Rumenkrag - E. Altenzehnt - E-Book

Rumenkrag E-Book

E. Altenzehnt

4,6

Beschreibung

Kein Strom, kein Auto - und das in der Zukunft. Die Welt "Rumenkrag" lebt in einem "Neu-Mittelalter". In der Epoche davor war die Technik auf dem Höchststand, im "Herbst der Automaten"*. Er endete in einem unvorstellbaren Krieg. Bio-Waffen ließen die Natur verrückt spielen. Der Priester Matea ist ein frommer Mann, seine Kirche technikfeindlich. Wer ein altes Smartphone besitzt, gilt als Ketzer. Matea schreibt bei Kerzenlicht, mit Gänsefeder. Sein Thema: Wie die Welt zugrunde ging. Und die Folgen: gepanzerte Menschenfresser, ein Wald mit außergewöhnlichem Wachstum und ein toter Diktator, der die Lebenden in den Wahnsinn treibt ... * Band 1 der Reihe "Rumenkrag"

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Für Frank Roland Deister

Über das Buch

Der Priester Matea erzählt. Seine Welt in der fernen Zukunft heißt „Rumenkrag“. Der „Herbst der Automaten“ – so nennt er einen Höchststand der Technik. Danach kommt ein tiefer Fall. Zu Mateas Zeiten sind Autos nur noch Schrott. Elektrischer Strom war auch gestern. Matea schreibt beim trüben Licht einer Kerze, mit Gänsefeder. Sein Thema: Wie der Rumenkrag völlig verwüstet wurde. Bio-Waffen ließen Fauna und Flora verrückt spielen.

Matea ist fromm, aber kein Technik-Versteher. Das Leben in seinem „Neu-Mittelalter“ ist kurz, die sanitären Anlagen gewöhnungsbedürftig, die Rechtsprechung ausgesucht grausam. Wie bekämpft man mit Lanzen und Schwertern einen abnorm wuchernden Wald voll bizarrer Zoologie? Und warum ist ein ehemaliger Diktator, der längst in Frieden ruhen müsste, so auffallend unfriedlich?

Über den Autor

Der Autor, heute im Ruhestand, schreibt unter dem Pseudonym E. Altenzehnt. Er arbeitete 23 Jahre in einem Radiosender. Was die Anrufe der Hörer einer Nachtsendung oder die Mainzer Fastnacht an Merkwürdigkeiten und Skurrilem bieten, das hat ihn geprägt. Auch ein solides Studium konnte ihn nicht davon abhalten, schräg, hintergründig, manchmal untergründig und mit viel schwarzem Humor seit 1951 die Welt und seine Mitmenschen zu sehen.

„Rumenkrag“, so Altenzehnt, „führt in eine Welt seltsamer Wortschöpfungen, schleimiger Lovecraftscher Monster, viktorianisch anmutender Apparate und Fluggeräte. Und bei manchem Motiv, manchem Protagonisten fragt man sich: Kenne ich das – oder den?“

INHALT

Kapitel 1: Erste Störungen

Kapitel 2: Der Neue Skorn

Kapitel 3: Tallos Bild

Kapitel 4: Piats, Gräber, Keltsevoi

Kapitel 5: Sichler und Trilonen

Kapitel 6: Wald der Muderer

Kapitel 7: Mordsee und Moruun

Kapitel 8: Abelas, Heilige Stadt

Kapitel 9: Kondraker Kindheit

Kapitel 10: Schlauchzüngler

Kapitel 11: Ruf Arasul an!

Kapitel 12: Als der Redner schwieg

Kapitel 13: Lernen und leiden

Kapitel 14: Brand-Bremben

Kapitel 15: Schamlose Dirnen

Kapitel 16: Lankadem und Wrank

Kapitel 17: Linkes Auge, rechtes Ohr

Kapitel 18: Zwei Bestattungen

Kapitel 19: Der 5-jährige Krieg

Kapitel 20: Der falsche Schädel

Kapitel 21: Das Wirtshaus an der Vestri

Glossar

Legende

Jagladas Haus

Kreopat

Gefängnis

Kurtell

Dostars Gruft („kleine Tombe“)

Enchgasse

Kergeturm mit Soniade

Kerge-Haupthalle

Glaskuppel, darunter „Oyare“ (Altarraum)

Kondraker Friedhof („große Tombe“)

Gruttgasse

Brauerei

Binhol

Neunehaus

Hof des Neunehauses

Andrugasse

Tschajeplatz

Eldegasse

Halkos Haus

Sittaweg

Komptehaus

Kambas Haus

Undaiplatz

Merkantehaus

Lexat

Taxat

Hospital

Akmaat

Harpnoigasse

Tongkugasse

Karpgasse

Ujellgasse

Dromaplatz

Svohngasse

Fuhgasse

Graufgasse

Donaiplatz

Espergasse

Numiweg

Harksgasse

Stadthaus des Duchems von Jehtse

Drygasse

Lunis’ Haus

Osergasse

Palintsweg

Mateas Haus

„Ich weiß nicht, welche Waffen im nächsten Kriegzur Anwendung kommen,wohl aber, welche im übernächsten: Pfeil und Bogen.“

(Albert Einstein)

KAPITEL 1

Erste Störungen

Schlechte Luft hier drinnen, so konnte ich nicht arbeiten. Ich öffnete das Fenster, spürte aber keine Erleichterung – puh, ein Gestank wie auf einem Schlachtfeld! Ja, der Wind wehte heute wieder ungünstig, von Nordwesten. Und dann das furchtbare Schreien und Kreischen, seit Stunden schon mit einem besonders unangenehmen Solisten; ich hörte ein hässliches metallisches Zwitschern.

Vom Fenster meiner Wohnung aus sah ich über die Gasse hinweg. Auf dem Dach meines Nachbarn hüpfte ein kleiner Vogel hin und her. Du bist unschuldig, dachte ich. Gott sei Dank, es gibt noch gewöhnliche, normale Tiere. Aber dort drüben, am anderen Ufer, ist die Natur völlig aus den Fugen geraten.

Ich lebe im Süden meiner Heimatstadt Kondrake; damit bin ich privilegiert: Denn nicht nur der Fluss Kokaju, auch noch die halbe Stadt liegt zwischen mir und der verfluchten Quelle dauernden Lärms und Gestanks; die Bewohner im Nordviertel müssen viel mehr leiden.

Es braucht nicht viel, um mich nervös zu machen. Egal, ich wollte jetzt beginnen, stand schon vor meinem Arbeitstisch. Wo aber war meine Brille? Ich suchte im ganzen Zimmer; es war nicht leicht, hier etwas zu finden: Überall lagen Bücher und Dokumente herum, in größeren und kleineren Stapeln.

Ein Blick in mein Schlafzimmer, auf den kleinen Tisch neben dem Bett – keine Brille. Ich fluchte, und das sollte ein Priester des Arasul wie ich eigentlich nicht tun. Wo hatte ich sie denn zuletzt aufgehabt? Als wir heute die Versammlung abhielten? (Besonders ungünstig, dann müsste ich noch einmal durch halb Kondrake zurück.)

Aber da war sie doch! Gerade vor meiner Nase, ich hatte sie übersehen; auf meinem Arbeitstisch lag die Brille, neben der Heiligen Schrift, dem Libat Kreder.

Beruhigt konnte ich mich setzen, bis zur nächsten Aufregung. (Die würde kommen, ganz gewiss.) Ich hatte eigens ein Buch mit Hunderten von leeren Seiten für mich binden lassen; das schlug ich jetzt auf. Ja, nun hätte ich schreiben können. Aber es wollte mir kein Anfang einfallen.

So viele Dinge im Kopf, so viel gelesen, so viel selbst erfahren, aber wie das alles in eine begreifbare Reihenfolge bringen? Ah, so könnte es gehen! Ich tauchte die Feder ins Tintenfass. Da klopfte es an meine Tür.

„Wer ist da?“, fragte ich etwas ungehalten.

„Ich bin es, Herr Matea“, antwortete meine Haushälterin.

„Was hast du, Bisch?“

„Ich bringe die Wäsche“, erwiderte sie.

„Komm herein!“, sagte ich mürrisch.

Sie betrat mein Arbeitszimmer mit einem Korb unter dem Arm, eine kleine, dickliche Frau. Die Wäsche, dachte ich gereizt, solche gewöhnlichen Dinge kommen vor der Kunst! Ich musste ihr gleich deutlich machen, dass ich beschäftigt war, sonst fing die gute Bisch noch ein Gespräch mit mir an. Also hielt ich eine Hand an die Wange geschmiegt, in der anderen die schreibbereite Feder, und machte ein wichtiges, nachdenkliches Gesicht.

Wortlos ging meine Haushälterin zu dem großen Schrank und legte die Wäsche hinein. Aber schließlich konnte sie sich doch nicht bremsen, neugierig zu fragen:

„Was machen Sie denn da?“

„Ich will ein Buch schreiben“, antwortete ich kühl, „über die Welt, in der wir leben.“

„Bei unserem lieben Herrn Arasul!“ Schnaufend atmete sie aus. „Um den Rumenkrag soll es gehen? Der ist ja schier grenzenlos.“

„Es geht vorwiegend um die Geschichte unseres Landes“, antwortete ich, jetzt doch lächelnd, „das macht die Aufgabe leichter.“

„Also eigentlich ein Buch über das Slengsfelt?“

„Genau.“

Bisch trat näher und schielte mir aus gebührender Entfernung vorsichtig über die Schulter.

„Aber da steht ja noch gar nichts“, sagte sie.

„Und selbst wenn da etwas stünde“, erwiderte ich, „du kannst doch nicht lesen.“

Meine Haushälterin schien es überhört zu haben.

„Sie überfordern sich, wie immer!“, schimpfte sie. „Ein Buch über das Slengsfelt, gar den Rumenkrag! Hören Sie nicht, riechen Sie nicht, was dort drüben wieder vorgeht! Wie können Sie denn da arbeiten?“

„Besser der Gestank des Dogger-Waldes als keine Luft hier im Zimmer.“ (Heiliger Arasul, ist diese Frau anstrengend!)

„Dann warten Sie lieber auf anderen Wind. Oder darauf, dass es dort drüben ruhiger wird. Ruhen Sie sich so lange aus!“

„Aber ich will mich nicht ausruhen!“, rief ich.

Bisch schwieg betroffen. Sofort war ich versöhnlich:

„Entschuldige! Geh bitte und schließe das Fenster.“

Sie machte es. Der Lärm wurde ein wenig gedämpft, nicht viel. Der allgegenwärtige Gestank ließ sich ohnehin nicht vertreiben. Bisch trat wieder an meinen Arbeitstisch.

„Aber wenn das Buch fertig ist, können Sie mir doch etwas daraus vorlesen, nicht wahr?“, plapperte sie weiter.

„Das wird wohl noch ein bisschen dauern, wie du siehst“, antwortete ich, um Ruhe bemüht.

„Dann will ich nicht weiter stören.“

„Oh, du störst nie“, antwortete ich ironisch und klopfte leicht und ungeduldig mit der flachen Hand auf den Tisch.

Ich dachte schon, dass sie jetzt endlich draußen wäre, da hörte ich sie noch in der Tür sagen:

„Herr Matea, ich mache mir Gedanken um Ihre angegriffenen Nerven.“ (Die Gute, sie ist immer besorgt um mich, aber meine Mutter war nicht anders; das regt mich so auf!)

Da nahm ich die Brille ab und sagte streng, aber beherrscht:

„Meine angegriffenen Nerven sind meine eigene Sache. Lass mich jetzt bitte allein. Ich rufe dich schon, wenn ich etwas brauche.“

Ich hörte, wie sie die Treppe hinabging. Unschlüssig saß ich lange da. Vorhin meinte ich doch, einen roten Faden gefunden zu haben. Und wo war er jetzt?

Nein, ich müsste nicht so vertraut sein mit Bisch, ich bräuchte ihr über mich gar keine Auskunft zu geben. Sie ist die Verwandte meines alten Pächters; eine Abhängige, eine Unfreie wie der Pächter selbst, eine Dependarin – eigentlich bin ich der Herr in meinem Haus, selbst wenn sie die Verhältnisse, in guter Absicht, manchmal umdreht.

Die Gesellschaft der Vergangenheit war sicher ganz anders gewesen; ich ziehe unsere vor, denn sie hat eine strenge Ordnung und jeder in unserem Volk der Slengsaaken kennt seinen Platz: In der überwiegenden Mehrheit sind Dependare Bauern. Sie treiben ihr Vieh auf die Weide, säen im Frühjahr und ernten im Herbst. Handwerker stellen, vor allem in den Städten, allerhand nützliche Dinge her, vom Werkzeug bis zur Waffe. Kaufleute treiben Handel; die Beziehungen der Fernkaufleute reichen gar bis ins Nachbarland der Brezzen. Männer wie ich predigen das Wort des großen Gottes Arasul. Besonders auf dem Land herrschen die Nobilen als reiche Grundbesitzer.

Aber das Slengsfelt ist ja nur ein kleiner, fast verschwindender Teil des Rumenkrags: Niemand von uns versteht die Welt, wie sie noch vor ein paar Jahrzehnten in anderen Ländern war. Wie konnten damals metallene Vögel als Voltanen am Himmel schweben?

Unser Längenmaß ist die Schrittlänge der menschlichen Beine, der Schreiter. Man nehme tausend von ihnen zusammen und hat den Großschreiter! Fünftausend davon bewältigten die Menschen damals noch leicht – denn auf breiten Straßen fuhren ihre schnellen Movems, angetrieben von Ölen, in großen Mengen, fast bis zum völligen Verbrauch, aus dem Boden gegraben und sinnlos in sogenannten Makinen verbrannt. Fünftausend Großschreiter sind dabei für den Rumenkrag mit seinen riesigen Entfernungen noch wenig.

Wir heutigen Slengsaaken verbrennen keine Öle in wahnsinnigen Mengen um der Fortbewegung willen, sondern gebrauchen die Muskeln der eigenen Beine oder die Kräfte von Ochsen und Pferden – schon das Land der Brezzen scheint uns daher weit entfernt.

Dabei sollten wir mit dem Finger nicht vorwurfsvoll auf andere deuten, die heute längst tot sind: Zahlreiche Funde, teilweise zum Greifen nah, bestätigen immer wieder, dass auch bei uns einmal diese seltsam schnellen Wagen auf breiten Straßen fuhren. Im Untergrund von Kondrake gibt es heute noch baufällige Schächte für große Movems, die viele Menschen auf Schienen transportierten – unsere Vorfahren glaubten auch noch nicht an Arasul.

Da, es klopfte schon wieder, kaum, dass ich den ersten Absatz geschrieben hatte.

„Wer ist da!“, rief ich, reichlich unfreundlich.

„Ich bin’s, Fostin.“

„Komm herein“, antwortete ich rau.

Er trat an meinen Tisch, ein Mann in grauem Rock, mit dünnem Bart. Er beugte kurz den Kopf und ich blickte auf seine große Stirnglatze, dabei ist er erst 25, nicht viel älter als ich.

„Was bringst du?“ Ich schaute ihn ein wenig gequält an.

„Die Rechnungen der vergangenen Woche.“ Er hielt mir einen Packen Papier hin.

„Lass mal sehen!“ Ich stöhnte leise.

Fünf Valem für Heizholz im kommenden Winter, drei Valem für Bischs Einkäufe auf dem Markt und noch vieles mehr – nun gut, das war äußerst langweilig, nicht einmal der Erwähnung wert in meinem Buch, musste aber gemacht werden. An einer Stelle hatte ich Schwierigkeiten.

„Was ist das?“, fragte ich Fostin und hielt ihm ein Blatt hin.

„20 Valem“, antwortete er knapp.

„Das kann ich lesen! Aber wofür?“

„Ihr Pächter musste eine neue Kuh kaufen.“

„20 Valem sind viel“, wandte ich kraftlos ein.

„Die Preise sind gestiegen.“

Flüchtig schaute ich die restlichen Papiere durch. Hauptsache, es ging schnell. Ohne dabei aufzusehen, fragte ich Fostin:

„Du warst auf meinem Hof?“

„Ja, erst gestern.“

„Ich müsste auch mal wieder nach Keltsevoi fahren“, sagte ich, meinte es aber nicht ernst.

„Ihr Pächter würde sich freuen“, erwiderte Fostin, „seine Frau bekommt bald ihr sechstes Kind.“

„Ah ja!“ Etwas verkrampft lächelte ich ihn an. (Wie war noch gleich der Name dieses Pächters? Fostin hat ihn besorgt; der alte, Bischs Verwandter, war gestorben, mit knapp dreißig.)

„Das ist so in Ordnung“, sagte ich und reichte ihm wieder den Packen. (Er hat gemerkt, dass ich manches gar nicht verstanden habe, oder? Und das war leider keine Ausnahme.) Aber sein Gesicht blieb ausdruckslos, ein Mann mit Respekt vor meinem Rang.

„Dann bis nachher, Fostin!“ Mein Lächeln war diesmal unverkrampft, weil ich von den Rechnungen befreit war.

„Ja, bis nachher.“ Er beugte den Kopf mit dem schütteren Haar.

Die Tür ging zu; ich war erneut allein. Wie kam ich jetzt wieder auf unsere heutigen Ochsen- und Pferdekarren, die Voltanen und Movems der alten Welt zurück? Vielleicht sollte ich einfach weiter von Fostin erzählen:

Eigentlich ist er ein Krieger, oder, wie wir sagen – ein Gardoi. Leute wie ich, mit einem Amt in hohem Rang, sogar mit einem Doppel-Amt, bekommen meist einen oder zwei solcher Gardoi als Leibwächter zugeteilt, begrenzt auf ein Jahr, dann werden die fraglichen Männer ausgetauscht.

Ich erinnerte mich, deswegen vor einiger Zeit in der Kurtell gewesen zu sein – das ist unsere Festungsanlage. Beim Gang über den großen Hof sah ich rechts und links von mir trutzige Türme, Ställe und Werkstätten. Ich wollte zum zuständigen Mann, einem Majaden namens Pekks, dem ranghöchsten Gardoi und Herrn über die Besatzung der Kurtell.

„Ich habe Sie bereits erwartet“, begrüßte er mich freundlich. „Sie kommen zu mir wegen der neuen Leibwächter, nicht wahr?“

„So ist es, Pekks“, antwortete ich.

Er machte sich gern ein wenig wichtig, blätterte bedeutungsvoll in einem dicken Buch und sprach, mehr zu sich selbst:

„Lassen Sie mich schauen, wen könnte ich Ihnen denn geben?“

Die Angst ließ mich sagen:

„Leute, auf die ich mich blind verlassen kann!“

Er wusste, was ich meinte.

„Jetzt fürchten Sie wohl auch um Ihr Leben?“

„Natürlich!“, rief ich. „Der feige Anschlag auf diesen Kaufmann letzte Woche, das genügt doch, oder? Morgen kann es mich treffen! Und wer war’s? Die verfluchten Anhänger der falschen Prophetin!“

„Wir suchen die Kerle, glauben Sie mir!“

„Das hoffe ich doch!“

„Nun ja, ich kenne Ihr hohes Bedürfnis nach Sicherheit.“ Seine Augen folgten dem suchenden Zeigefinger in seinem Buch. Dann schaute er lächelnd zu mir hoch: „Wissen Sie was? Ich stelle Ihnen vier Mann zur Verfügung!“

„Was?“, rief ich verwundert. „Eine ganze Kampione? An wen denken Sie?“

„Die vier Mann unter dem Bajaden Fostin.“

„Ja“, sagte ich langsam, denn ich dachte nach, „von diesem Unterführer habe ich schon gehört.“

„Ganz ausgezeichnete Leute“, sagte Pekks freundlich, „alle vier gläubige Arasuliten und mutige Kämpfer. Mehr noch – ich habe gehört, Herr Matea, Sie seien unzufrieden mit Ihrem Verwalter.“

„Diesen Tropf habe ich heute entlassen!“, rief ich.

„Dann versuchen Sie es doch einmal mit Fostin“, antwortete Pekks, „er ist ein wahres Organisationstalent.“

Warum machte der Majade mir ein solches Angebot? Nicht aus reiner Menschenliebe, das hatte ich mir gleich gedacht. Als Priester des Arasul bin ich im gehobenen Rang des Predikars und sollte dem Sohn von Pekks helfen, die Weihe zum einfachen Kuranten zu bestehen. Das war, nebenbei bemerkt, Schwerstarbeit, denn der junge Mann erwies sich als so dumm wie Stroh. Aber es hatte sich gelohnt: Fostin, ganz ungewöhnlich für einen Gardoi, nimmt mir praktisch alle Verwaltungsarbeiten ab. Und in Gegenwart meiner neuen Leibwächter fühle ich mich sicherer als je zuvor.

Einmal zeigte mir Fostin eine große Narbe auf seiner Brust: Die hatte er im 5-jährigen Krieg erhalten, als Slengsaaken auf Slengsaaken einschlugen; das ist noch nicht lange her. Ich bin ein Geistlicher und habe noch nie an einer Schlacht teilgenommen. Aber ich kann es mir lebhaft vorstellen, wie Gardoi, beritten oder zu Fuß, geschützt von Schilden, mit Schwertern aufeinander losgehen.

Das unvergleichliche Toben und Schlagen im Rumenkrag, das vor 94 Jahren begann, verstehe ich allerdings nicht und bin damit in bester Gesellschaft – diese Zeit ist für uns rätselhaft: Da marschierten nicht die 80 Mann unserer Kondraker Kurtell, sondern riesige Armeen. Die Schande der Welt, der Verräter aller Verräter, der finstere Drubal, stürzte damals mit seinen Voltanen den Rumenkrag in Not und Elend. Öl verbrennende Kampf-Movems fuhren gegeneinander wie wilde Stiere!

Das Slengsfelt bekannte sich damals schon zum Herrn Arasul. Er erhörte unsere innigen Gebete, stieg selbst aus dem Meer und nahm sich der gerechten Sache an. Das Licht kämpfte gegen die Finsternis; die gute Macht stritt auf das Erbittertste gegen das Böse. Großes Feuer fiel vom Himmel, Wasser und Böden wurden vergiftet. Viele Städte des Rumenkrags fielen in Trümmer. Am Ende kamen noch die unglaublichsten Wesen und fraßen das Land – kurz, die Welt versank in dem, was wir die Gotteskriege nennen.

Man kann sich die Jahrzehnte dauernde allgemeine Zerstörung nicht schrecklich genug vorstellen! Doch schließlich schien die Wut der kämpfenden Parteien erloschen. Die berühmte Stadt Abelas ist den Arasuliten heilig, denn unser Herr errichtete nach den Kriegen, so glauben wir, sein ewiges Reich auf dem Grund des nahe liegenden Santaroi-Sees. Was aber geschah mit dem bösen Drubal? Manche sagen, Arasul hätte ihn in der Unterwelt für tausend Jahre angekettet. Es gibt aber auch Gründe, ihn in unserer Nähe zu vermuten: Der Meister aller Schurken würde im Dogger-Wald lauern und dort finstere Ränke schmieden, meinen andere.

Als die Waffen schwiegen, der Fraß an der Landschaft endlich aufhörte, waren die Menschen des Rumenkrags so zerstört wie ihre Häuser: Sie hockten im Schmutz, vermissten ihre toten oder verschollenen Verwandten und Freunde. Wer konnte sagen, wie die Welt aussah, bevor die großen künstlichen Gewitter alles um uns herum umgepflügt hatten? Im Slengsfelt nicht, dem Herrn sei Dank – aber ansonsten gab es in allen Ländern breite Schneisen der Zerstörung durch entsetzlichste Kampfwesen!

Ich habe versucht, ein paar beschädigte Bücher aus alter Zeit zu lesen – das Rätselraten wurde nur größer. Noch heute versuchen wir, uns zu erinnern, aber unser Gedächtnis ist wie eine erloschene Kerze. Hier im Slengsfelt ging es uns wohl nicht anders als im übrigen Rumenkrag: Wir hausten in Löchern, die wir in den Boden gruben, und lebten wie wilde Tiere.

Dennoch konnten nach einiger Zeit (in bescheidenem Maße zunächst) wieder Ackerbau und Viehzucht betrieben werden. Es waren ja so viele gestorben. Kondrake, die verheerte Hauptstadt, wurde, wenigstens im Kern, wieder aufgebaut, mit ihren Plätzen, verwinkelten, engen Gassen und der starken Wehrmauer. Dort, wo schon der niedergebrannte Vorgängerbau stand, errichteten wir dem huldvollen Arasul zu Ehren die „Kerge Unseres Guten Herrn vom Meer“. Kranke aus dem ganzen Land wurden im neugegründeten Hospital gepflegt von den „Brüdern und Schwestern vom Gottesfisch“ – sie verehren den Gott, der aus dem Ozean kam, wie wir alle; „Gottesfisch“ ist nur ein anderer Name für ihn.

Ich bin stolz darauf, die berühmteste Schule im Slengsfelt besucht zu haben: Damals entstand jedenfalls das der Kerge angegliederte Kreopat. Schließlich ging man an den Wiederaufbau der anderen zerstörten Städte – Marints, Jehtse, Kirgmehs und Tangeleit. Weitere Ortschaften wurden gegründet; Dörfer wie Ti und Kleit, Am und Baats, alle am Kachoi- und am Lagoi-See gelegen, wuchsen zu bedeutenden Großdörfern zusammen.

Hätten wir den Aufbau allein zustande gebracht, wäre ich zufrieden. Jedoch kam ein Mann ins Slengsfelt, ein Fremder namens Dostar; sein eigenes Unglück hatte ihn hierher verschlagen. In gewisser Weise war es ein Glück für uns, denn Dostar hatte Kräfte wie zehn Slengsaaken sowie Wissen und Fähigkeiten, die staunen machten. Er half uns aus der größten Not, packte alle Dinge mit einer schier unerschöpflichen Energie an und führte uns aus furchtbarem Elend heraus.

Es gibt immer noch Leute in unserem Volk, die Dostar deswegen über die Maßen bewundern, ihn für einen Boten des Arasul halten, was er ja auch selbst behauptete. Ich vertrete als Predikar dagegen die geprüfte Meinung der Heiligen Kerge: Zweifellos ist uns dieser Helfer von Drubal geschickt worden!

Mit dem Ende der Gotteskriege ist auch die Welt der Öl verbrennenden Movems, der Knopfdrücker und Hebelspieler versunken. Wir können es doch nur begrüßen, dass Dinge verschwinden, die den Rumenkrag fast auseinandergerissen hätten! Arasul selbst sagt im Libat Kreder:

„Wer seinen Wagen künstlich schnell macht, dass er auf den Straßen wild daherjagen kann, der soll niemals in mein ewiges Reich kommen!“

Ich ahne jedenfalls schon lange, dass Dostar durch und durch ein Kind dieser untergegangenen Welt war. Er hätte wohl am Ende das ganze verdammte Makinenzeug wieder eingeführt – Grund genug für die Heilige Kerge, ihn im Nachhinein als Drubalisten zu bezeichnen, als Lästerer Unseres Herrn, als verfluchten Eksler!

Dostar beseitigte die alte Macht, setzte sich an ihre Stelle, hielt in einem ungewöhnlich langen Leben eisern daran fest und ging nicht zimperlich mit seinen Gegnern um. Dagegen nutzte und förderte er Kräfte im Slengsfelt, die ihm entgegenkamen: Nie konnte man mit den reichsten Nobilen, die riesige Ländereien besaßen, besser zusammenarbeiten als damals. Um ihnen zu schmeicheln, ernannte er sie zu Duchems. Bis heute sind sie mächtige lokale Führer in Kirgmehs, Jehtse und Tangeleit.

Mit der Kondraker Konklause schuf Dostar eine völlig neue Regierungsform für das ganze Slengsfelt: Er selbst stand als Erster Habitant acht Beisitzern, den Fredern, vor und sorgte dafür, dass auch alle anderen Orte in unserem Land Neunerräte erhielten.

Im Kreopat habe ich in meiner Heimatsprache schreiben gelernt – nach der „Grammatik des Slingsch“, verfasst von Dostar. Ja, dieser Mann hatte sogar noch Zeit und Kraft, Bücher zu schreiben. Als er starb, brach um seine Nachfolge der 5-jährige Krieg aus. Fostin weiß wohl, in welcher Schlacht er seine Wunde erhielt. Der Kampf um das Amt des Ersten Habitanten wurde mit solcher Erbitterung ausgetragen, dass am Schluss niemand mehr übrig blieb, der für das Amt wirklich infrage kam.

So wurde es einem jungen Nachrücker wie mir angetragen, Erster Habitant zu werden – und ich habe angenommen! Eine Woche lang befand ich mich in Hochstimmung: Denn ich bekam etwas geschenkt, wofür sich andere hatten totschlagen lassen – es fiel mir einfach zu wie ein reifer Apfel. Ach, hätte ich den Mut besessen, abzulehnen! Ich bin ein Predikar des Arasul und kann Leuten in geistlichen Dingen helfen. Als Mann der Macht, der immer das letzte Wort hat, alles weiß oder zumindest vorgibt, alles zu wissen, bin ich völlig ungeeignet. Die Leute erwarten aber auch von einem Ersten Habitanten manchmal Dinge, die er nicht leisten kann.

Vor Kurzem gestand mir ein alter Kondraker, Lärm und Gestank vom anderen Ufer der Kokaju zermürbten ihn völlig. Mich auch, antwortete ich ihm. Er war enttäuscht, hatte mehr erwartet. Aber was soll ich, im Grunde ein einfacher Slengsaake, denn tun?

Die Liste meiner kaum oder gar nicht lösbaren Probleme als Erster Habitant ist lang: Etwa 800 Großschreiter von Kondrake entfernt, jenseits des Brezzenlandes, schließt sich im Osten das Limbranat an. Wer dort freiwillig hineinginge, den müsste man für wahnsinnig halten! Auch dort litt die Natur unter giftigen Substanzen, die in den Gotteskriegen eingesetzt worden waren. Sie brachte wüste Abweichungen hervor, Muderer allesamt, Wesen wie aus finstersten Albträumen, die denen des Dogger-Waldes in nichts nachstehen: Die Limbranen jenseits des Brezzenlandes gehen aufrecht wie Menschen, gleichen aber sonst eher Echsen mit Vogelköpfen.

In ihrer heimatlichen Steppe ernähren sie sich natürlich nicht von Beeren an Sträuchern, sondern von freilaufenden, ungezähmten Rindern. Sind diese Tiere zu wenig wachsam und vorsichtig? Ändern sich ihre Wanderwege? Sind die Limbranen allzu hungrig und schrumpfen daher die Herden? Vermehren sich umgekehrt die Bestien über jedes Maß? Eigentlich könnte es mir egal sein, was sich in dem von Gott verlassenen Land weit östlich des Slengsfelts abspielt. Leider erreichen uns derzeit Nachrichten, dass sich diese Widerlinge einmal mehr fleischsuchend auf dem Weg nach Westen befinden!

Man stelle sich einen Gardoi vor, der schwer bewaffnet einem Limbranen gegenübertritt; einer Kreatur, die fast einen Schreiter größer ist als er. Unser Mann schießt Bolzen ab, die von ihrer Panzerung wirkungslos abprallen. Am Bauch des Limbranen, am Nabel ist er verwundbar; da müsste unser Mann treffen. Freilich, dort weiß sich die Kreatur auch am besten zu schützen.

Der Vogel-Echsen-Muderer hat einen starken, biegsamen Schwanz – er setzt ihn manchmal ein wie eine ungeheure Peitsche. Gefürchtet sind auch seine Klauen, die alles packen und zerreißen. Ist der Gardoi beritten? Armer Kerl, dann kämpfst du mehr mit der Panik deines Pferdes als mit der Bestie selbst. Doch damit nicht genug: Was ist an den Schnäbeln dieser Kreaturen so einzigartig und erschreckend? Warum nennt man sie auch „Schlauchzüngler“? Hier kann ich nur warnen: Wer neugierig war und es erfahren hat, stellt meistens keine Fragen mehr.

Regelmäßig halte ich Gottesdienste in der Kerge ab. Die Freitags-Divibale ist dabei immer die wichtigste. Gestern redete ich wieder darüber, was unser Herr einst gegen den bösen Drubal unternahm. Danach kamen Gläubige auf mich zu: „Sprechen Sie mit Arasul, dass er uns vor den Limbranen verschont.“ Aber das tue ich ja! Meine täglichen Gebete sind erfüllt mit solchen Bitten! Bisher hat Er nicht geruht, meinem Volk diese schwere Prüfung zu ersparen. Ständig erreichen mich Berichte, dass schon wieder Slengsaaken die Mägen der Limbranen füllen.

Gegenwärtig wird die Stadt Braits besonders hart bedrängt; sie liegt nicht weit vom Limbranat entfernt. Aber zum einen ist die Stadt gut genug befestigt, um die Bestien abzuhalten. Zum anderen handelt es sich bei den Brezzen um Ungläubige – sie verehren nicht den einen wunderbaren Herrn wie wir, sondern beten zu verschiedenen Götzen.

Sicher dachte man in der Vergangenheit über Fragen der Religion anders. Wer meint, ich solle gegenüber Ungläubigen nachsichtiger sein, dem kann ich nur entgegnen: Ich darf in diesem Fall nicht gnädig sein. Als Predikar des Arasul bin ich gehalten, gegen Unglauben und Ekslerei scharf vorzugehen!

Wahrscheinlich ist unser Herr zornig über die brezzische Vielgötterei und benutzt die Limbranen als Instrumente seiner Vollstreckung. Aber in seinem unerklärlichen Ratschluss verschont Arasul auch seine slengsaakischen Kinder nicht: Uns Kondraker erreichen Meldungen, dass die Ungeheuer aus dem Limbranat ihre Opfer in den Dörfern und Flecken rund um Tangeleit suchen. Die Menschen flohen zunächst hinter die schützenden Mauern von Kirgmehs, Jehtse und Marints.

Seit etwa drei Wochen kommt hier in Kondrake ebenfalls ein Strom von Flüchtlingen an. Die Konklause hat alle Hände voll zu tun, diese Hilfesuchenden möglichst nicht abzuweisen, sondern sie (wenigstens vorerst) irgendwo unterzubringen. Einerseits sorgen wir dafür, dass bereits vorhandene Häuser besser genutzt werden. Mitunter muss jetzt auf schon begrenztem Raum die doppelte Anzahl von Personen zusammenleben.

Das wird freilich, wenn es so weitergeht, nicht genügen. Zwei Freder meiner Konklause sind gerade dabei, den Bau von mehreren neuen Häusern vorzubereiten. Darin kennen sie sich aus, denn es ist ihr eigentlicher Beruf. Ich als Erster Habitant brauche die beiden, auch wenn ich als Predikar leider sagen muss: Diese erfahrenen Bauherren haben für Arasul nur Lippenbekenntnisse übrig.

Die meisten Flüchtlinge sind mittellos und können ihre Wohnungen nicht bezahlen. Alteingesessene Kondraker, bei denen sie untergebracht sind, treten an die Konklause heran und fordern Entschädigung von der Stadt. Einer meiner Freder namens Halko verwaltet unsere Kasse und hat bereits den ein oder anderen Zuschuss gewährt. Gott sei Dank verhandelt er mit diesen Geizhälsen und nicht ich! Was verstehe ich schon vom Mietzins?

Mein eigenes Haus habe ich von meinem Vater geerbt. Geld spielte in meinem bisherigen Leben keine große Rolle, denn der Herr Arasul hat meine Familie mit Reichtum gesegnet. Da beziehe ich Einkünfte aus meinem Hof in Keltsevoi, lebe teilweise von seinen Erzeugnissen und kümmere mich nicht darum. Oft habe ich das Bedürfnis, mich von der Wirklichkeit abzukehren, zu vergeistigen und nur Arasul zu dienen. Ja, ich hätte Predikar bleiben sollen. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, vom Amt des Ersten Habitanten zurückzutreten. Aber das hat (in der Nachfolge des Dostar) noch nie jemand getan, freiwillig jedenfalls nicht.

Immer deutlicher wird, dass in mein geplantes Geschichtswerk auch viel Selbstbekenntnis einfließt – das fertige Ganze ist also nur teilweise für die slengsaakische Öffentlichkeit geeignet. So wollte es das Schicksal, dass ich das Amt des Ersten Mannes im Land einnehme. Pnot, dieser listige Schweinehund, wäre viel geeigneter, hätte es gerne gehabt, ist aber nur mein Stellvertreter geworden.

Mein eigener Kandidat als Oberhaupt der Slengsaaken wäre Halko. Ich kenne ihn schon lange, denn im Kreopat saß er neben mir auf der Schulbank. Mein Wunsch war es von Anfang an, Priester Unserer Kerge zu werden; Halko aber sollte die Nachfolge seines Vaters, eines reichen Kondraker Kaufmanns, antreten. Als Kurant oder als Predikar hätte er auch wenig getaugt, denn er war schon immer ein unabhängiger Denker, der alles hinterfragte und kritisierte. Es kommt mir seltsam vor: Ausgerechnet ein Mann von ganz anderem Wesen als ich ist wohl mein einziger Freund.

Zur gleichen Zeit fingen wir damals an, in der Dostar-Nachfolge, nach dem 5-jährigen Krieg, und beide in Regierungsgeschäften völlig unerfahren: Während ich aber bis heute glaube, in vielem ein Stümper zu sein, erwies sich Halko, etwa als Schriftführer unserer Sitzungen und später als Kassenwart, rasch als unentbehrlich. In letzter Zeit habe ich manchmal das Gefühl, meine Freundschaft zu ihm wäre getrübt. Denn ihm scheinen Dinge zuzufallen, bei denen ich mich endlos quäle, und ich traue mich nicht, meinen Neid zuzugeben.

Seit Dostars Zeiten als Erster Habitant heißt das Haus, in dem er sich mit seinen acht Fredern traf, das „Neunehaus“; es liegt am Kondraker Tschajeplatz. Damals wie heute wurde im Allgemeinen zweimal die Woche getagt, aber die Themen und Probleme waren teilweise ganz andere: Momentan geht es bis zur Erschöpfung fast ausschließlich um erneute Gräuel der Limbranen und natürlich um Flüchtlinge.

Lange tat ich so, als ob ich mir alles genau anhörte, abwog und meine Meinung dazu äußerte. Dabei hatte ich allerdings ein geheimes, selbstsüchtiges Ziel, nämlich Zuzug in mein eigenes Haus abzuwehren. Das war gar nicht so leicht, denn alle Kondraker, die Armen wie die Reichen, bringen Opfer und nehmen zusätzlich Leute auf; sogar mein alter Lehrer Lemreck hat in seinem Haus eine Flüchtlingsfamilie untergebracht – fünf Leute aus dem jetzt fast verlassenen Ti-Kleit wohnen in seinem Keller. Der Gedanke, dass außer Bisch und Fostins Kampione noch jemand bei mir lebt, war mir lange beinahe unerträglich. Mein Amt als Oberhaupt von acht Fredern fiel mir schon schwer genug; wenigstens meinen Wohnbereich wollte ich freihalten vom irren Chaos.

Vor Kurzem trat der Fall ein, dass Halko mich brauchte. Ein entfernter Verwandter von ihm besaß als Nobiler große Landstücke in dem Flecken Kidnam bei Tangeleit. An einem Morgen vor etwa zwei Monaten war dieser reiche und geachtete Mann auf seine Felder gegangen, um dort arbeitende Dependare zu beaufsichtigen. Aber weder er noch seine Bediensteten kehrten abends zurück. Man schickte einen Suchtrupp los, der die Überreste menschlicher Leichen, den Kadaver eines Ochsens sowie zerbrochenes Ackergerät zwischen einigen Büschen fand – ein Massaker, das die deutliche „Klauenschrift“ der Limbranen trug.

Der getötete Nobile hatte im „Rat der Neun“ von Kidnam den Vorsitz geführt. In den darauf folgenden Wochen kam es noch zu drei weiteren Todesfällen – unter anderem wurde ein Beisitzer des Rates halb gefressen aufgefunden. Das so geschrumpfte Organ der Obrigkeit erklärte daraufhin seine Handlungsunfähigkeit. Es beschloss, den Ort ganz aufzugeben, mit seinen fünfzig Schutzbefohlenen, Männern, Frauen, Kindern, nach Kondrake zu fliehen und dort um Aufnahme zu bitten.

Auf diese Weise kam die junge Witwe des getöteten Nobilen mit ihrem Sohn in Halkos Haus. Es ist erst eine Woche her, dass Halko zu mir sagte, er hätte sich in sie verliebt und wolle Delba – so heißt die Frau – heiraten. Aber unter seinem Dach lebt ja auch ihre Familie, mit der sie geflohen war, was zu erheblichen Platzproblemen führt. Ob ich seine Braut mit dem zehnjährigen Jungen nicht vorübergehend bei mir aufnehmen könnte, fragte mich Halko; ich würde allen Beteiligten einen großen Gefallen tun. Diesen Freundschaftsdienst konnte ich ihm nicht abschlagen und willigte schweren Herzens ein. Vielleicht bringe ich damit das Gemunkel zum Schweigen, der Erste Habitant lebe so zurückgezogen wie sonst niemand in der Stadt.

Zu meiner Überraschung gewöhnte ich mich bald an den neuen Zustand: Delbas verstorbener Vater hatte seiner Tochter schon früh das Lesen und Schreiben beigebracht – seltene Fähigkeiten bei Frauen, vor allem im entlegenen Osten des Slengsfelts. Sie ist fromm, gebildet und im Umgang angenehm. Ihr schweres Schicksal rührt mich, denn oft erzählt sie mir von den schrecklichen Tagen der Angst in Kidnam, die mit dem Tod ihres Mannes begonnen hatten. Täglich kommt Halko, um nach seiner Braut und dem Jungen zu schauen. Und meine Befürchtung, ein Zehnjähriger wäre lebhaft und würde mein stilles, zurückgezogenes Privatleben stören, bewahrheitete sich nicht: Koppin war nach dem Tod seines Vaters ernst und traurig geworden.

Da – ein plötzliches, heiseres Bellen aus dem Dogger-Wald, sogar bei geschlossenem Fenster deutlich zu hören! Zitternd hielt ich die Schreibfeder in der Hand; wie empfindlich ich doch war! Jetzt schwieg der grässliche Solist wieder. Im Zimmer nebenan fiel etwas zu Boden – dort wohnen Delba und Koppin.

„Das Abendessen ist fertig!“, rief da von unten Bisch, fast singend. Einen Augenblick später knarrte die Treppe. Meine Gäste gingen ins Grundgeschoss hinab.

Ich spürte noch gar keinen Hunger, wollte am liebsten weiterschreiben, aber was genau? Manches hatte ich angeschnitten, vieles noch mit keinem Wort erwähnt. Unzufrieden klappte ich das Buch mit den vielen leeren Seiten zu. Im Wald, am anderen Ufer, brüllten die Tiere mit einem Mal wie besessen; wurde der neue Solist gerade völlig verrückt?

Ich fühlte mich hin- und hergerissen: Körperlich jetzt auch auf der Treppe ins Grundgeschoss, war ich geistig noch immer bei der Geschichte des Rumenkrags, des Slengsfelts, meinem eigenen Leben. Halt, so könnte es gehen – eine Idee! Am liebsten wäre ich wieder zurück in meine Zimmer, aber Bisch und die zwei Gäste warteten.

Zu dritt saßen wir schließlich am Tisch, Delba, Koppin und ich. Meine Haushälterin kocht ganz hervorragend: Es gab Kalbfleisch und grüne Plättchen von gepresstem Gemüse. Ich aß jetzt doch mit einigem Appetit und meine beiden Gäste auch.

Es wäre schön, wenn Koppin, dieser nette, zehnjährige Junge, seinem Alter gemäß etwas mitteilsamer wäre. Er schnitt sein Kalbfleisch und biss in die grünen Plättchen, aber redete nur, wenn er gefragt wurde.

Dafür sprach seine Mutter Delba umso mehr. Sie hatte mit ihrem Sohn am Abend zuvor den Auftritt eines berühmten Sängers auf dem Kondraker Undaiplatz erlebt und war ganz begeistert davon.

„Ich habe diesen Mann auch schon einmal gehört“, sagte ich freundlich, mit halbvollem Mund, „und fand ihn ebenfalls … recht gut.“

„Nicht sehr gut?“, fragte sie und trank etwas.

„Zu viele Liebeslieder“, antwortete ich kauend. „Wo blieb denn das Lob des Herrn Arasul?“

„Das stimmt!“ Delba lachte.

„Wie fandest du seinen Auftritt gestern, Koppin?“, fragte ich.

„Gut“, antwortete der Junge knapp.

„Kannst du das noch ein bisschen ausführen?“, forderte ich ihn auf.

„Seine Stimme“, meinte Koppin und rümpfte etwas die Nase, „war wie die einer Frau.“

Delba lächelte angestrengt.

„Damit er so hoch singen kann, hat man ihm als Kind, ähm, gewisse Teile entfernt.“

„Ich weiß“, antwortete Koppin. „Jetzt singt er Liebeslieder, aber lieben kann er nicht mehr.“

Die junge Mutter wurde rot, ich auch. Wir lachten beide.

Bisch kam herein und fragte:

„Na, schmeckt’s denn?“

„Ausgezeichnet, Bisch!“, rief ich, froh über die Ablenkung. Meine Hände schnitten das Kalbfleisch, mein Kopf aber dachte an abgetrennte Hoden.

Delba war immer noch bei diesem Sänger. Sie wusste alles über ihn, wann er seine Lieder selbst schreibt, wo er auftritt, wer ihn auf welchen Instrumenten begleitet. (Ich war nicht verstümmelt, dachte ich, aber als Predikar der Heiligen Kerge durfte ich nur den Herrn lieben, keine Frau.)

Mit einem Ohr hörte ich Delba zu. Bisch kam immer wieder herein, räumte scheinbar ab, konnte aber nicht genug kriegen vom Lob ihrer Kochkunst.

In Gedanken war ich jetzt ganz bei meinem Buch und sah mit einem Mal ein Bild vor meinem inneren Auge: Ich stehe in einer Landschaft mit Bergen, Ebenen, Häusern. Da rast plötzlich die Welle eines fernen, überkippenden Meeres großschreiterhoch heran und überschwemmt alles mit Blut!

Ich schüttelte mich, besann mich, wo ich war – niemand hatte etwas bemerkt. Bisch brachte eine Schüssel weg, Koppin kaute schweigend, Delba sprach über das von ihrem Lieblings-Sänger bevorzugte Versmaß. Vor mir stand ein Glas mit brezzischem Rotwein. Ich spürte mit einem Mal geradezu einen Ekel, ihn zu trinken, und begnügte mich den Rest des Abends mit Wasser.

KAPITEL 2

Der Neue Skorn

Bisch hatte recht: Die Geschichte des Slengsfelts, gar des Rumenkrags zu schreiben, ist schwieriger, als ich zuerst dachte. Dennoch arbeite ich an meinem Buch heute zügig, denn eine Idee, wie es weitergehen könnte, hatte ich ja schon – die Schilderung eines bestimmten Tages schien mir besonders geeignet.

Er begann damit, dass ich allein frühstückte. Delba und Koppin waren zu dieser Zeit erst drei Tage in meinem Haus und ich kannte die beiden noch nicht so gut wie heute. Aber es war mir natürlich gleich aufgefallen, dass Mutter und Sohn wesentlich früher aufstanden als ich. Wenn mich nicht Pflichten drängten, blieb ich so lange wie möglich im Bett.

Die Tür zur Küche stand offen. Ich hörte, wie Bisch hin und her lief und dabei vor sich hinmurmelte. Dann kam sie ins Speisezimmer und hielt eine Kanne Milch am Henkel. Ich kaute ein Stück Brot, schluckte und fragte:

„Wo ist Delba?“

„Sie wollte zum Herrn Halko“, antwortete Bisch.

„Und Koppin?“

„Der wartet schon länger auf Sie.“ Bisch goss mir Milch in die Tasse. Der leise Vorwurf in ihrer Stimme war unüberhörbar: Ein tüchtiger Mann steht früher auf, dachte wohl meine Haushälterin. Ich tat so, als ob ich nichts bemerkt hätte.

„Wo ist er denn?“, fragte ich.

„Draußen im Garten“, antwortete sie knapp.

Später am Morgen öffnete ich die Hintertür meines Hauses. Der Wind kam heute wieder aus nördlicher Richtung, denn sofort empfing mich der Gestank des Dogger-Waldes. Der übliche, ungebetene Tierchor von dort war dagegen mäßig laut.

Ich ging durch einen schmalen Weg zwischen Gemüsebeeten. Leise gackernd lief eines meiner Hühner vor mir weg. Der herbstliche Himmel war grau und bewölkt. Das Laub mehrerer, fast kahler Bäume lag überall verstreut. Etwa in der Mitte meines Gartens steht eine Bank. Dort saß Koppin vornübergebeugt, hielt die Hände verschränkt und schaute auf den Boden.

„Arasul zum Gruß, mein Junge“, sagte ich. Er grüßte in gleicher Weise, blickte aber kaum auf. Ich setzte mich neben ihn. „Du trauerst wieder um deinen Vater?“

Er wollte wohl nicht antworten und fragte stattdessen:

„Wie hieß denn Ihr Vater, Herr Matea?“

„Sein Name war Palint.“

„Dann ist die Gasse vor Ihrem Haus nach ihm benannt?“

„Der Palintsweg – ja.“

Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Da gesellte sich plötzlich, Großschreiter von uns entfernt, im Norden einer zu dem Tierchor, der lauter war als die anderen – wir hörten einen langgezogenen, schmerzvollen und wütenden Schrei. Koppin zuckte zusammen. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Ruhig, mein Junge, das kennst du doch jetzt schon.“

Blass im Gesicht, sagte er leise:

„Ich kann mich nicht daran gewöhnen.“

Ich ahnte schon, was ihm durch den Kopf ging.

„Du kannst nicht zurück nach Kidnam“, meinte ich, „im Moment jedenfalls nicht.“

„Ich weiß, man hat ja gar keine Wahl: Dort die Limbranen, hier der Dogger-Wald.“ Einen Augenblick dachte er nach und sagte dann niedergeschlagen: „Ich glaubte einmal, diese Stadt wäre unsere Rettung.“

„Aber das ist sie doch auch!“, rief ich und fasste ihn am Oberarm. Nachdenklich kaute er an seiner Lippe. „Wir sprachen erst gestern darüber.“ Ich wurde etwas ungeduldig. „Was schützt uns einerseits?“

„Die Kokaju.“ Koppin schien gelangweilt. „Sie ist 200 Schreiter breit zwischen dem Wald und uns.“

„Und andererseits?“

„Eine starke Nordmauer zum Fluss hin; das Solideste, was es im ganzen Slengsfelt gibt.“ Er wiederholte fast wörtlich meine Erklärungen.

„Aber du glaubst mir nicht recht?“

„Doch“, antwortete er gleichmütig.

„Du bist nicht wirklich überzeugt, weil du Kondrake noch gar nicht richtig gesehen hast.“

„Meine Mutter und ich sind auch noch nicht so lange hier.“

„Dann wird es höchste Zeit, dass ich dir die Stadt zeige. Hatten wir das gestern nicht ausgemacht?“

„Ja, ja“, sagte er, blieb aber ruhig sitzen und starrte vor sich hin. Beim Arasul! Vielleicht half ein Wechsel des Themas.

„Gestern Abend hast du mich überrascht“, sagte ich. „Du warst in Kidnam auf einer Schule?“

„Nein“, antwortete er, „das gibt es dort nicht. Die Mutter unterrichtete mich.“ Jetzt schaute er mich an, zum ersten Mal lächelnd. „Ich habe sogar das Libat Kreder gelesen – teilweise zumindest.“

„Eine stolze Leistung für einen Zehnjährigen“, meinte ich. „Was willst du denn einmal werden?“

„Predikar wie Sie, Herr Matea.“

„Oha!“ Ich war angenehm überrascht. „Du willst aber hoch aufsteigen in Unserer Kerge. Bei so einem hohen Amt muss man einiges verlangen können.“

„Sie können ja herausfinden, wie viel ich weiß.“ Er wurde rot im Gesicht.

„Angehende Priester müssen immer ihre Kenntnisse unter Beweis stellen. Wir machen das später. Komm jetzt, die anderen warten bereits.“

Die Entfernungen in der Stadt sind nicht groß: Wenn ich vom Süd- ins Nordviertel will, gehe ich gewöhnlich mit meinen Leibwächtern zu Fuß. Heute aber stand mein Wagen draußen auf dem Palintsweg. (Das Holz dafür und die Handwerker haben mich viele Valem gekostet.)

Ich trat mit Koppin aus der Haustür.

„Arasul zum Gruß, meine Herren.“

Die drei Gardoi drehten ihre Köpfe zu mir.

„Arasul zum Gruß, mein Erster Habitant“, hörte ich mehrstimmig.

Zwei der Leibwächter, Klabo und Jorp, standen vor der geöffneten Wagentür, auf ihre Schutzschilde gestützt. An ihren Gürteln steckten je ein Dolch und ein langes Schwert. Sie trugen schwere Kampfkleidung, Harnische an Unterarmen und Unterschenkeln, dicke Handschuhe und knielange Kettenhemden, darüber mit Metallplatten besetzte Lederröcke. Auf den Helm-Wölbungen der Köpfe erhob sich je eine Kresne: Das ist unser Heiliges Zeichen; es sieht aus wie eine kleine Gabel mit zwei Zinken. An den Helmen unten schützten Netze aus Metallringen Hälse und Ohren. Große Stoffkresnen zierten die Brustteile der Lederröcke. Wegen ihrer besonderen Spitzen werden die slengsaakischen Helme auch Zweizinker genannt.

Fostin saß auf dem Bock des Wagens, in der einen Hand die Peitsche, in der anderen die Zügel. Die beiden Pferde wedelten mit den Schweifen.

„Wo ist denn Birut?“, fragte ich gutgelaunt.

„Hier, mein Erster Habitant“, sagte eine Stimme hinter mir. Der vierte meiner Gardoi stand an einer Ecke meines Hauses. Er trug eine Lanze über der Schulter, eine dieser gefürchteten Paiken – eine Stichwaffe mit zwei seitlichen Haken zum Heranziehen des Feindes.

„Du passt auf das Haus auf“, sagte ich freundlich zu ihm, „und willst nicht mit hinaus ins Slengsfelt?“

Koppin schaute mich erschrocken an.

„Es geht nach draußen?“

„Zuerst durch die Stadt, mein Junge“, antwortete ich, „und in die Kerge natürlich. Aber dann hinaus ins Slengsfelt, ja.“

In Koppins Miene war Angst.

„Wir fahren durch das Stadttor?“

Ich musste lachen.

„Wir sollten zu einem bestimmten Ort. Von dort kannst du ganz Kondrake überblicken. Es lohnt sich also.“

„Und die Limbranen?“

„Sind nicht so weit westlich. Wenn es anders wäre, wüssten wir es längst.“

„Aber die Anhänger der falschen Prophetin könnten uns auflauern“, wandte Jorp ein.

„Gegen diese verdammten Revai-Banditen“, erwiderte Klabo, „hilft mein Drissong.“ In seinem rechten, gefütterten Handschuh hielt er einen Bogen. Er lässt sich mit einer Vorrichtung spannen und verschießt durchschlagende Bolzen.

„In der Stadt“, meinte Jorp zu Koppin, „ist es augenblicklich gefährlicher als draußen vor der Mauer.“ Der Junge schien sich zu beruhigen.

„Wollen wir hoffen, dass der Tag friedlich bleibt.“ Der Gedanke an diese Revai machte mich beklommen.

Birut blickte zum Himmel.

„Ich befürchte, dass es nicht mehr lange trocken bleibt.“

„Dann wollen wir keine Zeit verschwenden.“ Ich stieg als Erster in den Wagen.

Wir saßen auf einfachen Holzbänken, der Junge mir gegenüber, links und rechts von uns je ein Gardoi. Fostin draußen auf dem Bock rief den Pferden etwas zu. Seine Peitsche knallte durch die Luft und die großen Räder begannen zu rollen.

Im Südviertel wohnen die Reichen, Wohlhabenden und Mächtigen. Die Türen meines Wagens haben feine, halbdurchsichtige Holzgitter – wir fuhren durch die Osergasse mit ausgedehnten, oft mehrflügeligen, einstöckigen Villen, geschmückt mit Türmchen, Erkern und Zinnen. Die Fassaden sind bemalt mit allerlei Geschichts- oder Tiermotiven. Ich schaute, über niedrige Mauern hinweg, in Gärten hinein. Vor einem knorrigen, hohenBaum stand eine Frau im grauen Kleid und hing Wäsche für ihre Herrschaft auf die Leine.

Die Osergasse ist ungepflastert, von Fahrrillen durchzogen. An diesem Tag war sie auch schlammig vom Regen des Vortages. Ein Mann lief über Trittsteine von einer Seite zur anderen – so blieben seine Schuhe trocken. Fostin steuerte unseren Wagen zwischen zweien dieser Steine hindurch. Aus einer Gasse weiter östlich war der Lärm eines Hammers zu hören. Die hohen Flügel einer Windmühle erhoben sich über die Dächer der Villen davor und drehten sich langsam im Wind.

Ich machte ein ernstes Gesicht und fragte Koppin:

„Bist du bereit?“

Er wirkte mit einem Mal unsicher.

„Ja, fragen Sie.“

Ich schmiegte mein bärtiges Kinn in die Hand.

„Sag mir doch: Wer war Johanaba Skorn?“

Sofort kam die Antwort:

„Er stammt, ähm, aus der Stadt Brauzess. Sie liegt am Westmeer Salte.“

„Wann wurde er geboren?“

„Vor 146 Jahren.“

„Was war davor?“

Schwitzend dachte er nach.

„Das weiß wohl niemand genau“, antwortete er schließlich, „mit Johanaba Skorn beginnt unsere Zeitrechnung.“

„Richtig.“ Ich nickte anerkennend. „Erzähl mir etwas über Brauzess.“

„So hieß die Hauptstadt des Omer-Haukats, einem Land im Nordwesten des Rumenkrags.“

„Was bedeutet dieser Name?“ (Ich machte keine Pause!)

„Ähm, Reich aller Hauker – das waren mehrere Völker, die sich zusammenschlossen.“

„Was haben wir Slengsaaken mit den Haukern gemeinsam?“

„Wir glauben an den gleichen Schöpfergott und nennen ihn den Großen Gestalter.“

Unser Wagen fuhr durch die mehrfach gewundene Harksgasse: Rechts und links drängen sich kleine, zweistöckige Häuser. In den schiefen Winkeln zwischen ihnen wachsen wilde Sträucher und Unkraut. Die glaslosen Fenster sind mit Tierhäuten bespannt. Hinter großen Toren schnatterte, bellte oder muhte es wie immer am Tag.

Hier leben und arbeiten die Tuchmacher und Schneider. Manche verkaufen durch die geöffneten Fensterläden der Grundgeschosse, andere stellen ihre Tische vor die Häuser. „Herrschaften, hier gibt es die feinste Ware!“, riefen sie. Ein Mann probierte verschiedene Röcke an. Seine Frau schaute ihm nachdenklich dabei zu. Der Schneider redete unablässig auf die beiden ein.

„Macht Platz dem Ersten Habitanten!“, hörte ich Fostin immer wieder rufen. Wir kamen nur langsam voran, überall mussten erst Kisten, Kästen und sonstiger Kram weggeräumt werden. Vor den Türen und Toren spielten lärmende Kinder in Schmutz und Schlamm der Gasse, ihre Mütter zogen sie jetzt weg.

In der Harksgasse gibt es keine Trittsteine wie im feinen Südviertel, man legt von manchen Häusern zu den gegenüberliegenden lange Bretter. Fostin musste die Leute ständig auffordern, diese Hindernisse zu entfernen – dabei ging es sehr gemächlich zu. Klabo öffnete die Wagentür einen Spalt und schrie hinaus:

„Heh, geht das ein bisschen schneller? Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“

Ich kam wieder auf unser Thema zurück:

„Rechtschaffene wie Skorn also glaubten an den Großen Gestalter. Wer leugnete denn, dass er den Rumenkrag geschaffen hat?“

„Die Nachbarländer des Omer-Haukats“, antwortete Koppin. „Dort beschäftigte man sich mit allem, was verwerflich und heute bei uns verboten ist – im Prussidel, im Estrigat und in der Stadt Schardrumin, die ein weites Umland beherrschte.“

Nachdenklich schaute ich durch das Holzgitter der Tür. Ein Mann mit schwerer Last auf dem Rücken lief langsam und gebeugt neben meinem Wagen. Ich deutete auf ihn:

„War das auch damals bei diesen ungläubigen Nachbarn üblich? Ein Mensch hat solche Mühe mit einem Sack?“

„Nein“, antwortete der Junge, „dafür hatte man andere dienstbare Helfer.“

„Arbeiteten die mit Muskelkraft?“

„Nein, ähm, mit Elektritt.“

„Was ist nun das wieder?“

Eine Zeit lang saß er mit verschränkten Armen und suchte nach Worten.

„Elektritt“, sagte er schließlich, „das waren machtvolle Ströme, die durch hohle Drähte flossen. Sie trieben allerhand seltsame Automaten, Apparate und Makinen an.“

Listig nahm ich die Haltung der Gottlosen ein:

„Muss man nicht dieses Elektritt als eine Erleichterung begrüßen? Und diese eigenartigen Metallgebilde, die seine Ströme brauchten wie wir das Blut in den Adern?“

„Dabei blieb es ja nicht“, antwortete Koppin. „Die künstlichen Helfer wurden rasch weiterentwickelt und übernahmen bald alle Arbeiten. Viele Menschen wurden nicht mehr gebraucht, verdienten nichts und lebten in Armut.“

„Wer dagegen wurde unglaublich reich?“

„Die Hersteller der metallenen Helfer“, antwortete Koppin. „Am Anfang waren das Menschen. Dann begannen die Makinen, sich selbst herzustellen. Mit einem Mal hatten ihre gewinnsüchtigen Herren das Nachsehen.“

„Der Konflikt zwischen Mensch und Makine wurde immer schärfer!“, rief ich. „Mit welchem Ergebnis?“

„Der Mensch stand einer neuen Generation von allwissenden Metall-Kreaturen gegenüber. Das Organische, Natürliche drohte, bedeutungslos zu werden.“

Wir erreichten den Donaiplatz. Hier bilden die Häuser, mit schiefen Winkeln dazwischen, einen annähernden Kreis. Die wohlriechenden Waren der Kondraker Bäcker lagen in den offenen Fensterläden oder auf Tischen. Es war leider nicht anders als bisher, denn ständig blieb mein Wagen im Gedränge stecken – eine Nervenprobe!

Von allen Seiten ertönten Rufe: „Ich habe den besten Kuchen! Probiert ihn, Herrschaften!“ – „Süßes Gebäck, schlagt euch die Mägen damit voll!“ – „Das könnt ihr euch leisten, Freunde, eure Gaumen lechzen danach!“ (Wenigstens ist hier der überall gegenwärtige Gestank der Stadt noch am besten zu ertragen.)

Einige Leute schleppten große Säcke in ein öffentliches Backhaus; eine alte, bucklige Frau trug einen Korb mit mehreren Broten heraus. Im Unkraut zwischen zwei Häusern saß ein Mann auf einem Hocker und spielte Flöte. In einem Korb hatte sich eine Schlange aufgerichtet und wiegte ihren glatten Körper vor ihm, ein paar Leute schauten gespannt zu.

„Macht Platz! Schneller!“ Fostin klang sehr gereizt.

Mein Wagen fuhr langsam an einem zerlumpten Bettler vorbei. Er hatte ein rötliches Geschwür am Kopf von der Größe eines Blumenkohls, auf dem spärliches Haar wuchs. Ich zeigte auf ihn und fragte Koppin:

„Hätte man damals so etwas heilen können?“

„Den Ärzten war wohl in dieser Zeit nichts unmöglich“, meinte er.

„Wenn ich das alles recht verstanden habe,“ sagte ich grimmig, „dann gingen manche Leute zum Mediziner wie heute Kunden zum Händler. Zuerst gab es rechtlose Sklaven, die dort ihre Körperteile zum Kauf anboten. Später züchtete man wohl in Gefäßen künstliche Organe wie bei uns Früchte am Baum.“

„Man konnte sich sogar neu zusammensetzen“, fiel Koppin ein. „Vielleicht wollte einer drei Beine oder vier Arme haben – das war möglich!“

„Ich kenne in der Geschichte des Rumenkrags“, erwiderte ich ernst, „einen einzigen Fall, bei dem diese Methode gerechtfertigt war. Du weißt, wen ich meine?“

„Natürlich.“

„Wie hieß diese Methode und welche verderblichen Wünsche wurden sonst damit erfüllt?“

„Man nannte sie Körperwahl“, antwortete der Junge. „Wer sie durchführen ließ, war nicht mehr er selbst. Er vereinigte sich mit anderen zum, äh, Zweck der Lust, zur dauerhaften Reizung der Geschlechtsorgane.“

„Schamlos, nicht wahr?“, rief ich. „Was für eine Welt damals: Ärzte, die vergessen hatten, dass sie heilen sollten. Patienten, die nicht krank waren, sondern nur lüstern! Und was brauchten sie dafür?“

„Viel Geld“, sagte er knapp.

„Also ungerecht war das Ganze außerdem! Wie nennen wir diese Endzeit, kurz, bevor alle diese Narren mit ihren Makinen in den Abgrund stürzten?“

„Herbst der Automaten“, antwortete Koppin.

Eine durchdringende Männerstimme lenkte uns ab. „Brezzischer Wein!“, rief sie. „Hier gibt es besten brezzischen Wein!“ Eine andere: „Solch feines Leder habt ihr noch nie gesehen!“ Eine dritte: „Schön geschnitzte Figürchen! Die Preise purzeln, Kondraker! Nehmt vier für zwei Valem. Greift zu, solange der Vorrat reicht!“

Wir waren in der Espergasse. Hier leben meist wohlhabende Kondraker Fernhändler. Die vornehmen Häuser haben auch hier in den ersten Stockwerken viele Türmchen, Zinnen und Erker. Die Geschäfte werden meist auf kleinen, hölzernen Vorbauten vor den Grundgeschossen abgewickelt.

Fostin war vom vielen Rufen fast heiser. Lachende oder schimpfende Stimmen im Gedränge antworteten ihm. Durch die Holzgitter-Tür sah ich, wie die Leute ständig hin- und herräumten.

Endlich waren wir ein Stück vorangekommen, da öffnete sich seitlich vor uns ein Tor zwischen zwei Häusern und ein großer, bis oben beladener, von Ochsen gezogener Wagen fuhr heraus. Zunächst nahm er fast die ganze Breite der Espergasse ein, drehte dann endlich nach mehreren Versuchen schwerfällig und fuhr eine ganze Zeit lang in die gleiche Richtung wie wir. Ich begann, die Fußgänger zu beneiden.

Um einen bekannten Prediger am Ende der Gasse scharten sich viele Menschen. Selbst der Händler auf dem nächsten hölzernen Vorbau verkaufte nicht, sondern hörte dem frommen Mann zu. Sein Anblick regte mich an, auf unseren Glauben zurückzukommen.

„Um die Zeit von Skorns Geburt“, sagte ich, „kam dort, wo später Marints entstehen sollte, ein anderer Mann zur Welt – mit erstaunlichen Fähigkeiten. Was steht im Libat Kreder über ihn?“

„Er befahl Gebirgen, langsam aus dem Boden zu wachsen, Meeren, sich zu öffnen oder zu schließen, und fernen Vulkanen, auszubrechen. Die Leute fragten ihn: ‚Wer bist du?‘ Er antwortete: ‚Ich bin der Große Gestalter, der einst den Rumenkrag schuf. Ich wollte nicht in der Geisteswelt bleiben, sondern ein Mensch sein und leiden wie ihr. Ich heiße Rumelan.‘“

„Was behaupteten dagegen seine Feinde, die Schardruminer?“

„Du bist kein Gott im Körper eines Mannes, sondern ein Schwindler, ein Zauberer!“

„Was geschah?“

„Sie suchten Rumelan am Kachoi-See und entführten ihn durch die Luft in ihre Stadt. Dort wurde er in einen Apparat gestellt, einen sogenannten Nichter, angetrieben von unheiligem Elektritt. Damit zerstrahlten sie ihn, lösten ihn auf und schickten seine kleinsten Teilchen nach allen Richtungen bis zu den fernsten Sternen, Milliarden Großschreiter entfernt. Nie mehr sollte Rumelan die Kraft haben, in den Rumenkrag zu seiner alten Gestalt zurückzufinden.“

„Gibt es Hoffnung, mein Junge?“

„Ja“, antwortete Koppin. „Der Gott-Mensch hatte einen Freund, der von den Mordplänen wusste. Er suchte ihn vor der Entführung auf und warnte ihn:

‚Bald wirst du sterben, Herr!‘ Da führte ihn der Wundermann zu einem nahen Acker. Dort schnitt er in seine Hand, ließ drei Blutstropfen in die Krume fallen und sagte: ‚Was hier von mir zurückbleibt, vergeht nicht. Es wird wachsen und wachsen, bis ein Kind ohne Mutter, ein Mensch aus dem Boden steigt – ein neuer Rumelan, ein Spiegelbild des alten. Wenn ihr verzweifelt seid am Ende eurer Tage, wird Er bei euch sein.‘“

„Wunderbar!“ Ich klatschte leichten Beifall. „Selbst die Zitate stimmen, mein Kompliment.“ Sein Gesicht lief rot an. „Die Heilige Schrift verheißt uns also ein Wunder in ferner Zukunft“, fuhr ich fort. „Der Gläubige hofft darauf, dem Eksler gilt es nichts. Wer gab denn den Befehl, den Rumelan zu zerstrahlen?“

Der Junge räusperte sich.

„Der Herrscher von Schardrumin: Drubal.“

„Warum hat dieser niederträchtige Lump den Gott-Menschen gehasst?“

„Weil er selbst das Böse in reinster Form verkörperte. Drubal war eine denkende Makine, die dem Elektritt zum endgültigen Sieg verhelfen wollte.“

Ich verzog das Gesicht.

„Wie müssen wir uns diese Makine Drubal vorstellen?“

„Als einen achteckigen, schweren und doch frei in der Luft schwebenden Schild.“

„Ein seelenloses Kunstding also, ohne einen Funken Ehrfurcht und völlig skrupellos!“, rief ich. „Was empfand dagegen Johanaba Skorn für Rumelan?“

„Seine Zerstrahlung im Jahr 51“, antwortete Koppin, „stürzte den Tiefgläubigen in große Verzweiflung. Er ordnete ein halbes Jahr der Trauer und des Klagens im Omer-Haukat an.“

Endlich fuhren wir auf den Dromaplatz. Dort war an diesem Morgen Viehmarkt. Neben dem zentralen Brunnen hatte man an einem Mast die Marktfahne hochgezogen. In den schlammigen Boden gerammte Holzpflöcke bildeten kleine Pferche mit Pferden, Ochsen, Kühen, Ziegen und Schafen. Daneben standen Kisten mit lebendem Geflügel, Gänsen, Enten und Hühnern – was für ein Muhen, Blöken, Wiehern, Schnattern und Gackern!

Gruppen von Verkäufern und Käufern diskutierten lebhaft und gestenreich miteinander. Sie deuteten auf das ein oder andere Tier oder fassten es an. Ein griesgrämiger Mann öffnete seinen Beutel und bezahlte einen anderen, der mit verschmitztem Gesicht die Hand aufhielt.

Als unser Wagen gerade um den Brunnen herumgefahren war, versuchte ein Bauer vor uns, drei Kühe in einen leeren Pferch zu treiben, aber die Tiere gehorchten nicht.

Plötzlich gab es großes Geschrei! Ein Mann rannte, so schnell es eben ging, durch die Menge. Jetzt packten ihn zwei Leute und hielten ihn fest.

„Der hat wohl gestohlen“, meinte Koppin.

„Was sind denn kleine Taschendiebe heutzutage“, fiel mir ein, „gegen maßlose Räuber im Herbst der Automaten? Was nämlich planten dieser Makinen-Bandit Drubal, seine Helfer und Verbündeten?“

„Sie wollten die anderen Länder besiegen, besetzen und die Beute untereinander teilen“, antwortete Koppin. „Alle Menschen im Rumenkrag, die nicht Prusser, Estriger und Schardruminer waren, sollten versklavt und letzten Endes umgebracht werden.“

„Solche Feinde der Menschheit mussten entschieden bekämpft werden!“, rief ich. „Das konnte nur Johanaba Skorn. Was benutzte er dazu?“

„Die Mittel und Methoden, die ihm im Herbst der Automaten zur Verfügung standen.“

Ein braver Schüler, dachte ich, geradezu mustergültig. Zufrieden lehnte ich mich zurück.

„Wieso erlauben wir dem großen Hauker, was wir bei anderen verurteilen?“

„Die Heilige Kerge ist überzeugt davon“, antwortete Koppin, „dass Johanaba Skorn als Einziger die Reife hatte, mit diesen Automaten, Apparaten und Makinen angemessen umzugehen.“

„Richtig. Wenn der Feind metallene Dependare baut, um dich zu überwältigen, was brauchst du selbst?“

„Ähm, noch bessere metallene Dependare?“

„Du sagst es.“

„Wer nur Ochsenkarren hat, kann nicht gegen flammenspeiende Movems antreten.“

„Kluger Junge.“ Ich musste lächeln. „Die Zeichen standen also auf Krieg und es war Johanaba Skorn, der ihn begann. Warum tat er das?“

„Um die Nichtung des Rumelan zu rächen und, ähm, weil er ahnte, was Drubal und seine Genossen im Sinn hatten. Durch einen Angriff wollte er ihnen zuvorkommen. Das war im Jahr 52.“

Unruhig rieb ich meine schwitzenden Hände aneinander.

„Wie muss man sich einen Krieg damals vorstellen?“

„Die gegnerischen Parteien hatten große Voltanen, die selten selbst gegeneinander antraten. Sie bargen in ihren künstlichen Leibern Kampf-Movems, die sie am Boden ausluden. Oder man ließ hunderte kleiner Metallvögel vor der Schlacht in die Luft steigen. Freund und Feind waren leicht zu unterscheiden: Die kleinen Flugwerke des Skorn hatten die Form einer fliegenden Sichel – daher der Name ‚Sichler‘. Die Ungläubigen sah man am Himmel in Dreiecksschiffen fliegen, den Trilonen.“

„Welche Waffen wurden benutzt?“

Er überlegte einen Augenblick.

„Aus großen Rohren schossen Kugeln. Strahlwaffen ließen alles dahinschmelzen wie Butter in der Sonne. Sichler und Trilonen warfen Metallkörper in großer Zahl ab. Am Boden zersprengten sie mit furchtbarer Kraft, lösten manchmal große Feuer aus und legten ganze Städte in Schutt und Asche. Man nannte sie Bremben.“

Wir fuhren langsam durch die Harpnoigasse. In den Fensterläden der Häuser hingen Hälften von Rindern, Schweinen und kopfüber baumelndes, gerupftes Geflügel. Fleischstücke aller Größen, abgehackte Köpfe und Füße lagen auf den Tischen. Hier war das kleine, blutige Reich der Kondraker Metzger. Lautstark priesen sie ihre Ware an.

Die Gasse hatte an diesem Morgen wieder reichlich Kundschaft. Oft kauften einfach gekleidete Dependarinnen für ihre Herrschaft ein. Sie blieben da und dort vor Fenstern und Tischen stehen, betrachteten das Fleisch kritisch und begannen zu feilschen.

Unser Wagen fuhr vor einem Haus mitten durch einen Misthaufen. Gleich daneben hatte jemand vor seiner Tür große Mengen Holzscheite aufgeschichtet. Auf Fostins Schimpfen hin räumte ein Mann sie jetzt in aller Ruhe weg – die Leute hierzulande haben ein anderes Zeitmaß, die Hektik im Herbst der Automaten ist ihnen fremd.

Man muss also geduldig sein bei uns, heute gelang mir das nicht recht.

„Wir sind am Anfang dessen, was man später die Gotteskriege nannte“, sagte ich. „Wie schlugen sich denn Johanaba Skorn und seine Hauker?“

„Anfangs eilten sie von Sieg zu Sieg“, antwortete Koppin, „bis die meisten Voltanen und Kampf-Movems zerstört, die riesigen Armeen ausgeblutet und erschöpft waren.“

„In welchem Jahr?“

„Ähm, 58 nach Skorn.“

„Gut!“ rief ich. (Seine Antworten waren wirklich hervorragend, das hat man selten.) „Erzähl einfach weiter.“

„Johanaba Skorn erlitt eine entscheidende Niederlage, aber immer noch war sein Einfluss im Rumenkrag groß. Seine Feinde galten als erbarmungslose Schlächter und wollten das schlechte Bild, das man sich von ihnen machte, etwas aufhellen. Also gestatteten sie ihm, seine Regierungsgeschäfte niederzulegen und das Omer-Haukat zu verlassen. Während Brauzess von den Schardruminern besetzt wurde, ging Skorn in die Verbannung. Etwa 500 seiner Anhänger begleiteten ihn nach Vendroma, eine Stadt in der Tiefe des Westmeers Salte.“

Mal sehen, was er jetzt antwortet.

„Wie kann man denn in einer untermeerischen Stadt leben?“

Er überlegte und zuckte dann mit den Schultern.

„Wirklich verstanden habe ich das nicht. Vendroma soll eine starke Kuppel gehabt haben, die das Wasser abhielt, und Rohre, durch die Atemluft gepumpt wurde.“

Ich lächelte.

„Bemüh dich nicht! Wer begreift schon alle seltsamen Wunder im Herbst der Automaten? Was geschah denn auf dem Festland während Skorns Verbannung?“

„Schardrumin führte zusammen mit den Prussern einen verheerenden Krieg gegen die Estriger.“

„Da hast du doch den Beweis!“, rief ich. „Kaum war ihr gemeinsamer Feind außer Gefecht, begannen sie, sich gegenseitig zu zerfleischen. Mit welchem Ergebnis?“

„Am Ende war das Estrigat buchstäblich ausgelöscht. Da erklärte Schardrumin überraschend seinen Verbündeten, den Prussern, den Krieg.“

„Was passierte?“ Ich spürte großes Unbehagen.

„Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll.“ Der Junge senkte den Kopf.

„Verständlich“, sagte ich ernst.

Wir schwiegen einen Augenblick und hingen höchst unangenehmen Gedanken nach.

Draußen lagen im Dreck der Gasse blutige Reste. Ein Hund, der ein Stück blutiges Gedärm zwischen den Zähnen hielt, lief neben uns her. Zwei offenbar hungrige Artgenossen folgten ihm.

„Der maßlose Schrecken von damals“, meinte ich schließlich, „überfordert unsere Vorstellungskraft. Millionen Bewohner des Rumenkrags kamen in den Jahren 65 und