Farmers Market auch zuerst gesagt. Und er hat sie geschickt. Was glaubst du, wo er die Kiste herhat? Die mußte er bestimmt anfertigen lassen.«

»Egal, wie er’s gemacht hat, er hat sich jedenfalls ganz schön Mühe gegeben. Dieser Typ mag dich wirklich, Lynn. Und du hast dir Sorgen gemacht, weil er nicht angerufen hat.«

Lynn zwinkerte. »Davon habe ich kein Wort gesagt.«

»Meinst du etwa, nach all den Jahren fällt mir diese verkniffene Warum-ruft-er-nicht-an-Miene bei dir nicht auf? Und nun? Rufst du ihn an?«

»Ich habe seine Nummer nicht.«

»Ich rufe bei QTV an.«

»Danke. Frag nach Vicky Belinski. Sag, du möchtest den Namen dieser Werbeagentur, bei der Greg Alter arbeitet. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.« Sie lächelte. »Ist schon erstaunlich, daß ich mich überhaupt noch daran erinnern kann, auf welchem Planeten ich an diesem Abend war.«

Kara hörte auf mitzukritzeln und ging hinaus.

Lynn nahm einen Pfirsich aus seinem Fach. Die Haut war flaumigweich, wie Samt. Die Farbe reichte von Tiefrot bis Buttergelb. Er hatte gerade die richtige Reife, so daß er unter ihrem Daumendruck leicht nachgab.

Sie kramte in ihrem Schreibtisch herum, suchte etwas, mit dem sie ihn aufschneiden konnte, und stieß auf einen alten Brieföffner. Sie legte den Pfirsich auf eine Serviette, schnitt ein Stück ab und biß hinein. Der Saft tropfte überallhin. Noch nie hatte sie etwas so Köstliches probiert.

Sie aß das Stück auf, schnitt ein neues ab und ging zum Fenster. Während sie geistesabwesend kaute, betrachtete sie den Verkehr elf Stockwerke unter ihr. Er staute sich, wie immer am Spätnachmittag, wenn jeder so schnell wie möglich nach Hause kommen wollte.

Sie sah einem Camaro zu, der von Spur zu Spur wechselte. Letztlich kam er kein Stück voran, da er seine ganze Energie aufs Kolonnenspringen verwandte.

Jahrelang hatte auch Lynn ihre Kräfte auf diese Art vergeudet – ständig in Bewegung, aber ohne jede Richtung. Sie wechselte von Job zu Job, erst beim Radio, dann bei der Fernsehproduktion, und hoffte inständig, irgendwann auf Sendung zu kommen.

Schließlich begriff sie langsam, daß es mit Hoffen allein nicht getan war. Wenn sie eine eigene Sendung wollte, durfte sie nicht einfach herumhängen und darauf warten, daß die Geschäftsleitung zufällig auf sie stieß.

Daher paßte sie auf, lernte, bettelte und brachte sich ständig in Erinnerung, bis Dennis Orrin damit anfing, sie vertretungsweise als Talkmasterin einzusetzen.

Lynn Marchette. Die Person, die am Mikrofon das Sagen hatte, beim Publikum, im ganzen Studio. Keine Schafe. Keine Schweine. Menschen.

Eine großartige Leistung für ein unscheinbares Mädchen aus einer Familie, für die ein Fabrikarbeiter etwas war, zu dem man aufblickte.

Doch sie mußte stets auf der Hut sein, wenn es ihr zu gut ging. Rückschläge konnte sie bestens wegstecken, aber Erfolg ... egal, welcher Dämon in ihr meinte, sie hätte kein Recht darauf, er versuchte jedenfalls nach Kräften, sie davon fernzuhalten.

Wenn ihr etwas Wunderbares widerfuhr – zum Beispiel, als sie endlich eine Chance vor der Kamera bekam, dann ihre eigene Sendung, aber auch das unglaubliche Angebot von QTV oder die Begegnung mit Greg –, konnte es passieren, daß sie Stunden oder Tage hin- und hergerissen war, bis sie sich das Recht auf Erfolg zubilligte.

Sich mit den guten Dingen abfinden ... Das war das Schwerste, schwerer noch, als eine eigene Sendung zu bekommen und sie zu behalten.

Seit ihrer Anfangszeit in Boston, als sie sich selbst kurieren mußte, weil sie sich keinen Arzt hatte leisten können, spielten Tabletten in ihrem Leben eine wichtige Rolle.

Zahnschmerzen waren ein ständiger, zermürbender Begleiter.

Natürlich war kein Geld für zahnmedizinische Behandlung vorhanden gewesen, als sie herangewachsen war. Im Alter von elf Jahren hatte sie vor Zahnschmerzen nicht schlafen können, und wenn es richtig schlimm wurde, ging ihre Mutter am Sonntagnachmittag mit ihr ins Little Red Hen, das einzige Restaurant von Greeneville, wo Dr. Fenton Cabell, der einzige Zahnarzt von Greeneville, sein Mittagessen einnahm. Dr. Cabell legte dann Messer und Gabel weg, ging zur Toilette, wusch sich und ließ sein Schweineschnitzel stehen, während er in Lynns wehem Mund herumstocherte.

Immer wieder verschrieb er etwas für ihren Zahn und bat Lynns Mutter, mit ihr am Montag in die Praxis zu kommen, wo er sie behandeln werde, ohne auf sofortige Bezahlung zu bestehen. Doch die Praxisbesuche fanden nie statt. Wenn das nächstemal wieder akute Zahnschmerzen eintraten, wurde das sonntägliche Ritual einfach wiederholt.

Deshalb war sie bereits weit über zwanzig, als sie zum erstenmal auf einem Zahnarztstuhl saß. Inzwischen allerdings benötigte sie eine überaus umfangreiche Behandlung. Da sie sich die nie und nimmer leisten konnte, ließ sie das wenige machen, was für sie erschwinglich war: hier und da eine Füllung, Zahnstein entfernen und Polieren. Erst als der Zahnarzt die Arme verschränkte und darauf bestand, ließ sie sich auf eine Kieferbehandlung ein.

Doch nach jahrelanger Vernachlässigung ließen die Zahnschmerzen nicht mehr nach, sondern führten zu rasenden Kopfschmerzen. Sie wachte nachts um eins oder zwei auf und mußte so viele Excedrin schlucken – nichts anderes half gegen die Schmerzen –, daß das darin enthaltene Koffein ihre Schlaflosigkeit nur noch verschlimmerte.

Mit der Zeit graute ihr vor dieser Prozedur.

Als sie schließlich bei der Arbeit eindöste, packte sie die Verzweiflung. Damals war sie Produktionsassistentin gewesen. Sie konnte ihren Job verlieren. Wenn sie befördert wurde, soviel war ihr bewußt, würde sie mehr Geld verdienen, und mit diesem Geld könnte sie sich weitere Behandlungen leisten. Doch wenn sie weiterhin um ihren Schlaf gebracht und schließlich gefeuert werden würde, würden ihre Zähne so schlecht bleiben, und die Kopfschmerzen würden nie aufhören.

Deshalb stellte sie sich darauf ein, neben dem Excedrin auch Valium einzunehmen.

Doch ihr Körper benötigte immer mehr Excedrin gegen die Schmerzen, und mehr Excedrin führte zu mehr Valium.

Sie nahm es nur nachts. Doch die Wirkung hielt länger an, als ihr lieb war.

Wann genau aus dem Teufelskreis von Excedrin gegen die Schmerzen und Valium gegen die Schlaflosigkeit eine Abhängigkeit geworden war, wußte sie nicht mehr genau. Lynn wußte nur, daß sie sich an dem Tag, als ihr Bruder am Logan Airport landete, um das zu tun, worauf sie ihn seit ihrem Umzug nach Boston gedrängt hatte – sich hier niederzulassen –, ständig zusammenreißen mußte, damit sie nicht benommen wirkte.

Er hatte Hunger, als er aus dem Flugzeug stieg, deshalb ging sie mit ihm zu einem Friendly’s. Sie bestellten sich Vanilleeis, während sie auf ihre Sandwiches warteten.

»Ich hoffe, deine Bude gefällt dir«, sagte Lynn zum drittenmal.

»Wenn ich mehr als eine Platte zum Kochen habe und die Decke höher als mein Kopf ist, gefällt sie mir«, sagte Booboo. »Nach den letzten ein, zwei Jahren bin ich nicht mehr so wählerisch. In dem ersten Zimmer, das ich nach dem Ausziehen von zu Hause hatte, war ein Loch in der Wand, durch das ein Habicht gepaßt hätte.« Er grinste. »Hab’s mit meinem Kissen zugestopft. Eigentlich hätte ich mir ein neues kaufen müssen, aber ich habe mich daran gewöhnt, ohne eins auszukommen. Heute heißt es, ohne Kissen zu schlafen sei gesünder.«

»Ja«, sagte Lynn. »Ein Kinderarzt hat das mal in der Sendung erklärt. Laß dein Baby von Anfang an flach schlafen, und du ersparst ihm später Rückenbeschwerden.«

Booboo starrte sie an, und sie hatte mit einem Mal Angst, er könnte es an ihren Augen sehen. Um ihm zu zeigen, daß sie so träge gar nicht war, beugte sie sich geschäftig über ihr Eis.

Doch er hatte sie nur aus brüderlichem Stolz angeblickt, nicht argwöhnisch. »Ich kann’s kaum abwarten, in der ersten Reihe zu sitzen, wenn du deine Sendung machst.«

»Ich kann’s kaum erwarten, daß du dabei bist.«

»Meine große Schwester, ein Fernsehstar. Wer hätte das gedacht?«

Spielerisch schlug Lynn mit der Serviette nach ihm, doch sie traf ihn nicht mal annähernd. Zu ihrem Entsetzen, natürlich. Er hatte keine Ahnung, daß sie zwanzig Zentimeter danebengezielt hatte.

Die Wohnung, die sie ihm besorgt hatte, lag in Marblehead. Lynn vertilgte ihr Sandwich bis auf den letzten Krümel, weil sie hoffte, die Wirkung der Droge werde nachlassen und ihre Fahrtüchtigkeit nicht mehr beeinträchtigen, wenn sie erst etwas im Magen hätte. Es funktionierte. Sie fühlte sich bestens, fuhr bestens. Booboo war von ihrer Wahl begeistert.

»Wie weit ist es zum Wasser?« fragte er, als er eines der Fenster öffnete.

»Zwei Straßen. Ist das nicht toll?« Sie schob zwei weitere Fenster auf, zog einen Polstersessel aus Rattan hin und stellte ihn dazwischen. Glücklich ließ sie sich hineinsinken. »Riecht wie in einer Strandhütte. Ich war so aufgeregt, als ich es gesehen habe. Ich kann’s kaum erwarten, bis ich mir eine Bleibe direkt am Wasser leisten kann, mitten in der Stadt.«

»Und wie viele Minuten mußt du noch warten?«

Sie lachten gemeinsam, so, wie sie es immer getan hatten, wenn die Ferkel mit ihren kitzelnden Schnauzen die Leckerbissen, die sie vom Abendbrot aufgehoben hatten, von ihren Händen schleckten.

In diesem Augenblick übermannte sie die Erinnerung. Während sie sich an die frisch riechenden Polster lehnte, konnte Lynn förmlich spüren, wie sich die weich behaarten Schnauzen an ihrer Hand anfühlten.

Statt der Seeluft roch es nun nach Moder. Überall war dieser vertraute Geruch, dieser erdige Duft von dem Morast unter dem Wohnzimmerfenster, der nie ganz trocknete, nicht einmal in einem dürren Sommer, wenn das ganze Gras braun wurde.

Lynn hörte, wie ihre Mutter in der Küche Eier sortierte, vernahm das Klickklick, als sie mit ihren abgearbeiteten Fingern die großen in die blaue und die kleinen in die gelbe Schüssel legte. Und dabei vor sich hin murmelte, daß jetzt so viele kleine dabei seien ... kleinere Hennen, kleinere Eier, alles werde immer kleiner, vor allem der Wert des Geldes in der Haushaltskasse. Was sollte man da bloß machen?

Plötzlich verschwanden der Modergeruch und die Geräusche. Lynn war schwindlig, furchtbar schwindlig. Dorothy und Toto im Wirbelwind. Ihr Magen gluckste, während sich ihr Kopf drehte.

Lynn preßte die Hände an den Bauch, um ihn an Ort und Stelle festzuhalten.

Das Schwindelgefühl hörte auf.

Sie blickte auf ihre Hände, konzentrierte sich darauf, während sie langsam wieder zu sich kam. Sie sah auf ihre Uhr und gab ein tonloses Keuchen von sich.

Acht Minuten waren vergangen.

»Du bist ganz schön weggeknackt.« Booboo saß auf dem Boden und musterte einen Telefonanschluß. »Ich dachte, ich laß dich einfach schlafen.«

Lynn stand auf und ging ins Badezimmer.

Das war kein Schlaf gewesen. Sie wußte ziemlich sicher, was es war: ein Aussetzer. Das, was Säufern passierte.

Wenn sie von Drogen derart benommen war, daß sie einen Aussetzer hatte, dann war sie auch zu benommen zum Autofahren.

Und trotzdem hatte sie einen Wagen gesteuert, in dem ihr Bruder gesessen hatte.

Sie lehnte sich an die verschlossene Badezimmertür und schluchzte leise vor sich hin.

Endlich war sie auf Sendung. Endlich war ihr Bruder hier. Trotz aller guten Vorsätze und einem, wie sie irrtümlich annahm, guten Urteilsvermögen hatte sie etwas getan, das unter Umständen tragisch hätte ausgehen können.

Sie war darüber so erschrocken, daß sie das Valium erbrach.

Doch sobald sie lernte, die quälenden Schmerzen und die Schlaflosigkeit ohne Pillen zu ertragen, stellte sie sich aus lauter Minderwertigkeitsgefühl neue Fallen. Immer wieder war ihr Männergeschmack Gegenstand unaufhörlicher Scherze. Kara sagte, ihr Idealpartner ziehe ständig eine finstere Miene und lebe von der Arbeitslosenhilfe.

Lynn konnte es nicht bestreiten. »Man lasse sechs Männer vor mir antreten«, hatte sie Mary Eli einmal erklärt, einer mit Kara befreundeten Psychiaterin, als diese in ihrer Sendung über das Thema »Schlaue Frauen, törichte Wahl« aufgetreten war, »und ich gehe sofort auf denjenigen zu, der mir den meisten Ärger machen wird.«

Könnte es sein, daß nun auch diese Zeiten vorüber waren? Würde sie sich künftig nicht mehr selbst bestrafen?

Sie wurde von einem der größten und erfolgreichsten Fernsehsyndikate umworben. Ein Mann sagte, sie fehle ihm, dachte an sie, betete sie an, schickte ihr Aufmerksamkeiten – kein ungehobelter Tunichtgut, sondern ein kluger, erfolgreicher, schöner Mann, ein echter Kerl.

Sie hatte, so schien es, beruflich wie auch persönlich eine Glückssträhne.

Lächelnd, den klebrigen Pfirsichkern noch immer in der Hand, wandte sie sich vom Fenster ab und begab sich auf die Suche nach Kara.

Leise knackend schmolzen die Eiswürfel in der schwarzen Glaskaraffe auf Dennis Orrins Schreibtisch. Zu der Karaffe gehörten ein dazu passendes Tablett und zwei modische Kelchgläser. Sie war in Messing gefaßt, das vom Aufwartepersonal stets auf Hochglanz poliert wurde, so wie es auch dafür sorgte, daß sie ständig mit frischem Eis gefüllt war.

Dennis Orrin goß ein und nahm einen Schluck, während er sich das Band ansah, das gerade per Eilboten aus Cleveland eingetroffen war.

Nicht schlecht. Wenigstens konnte der Knabe lesen. Doch auch hier handelte es sich in erster Linie nur um einen weiteren Nachrichtenjüngling, der sich mächtig für einen Videospot abstrampelte, mit dem er sich als Politmoderator empfehlen wollte. Er hatte nur ein kleines Problem: Er war alles andere als erwachsen.