Russische Seelen (eBook) - Veit Bronnenmeyer - E-Book

Russische Seelen (eBook) E-Book

Veit Bronnenmeyer

4,8

Beschreibung

Ein Toter liegt im Wald, nur notdürftig verscharrt. Wer er ist, weiß niemand, nur woher er kommt: Russland. Haargenau wie bei einem nie aufgeklärten Mord, der vor 17 Jahren an derselben Stelle passierte. Doch das macht den Fall auch nicht einfacher. Kommissar Alfred Albach und seine junge türkische Kollegin Renan stoßen in der russischen Bevölkerung Nürnbergs auf eine Mauer des Schweigens. Schließlich schaltet Albach seinen inzwischen pensionierten und reichlich schrulligen Kollegen Konrad Herbst aus Fürth ein, mit dem er schon im ersten Russenmordfall ermittelt hatte. Der alte Sonderling macht sich an die Arbeit, und endlich gibt es eine Spur: Ein sowjetisches Abzeichen, auf dem ein Auge abgebildet ist, weist in Richtung KGB.

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Veit Bronnenmeyer

 

Russische Seelen

 

Albach und Müller: der erste Fall

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (3. Auflage 2013)

© 2005 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Sabine Cramer

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter

Verwendung einer Fotografie von Gerd Grimm

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

ISBN 978-3-86913-315-7

 

Für meinen Großvater

 

I. 1985 – Ein Nebenfluss der Weichsel?

Pfeifenrauch quoll in trägen Schwaden nach oben und bewegte sich unter der Decke in einem unförmigen Orbit um die Lampe. Zigarettenrauch stieg von der anderen Seite auf und bildete die Ausläufer des Spiralnebels. Etwas frische Luft hätte der Amtsstube gut getan. Auch die eine oder andere Grünpflanze auf dem Fensterbrett oder einem der Aktenschränke. In dem Raum befanden sich zwei Männer, die beide hart mit ihren Dienstpflichten zu kämpfen hatten. Der Jüngere hämmerte auf eine dunkelgrüne Triumph-Adler ein, die auf einem in Ehren angestaubten Resopal-Schreibtisch stand. Der Ältere hatte das Eichendekor seines Arbeitsplatzes mit einer Tageszeitung bedeckt und brütete über der Rätselseite. In der Ecke stand ein Beistelltisch, auf dem eine Kaffeemaschine brodelte, und das Kofferradio auf dem niedrigen Regal daneben spielte aktuelle Unterhaltungsmusik.

»Atlantis is calling – SOS for love«, kreischte es aus dem kleinen Lautsprecher.

»Atlantis«, murmelte Herbst, die Pfeife im Mundwinkel, »mythischer Kontinent. Passt.«

»Das ist gerade der letzte Schrei«, sagte Alfred von seiner Schreibmaschine aufblickend. »Modern Talking. Letzte Woche musste ich meinem Sohn die Platte kaufen.«

»Atlantis is calling from the stars above …«

»Immer diese englische Singerei …«, brummte Herbst. »Nelkengewächs, Vogelkraut … wo doch die deutsche Sprache so schön ist. Und es gibt so viele Wörter.«

 

Alfred lenkte seine Gedanken wieder zurück auf den Bericht. Er fragte sich ein Mal mehr, ob es richtig war, die Ermittlungen aufgrund fehlender Indizien und nicht erfolgter Identifizierung des Toten vorläufig einzustellen, und ob sie tatsächlich alles Mögliche und Unmögliche versucht hatten, um den Mörder zu finden. Wenn das Opfer wirklich ein Osteuropäer war, konnte in absehbarer Zeit tatsächlich nicht mit neuen Hinweisen gerechnet werden. Andererseits gab es keine Verjährungsfrist für Mord, und ungelöste Mordfälle blieben manchmal Jahrzehnte bei der Staatsanwaltschaft auf Wiedervorlage … Warum war es in der heutigen Zeit immer noch möglich, dass ein Toter so völlig unbekannt blieb? Warum empfand er so etwas als Miss­erfolg? Und warum gab es noch kein Tipp-Ex, das die zwei Durchschläge gleich mit korrigierte?

»Die basteln jetzt schon an Schreibmaschinen, wo man eine ganze Seite im Voraus tippen und dann noch einmal korrigieren kann, bevor sie geschrieben wird«, sagte Herbst, als er sah, wie Alfred sich mit dem kleinen weißen Papierstreifen abmühte.

»Du wirst es kaum für möglich halten, aber es gibt auch Computer«, entgegnete Alfred, »mit denen kann man hundert Seiten schreiben, immer wieder korrigieren und dann ausdrucken, sooft man will.«

»Ja, ja«, Herbst stopfte seine Pfeife nach und nichts in seinem Gesichtsausdruck ließ erahnen, was er dachte.

»Was meinst du?«, fragte Alfred, »haben wir die Ermittlungen aufgegeben oder bis auf weiteres eingestellt?«

»›Jetzt bringt den Russen endlich unter die Erde‹«, zitierte Herbst, »das waren doch die Worte vom Staatsanwalt, nicht wahr?«

»Ja, schon …«

»Also, dann lass ihn in Frieden ruhen! Wir haben schließlich noch genug andere Arbeit.«

»Wir könnten doch wenigstens versuchen, ob wir damit zu Aktenzeichen XY kommen«, schlug Alfred vor. »Das sehen jedes Mal zig Millionen Zuschauer. Danach können wir ihn ja immer noch abschreiben.«

»Glaubst du, die da drüben würden so einen Aufwand wegen einem von uns treiben?«, Herbst gestikulierte mit dem abgekauten Mundstück der Pfeife in Alfreds Richtung. »Es gibt eben so ungeschriebene Gesetze und wir tun gut daran, sie zu beachten, glaube mir. Wahrscheinlich könnten wir mehr für ihn tun, wenn er von einem anderen Stern wäre. Übrigens, kennst du einen Nebenfluss der Weichsel?«

 

Der Tote war in den Morgenstunden von einem Waldläufer entdeckt worden. Der Hund des Joggers hatte unweit des Tiergartens die vorgesehene Route verlassen und sich an einem Haufen Laub und trockenem Holz zu schaffen gemacht. Der Mann war zur nächsten Telefonzelle gerannt und hatte die Polizei gerufen. Die Routine-Maschine war bereits angelaufen, als Herbst und Alfred in ihrem 3er BMW vorfuhren. Der Tote lag anscheinend schon zwei bis drei Wochen im Wald und war nicht mehr im besten Zustand.

»Russe!«, hatte Herbst am Fundort gesagt, seinen Blick in die Umgebung schweifen lassen und festgestellt: »Da schau her, wir haben Juni und es gibt schon Maronen.«

Alfred hatte seinem Kollegen verwundert nachgeschaut, als dieser mit gezücktem Taschenmesser die direkte Umgebung des Geschehens verließ. Er wusste jetzt schon, dass es wieder ihn treffen würde, bei der Obduktion dabei zu sein. Von daher konnte er sich auch gleich den Magen verrenken und sich intensiver mit dem Anblick der Leiche beschäftigen. Es war offensichtlich, dass der Mann nicht hier im Wald zu Tode gekommen war. Er war völlig nackt, von seinen Kleidern keine Spur. Sein Körper wies viele kleine Wunden und Narben auf, die aber schon älter waren. Die Todesursache schien ein sauberer Genickschuss zu sein, womöglich eine Hinrichtung? Leider hatte es in den letzten vierzehn Tagen ziemlich viel geregnet, auf Spuren konnte man daher kaum hoffen. Es schien jedenfalls so, als ob der Täter reichlich Zeit gehabt hätte, denn der Leichnam war sorgfältig versteckt worden. Der oder die Täter hatten Äste, Zweige, Laub und Moos nicht einfach auf ihn draufgeschaufelt, sondern den Grabhügel geschickt in den Waldboden integriert.

»Nun, junger Freund«, Herbst stand hinter ihm. Er hielt seine braune Strickweste wie einen Sack in der linken Hand und aus einem Armloch lugten ein paar junge Waldpilze, »kannst du die Sprache dieses Todes verstehen?«

»Ich weiß nicht«, Alfred blickte aus der Hocke abwechselnd Herbst und den Kollegen der Spurensicherung an. »Er hat viele kleine Wunden und Verletzungen überall am Körper.«

Alfred richtete sich auf und sah Herbst in die blassblauen Augen, die, wie es ihm vorkam, seine Gedanken lesen konnten.

»Das war keine Folter«, sagte Herbst, »das können schon eher Kriegsverletzungen sein oder nähere Bekanntschaft mit einem Stacheldrahtverhau. Vielleicht war er ja Soldat. Außerdem Folter und dann gleich ein Genickschuss? Nein, nein.«

Viele Fragen blieben offen. Warum hatte der Mörder sein Opfer zum Beispiel nicht gleich tief vergraben? Anscheinend spielte es keine Rolle, ob man die Leiche entdeckte oder nicht. Alles, was der Täter brauchte, war wohl etwas Zeit gewesen, um wieder zu verschwinden. Einen Tag, vielleicht zwei. »Warum sich also mit dem schwierigen Waldboden abmühen?«, fragte Herbst rhetorisch.

Kurz darauf war Staatsanwalt Eckstein auf der Bildfläche erschienen. Er war schon im vorgerückten Alter und hatte eine wesentlich jüngere Frau geheiratet, die größten Wert auf ein modisches Erscheinen ihres Gatten legte. Was an sich ja noch kein Malheur gewesen wäre. Nur leider war Staatsanwalt Eckstein von Geburt an farbenblind und konnte sich so nicht gegen die gestalterischen Ambitionen seiner Frau wehren. Heute trug er eine hellblaue Bundfaltenhose zu einem ebensolchen Sakko, das an der Taille etwas knapper, dafür an den Schultern etwas ausladender geschnitten war. Die Schulterpartie wurde außerdem durch großzügige Polster zusätzlich aufgewertet. Darunter trug er ein pinkfarbenes Hemd mit einer dünnen Lederkrawatte. Seine Füße steckten in weißen Slippern der Größe 45. Alfred wusste nicht genau, mit wem er mehr Mitleid haben sollte, mit der Leiche oder mit Staatsanwalt Eckstein. Dem Zeitgeist und seinem noch jungen Alter zum Trotz war Alfred ein Bewahrer von klassischem Stil und Eleganz. Mit Schwarz, Weiß und Grau konnte man nichts falsch machen. Dazu ein paar Farbtupfer in möglichst natürlichen Tönen, fertig – war doch nicht so schwer. Die modischen Kapriolen der letzten Jahre konnte er nicht nachvollziehen, er verstand aber langsam den Sinn von schwarzen Roben als Dienstkleidung vor Gericht.

»Na, das ist ja wieder mal typisch«, hatte Eckstein gestöhnt, als er sich mit den wesentlichen Umständen des Falles vertraut gemacht hatte, »andere bekommen Serienmorde, einen reichen Erbonkel oder wenigstens einen Prostituiertenmord. Nur ich muss mich immer mit so was herumschlagen. Herbst!«

»Herr Staatsanwalt?«

»Und wer sind jetzt Sie?«, wandte sich Eckstein an Alfred.

»Kommissar Albach, Herr Staatsanwalt«, antwortete er zackig.

»Ja, natürlich. Sie wurden aber erst kürzlich zur Mordkommission überstellt, oder?«

»Aber Herr Staatsanwalt«, sprang Herbst ein, »Kollege Albach ist doch schon seit fast fünf Jahren bei uns. Sie erinnern sich doch sicher an den Fall Wegener, den er fast alleine gelöst hat.«

»Selbstverständlich. Da hatten Sie aber noch längere Haare und einen Schnauzbart«, befahl Eckstein.

Alfred, der Bärte jeder Art schon immer verabscheut hatte und die Haare seit der unsäglichen Föhn-Frisuren-Welle immer betont kurz trug, widersprach nicht. Es war allgemein bekannt, dass Eckstein nicht über das beste Gedächtnis verfügte und auch sonst ein eher zerstreuter Zeitgenosse war. Herbst zufolge war das aber keine Alterserscheinung, sondern schon immer so gewesen. Seine Erfolge verdankte Eckstein größtenteils dem Umstand, dass er sich immer sehr für die Belange der Polizisten und seiner anderen Mitarbeiter einsetzte. Er sah sie nicht als Erfüllungsgehilfen oder Handlanger an und war so in der glücklichen Lage, immer nur mit zufriedenen und motivierten Leuten zusammenzuarbeiten. Geschätzt wurde an ihm außerdem, dass er die Mordkommission nicht zwang, sich in aussichtslose Fälle zu verbeißen. Nichts war frustrierender, als monatelang hinter einem Fall her zu ermitteln, nur um ihn dann ohne Ergebnis zu den Akten zu legen. Zu Ecksteins zahlreichen Vorzügen gehörte weiterhin, dass er die Einschätzung über aussichtslose Fälle meistens der Polizei überließ.

»Tun Sie alles, was üblich und notwendig ist«, hatte er zu Herbst und Alfred gesagt, »von mir aus beziehen Sie die Presse mit ein. Irgendwelche Ergebnisse bitte ich, mir umgehend mitzuteilen. Ansonsten kommen Sie in vierzehn Tagen zu mir. Dann werden wir weitersehen. Noch Fragen?«

»Nein, Herr Staatsanwalt«

»Gut. Weitermachen!«

 

Es zeigte sich schon bald, dass Herbst und Eckstein Recht behalten sollten. Bei der Autopsie wurde der Genickschuss als Todesursache bestätigt. Gebiss und Schädel lieferten Hinweise, dass es sich bei dem Opfer um einen Osteuropäer, wahrscheinlich einen Russen handelte. Die morphologischen Feinheiten in der Anatomie konnten aber nur als Anhaltspunkte, nicht als Beweis gewertet werden. Es gab lediglich eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Herkunft des Toten, die auch vom Zustand der Leber und der Lunge zwar unterstützt, nicht aber abgesichert wurde. Der Mann hatte in seinem Leben auf jeden Fall schon ziemliche Mengen Alkohol genossen und außerdem Tabak geraucht, der durchschnittliche Europäer wie Herbst und Alfred schon längst umgebracht hätte. Die üblichen Maßnahmen zur Identifizierung unbekannter Toter brachten keine Ergebnisse. Fingerabdrücke, öffentliche Anschläge »Wer hat diesen Mann schon einmal gesehen?« blieben ebenso erfolglos wie Anfragen bei Interpol. Auch das charakteristische Gebiss verhalf der Leiche nicht zu einem Namen. Es war offensichtlich, dass er aus einer Gegend der Welt kam, wo die zahnmedizinische Versorgung noch stark unterentwickelt war. Etliche Zähne waren gezogen, ein Eckzahn durch ein Imitat aus Edelstahl ersetzt worden. Auch dieses Indiz wies Richtung Osten. Laut Gerichtsmedizin ließen sich hier typische Behandlungsmethoden von Militärärzten des Warschauer Paktes erkennen.

Was übrig blieb, war ein großes Rätsel und zwei Polizei­beamte auf der Terrasse des Café Kröll. Die Terrasse befand sich im ersten Stock, zu ihren Füßen lag der Hauptmarkt mit seinen berühmt-berüchtigten Marktfrauen sowie dem Schönen Brunnen und der Frauenkirche. Unablässig trieben die städtischen Fremdenführer Schulklassen und Touristen verschiedenster Natio­nalitäten über die Szenerie.

Alfred hatte sich ein Kännchen Kaffee gegönnt, während Herbst seinen obligatorischen Pfefferminztee trank. In der Tat hatte Alfred ihn kaum je etwas anderes als Pfefferminztee trinken sehen. »Kaffee«, pflegte er zu sagen, »Kaffee ist gar nicht gut.« Alfred hatte es schon längst aufgegeben, Herbst in allen Einzelheiten verstehen zu wollen. Er gefiel sich anscheinend in der Rolle des Sehers, der in dichte Rauchschwaden gehüllt rätselhafte Prophezeiungen von sich gab. Viele Kollegen bezeichneten Herbst als schwierig, einige sogar als vollkommen verrückt. Aber seine Erfolge waren nicht zu bestreiten. Das Unheimliche an ihm war wohl, dass kaum jemand seine Methoden, Vorgehensweisen oder gar Gedanken nachvollziehen konnte. Alfred hatte nach einiger Zeit der Verwunderung einfach beschlossen, Herbst nicht dauernd zu hinterfragen, sondern einfach zu beobachten und sich auf ihn einzustellen. So hatte er herausgefunden, dass Herbst meistens eine simple Verwirrungsstrategie anwandte. Er fragte Hauptverdächtige nach ihrem Namen, dem Mädchennamen der Mutter und Großmütter und hielt ihnen Vorträge über die Nachteile von modernem Mineralwasser. Dieses sei nämlich tot und damit grundsätzlich von Übel. Er empfahl ihnen nachdrücklich in der U-Haft nur Leitungswasser zu trinken. Alfred hatte schon mehr als ein Mal erlebt, dass Verdächtige nach nur wenigen Tagen – dem Wahnsinn nahe – unaufgefordert Kapitaldelikte gestanden hatten, nur um von Herbst und seiner absurden Kommunikation befreit zu werden. Seine sonderbare Art verunsicherte Täter, Mitwisser, Angehörige und Zeugen und ließ sie schnell Geheimnisse ausplaudern und Fehler machen. Ähnlich verhielt er sich seinen Kollegen gegenüber, so dass er zwar kaum Freunde, aber auch keine Feinde im Polizeipräsidium hatte. Man ließ ihn einfach in Ruhe seine Arbeit machen. Über mehrere Ecken hatte Alfred erfahren, dass Herbst sogar einmal Lehraufträge an der Beamtenfachhochschule der Polizei wahrgenommen hatte. Diese Art von Sendungsbewusstsein hatte er jedoch schon lange abgelegt und beschränkte sich nun darauf, als einfacher Kommissar Mordfälle zu lösen. Alfred ließ er am Geheimnis seines Erfolges teilhaben, erklärte es ihm aber nicht. Sein Kollege hatte diese Herausforderung begriffen und angenommen und manchmal, aber nur manchmal, schaffte es Alfred, auch einmal Herbst zu verwirren.

»Ich glaube«, sagte Alfred in seinem Kaffee rührend, »wir überschreiten gerade eine ethische Grenze.«

»Ethische Grenze?«, Herbst unterbrach die Arbeit mit dem Pfeifenstopfer für einen Moment und sah Alfred fragend an.

»Es scheint ein Urbedürfnis des Menschen zu sein, Tote zu identifizieren. Das Rote Kreuz öffnet heute noch Massengräber aus dem Zweiten Weltkrieg, nur um herauszufinden, wer sich darin befindet, und die Überreste den Verwandten zu überstellen, damit sie ordentlich begraben werden können.«

»Davon habe ich gehört«, nickte Herbst, seine Pfeife anzündend.

»Wie kann es dann sein, dass wir diesen Mann nach wenigen Wochen als Unbekannten verscharren. Da stimmt doch was nicht, oder?«

»Junger Freund«, antwortete Herbst sanft, »stimmst du mit mir darin überein, dass wir zwei hier nichts mehr tun können?«

»Ja.«

»Dann glaube mir, ich verstehe deinen Konflikt, aber du musst schon die vom Roten Kreuz fragen, warum sie sich lieber um unbekannte, seit Jahrzehnten tote Soldaten kümmern als um die frische Leiche unseres Russen. Er hat eben das Pech, dass er in einem kalten Krieg ums Leben gekommen ist.«

»Kalter Krieg«, Alfred begann, eine Zigarette zu drehen, »eben. Und jetzt frage ich dich, als erfahrenen Kollegen: Müssen da nicht die Geheimdienste ihre Finger im Spiel gehabt haben? Sprich zu mir Herbst, du weißt, ich halte dich für einen Weisen!« Es war ein relativ zuverlässiges Erfolgsrezept, Herbst wie einen mythologischen Seher zu behandeln, ähnlich dem alten, zahnlosen Theresias oder dem Orakel von Delphi. Alfred hatte vor einiger Zeit bemerkt, dass sich Herbst in solchen Zusammenhängen manchmal zu einer halbwegs deutlichen Aussage hinreißen ließ. Allerdings antworteten Orakel auch oft in Rätseln:

»In Dänemark gibt es Fischer«, Herbst zückte ein Taschentuch und fuhr sich damit über die Halbglatze. Alfreds Appell schien er nicht gehört zu haben.

»Und?«

»Die finden in regelmäßigen Abständen Leichen in ihren Netzen. Das sind fast immer Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, die versuchten, über die Ostsee in die westliche Welt zu fliehen. Wie viele davon werden auch nur als DDR-Bürger identifiziert?«

»Sag du es mir.«

»Nahezu keiner. Die DDR würde doch niemals zugeben, dass jemand aus ihrem gelobten Land fliehen möchte, und wir können nur etwas tun, wenn die Leichen einigermaßen erhalten sind und von Verwandten oder Bekannten im Westen erkannt werden. Da ist nicht nur eine Mauer zwischen uns, Kollege, wir leben in verschiedenen Welten.«

»Junge, Junge«, sagte Alfred nach mehreren Schweigeminuten, »wir müssten einfach mehr über Agenten, Geheimdienste und Spionage wissen.«

»Geheimdienste, Spionage«, wiederholte Herbst, »das ist gar nicht gut.«

 

»Nun, Alfred«, sagte Herbert Göttler tags darauf in der Kantine, »wie ich höre kannst du immer noch nicht von deinem toten Russen lassen?«

»Und wie ich höre bist du in die Partei eingetreten, die wir in Bayern als staatstragend bezeichnen«, entgegnete Alfred. Er verspürte wenig Lust, sich von seinem Freund aus Bepo-Tagen wieder seinen Idealismus vorhalten zu lassen.

»Und das solltest du auch tun«, Herbert lehnte sich zurück und strich seine Krawatte glatt. »Ich meine es nur gut mit dir, Alfred. Wenn du weiter vergeblich nach den Mördern von toten Kommunisten suchst, wirst du hier nicht weiterkommen.«

»Irgendwie glaube ich nicht, dass die mich dabeihaben wollen«, erwiderte Alfred müde und fragte sich, seit wann Herbert eigentlich Krawatten trug.

»Musst du das gleich wieder ideologisch überfrachten«, stöhnte Herbert. »Was du für eine Meinung hast, spielt dabei doch keine Rolle, Hauptsache, du lässt dich zu den richtigen Zeiten an den richtigen Orten blicken und sagst an den richtigen Stellen ›ja‹, ›bitte‹ und ›danke‹. So sind nun mal die Spielregeln. Anders kommst du nicht weiter!«

»Du solltest dich mal hören«, Alfred schüttelte den Kopf, »bei dir geht’s nur noch um Beförderung und Höhergruppierung.«

»Was ist gegen Ehrgeiz zu sagen?«

»Nichts, solange er der Sache dient!«, Alfred stand auf und nahm sein Tablett.

»Du wirst in zwanzig Jahren noch auf der Stelle treten, mein Freund!«, rief Herbert ihm nach.

 

Zwei Tage später ordnete Eckstein an, die Ermittlungen einzustellen. Eine mögliche Verstrickung von Geheimdiensten wollte er dabei nicht näher erörtern. »Sie könnten ja Recht haben, Herr Albert«, hatte er gesagt, »aber aus dieser Liga hat Deutschland sich vor vierzig Jahren verabschiedet. Wir haben zwar noch ein Stadion und auch Zuschauertribünen, aber wir stellen keine Mannschaft mehr.« Eckstein versicherte ihnen, den Fall lieber mit der Putzfrau zu besprechen, als den BND um Rat zu fragen. Er versprach Alfred wesentlich dankbarere Fälle, an denen er sich austoben könne, auch wenn sie sich gerade in einer Art Sommerloch befänden. »Außerdem wissen Sie ja«, hatte Eckstein noch angefügt, »dass wir ungelöste Mordfälle nie ganz abhaken. Ich werde mir die Akte jedes Jahr wieder ansehen und wenn ich gehe, wird sich mein Nachfolger damit vergnügen, so lange habe ich ja nicht mehr!« Herbst hatte wissend genickt. Alfred war immer noch frustriert. Er war sich sicher, dass Eckstein diesen Fall in spätestens zwei Monaten wieder vergessen haben würde, sah aber keine Möglichkeit, der geballten Urteilskraft der beiden zu widersprechen, und erklärte sich bereit, einen abschließenden Bericht zu verfassen. Er fragte sich nur, wie der Tote beerdigt werden würde: Sarg oder Leichentuch? Erd- oder Feuerbestattung? Katholischer oder orthodoxer Priester? Beim Verlassen von Ecksteins Büro verspürte er ein seltsames Ziehen im linken Ohr.

II. Die Flinte im Korn

»Armer Drugajew«, sagte Nikolai auf einem Baumstumpf sitzend, die Pistole lässig in der linken Hand, »jetzt hast du dich so lange versteckt und es hat doch nichts genützt. Russland will nichts mehr von Andropows Profis wissen und du hast in den letzten zwölf Jahren dein Gehirn mit Wodka so vernebelt, dass du unvorsichtig geworden bist. Du hast einige Grundregeln der Tarnung missachtet. Eigentlich sollte ich dich gar nicht erschießen. Es wäre eine viel größere Befriedigung, deinen Verfall weiter zu beobachten. Aber es hilft nichts. Willst du noch etwas sagen? Du hast das letzte Wort, auch wenn es niemand hören will!«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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