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Die märchenhafte Zunawelt ist ein Spiegel der Erde. Träume, Gefühle, Hoffnungen und Wünsche der Menschen werden in ihr gespiegelt und zu Farben gemischt. So werden die Zunawelt und die Welt der Menschen bunt. Doch beide Welten sind bedroht. Eine böse Zauberin, die Atroxgula genannt wird, will alle Farben stehlen, damit alles farblos wird und sie mächtig. Runa ist auserwählt, den gefährlichen Kampf um die Farben gegen Atroxgula anzutreten. In ihrer Tasche trägt sie ein kostbares Geheimnis, das sie zurück in die Zunawelt bringen muss, damit sie beide Welten retten kann. Auf ihrer abenteuerlichen Reise findet sie Freunde und begegnet phantastischen Wesen ...
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Seitenzahl: 333
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Grau und trüb und immer trüber
Kommt das Wetter angezogen,
Blitz und Donner sind vorüber,
Euch erquickt ein Regenbogen.
Frohe Zeichen zu gewahren
Wird der Erdkreis nimmer müde;
Schon seit vielen tausend Jahren
Spricht der Himmelsbogen: Friede.
Aus des Regens düstrer Trübe
Glänzt das Bild, das immer neue;
In den Tränen zarter Liebe
Spiegelt sich der Engel – Treue.
Wilde Stürme, Kriegeswogen
Rasten über Hain und Dach;
Ewig doch und allgemach
Stellt sich her der bunte Bogen.
JOHANN WOLFGANG v. GOETHE.
Samia, die Zebralöwin
Das Zunabuch
Die weisen Wurzeln
Die blaue Wüste
Lacrima und der Tränensee
Die Dromaden
Zurück zum Tränensee
Auf der Suche nach der schwarzen Träne
Patschaka
Der Absturz in Kalatal
Reklov
Der schmale Weg
Zurück im Buchladen
Ole, der Riesenmaulwurf
Im Land der magischen Pferde
Der Kampf
Oles Plan
Die Atroxgula
Der Wolkenhafen
Die Rettung
Die Schiffsreise
Im Reich der Königinnen
Der Morgen war grau und in Dunst gehüllt. Ein Mädchen saß auf der steinernen Treppenstufe vor der Tür eines alten Buchladens und blies kleine Atemwölkchen in die feuchte, kalte Luft.
Auf ihrem Schoß lag eine abgenutzte Tasche, die sie mit ihren Fingern fest umklammerte, als könne jeden Moment ein Dieb um die Ecke schleichen, um sie ihr zu entreißen.
Unheimliche graue Wolken hingen tief vom Himmel herab. Wie aufgeblasene, unförmige Luftballons schwebten sie geisterhaft dicht über den Straßen. Das Mädchen wartete. Sie kauerte sich dicht an die Mauer des Hauses und verhielt sich ganz still. Plötzlich hörte sie platschende Schritte auf dem nassen Asphalt.
„Hoffentlich ist ER es!“, dachte sie erwartungsvoll und spürte gleichzeitig die drängende Macht der unheimlichen Wolken um sich herum. Sie zog sich ihre Kapuze tiefer ins Gesicht.
Professor Frey ging die nasse Straße entlang, um seinen Laden aufzuschließen. Seinen Mantel hatte er bis oben zugeknöpft und den Kragen hochgeschlagen. Ein merkwürdiges Wetter! Diese Wolken gefielen ihm gar nicht. Sie erinnerten ihn an jene Nacht, in der sich so vieles für ihn verändert hatte. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken und er beschleunigte seine Schritte.
Erstaunt blieb Professor Frey stehen, als er das Mädchen auf der Stufe sitzen sah. Irgendwie hatte er das Gefühl, es zu kennen, und eine vertraute Wärme breitete sich in seiner Brust aus.
„Wer bist du?“, fragte er es neugierig, während er mit nervösen Fingern ungeduldig den Ladenschlüssel aus seiner Manteltasche fischte. Er wollte so schnell wie möglich hinein, weg von diesen schauerlichen Wolken auf den Straßen. Das Mädchen zögerte kurz.
„Runa, ich bin Runa“, antwortete es ihm schließlich mit heller, kristallklarer Stimme, wie der Professor sie schöner nie zuvor gehört hatte. Er musste sofort an einen farbenfrohen Lichtstrahl denken.
„Ein hübscher und seltener Name“, sagte er bewundernd zu ihr, lächelte und schloss die Ladentür auf, die er daraufhin knarrend und quietschend aufschob. Das goldene Glöckchen, das innen über der Tür hing, bimmelte kurz.
Runa stand langsam von der Stufe auf. Ihre Tasche hielt sie noch immer fest umklammert, als behüte sie darin einen wertvollen Schatz.
„Möchtest du einen heißen Tee trinken?“, lud Professor Frey sie freundlich ein, denn er bemerkte, dass sie sichtlich fror. Runa schaute ihn prüfend an. Seine braunen und treuen Augen mit den grau-buschigen Augenbrauen wirkten warm und herzlich. Seine struppigen, grauen Haare kräuselten lustig unter seinem Hut hervor. Sie musste zu ihm aufschauen, denn er war sehr groß.
„Ja, er muss es sein!“, vertraute sie einer inneren Stimme. Sie nickte und folgte ihm wortlos in den Laden. Dort roch es angenehm nach alten Büchern. Die hohen, schmalen Regale waren bis zur Decke mit ihnen gefüllt. Zwei kleine runde Tische mit gemütlichen Sesseln daneben luden zum Lesen ein. Alles wirkte wie ein ganz normaler Buchladen. Runa aber wusste, dass dieser hier ein ganz besonderer Ort war. Ein Ort, der den Weg in eine andere Welt verbarg, in IHRE Welt.
„Schau dich um, wenn du magst, und ich koche uns den Tee“, sagte Professor Frey augenzwinkernd und verschwand hinter einem schweren, roten Samtvorhang, der den Raum im vorderen Bereich abteilte. Hinter dem Vorhang befand sich ein alter Schreibtisch mit hölzernen Löwenköpfen an den Ecken sowie eine kleine Kochnische, wo der Professor nun Wasser für den Tee aufsetzte. Dabei dachte er an seine Stammkundin Margerite. Sie würde sicherlich gleich kommen, denn sie kam jeden Tag zu dieser Uhrzeit.
Runa schob die Kapuze vom Kopf und öffnete die Jacke. Sie schüttelte ihre langen, dunklen Haare, die ungebändigt zu allen Seiten abstanden. Hier war sie sicher! Sie strich behutsam, fast zärtlich, über ihre Tasche, die sie vorsichtig auf einem der runden Tische ablegte. Neugierig ging sie durch die schmalen Gänge der gefüllten Bücherregale und streckte dabei ihre Hand aus, als würde sie über die Reihen von Büchern streichen, berührte sie dabei jedoch nicht. Dann breitete sie schwungvoll beide Arme aus, lief auf Zehenspitzen federleicht über den Fußboden, die Finger ihrer kleinen Hände flatternd in der Luft bewegend, als könne sie jeden Moment abheben und fliegen.
„Wo er das Buch wohl versteckt hält?“, überlegte sie. Zufrieden spürte sie, dass ihre Kraft ein wenig zurückkehrte. Ihre Schulterblätter begannen, angenehm zu kribbeln. Aufgeregt griff sie in ihren Nacken und fuhr mit der Hand ein wenig tiefer. Ihr Herz klopfte wild vor Freude, als sie die blättrige, längliche Erhöhung auf ihrer Haut fühlte.
„Sie wachsen wieder!“, stellte sie überglücklich fest. Das war erstaunlich, denn sie wuchsen nur unter einer Bedingung nach …
Bedrückt dachte sie zurück an die Situation, als sie ihre magischen Kräfte und ihre Flügel durch eine Unachtsamkeit verloren hatte. Jetzt, wo sie spürte, dass sie wieder nachwuchsen, stieg neue Hoffnung in ihr auf. Aber sie durfte sich noch nicht zu sehr freuen. Noch konnte sie alles verlieren – und nicht nur sie. Auch diese Welt, in die sie gekommen war, konnte für immer zerstört werden.
„Der Tee ist fertig“, sagte der Professor laut und stellte die beiden dampfenden Tassen auf den runden Tisch. Er nahm Runas Tasche und legte sie vorsichtig auf den gegenüberliegenden Sessel, der ein Stück weiter vom Tisch abgerückt stand. Eine Ahnung stieg in ihm auf, dass vielleicht sein seltsamer Gast an diesem Morgen in Verbindung mit dieser höchst sonderbaren Bewölkung da draußen etwas zu tun haben könnte. Runa stand wie erstarrt vor dem Tisch.
„Wo ist die Tasche?“, rief sie ängstlich, fast hysterisch, und ihr zartes, schmales Gesicht wurde ganz blass. Die alte Lampe, die über ihr von der Zimmerdecke herabhing, baumelte ein wenig hin und her und tauchte sie spielerisch abwechselnd in Licht und Schatten. Der Professor sah sie erschrocken an, sein Atem stockte, und er blieb reglos stehen.
Er sah sie nun ohne die Kapuze, die sie zuvor ins Gesicht gezogen hatte. Das konnte nicht sein! Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, blieb aber stumm. Dafür gab es keine Worte!
Sie blickte ihn an, ihre außergewöhnlichen bunt schimmernden Augen, weit aufgerissen, funkelten ihn blitzend an.
„Wo ist sie?“ Ihre klare Stimme wurde noch heller und schrillte durch den Laden.
Der Professor hob ihre Tasche von dem Lesesessel hoch, wo er sie abgelegt hatte, reichte sie Runa vorsichtig entgegen und war gefesselt von ihrem Anblick. Schnell griff sie nach ihrer Tasche, drückte sie umarmend an ihre Brust und stöhnte erleichtert auf.
In diesem Moment klingelte das kleine goldene Glöckchen über der Ladentür. Es war Margerite. Beschwingt kam die alte Dame hereinspaziert und pfiff dabei munter ein selbstausgedachtes Liedchen. Sie nahm ihre Regenhaube vom Kopf und zupfte ihr schneeweißes Haar, das wie ein luftiger Wattebausch auf ihrem Haupt thronte, zurecht.
„Ein scheußliches Wetter! Haben Sie schon mal so merkwürdige Wolken gesehen, Professor Frey?“, plapperte sie darauf los, während sie die Tür hinter sich schloss und das kleine Glöckchen abermals hell ertönte. Margerite drehte sich um, öffnete mit einem Ruck den Reißverschluss ihrer Jacke, blickte auf und bemerkte Runa, die mit beiden Händen ihre Teetasse festhielt und schweigend von einem zum anderen blickte. Professor Frey räusperte sich laut, damit Margerite mit ihrer unverblümten, offenkundigen Neugierde, die er nur zu gut von ihr kannte, seinen neuen Gast nicht erschreckte.
„Heute ist wohl scheinbar alles sonderbar“, bemerkte Margerite forsch, zog eine ihrer fein geschwungen Augenbrauen in die Höhe und musterte Runa eingehend von oben bis unten.
„Du hast also auch diese unheimlichen Wolken dort draußen gesehen?“, versuchte Professor Frey Margerites detaillierte Musterung zu unterbrechen, um sie von Runa abzulenken. Margerite hob ihre Hände schimpfend in die Luft.
„Unheimlich ist kein Ausdruck! Und die Leute auf den Straßen, sie zanken und brüllen sich lautstark an“, erzählte sie aufgebracht, ließ Runa aber währenddessen nicht aus ihren Augen.
„Diese Wolken sind gefährlich, die machen das“, sagte Runa warnend mit ihrer klaren, unvergleichlichen Stimme, deren entzückenden Klang Margerite nicht überhörte und sie einen Moment lang sogar verzauberte. Es rief eine Erinnerung an etwas Farbiges in ihr hervor.
Professor Frey sah Runa an und überlegte: „Wenn SIE es ist? Nein, aber das konnte nicht sein … das wäre unglaublich!“
Man konnte nicht genau sagen, wie alt Runa war, vielleicht zwischen zwölf oder vierzehn Jahre? Ihre Augen blickten den Professor immer wieder hilfesuchend an, oder bildete er sich das nur ein? Das magische Farbenspiel in ihnen wechselte scheinbar in Abhängigkeit zu ihren Gefühlen. So wie diese sich änderten, mischten sich die Farben entsprechend neu zusammen. Ihre Bewegungen waren von einer unnachahmlichen Art und Weise, anmutig, märchenhaft und zart.
„Sie könnte es sein“, fuhr es ihm wieder und wieder durch den Kopf, und flatternde Puzzleteile, die er noch nicht zusammenfügen konnte, zogen innerlich an ihm vorbei. Keine Fee, keine Elfe aus den vielen Legenden vermochte das zu sein, was sie sein könnte - ein Traumwesen mit solch unglaublicher Magie, von der selbst Zauberinnen und Zauberer nur träumen konnten?
„Was weißt du über diese Wolken?“, riss ihn Margerite aus seinen Gedanken und sah den Professor neugierig an, dem die gleiche wichtige Frage unsichtbar auf der gerunzelten Stirn geschrieben stand.
„Diese unheildrohenden Wolken da draußen sind die scheußlichen und gefährlichen Spione der ATROXGULA, der Farben verschlingenden bösen Zauberin!“, platzte es aus Runa verächtlich heraus und ihre Augen blitzten kämpferisch und wurden so dunkel wie eine sternenlose Nacht. Sie spuckte die Worte beim Sprechen aus ihrem Mund, als seien sie Gift.
„Atroxgula will alles Farbige auf der Welt verschlingen, damit alles farblos wird – und sie mächtig! Die farblose Seite des Lebens macht sie stark. Sie ist wie ein unendlich leerer Schlund, der so leer ist, dass sogar das Wort NICHTS gefüllter ist als sie!“ Margerite trat näher an Runa heran und schaute ihr tief in die Augen.
„Hast du Drogen genommen, Mädchen? Das würde deine seltsamen Augen erklären und alles andere“, versuchte sie sich Runas Geplapper über eine böse Zauberin logisch zu erklären.
„Nein, ich nehme keine Drogen!“, antwortete Runa empört und schüttelte dabei heftig ihren Kopf.
„Hast du Eltern oder Familie?“, fragte Margerite sie weiter aus. Runa senkte ihre Augen und blickte traurig in die leere Teetasse, die sie immer noch in ihren Händen hielt. Sie schüttelte wieder den Kopf, und ihre dunkle, wilde Mähne legte sich um ihr Gesicht.
„Brauchst du Hilfe?“, versuchte Margerite sie auszuhorchen und ihre Stimme wurde sanfter. Die verrückte, farbige Erinnerung aus ihrer Vergangenheit tauchte schon wieder auf, und schwamm aufgeregt in ihrem Kopf umher. Runa nickte ihr stumm zu, denn sie benötigte dringend Hilfe. Im selben Augenblick legte sie erschrocken ihre Hand auf die Tasse. Zu spät! Professor Frey und Margerite hatten es gesehen! Etwas war aus ihrer Tasse kurz hochgeflogen.
„So etwas gibt´s doch nicht! Was ist das in deinem Tee?“, fragte Margerite fassungslos und zeigte mit ihrem ausgestreckten Finger auf die Tasse, die Runa schützend mit ihrer Hand bedeckte. Es hatte keinen Zweck, sie musste es ihnen zeigen.
„Bitte setzt euch hin“, bat Runa, und die Spannung schien Funken in die Luft zu sprühen. Margerite und Professor Frey beobachteten wie gebannt die Tasse. Langsam und vorsichtig nahm Runa ihre Hand von dieser und pfiff mit ihren Lippen einen seltsamen Laut, wenn man es überhaupt Pfeifen nennen konnte. Es war mehr wie das Zwitschern einer kleinen Nachtigall.
Margerite schnappte hörbar nach Luft, als sie sah, was folgte. Etwas flog pfeilschnell aus der Tasse empor: Ein schwarzweiß gestreiftes Wesen mit Flügeln wie zwei weich fließende Fächer. Es hatte Beine, Rumpf und Kopf wie eine winzige Löwin. Man konnte meinen, Zebra, Löwin und Schmetterling hätten sich zu einer neuen Gattung vereint. Es flatterte lebhaft einige Male auf und ab, landete dann äußerst geschickt auf dem Rand der Tasse und stellte sich auf die kleinen Hinterbeine.
„Hast du es noch in deiner Tasche?“, fragte das seltsame Wesen aufgeregt.
„Ja, es ist noch da“, beruhigte Runa das aufgebrachte Geschöpf, streckte ihren Finger aus und strich ihm behutsam und sanft über das samtige Fell.
Margerite kam nicht ohne Grund seit Jahren zu Professor Frey in den Bücherladen. Sie hatte unzählige Bücher gelesen und kannte die ungewöhnlichsten Geschichten, wie jemand, der auf vielen großen abenteuerlichen Reisen gewesen war und dort bereits sehr fantastischen und seltsamen Dingen begegnet ist. Dass dieses hier vielleicht das Maß des Ungewöhnlichen in der wirklichen Welt überschritt, war Margerite nur allzu willkommen. Professor Frey hingegen wusste nun sicher, dass SIE es war und sein Herz schlug einen Trommelwirbel. Vielleicht war er der einzige, der sie kannte und es wusste.
„Sie ist etwas ganz Besonderes“, zischte Margerite ihm zu, als ob auch sie mehr wüsste. Sie stützte ihren Kopf auf ihren Händen ab, ihren Mund halb geöffnet und beobachtete fasziniert Runa und das seltsame schwarzweiße Wesen.
„Das ist Samia“, stellte Runa stolz ihre geflügelte Freundin vor. Samia blickte Margerite und Professor Frey mit ihren wachsamen, blauen Augen misstrauisch und prüfend an.
„Die beiden sind gut, keine Sorge“, beruhigte Runa Samias Misstrauen mit sanfter Stimme. Samia sprang mit einem gekonnten Satz vom Tassenrand auf den Tisch und lief mit dem geschmeidigen Gang einer Löwin darüber. Professor Frey ging nachdenklich immer wieder um den Tisch herum, seinen Zeigefinger auf die Lippen gelegt, als wolle er nichts voreilig aussprechen. Alle schwiegen. Man hörte nur die Schritte des Professors auf dem alten Holzfußboden. Und auch Samia drehte weiter ihre Runden auf dem Tisch und genoss Margerites Bewunderung.
„Ich kenne dich, Runa“, sagte der Professor schließlich und beendete seine Tischrundgänge direkt hinter ihr. Margerite sah von einem zum anderen.
„Du kennst sie?“, fragte sie überrascht und beobachtete, wie der Professor seine Hände flach auf den Tisch legte. Er sah herab auf den Siegelring an seinem Finger der rechten Hand und begann zu erzählen:
„Vor langer Zeit bekam ich ein sonderbares Buch in die Hände. Ein maskierter junger Mann war auf der Flucht und hatte es unter seiner Jacke versteckt. Ein kleiner alter Mann mit langem, weißem Bart rannte hinter ihm her. HALTET DEN DIEB, rief er. Merkwürdigerweise blieb der Dieb ausgerechnet vor mir stehen. Er fluchte und es schien, als ob er nicht mehr vom Fleck käme. Ich nutzte die Gelegenheit und verlangte, das Diebesgut herauszugeben. Er gab mir ein Buch, das einen hölzernen Einband besaß. Und während er es mir widerwillig überreichte, sah es so aus, als ob ihn eine unsichtbare Macht dazu zwang, es herzugeben. Der kleine alte Mann, der ihn verfolgt hatte, war verschwunden.
Also nahm ich das Buch mit mir und bemerkte zu Hause, dass es sich nicht öffnen ließ. In der gleichen Nacht wurde ich von einer flüsternden Stimme geweckt. Sie gab mir den Befehl, ich solle mich anziehen und spazieren gehen. Zuerst hielt ich es für eine gesunde innere Eingebung, durch einen Spaziergang wieder in den Schlaf fallen zu können, aber ich täuschte mich. Die leise Stimme lenkte mich, und ich ließ mich willenlos führen. Es hingen graue Schleier dicht über den Straßen, ähnlich wie am heutigen Morgen. Vielleicht waren es sogar dieselben Wolken.
Die Stimme führte mich durch enge, dunkle Gassen und unbekannte Straßen, so dass ich am Ende gar nicht mehr wusste, wo ich mich befand. Die aneinandergereihten Häuser mit ihren Backsteinen sahen alle ähnlich aus. Laternen gaben nur trübe Lichter ab, die sich gespenstisch wie gesichtslose Masken auf den feuchten Straßen spiegelten. Ich kehrte dann genau in diese Straße hier ein und es geschah etwas Seltsames: Etwas Schauderregendes hielt mich fest.
Es war eine eiskalte Hand ohne Körper. Ich dachte schon, dass ich das erste Mal in meinem Leben schlafwandeln würde und die schreckliche Hand zu meinem bösen Traum gehörte. Doch ich stellte fest, ich war vollkommen wach und klar. Ich versuchte um Hilfe zu schreien, aber meine Kehle wurde von der Geisterhand zugedrückt. Es geschah mitten auf der Straße vor diesem Buchladen. Mein dringender Hilferuf blieb in meinem Hals stecken, und ich dachte, nun müsse ich sterben.
Da öffnete sich endlich die Tür eines Hauses. Es war die Eingangstür des Buchladens, und ein kleiner, alter Mann stand mit einer Lampe in der Hand im Eingang und leuchtete mir durch die Dunkelheit entgegen. Sofort ließ die grässliche Hand mich los und verschwand dampfend und zischend in der dunklen kühlen Nachtluft. Schnell lief ich zu dem alten Mann, und er nahm mich mit hinein. Er stellte sich mir mit dem Namen VEGARD vor. Dann stellte ich fest, dass es derselbe weißbärtige Mann war, der am Tag zuvor dem Bücherdieb nachgelaufen war. Auffällig jedoch war sein Aussehen. Seine Haut schimmerte in verschiedenen Farben, als hätte man ihn in eine bunte Flüssigkeit getaucht.
So etwas Sonderbares hatte ich noch nie zuvor gesehen. Seine Haare waren lang und weiß. Eine Hand war grün und die andere gelb. Nun ja, dies war alles schon mehr als merkwürdig. Vegard war freundlich und übertrug auf mich eine wohltuende Stimmung, so dass ich mich langsam von dem Schock erholte. Wir setzten uns hin und tranken Tee, genauso wie wir jetzt hier zusammen sitzen an diesem Tisch.“
Professor Frey schaute in die Runde, um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich in diesem Moment dort mit Runa und Margerite saß.
„Was passierte dann?“, wollte Runa wissen. Samia breitete ihre Flügel aus und gab einen ihrer merkwürdigen Laute von sich.
Professor Frey fuhr mit seiner Erzählung fort: „Vegard drehte sich den Ring vom Finger, den ich nun trage.“ Alle sahen auf den Ring an seiner Hand. Er bestand aus einem schillernden unbekannten Metall. Auf der Oberseite war eine runde Platte, auf der ein Siegel in Form einer Träne eingearbeitet war.
„Vegard bat mich, seinen Buchladen zu übernehmen, weil er so schnell wie möglich fort müsse. Er versicherte mir, dass es einen wichtigen Grund dafür gäbe, warum ich sein Nachfolger werden sollte. Ich wollte natürlich wissen, warum dies so sei. Er sagte zu mir wortwörtlich: Das Buch hat dich ausgesucht! Dann erzählte er mir deine Geschichte“, flüsterte Professor Frey leise und geheimnisvoll und sah Runa dabei fest in die Augen.
„Ich weiß“, erwiderte Runa ruhig und schaute ihn an, als ob sie ihm tief in die Seele blickte, um dort der Wahrheit zu lauschen.
Er kannte ihr Geheimnis und hatte nie aufgehört an sie zu glauben. Daher war er auf eine seltsame Weise mit ihr verbunden.
Professor Frey stand auf und ging zu dem Schreibtisch mit den Löwenköpfen, der hinter dem verschlissenen Samtvorhang stand. Margerite und Runa folgten ihm. Samia breitete ihre Flügel auf Runas Schulter aus, flog über sie hinweg und landete auf der Mitte der Schreibtischplatte. Professor Frey drehte jeden der vier Löwenköpfe in eine andere Richtung, den ersten Kopf nach Norden, den zweiten nach Osten, die anderen nach Süden und Westen. Das alte Holz begann daraufhin, laut zu knarren. Samia flatterte erschrocken hoch, denn die Schreibtischplatte öffnete sich in der Mitte. Die geöffneten Flügeltüren des Tisches offenbarten ein geheimes, eingelassenes Fach, in dem ein merkwürdiges Buch lag. Der Einband war goldbraun und aus poliertem, einzigartigem Holz. Die Äste, die einst an diesem Baum wuchsen, mussten eindrucksvoll und zahlreich gewesen sein, denn sie blickten einem wie viele braune Holzaugen auf dem Einband entgegen. Professor Frey bat Margerite, das Buch aus dem Fach herauszunehmen. Ehrfürchtig und aufgeregt zugleich hob sie das Buch vorsichtig aus dem geheimen Versteck empor.
„Öffnen Sie es doch bitte“, forderte der Professor sie auf. Erstaunt stellte Margerite fest, dass sich das Buch jedoch nicht aufschlagen ließ. Es war verschlossen! Sie konnte machen, was sie wollte, es schien, als ob der Bucheinband mit den Seiten des Buches für immer und ewig miteinander verleimt wäre. Professor Frey nahm ihr lächelnd das Buch aus den Händen. Dann drückte er seinen Ring mit dem Siegel in das Holzauge in der Mitte des Bucheinbands, das eine Vertiefung hatte. Es klickte kurz, als drehte man einen Schlüssel im Schloss herum, und das Buch öffnete sich. Samia schnurrte entzückt, setzte sich direkt neben die aufgeschlagenen Seiten und legte ihre Flügel dicht an ihren Körper.
„Das ist das Zunabuch“, präsentierte Professor Frey das wertvolle Werk. Dann schlug er es auf.
DIE ZUNAWELT stand auf der ersten dünnblättrigen Papierseite in geschwungenen, goldenen Buchstaben geschrieben.
„Das Buch besitzt magische Kräfte. Es trägt die Lebewesen der Zunawelt in sich und beschützt diese durch seinen Zauber“, erklärte Professor Frey.
„Leider verliert die Zunawelt an Kraft. Denn die Zauberin Atroxgula ist ausgebrochen und der Schutz des Buches somit gefährdet.“ sagte Runa. Samia nickte bekräftigend. Sie deuteten auf die verblassenden Farben auf den Buchseiten. „Wir müssen in die Zunawelt und das Buch dort aufschlagen!“
„Und was soll das bewirken?“, fragte Professor Frey.
„Das Buch wird wie ein Fotoapparat die Bilder der Zunawelt aufnehmen und weiter in sich bewahren.“
„Dann kann also das Zunabuch die Zunawelt retten?“, mutmaßte Professor Frey.
„Nein, das Buch alleine wird sie nicht retten. Aber die neuen Bilder aus der Zunawelt werden dem Buch neue Hoffnung geben und es wird seinen Schutzzauber verstärken, was uns mehr Zeit einräumt. Im Moment denkt es, dass die Zunawelt stirbt und will sie schon aufgeben und von seinen Seiten löschen. Daran ist die mächtige Atroxgula schuld!“
Sie blickten schweigend auf das Zunabuch, das Margerite in ihren Händen hielt.
„Wir alle färben die Welt mit unseren Gedanken und Gefühlen“, erklärte Runa. „Die Farben schützen beide Welten, diese und die Zunawelt, davor, dass das Grauen sich ausbreitet. Die Atroxgula sammelt die Augenblicke der Menschen, in denen sie hoffnungslos werden und ihre Träume verlieren, sie unglücklich sind und jegliche Wünsche sich in einer tiefen Dunkelheit verirren. Dann verteilt sie die gesammelten gräulichen Augenblicke wie einen Virus, an dem sich alle anstecken sollen.
„Kann man das noch verhindern?“, fragte Professor Frey hoffnungsvoll.
„Wenn ich die Zunawelt rette, dann kann alles gerettet werden, weil in ihr all unsere Träume, Wünsche und Hoffnungen leben. Sie ist wie ein Spiegel unserer Gefühle und sorgt dafür, dass sie im Gleichgewicht bleiben. Sie mischt uns die Farben und wirft sie zurück auf die Erde.“
Professor Frey verstand, was sie meinte. „Das bedeutet, wenn die Zunawelt stirbt und dunkel wird, wird auch die Menschenwelt in Dunkelheit fallen.
„Ja, so ist es“, bestätigte Runa.
Margerite, die das Buch in ihren Händen hielt, erinnerte sich plötzlich, was sich so bunt in ihre Gedankenwelt drängte. „Die Zunawelt“, wiederholte sie laut, als hätte sie auf einmal einen Einfall. Die anderen waren kurz zusammengezuckt. Margerite räusperte sich und begann zu erzählen:
„Damals, als ich noch ein junges Mädchen war, lag ich wie so oft mit einem Buch unter meinem Lieblingsbaum - einem Apfelbaum - und las.“ Genüsslich sog sie durch ihre Nase tief Luft ein, als ob sie noch immer die köstlichen, rotbäckigen Äpfel roch.
„Ich weiß nicht, wie lange ich schon gelesen hatte, als ich plötzlich über mir eine zischende Stimme wahrnahm und ein saftiger reifer Apfel auf meinen Kopf fiel. Ich blickte hoch und sah über mir von einem Zweig eine farbenprächtige, große Schlange herunterbaumeln. Statt einer Schlangenhaut hatte sie seidenglänzende Haare, welche in allen möglichen paradiesischen Farben leuchteten. Sie bewegte sich unglaublich schnell, so dass man ihr kaum mit den Augen folgen konnte. Formschön glitt sie vom Baum und richtete sich vor mir auf. Ihre Augen waren schwarz und undurchsichtig. Sie stellte sich mir mit dem Namen IRIS vor.“
Margerite blickte versonnen vor sich hin, während sie Iris beschrieb.
„Ich mag deinen Lieblingsbaum“, zischelte Iris, die buntfellige Schlange ihr zu.
„Du bist nur eine Einbildung!“, rief Margerite und kniff sich kräftig in den Arm, um zu prüfen, ob sie träumte. Iris lachte.
„Eine Schlange kann doch nicht sprechen!“, sagte Margerite ungläubig und kniff sich noch einmal, aber sie war hellwach.
Iris lachte und fuhr hoch, baute sich in voller Länge auf, und ihr farbenfrohes Fell strahlte im Licht.
„Ich bin eine Botin aus der Zunawelt“, teilte Iris ihr mit, und ihre Gestalt veränderte sich plötzlich. Ihr langer Körper verwandelte sich in eine schlanke Frau, die ein bunt schimmerndes, hautenges Kleid trug. Auf ihrem Rücken flatterten lauter kleine, goldene Flügel. Anders als in ihrer Schlangengestalt trug sie kein Haar, aber das Kleid war wie eine zweite Haut und schmiegte sich eng um ihren Hals und sogar über ihren Kopf. Ihr Gesicht war schön und wirkte geheimnisvoll. Sie blickte Margerite tief in die Augen.
„Eines Tages wirst du unsere Welt finden, die Zunawelt“, sagte sie so, als wäre es ganz selbstverständlich. „Und du wirst helfen, sie zu retten.“
„Wieso soll ausgerechnet ich diese Welt finden und retten?“, fragte Margerite erstaunt.
Iris lächelte. „Weil du an deine Träume glaubst, die so bunt und vielfältig sind, dass du der Zunawelt dadurch Leben schenkst.“ Iris beugte sich weit vor und ihre Augen funkelten auf einmal wie polierte, dunkle Edelsteine. Sie zogen Margerite in ihren Bann. Wie von einem Zauber umgeben, fühlte Margerite eine unbeschreibliche, wohltuende Wärme, und in Hülle und Fülle gemischte Farben durchströmten sie. Für einen kurzen Moment glitt sie in eine andere Welt und sah saftige, grüne Wiesen, deren weich fließenden Gräser sanft vom Wind gekämmt wurden und auf denen ungewöhnliche Blumen wuchsen. Ein betörender Duft lag in der Luft. Sie sah hohe Berge am Horizont, deren spitze Gipfel im Sonnenlicht glimmend strahlten. Über ihnen leuchtete ein gigantischer Regenbogen, der scheinbar alles, was da lebte und wuchs, mit seinen Farben begoss. Märchenhafte Wesen winkten ihr zu, und fantastische Bauten tauchten vor ihr auf. Doch auf einmal war da etwas Dunkles, Grauenhaftes und unglaublich Mächtiges, was diese wundervolle Welt verschlingen wollte. Margerite stockte der Atem vor Angst, und Iris schloss schnell ihre glänzenden Augen, so dass Margerite wieder aus dieser anderen, traumhaften Welt herausgerissen wurde. Sie war für einen kurzen Augenblick durch Iris´ Augen gereist, als hätte sie durch ein Art Zauberfernrohr in eine andere Dimension gesehen.
„Wo war ich?“, fragte sie Iris noch ganz benommen von der kurzen Reise.
„Das war die Zunawelt“, antwortete die Schlangenfrau.
„Was war dieses Dunkle, Bedrohliche, das mir solche Angst eingeflößt hat?“, fragte sie aufgeregt. Iris seufzte und wand ihren bunten, glatten Körper um den Baum.
„Vor langer Zeit haben wir die Farben gefunden. Wir hatten lange danach gesucht. Farben strahlen durch Liebe und Träume. Die Menschen sind es, die damit die Zunawelt erschaffen. Ihre Gefühle leben in Farben, die als bunte Spiegelteilchen unsere Zunawelt zusammengesetzt haben. Aber eine dunkle Macht, die von der farblosen Seite des Lebens lebt, möchte uns das Geheimnis der Farben stehlen und somit alles zerstören, was Farbe besitzt. Und das ist nichts Geringeres als: ALLES.“
„Dann würden wir ja gefühllos!“, rief Margerite entsetzt aus, als sie begriff, welche Bedeutung dahinter stand.
„Eines Tages wirst du einem wunderbaren Wesen helfen. Sie wird die Letzte ihrer Art sein und ist auserwählt, das Geheimnis der Farben zu retten.“
„Wann wird das sein?“, fragte Margerite aufgeregt.
„Du wirst es spüren und dich an diesen Augenblick mit mir erinnern“, zwinkerte Iris ihr zu und verwandelte sich auch schon wieder zurück in die buntfellige Schlange. Ihre gespaltene Zunge schnellte zischend aus ihrem Mund und dann biss sie sanft in Margerites Unterarm. Ihr Arm brannte kurz und langsam bildete sich die Form einer Träne auf ihrer Haut. Margerite wollte noch fragen, was das soll, aber da war Iris auch schon verschwunden.
Als Margerite ihre Geschichte beendete, schob sie mit einem Ruck den Ärmel ihres Pullovers hoch. Alle starrten auf das kleine Mal an der Innenseite ihres Unterarms. Es war eine Träne, wie auf dem Siegel des Rings.
„Iris hatte recht gehabt, als sie sagte, dass ich mich eines Tages erinnern werde!“, rief Margerite erfreut und aufgeregt zugleich aus. Sie sah Runa an und wusste, dass sie das Wesen aus der Zunawelt war!
Auf einmal riss Professor Frey das Zunabuch an seine Brust. Zugleich sprang Samia mit einem wagemutigen Satz vom Tisch herunter, breitete weit ihre Flügel aus, die zu wachsen begannen, wie der Rest ihres Körpers. Ein grauenhafter Lärm, wie von einem schrillen Orchester, in dem wütende Musiker wild durcheinander spielten, tönte ohrenbetäubend durch den Buchladen. Die Eingangstür quoll nach vorne, das alte Holz bog sich wie ein Ballon auf. Samia wuchs zu einer großen Zebralöwin heran, so groß wie ein Pferd, und Runa schwang sich auf ihren Rücken, ihre Tasche fest an sich gedrückt. Sie hatten kaum noch Platz in dem Buchgeschäft. Die Regale fielen polternd um, einstimmend in diese abscheuliche, melodielose Musik, die von allen Seiten zu spielen schien. Professor Frey und Margerite hielten sich die Ohren zu. Sie sahen mit Entsetzen, wie die Tür aufplatzte und ein gräulicher Nebelschleier, mit geisterhaften Gesichtern darin, auf sie zukam. Kalte Hände, aus Rauch geformt, griffen nach ihnen. Professor Frey kroch so schnell er konnte zu seinem Schreibtisch, unter dem sich ein Hebel befand. Vegard hatte ihm diesen geheimen Griff einst gezeigt. Er war nur für den absoluten Notfall gedacht. Wahrscheinlich wusste Vegard damals bereits, dass dieser eintreffen würde. Professor Frey zog mit aller Kraft an dem Hebel, aber dieser rührte sich nicht. Margerite legte ihre Hand auf seine und versuchte ihm zu helfen, den Griff in Bewegung zu setzen.
„Hinunter drücken! Drückt den Hebel tief nach unten!“, rief Runa von Samias Rücken aus. Die lauten, schrillen Töne, die immer noch durch den Raum lärmten, verschluckten ihre Worte fast. Das war es! Professor Frey zog nicht mehr an dem Hebel, sondern drückte ihn tief nach unten. Es knarrte laut. Der Fußboden öffnete sich ruckelnd.
Ein riesiges Loch, aus dem es nach frisch ausgehobener Erde roch, bildete sich mitten im Buchladen. Runa und Samia, die sich wieder klein geschrumpft hatte, sprangen schnell hinein. Margerite und Professor Frey folgten ihnen, ohne zu wissen, wo sie hinauskommen würden.
Nachdem sie gesprungen waren, kamen ihre Füße auf sandigem Boden auf. Die Holzdielen des Buchladens schlossen sich automatisch über ihnen. Sie sahen die Hand vor Augen nicht, so dunkel war es hier unten. Plötzlich setzen sie sich in Bewegung, als würden sie mit einem Fahrstuhl abwärts fahren.
„Wo sind wir? Was passiert mit uns?“, rief Margerite aufgebracht in die Dunkelheit hinein. Runa streckte ihren Arm aus und machte eine Faust. Langsam öffnete sie ihre Hand wieder, und heraus strömte ein helles Licht. Samia saß auf Runas Schulter, klein und zahm wie ein sanftes Kätzchen, ihre Flügel fest am Körper angelegt. Nun sahen sie, dass sie von feuchter Erde umgeben waren. Überall ragten Baumwurzeln hervor. Von unten ruckelte es unentwegt. Sie glitten immer weiter in die Tiefe hinab. Professor Frey griff unter seine Jacke nach dem Zunabuch, das er dort schnell versteckt hatte.
„Wir fahren in das Reich der Naras“, erklärte Runa. Ihre Worte klangen dumpf durch das feuchte klebrige Erdreich, das sie umschloss.
„Die Naras!“, Professor Frey schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, als ob er prüfen wolle, ob dies auch wirklich alles geschah. Diese Wesen waren einzigartig!
„Ich kenne sie auch“, mischte sich Margerite laut in seine Gedanken ein, als ob sie wüsste, was er dachte. In den unzähligen Büchern, die sie gelesen hatte, waren sie einmal vorgekommen.
Unter ihnen bebte es auf einmal heftig. Mit rasanter Geschwindigkeit fuhren sie in dem kastenförmigen Erdloch immer weiter hinunter. Sie mussten sich aneinander festhalten, weil der Boden so stark vibrierte, dass einem die Zähne schon aufeinanderschlugen. Um sie herum wurde es plötzlich wärmer. Mit einem kräftigen Ruck stoppte die Fahrt. Vor ihnen öffnete sich die mit Wurzeln verknotete Erdwand. Ein großes, hell erleuchtetes Erdreich erstrahlte vor ihnen. Samia flatterte neugierig hinaus und sah sich um. „Keine Naras zu sehen“, rief sie den anderen zu. „Aber kommt schnell raus, es ist unglaublich schön hier!“
Runa kletterte an langen Wurzeln hinab, die wie eine Treppe aus Seilen verknotet aus dem Fahrstuhl hinunterführte. Professor Frey und Margerite machten es ihr nach und hatten trotz ihres Alters keine Schwierigkeiten, leichtfüßig hinunterzuklettern. Diese leichte, wohltuende Luft dort unten schenkte auf seltsame Art und Weise fast so etwas wie Schwerelosigkeit.
Unbestritten war das, was sie erblickten, unbeschreiblich schön und beeindruckend. Eine gigantische Erdkuppel, auskleidet mit ungewöhnlichen Kriechpflanzen in verschiedensten Farben, die wie ein Mosaik von Bildern ineinander wuchsen, breitete sich über ihnen aus. Wie bunte Kirchenfenster, durch die das Licht von draußen fiel, erstrahlten an den Wänden winzige, leuchtende Blumen. Von der Erdkuppel wanden sich lange, geschwungene Wurzeln herab, von Bäumen die oberhalb des Erdreichs wuchsen. An ihnen hingen kunstvoll gewebte Kugeln wie riesige Nester. Der Boden unter ihnen war unglaublich weich und luftig, so dass man federnd darüber laufen konnte. Winzige Tropfen belebten die Luft und spiegelten die Farben der ungewöhnlich bunten Pflanzen in winzigen Regenbögen wieder. Die Pflanzenbilder wuchsen an gebogenen Wänden. Und sah man näher hin, erkannte man, dass sie eine Geschichte erzählten.
„Das ist doch Samia auf dem Bild!“, rief Margerite aufgeregt und zeigte mit ihrem Finger drauf.
„Wahrhaftig!“, stimmte Professor Frey ihr verblüfft zu. Die Geschichte erzählte vom Ursprung der Zunawelt. Stellte man sich in die Mitte der riesigen Erdkuppel und blickte empor zur Decke, war dort die Welt abgebildet, die von einem wunderschönen farbenfrohen Regenbogen gehalten und gleichzeitig umschlossen wurde.
„Das ist der Verbund der Welt mit dem Regenbogen, der uns durch unsere Träume die Farben schenkt“, erklärte Professor Frey Margerite, und deutete mit beiden Händen auf die farbenvolle, bebilderte Pracht unter der Wölbung des Erddaches.
Während Samia stolz vor ihrem Abbild posierte und ihre Flügel weit ausbreitete, untersuchte Runa vorsichtig die dicht bewachsenen Wände, als suche sie etwas Bestimmtes.
„Sie muss hier irgendwo sein“, sagte sie laut mehr zu sich selbst, als zu den anderen, und griff immer wieder vorsichtig in die ineinander wachsenden Pflanzen hinein.
„Was suchst du?“, fragte Margerite neugierig.
„Eine besondere Tür“, antwortete Runa. Sie wies auf die vielen kleinen Türen, die rundum am unteren Teil der Wände aneinander gereiht entlang wuchsen. Margerite und Professor Frey staunten wortlos, als ihnen jetzt auch die vielen Zugänge rund herum auffielen. Plötzlich hörten sie ein schnalzendes Geräusch. Aus dem weichen Lehmboden tauchte ein hasenartiger Kopf auf, dessen Löffelohren wie Antennen in der Luft vibrierten und der schnatternd schmatzte. Verblüfft beobachteten Margerite und Professor Frey, wie es in voller Größe aus dem schwammigen Boden hervorkam, und dann mit Hilfe eines glänzenden Fischschwanzes hochsprang.
„Ein Nara!“ flüsterte Professor Frey aufgeregt in Margerites Ohr.
„Ich weiß“, antwortete Margerite schnippisch, die das Wesen in einem der vielen von ihr gelesenen Bücher schon einmal skizziert dargestellt gesehen hatte. Aber die Bilder sahen dem echten Nara, den sie nun leibhaftig vor sich sahen, nur wenig ähnlich. Schnell wie ein bunter Lichtstrahl sprang es auf eine der vielen kunstvoll gewebten Kugeln.
„Lepu? Bist du das?“, rief Runa aufgeregt.
„Runa!“, nannte das sonderbare Geschöpf sie beim Namen und hangelte sich schnell und geschickt an der Wurzel wieder herab.
„Lepu! Wie ich mich freue“, begrüßte Runa ihn, als er am Boden ankam und sich dort auf seinem Fischschwanz aufstellte. Sie verbeugte sich leicht vor ihm. „Darf ich vorstellen: Lepu, der König der Naras“.
Margerite und Professor Frey verbeugten sich genauso wie Runa vor der majestätisch wirkenden Gestalt, die sie jetzt hautnah betrachten konnten. Er schien halb Hase und halb Fisch zu sein und war so groß wie ein Mensch. Und er konnte seltsamerweise auf seinem schimmernden, geschuppten Fischschwanz stehen und sich damit so schnell auf festem Boden fortbewegen, als hätte er Beine.
„Ich bin es nicht mehr wert, ein König genannt zu werden, denn mein Volk, die Naras, wird bald nicht mehr am Leben sein. Der Krieg hat bereits begonnen“, sagte Lepu traurig. Gleichzeitig schwang ein Hauch unterdrückter Wut darin mit. Lepu griff unter seine Fischschuppen und holte einen funkelnden Schlüssel hervor. „Danach hast du bestimmt gesucht.“
„Dort ist er also“, meinte Runa erleichtert, und in ihr aufgeregtes Herz kehrte Ruhe ein.
„Was ist das für ein Schlüssel?“, fragten Professor Frey und Margerite gleichzeitig. Lepu richtete seine langen Barthaare auf, die aussahen wie goldener Draht, der sich aufrollte. Dann glitt er über den weichen Boden und forderte die anderen auf, ihm zu folgen. Er zeigte ihnen eine Wand, an der zahlreiche goldene Seeanemonen wuchsen. Die Blütenblätter leuchteten schillernd auf, als Lepu in ihre Nähe kam. Die schillernden Seeanemonen malten wachsend eine Tür an die Wand. Es war der Durchgang, nach dem Runa gesucht hatte. Samia breitete ihre Flügel weit aus und stemmte eine Pfote vorsichtig gegen die blütenvolle Anemonentür, um sie zu öffnen. Lepu lachte laut auf. Er schlug mit seinem kräftigen Fischschwanz klatschend auf den Boden und durchbrach die lehmige Stille der Erdkuppel.
„Glaubt ihr, dass solch eine Tür sich ganz normal öffnen lässt?“, fragte er belustigt in die Runde. Samia sah beschämt zu Boden, und tat, als lecke sie ihre Pfote. Sie blinzelte unter ihren langen Wimpern zu Runa, die ihr einen strengen Blick zuwarf, aber dabei gleichzeitig schmunzelte.
„Die goldblütige Seeanemonentür der Naras würde keiner Seele der Menschenwelt Zutritt gewähren, ohne sich zuvor ihrer Reinheit zu vergewissern“, gab Lepu die Besonderheit der Tür preis. „Man legt sich den Schlüssel auf das Herz und dieser prüft es. Ist es rein, öffnet sich die Tür von selbst“.
Runa schaute hinüber zu Professor Frey und Margerite, die sich unbeteiligt umschauten, als könnten sie in diesem Falle sowieso nicht helfen.
Doch Runa zeigte mit dem Finger auf sie und sagte: „Ihr habt beide eure Träume und Hoffnungen nie verloren. Ich bin mir sicher, Eure Herzen sind rein. Ihr seid dadurch stark genug und auserwählt, dabei zu helfen, die Zunawelt zu retten.“
Margerite und der Professor sahen sich erstaunt an. Nun wussten sie, warum gerade sie beide sich in dieser verborgenen und geheimnisvollen Welt befanden.
Kaum hatte Runa das ausgesprochen, plätscherte und schnalzte es unter dem weichen Boden. Freudestrahlend blickte sie auf die vielen langen Ohren, die plötzlich aus der Erde auftauchten. Ein Nara nach dem anderen sprang hervor. Tief unter dem schlickigen Matsch befand sich ihr verborgenes Erdreich, in dem sich ihr ganzes Volk versteckt hielt. Mit mächtigen Sprüngen schnellten sie mit Hilfe ihres starken und wendigen Fischschwanzes durch die Erdkuppel.
„Durch Eure Ankunft kehrt ihre Hoffnung zurück und das gibt ihnen den alten Mut zurück“, freute sich Lepu, als er sah, dass sein Volk das Versteck verließ. Begeistert flog Samia ihre Runden durch die Erdkuppel und gab zur Begrüßung für die Naras lautstark ihre schnatternden Laute von sich.
Plötzlich knackte und klapperte es. Es war der Erdfahrstuhl, der einen neuen Fahrgast brachte. Ein struppiger Kopf schaute aus der Klappe hervor, als sich der Fahrstuhl öffnete. Die Naras kamen neugierig herbei. Die seltsamen Wesen beunruhigten den neuen Gast kein bisschen. Mutig und geschickt sprang er aus dem Fahrstuhl hinab.
„Das gibt´s doch nicht!“, rief Professor Frey erfreut und zugleich überrascht aus. „Alex!“ Ein Junge, ungefähr fünfzehn Jahre alt, stand selbstbewusst lächelnd vor ihnen.
„Du kennst ihn?“, fragte Runa den Professor.
„Ja natürlich, dieser junge Mann hier bringt mir täglich die Zeitung im Laden vorbei. Zudem kennt er sich vorzüglich mit Mythologie und magischen Wesen aus, wie unsere gemeinsamen Gespräche immer wieder zeigen“, sagte Professor Frey. Er erwähnte dabei nicht, dass Alex ihm manchmal seltsam und undurchschaubar vorkam, als trüge er ein Geheimnis. Genau wie jetzt.
„Wie bist du hierhergekommen?“, fragte er ihn skeptisch, denn so einfach war es nun mal nicht, den Erdfahrstuhl zu finden, um ins Reich der Naras zu gelangen.
„Oh, das war eben alles merkwürdig da oben in Ihrem Buchladen“, begann Alex zu erzählen. Da gab Samia einen ihrer sonderbaren Laute von sich. Alle horchten auf und sahen, wie sie einem sanften Kätzchen gleich um seine Beine streifte. Alex lächelte zu ihr herab.
„Hey, Samia!“, schimpfte Runa, denn ihr gefiel es nicht, dass Samia bei Alex die Schmusekatze spielte. Schließlich wusste sie nichts über ihn.
„Der Laden war verwüstet, als hätte ein Sturm darin gewütet und ich war besorgt, wo Sie wohl stecken“, sprach Alex weiter. „Auf einmal spürte ich einen kalten Wind um