Sag mir, was ich bin - Una Mannion - E-Book

Sag mir, was ich bin E-Book

Una Mannion

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Beschreibung

Deena Garvey ist spurlos verschwunden. Für ihre Schwester Nessa bricht eine Welt zusammen, denn Deenas Ex-Freund Lucas, den sie für Deenas Mörder hält, untersagt ihr nicht nur den Kontakt zu ihrer kleinen Nichte, sondern nimmt Ruby auch noch mit nach Vermont. Dort, in der ländlichen Abgeschiedenheit der Inseln im Lake Champlain, lernt Ruby, wie man jagt und fischt, das Land bestellt und sich um Hühner kümmert. Sie lernt, was ihren Vater stolz und was ihn wütend macht. An ihre frühe Kindheit in Philadelphia erinnert sie sich nicht mehr. Bis ihr eines Tages ein Foto ihrer Mutter in die Hände fällt, eine Botschaft ihrer Tante, die seit Jahren alles daransetzt, Lucas zur Verantwortung zu ziehen und ihre Nichte zu beschützen. Ein Schatz, der vor Lucas verborgen werden muss und der sie dazu bringt, die Geschichten ihres Vaters in Frage zu stellen.

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Seitenzahl: 490

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Aus dem Englischen von Tanja Handels

Roman / Steidl

Für Dúaltagh, Brónagh und Aoibhín

Du fingst oft

An zu erzählen, was ich bin, stocktest

Dann stets und ließt mich fruchtlos meinem Grübeln

Mit kurzem »Wart: noch nicht«.

William Shakespeare, Der Sturm

Sanft wie Licht sind Schichten von Gedanken, Bildern und Gefühlen beständig auf dein Gehirn niedergesunken. Es schien, jede neue Schicht verdecke alle tieferen für immer. Und doch ist wahrhaftig keine ausgelöscht worden.

Thomas De Quincey, »Der Palimpsest«

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

1. Ruby

2. Nessa

3. Ruby

4. Ruby

5. Ruby

6. Ruby

7. Nessa

Teil 2

8. Nessa

9. Nessa

10. Ruby

11. Ruby

12. Ruby

13. Nessa

14. Nessa

Teil 3

15. Nessa

16. Ruby

17. Ruby

18. Nessa

19. Nessa

20. Ruby

21. Ruby

Teil 4

22. Nessa

23. Nessa

24. Ruby

25. Ruby

26. Nessa

27. Ruby

28. Nessa

29. Ruby

Danksagung

Impressum

TEIL 1

1

RUBY

Die Inseln, Vermont, Mai 2018

Durch die offene Klappe fiel ein nadeldünner Streifen Licht auf das Hühnerei – blassblau in seinem Nest aus Kiefernspänen –, wie ein verformter Vollmond oder eine der hellgrünen Tabletten, die Clover immer vom Arzt verschrieben bekam. Ruby schloss die Finger darum, drehte die Handfläche nach oben. Sie spürte das Gewicht des Eis, wie perfekt es sich in die menschliche Hand schmiegte.

Draußen vor dem Stall glucksten und gackerten die Hühner in ihren Staubbadewannen, alte Autoreifen, die Ruby mit Sand und Holzasche gefüllt hatte. Vergnügte Laute, obwohl es längst später Vormittag war und Ruby sie eben erst nach draußen gelassen hatte. Gestern war sie gar nicht da gewesen, um die Eier einzusammeln. Sie hatte es immer weiter vor sich hergeschoben. Die Hühner vernachlässigt. An den allermeisten Abenden gingen sie inzwischen sowieso allein zu Bett, zogen in einer Reihe, wie ein kleines Fließband, die Rampe hinauf, sobald die Sonne unterging, ein trauriges Grüppchen verhinderter Mütter. Ruby sah ihnen dann von der Veranda aus zu und raffte sich mühsam auf, im Stockdunkeln noch die Stallklappe zu schließen.

Sie spannte die Finger an, drückte das Ei fester: noch genügend Kalzium, dass es nicht zerbrach. Gut. Sie lauschte dem leisen Geplauder der Hühner draußen und fand sich furchtbar. Wie sie, sobald sie sie kommen sahen, mit den nutzlosen Flügeln schlugen, ihr blind vertrauten, ihr über den Hof nachliefen, zuließen, dass sie zugriff und ihnen ihr Gelege wegnahm. So viel Gescharre, so viel Mühe, und sie warf die Eier dann einfach in den Müll oder verquirlte sie und gab sie ihnen als Futter. Lucas hielt das für unerlässlich: Rührei führe den Hühnern die Nährstoffe wieder zu, die sie bei der Eiproduktion einbüßten. Dann zählte er sie alle einzeln auf – Proteine, Kalzium, Magnesium, Vitamin A, E, B6 und B12 –, und Rubys Gedanken schweiften ab.

Alle paar Tage fuhr Ethan Puckett mit seinem Pickup vor und brachte ihnen Lebensmittel, Milch, Brote, ganze Gerichte, noch warm in der Auflaufform, die Adelaide für Ruby und Clover zubereitete. Lasagne, Nudelauflauf, gebackene Bohnen mit Ahornsirup, Wild. Ruby deponierte die gespülten Schüsseln später auf der untersten Treppenstufe, damit er sie wieder mitnehmen konnte. Wegen des Schlaganfalls musste alles, was Clover aß, jetzt püriert werden; ihr linker Mundwinkel hing immer noch herab. Der Mixer machte aus Adelaides Gerichten eine unansehnlich graue, klumpige Masse. Weder Ruby noch Clover hatten viel Appetit. Die Hühner vertilgten Clovers pürierte Reste ebenso wie ihresgleichen in verquirlter Form. Ruby war seit gut einer Woche wieder zu Hause. Sie war so wütend auf Adelaide und Clover, dass sie ständig einen Stein im Magen hatte.

Sie ging aus dem dunklen Hühnerstall und ließ den schweren Geruch nach Streu und Dung hinter sich zurück. Vielleicht sollte sie die Eier heute Ethan mitgeben. Anstatt ihm ständig aus dem Weg zu gehen, wenn er vor dem Haus hielt, sollte sie ihm lieber für alles danken, was er für sie tat, ein bisschen über die Hitze plaudern, übers Angeln. Und ihm einen Karton Eier überreichen. Adelaide hatte bestimmt Verwendung dafür. Vielleicht könnte Ethan auch die Hühner übernehmen.

Im Haus klingelte das Telefon. Clover war da, würde aber sicher nicht rangehen. Schon das Aufstehen fiel ihr schwer, und dann hätte sie sich noch quer durch die Küche schleppen müssen, weil sie nach wie vor kein schnurloses Telefon besaßen; wer immer da anrief, hätte bis dahin längst aufgegeben. Es klingelte weiter. Ruby stellte den Korb unten an der Treppe ab, stapfte hoch auf die Veranda und ließ die Fliegengittertür hinter sich gegen den Aluminiumrahmen knallen. Clover hockte in ihrem Sessel und starrte auf den Fernsehbildschirm; der Tee im Becher neben ihr war bereits milchig grau geworden. Sie wandte nicht einmal den Kopf.

Das Telefon bebte beim Klingeln an der Wand, wie im Zeichentrickfilm. Hallo, sagte Ruby und schaute finster zu Clover hinüber, doch die zuckte nur mit der rechten Schulter, wie sie es immer tat, zog sie bis zum Ohr hinauf, was von Resigniertheit sprach, nach dem Motto: So ist es halt oder Brauchst gar nicht anfangen. Im Fernsehen lief auf voller Lautstärke Der Preis ist heiß, die Kittelschürze war ihr bis über die Knie hochgerutscht, ihre nackten Beine über den entzündeten Knöcheln waren erschreckend weiß. Zwei rosa Kunststoffhaarspangen hielten ihr zu beiden Seiten das Haar aus dem Gesicht, direkt über den Ohren. Ruby sah, dass es die waren, die sie selbst vor Jahren getragen hatte, und das schlechte Gewissen traf sie wie ein Fausthieb. Wie Clovers Schlaganfallfinger mit den Kinderspangen gekämpft haben mussten. Auch ihre Pantoffeln hatten früher Ruby gehört: rosa Kunstfell, knotig und verfilzt und viel zu eng für Clovers geschwollene Füße.

Hallo?, sagte sie noch einmal, den Hörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt, die Hand an der Vinyltapete, auf der die früher leuchtenden Orangen von der Sonne zu großen, geisterhaften Flecken gebleicht worden waren. Es blieb kurz still in der Leitung, als hätte, wer immer da anrief, nicht damit gerechnet, dass nach so langem Klingeln noch abgenommen würde, und müsste sich vor dem Sprechen erst sammeln. Dann sagte eine Frauenstimme: Ruby? Bist du das, Ruby?

Ja, sagte sie, hier ist Ruby Chevalier. Wer spricht denn da, bitte? Sie setzte den Leg-dich-nicht-mit-mir-an-Ton ein, den sie sich für die Presse und die Ermittlungsbeamten zugelegt hatte. Nichts sagen, hatte die Anwältin ihr eingeschärft. Zu niemandem. Und hatte dabei geklungen, als würde Ruby den Ernst der Lage nicht richtig begreifen. Dabei wusste Ruby nicht einmal, was sie versehentlich hätte ausplaudern sollen. Aber das jetzt war sowieso keine Journalistin. Sie hörte es am unsicheren Stocken, dem Ausatmen, das wie ein Seufzen klang, dem Zögern. Die Presseleute redeten am Telefon immer gleich drauflos, sagten hastig: Hallo, Ruby, wie geht’s dir denn? oder so was. Vertraulich, als würden sie Ruby kennen, als wollten sie ihr weismachen, sie wäre ihnen schon begegnet. Nathalie sagte, sie hätten sogar vor der Schule gestanden, Mitschülerinnen und Mitschüler gefragt, wie Ruby aussehe und ob sie sie ihnen zeigen könnten, wenn sie käme. Seit ihrer Rückkehr hatte sie das Haus nicht mehr verlassen.

Die Frau konnte nicht aus der Gegend sein, so wie sie Rubys Namen aussprach. Die Vokale übertrieben deutlich. Jetzt sagte sie noch einmal: Ruby. Ruby, hier ist Nessa. Nessa Garvey. Aus Philadelphia? Deine Tante. Ruby öffnete den Mund, hatte aber eigentlich nichts zu sagen.

Mit dem Finger zeichnete sie ein verblasstes Blütenblatt an der Wand nach. Es war kaum noch zu sehen. Bei einem der wenigen Male, als Nathalie bei ihnen gewesen war, hatte sie zu Ruby gesagt: O Gott, Die wilden Siebziger – ein Wandtelefon mit Schnur, Vinyl in Orange und Braun, ein Resopal-Tisch.

Die Frau am Telefon, Nessa Garvey, Tante Nessa, setzte noch einmal an. Bitte leg nicht auf, sagte sie. Bitte. Hör mir nur kurz zu. Ruby hätte am liebsten losgeheult. Sie sah zu Clover hinüber, aber Clover achtete gar nicht auf sie. Sie notierte sich mit der rechten Hand mögliche Preise für die im Fernsehen gezeigten Waren auf einem Briefumschlag. Die andere Hand konnte sie nicht mehr bewegen.

Nessa. Ein Name, der Ruby schon von selbst wieder eingefallen war. Sie drückte das Fliegengitter auf und zog die Telefonschnur so lang, dass sie sich auf die oberste Stufe setzen konnte. Beinahe wäre ihr der Hörer entglitten, und als sie ihn zwischen Wange und Schulter klemmte, um sich die feuchte Hand am T-Shirt abzuwischen, merkte sie, dass sie in der anderen Hand noch immer das blaue Ei hielt.

Okay, sagte sie, schieß los. Ihre Stimme klang gar nicht nach ihr.

Ich weiß nicht, ob du dich noch erinnerst. Früher hast du bei mir gewohnt. Mit deiner Mutter? Ruby sagte nichts. Nessa. Vielleicht wollte sie ja von Ruby etwas hören, was Lucas noch mehr Ärger einbrächte. Ihre Stimme war weder ruppig noch unfreundlich, aber auch nicht richtig nett. Sie klang, als würde sie einen Text ablesen. Das Zittern, das an Rubys Lippen begonnen hatte, wanderte hoch bis in die Wangenmuskeln. Sie konnte es nicht abstellen.

Wir machen eine … Nessa hielt inne, räusperte sich, sprach weiter. Wir würden uns wünschen, dass du herkommst. Du warst ihre ganze Welt. Wir warten. Früher blieb uns nichts anderes übrig, das weißt du ja, aber jetzt warten wir auf dich, damit du dabei sein kannst. Ich rufe dich ihretwegen an. Um dich darum zu bitten. Wir müssen auch gar nicht groß reden über …

Nessa brach ab.

Wir müssen nicht über deinen Vater reden. Es ist alles für dich bereit. Falls du kommen möchtest.

Ruby ließ den Hörer in den Schoß sinken und sah nach Osten, zu den Green Mountains, die Augen zusammengekniffen vor all dem Blau – dem klaren Morgen, dem gleißenden See. Es würde ein sonniger Tag werden. Sie sollte das Freigehege versetzen. Das würde sie heute erledigen. Den Stall ausmisten, es ihnen wieder schön machen; so lange würde das gar nicht dauern. Und auf der Rasenfläche würde sie Kleesamen aussäen, aus dem Sack im Schuppen. Da, wo die Hühner jetzt scharrten, grenzte die Umzäunung an Schiefergestein, sie pickten in zerkrallter brauner Erde und auf grauem Stein herum, das Kratzfutter war längst aufgebraucht und der Morgentau verdampft. Die Sonne fiel auf das goldene Federkleid einer Henne, ihr Kamm nach wie vor leuchtend rot und gesund. Neben ihr tarnte sich eine blau-schwarze Ameraucana-Henne vor dem Schiefer; über ihnen fuhr der Wind durch die Birkenblätter, ein Motorboot sauste über das Wasser und ließ eine dunkle Schneise hinter sich zurück. Alles war immer noch schön. Es waren ihre Hühner. Sie würde sie behalten.

2

NESSA

Philadelphia, 8. Februar 2004

Nessa hörte, wie ihre Schwester sich durch das Haus bewegte, das Knarren der Bodendielen im Stockwerk über ihr, die Toilettenspülung, Wasser, das ins Waschbecken lief, das Klicken, als die Haustür zufiel. Ronan lag neben ihr und schlief mit leicht geöffnetem Mund, er schnarchte leise beim Einatmen. Später sollte sie der Polizei erzählen, sie habe gehört, wie draußen der Wagen angelassen wurde. Der letzte Laut, der Deena noch mit der Welt verband. Genau dort, draußen vor der Tür, konnte ihr etwas passiert sein, während Nessa sich wieder zu Ronans warmem Körper hindrehte, die Bettdecke noch einmal höher zog und weiterschlief.

Etwa eine Stunde, nachdem sie den Wagen gehört hatte, war Nessa Richtung Museum unterwegs, um Zeitungen zu kaufen. Sie trug weder Schal noch Mütze, und der Wind, der vom Fluss her wehte, war schneidend, stach ihr ins Gesicht. Später erschien ihr jede Einzelheit dieses Morgens kristallklar, wie durch die ständige Wiederholung zu einer Serie aus Standbildern verfeinert. Die kahlen Bäume. Ihr Atem, der sofort kleine Wölkchen bildete. Die vereiste Stelle an der Ecke zur Aspen Street. Der leere Gehweg. Und alles so nichtssagend grau, alles nackt, ohne etwas preiszugeben.

Zurück im Haus weckte sie ihn. Sie tranken Kaffee und lasen Zeitung. Nessa las ihm irgendeine Äußerung von Howard Dean über den Irak-Krieg vor, der Ronan zustimmte. Dan Browns Thriller Sakrileg stand immer noch auf Platz 1 der Bestsellerlisten. Ronan schob ihr einen Artikel aus der New York Times hin und tippte auf die Schlagzeile. Es ging um den Mord an Kitty Genovese in Queens. Kommenden Monat würde er sich zum vierzigsten Mal jähren. Nessa erinnerte sich vage, in einem Uni-Seminar von der Geschichte gehört zu haben. Der Bystander-Effekt. Achtunddreißig Personen hatten mitbekommen, wie die Frau angegriffen wurde, und niemand hatte etwas unternommen.

Sie sah Ronan dabei zu, wie er sich anzog und seine Tasche packte. Er trug einen schwarzen und einen dunkelblauen Strumpf, seine Haare waren hinten noch ganz plattgelegen. Wenn er doch bloß nicht fahren würde. Sie lauschte dem Wasserrauschen im Bad und sinnierte gerade über den Ausdruck Waschungen vornehmen, da klingelte das Telefon. Es war Molly: Deena war nicht zu ihrer Schicht erschienen, die um 7 Uhr begonnen hatte.

Nessa zog die Vorhänge auf und schaute aus dem Fenster hinunter auf den leeren Fleck, wo Deena immer ihr Auto abstellte.

Später sollte sie von der Polizei hören, dass Molly McKenna das erste Mal um acht Uhr fünfundvierzig bei ihr angerufen hatte. Als Ronan wieder hereinkam, bereit zum Aufbruch, stand Nessa mitten im Zimmer, das Telefon noch in der Hand.

Sie fuhren zum Bahnhof, sprachen darüber, was Deena wohl aufgehalten haben könnte: ein platter Reifen, ein Unfall, ein vergessener Termin. Als Ronan an der Suburban Station aus dem Wagen stieg, sah er an der Art déco-Fassade des Bahnhofsgebäudes hinauf. Nessa lächelte, weil sie schon wusste, dass er ihr gleich wieder sagen würde, wie sehr ihm die gefiel, zum hundertsten Mal ungefähr. Seine Haare waren immer noch plattgedrückt, und sie hatte vergessen, ihm zu sagen, dass er zwei verschiedene Socken trug. Später sollte sie sich daran erinnern, wie sie ihn beim Hinaufschauen betrachtet hatte, und diesen Moment abspeichern: das letzte Mal, dass sie ihn oder sonst wen angeschaut hatte, bevor sie nichts mehr so betrachten konnte wie zuvor.

Zu Hause versuchte sie, sich in den New York Times-Artikel zu vertiefen. Kitty Genoveses Bruder berichtete, wie schwer es ihm gefallen sei, ihren Tod zu verarbeiten, und dass er sich bei den Marines verpflichtet habe. Die ganze Zeit in Vietnam habe er ständig Flashbacks von dem gehabt, was seiner Schwester zugestoßen sei. Er war ganz besessen davon, andere Menschen retten zu wollen.

Die leeren Wände in Deenas Zimmer waren blendend weiß gestrichen. Alles war an seinem Platz. Als sie sich früher, bei ihren Eltern, ein Zimmer geteilt hatten, lag Deenas Seite immer voll mit leeren Cola-Dosen, Bergen von Schmutzwäsche, Stapeln von Büchern. Vier Jahre älter und zehn Mal so unordentlich. Ständig musste Nessa die Grenze sichern, auf die sie sich geeinigt hatten, nasse Handtücher und Schulröcke auf die andere Seite schieben. Jetzt hielt Deena ihren Lebensraum makellos. Wenn du auch noch anfängst, die Dosen im Küchenschrank nach Farben zu sortieren, ist Schicht im Schacht, hatte Nessa gewitzelt, als Deena eingezogen war. Auf dem Nachttisch stand ein Schwarzweißfoto von Ruby, gleich nach ihrer Geburt, das dem Zimmer etwas Weiches gab. Rubys Kopf ruht darauf an Deenas nackter Brust. Es ist ihr erster gemeinsamer Moment, Ruby hält mit ihrer kleinen Hand ein paar Haarsträhnen ihrer Mutter umfasst. Haut an Haut, hatte die Hebamme gesagt, als sie Deena die kleine Ruby auf die Brust legte.

Deenas Bücherregal war nach Themen geordnet. Im untersten Fach Pflege und Anatomie; darüber Ratgeber zu psychischer Gesundheit und Selbstermächtigung, Bücher über das Leben mit einem narzisstischen Partner, Bücher zum Thema Mutterschaft. Daneben lagen ordentlich gestapelt die Tagebücher, die sie seit High-School-Zeiten ausgiebig führte. Auf jedem Buchrücken standen Monat und Jahr verzeichnet, seit sie vierzehn war. Dazwischen die Lücke, 1999 bis 2002, die Jahre mit Lucas. Die hatte er an sich genommen, und Deena hatte sie nie zurückbekommen. In den übrigen Regalfächern standen Romane und Gedichtbände. Obenauf lag ein Buch quer: Dark Fields of the Republic von Adrienne Rich – zwischen die Seiten waren Papierstreifen geschoben, um die Gedichte zu markieren, die Deena immer wieder las.

Auch die Bodendielen waren weiß gestrichen. Anfangs hatte Nessa sich an dieser Ordnung und Leere gestört, als ob Lucas Deena immer noch aus der Ferne dominierte, ihr einredete, dass sie schlampig sei, sie klein machte. Mit der Zeit aber verstand sie Deenas Bedürfnis, ihre Umgebung unter Kontrolle zu halten, in allem überstrukturiert zu sein. Lucas hatte ihr so viel genommen. Das verbissene Ordnunghalten war ihr Weg, sich ihm zu widersetzen und all dem, was er ständig über sie behauptet hatte: dass sie faul sei, chaotisch, verrückt und was sonst noch alles. Vielleicht konnte sie sich, indem sie Ordnung hielt, selbst davon überzeugen, dass sie nichts dergleichen war, vielleicht war es auch ein einziges großes Leck-mich. Während sie so in Deenas leerem Zimmer stand, ging Nessa erstmals die Möglichkeit durch den Sinn, ihre Schwester könnte nie mehr wiederkommen.

Sie zählte die Kasacks und Hosen im Schrank. Deena besaß drei Garnituren Krankenhauskleidung – eine fehlte. Sie hatte sich also für die Arbeit fertig gemacht. Der Wäschekorb im Bad war leer. Ihre Zahnbürste stand noch im Becher. Auch die gerahmte Karte, die ihre Mutter Deena zum Examen geschenkt hatte, war noch da. Ein Dickens-Zitat, um das sich ein Stethoskop ringelte: Möge dein Herz nie verhärten, dein Gemüt unermüdlich und deine Hand stets heilsam sein! Deena hatte die Karte bewusst ins Bad gehängt. Wahrscheinlich, weil sie sich dort jeden Morgen fertig machte, als freundliche mütterliche Ermahnung, bevor sie zur Arbeit auf der neonatologischen Intensivstation aufbrach.

Manchmal rief ihr Vater Deena an, wenn er sich nicht wohlfühlte. Dann ging sie bei ihm Blutdruck messen, nahm ihr Stethoskop und ließ Ruby mithören. Ruby verglich dann oft die Herzschläge. Sie legte das Bruststück an ihr eigenes Herz. Meins ist ganz ruhig, Grandad. Deins macht Krach. Einmal hatte sie den beiden Herzen gelauscht und dann gesagt: Meins gewinnt. Es ist schneller.

Wahrscheinlich war auch jetzt etwas mit ihm, und Deena war dort, um nach ihm zu sehen. Nessa rannte zurück nach unten, zum Telefon.

Joey nahm ab. Er war in Eile und hatte keine Zeit zum Reden. Aber er sagte: Nein, Dad schläft.

Als er hörte, dass Deena nicht zur Arbeit gekommen war, hielt er doch inne. Er hatte zuletzt am Freitag mit ihr gesprochen.

Ich komme rüber, sagte er.

Die Aufschrift John Garvey an den Seitenwänden des Pickup war verblasst und fast verschwunden, der Zusatz & Son noch etwas klarer. Gipsstaub, Holzspäne, Farbkleckse und zwischen Windschutzscheibe und Armaturenbrett geklemmte Quittungen, genau wie früher bei ihrem Vater, als sie Kinder waren. Der vertraute Anblick gab Nessa Halt. Als sie sich gerade auf den Parkway einfädelten, klingelte ihr Handy. Molly. Deena war immer noch nicht aufgetaucht. Das Parkhaus neben dem Krankenhaus hatte vier Decks; sie fuhren jedes einzeln ab. Der Mann im Wachhäuschen sah die Aufnahmen der Sicherheitskamera durch. Deena war nie dort angekommen.

Sie blieben in Joeys Pickup sitzen, warteten bei laufendem Motor bibbernd darauf, dass heiße Luft aus dem Gebläse kam. Nessa sah auf die Uhr. Halb zwei. Sechs Stunden noch, dann mussten sie Ruby von ihrem Wochenendbesuch bei Lucas abholen.

Zurück im Haus gingen sie hoch in Deenas Zimmer. Joey blieb mitten im Raum stehen, wusste nicht recht, was er tun sollte. Nessa ging ins Bad und schaute in den Spiegelschrank. Deenas Tabletten lagen noch dort, neben einer Flasche Fiebersaft für Kinder.

Joey, vielleicht ist ja was mit Ruby. Warum ist mir das nicht schon längst eingefallen?

Ruby war krank geworden, und Deena war zu ihr gefahren. Jetzt ergab auf einmal alles Sinn.

Sie beschlossen, dass Nessa Lucas anrufen und nach Ruby fragen solle.

Joey setzte sich neben sie, so dicht, dass er mithören konnte. Beim Wählen atmete sie tief durch, gab sich Mühe, möglichst ruhig zu bleiben.

Als er abnahm, sagte sie: Hier ist Nessa.

Ach, hallo, Nessa. Wie geht’s?

Joey schüttelte ganz leicht den Kopf. Das war seltsam. Lucas und sie machten keinen höflichen Smalltalk.

Kann ich Ruby sprechen?

Sie ist gerade beschäftigt.

Nessa erfand eine Geschichte darüber, dass Rubys Goldfisch Junge bekommen hätte. Lucas schwieg.

Jetzt gib mir schon meine Nichte, Lucas.

Nessa? Rubys helle Stimme.

Ruby! Geht’s dir gut?

Ja. Meine Oma ist da.

Wie bitte? Nessas Mutter war seit über einem Jahr tot.

Grandma ist bei euch?

Nicht unsere Grandma! Clover.

Nessa hatte Lucas’ Mutter nie kennengelernt. Sie war sich auch nicht sicher, ob Ruby sie kannte. Eher nicht.

Hat Mommy sie auch gesehen?

Wie denn?

Hast du Mommy heute nicht gesehen?

Nein. Ich bin doch hier bei Dad.

Während des ganzen Gesprächs behielt Nessa Joeys Miene im Blick. Sie sah seine Sorge.

Kaum hatte sie aufgelegt, probierte sie es gleich noch einmal auf Deenas Handy.

Als die Polizei die Ermittlungen zu Deenas Verschwinden aufgenommen hatte, informierte einer der Detectives Nessa darüber, dass sie an diesem Sonntag bis Mitternacht achtundvierzig Mal Deenas Nummer gewählt hatte. Wie viele hundert Mal hatte sie wohl in der folgenden Woche, dem folgenden Monat bei Deena angerufen? Manchmal wählte sie die Nummer heute noch, wenn sie zu viel getrunken hatte.

Als Nessa bei der Buchhandlung ankam, war Deena seit dreizehn Stunden verschwunden. Sie wartete im dunklen Eingang an der Walnut Street. Die Schaufenster waren mit dicken roten Herzen dekoriert, der Valentinstag stand vor der Tür. Die Temperatur war weit unter den Gefrierpunkt gefallen, ihre Wangen brannten. Beruhig dich. Verkack’s nicht. Nessa stampfte mit den Füßen. Auf dem Gehsteig war kein Mensch unterwegs, aber der Verkehr floss stetig. Von der Kälte tränten ihr die Augen, die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos zerflossen zu weißlichen Schlieren. Sie kniff die Augen zu, öffnete sie dann wieder und schaute hinüber zur Ecke 18th Street.

Lucas und Ruby kamen immer über den Platz. Nessa spürte einen kalten Schmerz unten am Rücken. Tief in ihr setzten sich Eisklötze fest, als könnte ihr nie mehr warm werden. Irgendwann einmal hatte ihre Mutter ihr erzählt, dass man Angst in den Nieren spüre. Sie schob die Hände tiefer in die Taschen und zählte von fünf abwärts. Als sie wieder aufsah, stand Ruby an der Kreuzung und winkte wie wild, als sie mit Lucas auf die Straße trat. Sobald sie auf dem Gehsteig waren, ließ Ruby seine Hand los und stürmte auf Nessa zu, dass die Bommel an ihrer Strickmütze nur so wippte. Lucas, der ihren kleinen Koffer trug, folgte betont langsam. Nessa ging in die Hocke und breitete die Arme aus, und Ruby flog direkt hinein. Ihr Hals roch nach ihnen. Nach ihrem Haus, ihrer Küche, dem Weichspüler, den Deena verwendete.

Geht’s den Babys gut?

Was?

Eine Sekunde lang dachte Nessa, Ruby würde nach den Babys in der Klinik fragen, die Deena in ihrer Obhut hatte.

Den neuen Babyfischen, sagte Ruby. Da fiel Nessa das Gespräch am Telefon wieder ein und die erfundenen Babys. Joey und sie waren vorher noch in der Tierhandlung gewesen – er fand das besser. Ruby würde sich schließlich freuen. Kleine Goldfische hatte es keine gegeben, also hatten sie stattdessen einen Beutel Elritzen gekauft.

Ach, denen geht’s prima. Es sind ganz viele. Sie freuen sich schon, dich kennenzulernen.

Da trat Lucas in den Eingang. Nessa schloss die Arme fester um Ruby und wich einen Schritt zurück.

Nessa.

Sie erwiderte nichts, sah ihn auch nicht an. Lucas’ Blick hatte ihr immer schon zugesetzt. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er sie an den Replikanten aus Blade Runner erinnert, der von Rutger Hauer gespielt wurde. Diese extrem blauen Augen. Der starre Blick. Er war gekleidet, als wäre er unterwegs zum Anwalt oder zur Bank. Am Sonntagabend? Sonst trug er immer Holzfällerhemden aus Flanell und Cargo-Hosen. Nessa senkte den Kopf, nahm noch eine Nase voll Ruby.

Nessa, gehen wir noch ein Eis holen? Rubys Wangen leuchteten von der Kälte.

Klar. Sogar eine doppelte Portion, zur Feier der Babyfische.

Ich dachte, es gibt nur einen Fisch in dem Aquarium, sagte Lucas. Er warf einen Blick auf die Uhr.

Deena meinte, es würde wahrscheinlich später. Sie hatten noch eine Abendeinweisung und sind unterbesetzt, darum gehe ich jetzt schon mal mit Ruby los.

Nessa hörte ihre eigene Stimme kaum, konnte nicht sagen, ob sie quiekte oder brüllte.

Nein. Wir warten auf Deena.

Hat sie dich nicht angerufen?

Nein.

Nessa versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

Na sowas. Dabei hat sie gesagt, sie würde. Hast du heute gar nicht mit ihr gesprochen? Sie wusste schon, dass sie es nicht rechtzeitig schafft, weil ein schwerkranker Säugling noch spät eingeliefert werden sollte.

Ich habe seit Freitag nicht mit Deena gesprochen.

Tja. Okay. Aber es ist weit unter null, das ist doch viel zu kalt für Ruby. Wir fahren einfach schon mal nach Hause. Du kannst ja später mit Deena reden.

Er antwortete, ohne sie dabei anzusehen. Du weißt doch. Ich übergebe Ruby ausschließlich an ihre Mutter. An sonst niemanden.

Ruby verzog ängstlich das Gesicht.

Bitte, Dad. Ich muss doch zu den Babyfischen. Und zu Nemo. Und wir wollen Eis holen. Bitte, bitte, bitte. Ich will mit Nessa gehen. Sie vergrub das Gesicht am Hals ihrer Tante. Ihr Atem war warm.

In Ordnung, sagte Nessa, an Lucas gewandt, aber ohne Ruby loszulassen. Es sind mindestens zehn Fischbabys – da musst du dir eine Menge Namen überlegen.

Man spricht von Larven, sagte Lucas. Sie ist intelligent. Wir brauchen keine Kindersprache.

Sie sahen beide zu, wie sich der Verkehr nach Westen wälzte. Auf der anderen Straßenseite erhellten alte Gaslaternen die Eichen und Linden auf dem Rittenhouse Square. Ihren ersten Job hier in der Stadt hatte Nessa bei einem irischen Restaurant ein paar Straßen weiter gehabt. Da hatte sie gerade mit dem Studium angefangen. All die Herbstmorgen, die Abkürzung über den Platz, das Laub, das sich verfärbte, der Beginn eines völlig neuen Lebens. Ruby zappelte, wollte vom Arm gelassen werden, und Nessa stellte sie zurück auf den Boden, hielt aber ihre Hand fest. Sie trugen beide keine Handschuhe oder Fäustlinge, und Nessa versuchte, die kleine Hand so gut wie möglich mit ihrer zu wärmen.

Deena würde nicht kommen. Lucas würde Ruby mitnehmen. Jetzt war es so weit.

Nessa, mir ist kalt.

Ich weiß, Süße. Sie sah in Richtung Center City, wie um nach Deena Ausschau zu halten.

Wir gehen wieder nach Hause, sagte Lucas. Er streckte seine Handschuhhand aus, aber Ruby ergriff sie nicht; sie schlang die Arme um Nessas Beine.

Na los, Ruby. Deine Mutter ist nicht gekommen, deswegen müssen wir jetzt wieder nach Hause gehen.

Nein, ich gehe mit Nessa. Ich will ein Eis, und ich will Nemos Babylarven sehen.

Ruby, wir gehen jetzt. Seine Stimme wurde schärfer. Rubys Griff um Nessas Bein wurde fester. Nessa legte ihr eine Hand auf den Kopf. Sie spürte die ersten Schluchzer am Oberschenkel.

Ich will meine Mom. Und Nessa.

Bitte, Lucas. Sie ist ganz verstört. Ich nehme sie mit, und nachher kannst du dann mit Deena besprechen, was auf der Arbeit los war.

Schluss mit den Lügen.

Das kam leise und bösartig, im Flüsterton. Erschrocken über seine Äußerung wich Nessa noch weiter zurück. Wie konnte er das wissen?

Hör endlich auf, Ausreden für sie zu erfinden.

Ruby weinte jetzt. Bitte, Nessa.

Lucas reckte den Zeigefinger vor Nessas Gesicht in die Höhe und zog ihn dann wieder zurück; das hatte sie ihn auch oft bei Deena machen sehen, eine Warnung, als wäre sie ein ungehorsames Kind. Er hielt sich nur mühsam im Zaum.

Du verstörst Ruby, sagte er. Wir gehen jetzt.

Er fasste Ruby unter den Achseln und hob sie hoch, und Ruby klammerte sich noch an Nessas Mantel fest. Sie heulte jetzt lauthals, und Nessa wollte etwas sagen, aber ihre Kehle war zugeschnürt. Lucas riss Ruby weg und ging über die Walnut Street davon, seine hochgezogenen Schultern verströmten Zorn, sein Mantel spannte am Rücken. Nessa sah Ruby strampeln und um sich schlagen, hörte sie nach ihr, Nessa, rufen, während sie sich immer weiter entfernte.

Das Revier war ein schmuddeliger, neonheller Raum mit einem verglasten Schalter. Stühle gab es keine, nur eine Bank an der Wand. Eine kleine Frau in einem schweren, beigefarbenen Mantel, der fast bis zum Boden reichte, redete durch das Schalterfenster auf einen Beamten in Uniform ein. An den Füßen trug sie Pantoffeln. Joey und Nessa setzten sich und warteten. Die Frau bekam irgendwen nicht aus ihrer Wohnung. Den Freund ihrer Enkelin? Und irgendwer war auf Drogen. Nessa konnte es nicht richtig verstehen. Die Frau war geschubst worden. Als sie sich umdrehte, trafen sich ihre Blicke, die Augen der Frau wässrig und müde. Sie hatte hohe Wangenknochen, wodurch sie irgendwie größer wirkte und nicht mehr so unterlegen. Sie stützte sich auf einen Stock. Ob sie ganz allein zu Fuß hergekommen war?

Nessa und Joey gingen zum Schalter. Ohne aufzusehen zog der Beamte das Fenster zu, den Kopf tief über die Papiere gebeugt, die vor ihm lagen. Nach ein paar Minuten wollte Nessa klopfen, aber Joey fasste sie am Arm und schüttelte den Kopf. Sie warteten weiter. Wie lange hatten sie die Frau im beigefarbenen Mantel trotz ihres Stock hier wohl stehen lassen? Der Beamte erhob sich von seinem Stuhl und verschwand. Weiter hinten saß ein Polizist an einem Schreibtisch und erzählte irgendwas, ein paar andere standen um ihn herum, lauschten mit vor der Brust verschränkten Armen und lachten. Am liebsten hätte Nessa die Trennwand eingeschlagen. Niemand sah auch nur zu ihnen hin.

Sie zog die Schultern hoch, drehte die Handflächen nach oben, signalisierte Fassungslosigkeit. Wollt ihr uns hier verarschen?

Lass es, sagte Joey.

Es gab vor dem Fenster nicht einmal eine Ablage, auf die man sich hätte stützen können. Nessa drückte die Stirn an die Scheibe. Der Beamte kam zurück und klopfte dagegen, schüttelte den Kopf.

Bitte nicht die Scheibe berühren, Ma’am. Dann drehte er ihnen wieder den Rücken zu.

Joey griff sich eine Zeitung, die jemand auf der Bank hatte liegen lassen, und lehnte sich mit einer Schulter an die Wand. Er fuhr mit dem Finger über die Seite mit den Sportergebnissen, bis er zum Basketball kam, kniff die Augen zusammen, um die kleine Schrift zu entziffern. Er war so viel gefasster in solchen Situationen. Nessa wäre am liebsten irgendwem an die Gurgel gegangen. Sie warteten. Der große rote Zeiger der Uhr an der Wand ruckelte immer weiter. Wie oft, konnte sie schon nicht mehr zählen.

Dann schob eine kleine Polizistin mit riesiger Brille und straffgezurrtem Dutt das Schalterfenster wieder auf.

Was kann ich für Sie tun? Sie setzte sich, ohne Nessa und Joey anzusehen.

Wir möchten eine Vermisstenmeldung machen, sagte Nessa. Unsere Schwester.

Seit wann wird sie vermisst?

Seit mehr als vierzehn Stunden.

Ist sie volljährig?

Ja.

Die Polizistin ließ den Blick nicht vom Computerbildschirm, nur ihre Augenbrauen hoben sich eine Winzigkeit über den Brillenrand.

Vielleicht hat sie sich einfach mit irgendwem getroffen und ist noch nicht zurück.

Sie ist heute nicht zur Arbeit erschienen, obwohl sie wie gewohnt das Haus verlassen hat. Und sie hat ihre Tochter nicht abgeholt. Das würde sie nie tun. Einfach so wegbleiben.

Nimmt sie Psychopharmaka?

Bitte? Mit dieser Frage hatte Nessa nicht gerechnet.

Sie wissen schon. Neuroleptika, Antidepressiva, Medikamente zur Behandlung von bipolaren Störungen?

Joey strich über die Holzmaserung des Schalters und hielt den Kopf gesenkt.

Effexor. Ein Antidepressivum. Aber es geht ihr gut. Das ist auf keinen Fall der Grund. Die Dosis ist wirklich niedrig.

Woher wissen Sie, dass sie nicht freiwillig verschwunden ist?

Wie bitte?

Mit Freunden. Aus eigenem Antrieb.

Wir wohnen zusammen. Sie ist zur Arbeit aufgebrochen, aber nie dort angekommen. Das hat es noch nie gegeben. Und sie hat ihre Tochter nicht bei ihrem Ex-Lebensgefährten abgeholt. Das würde sie niemals tun. Bestimmt haben Sie sie auch in Ihrer Datenbank. Sie musste bereits mehrere einstweilige Verfügungen gegen ihn erwirken. Er war in der Vergangenheit gewalttätig.

Jetzt sah die Beamtin doch zu ihnen hin, hielt aber die Augen geschlossen.

Dann müssen wir ein 75-74A ausfüllen. Sie sprach es aus wie eine Frage, als wollte sie sagen: Das wollen Sie jetzt nicht im Ernst?

Gut, sagte Nessa.

Das Fenster schloss sich wieder.

Name, Geschlecht und Alter der Person, die Sie vermisst melden wollen?

Deena Garvey. Weiblich. Dreißig Jahre alt.

Körpergröße?

Eins siebenundsiebzig.

Augenfarbe?

Braun.

Haarfarbe?

Dunkel. Aber mit einem rötlichen Schimmer.

Gut, also braun. Eine Weiße?

Ja.

Hautton?

Hell. Mit ein paar hingetupften Sommersprossen.

Wie bitte?

So ein paar einzelne, über Nase und Wangen verteilt. Im Sommer werden es mehr.

Hellhäutig also. Die Polizistin kreuzte ein Kästchen an. Gewicht?

Da war Nessa sich nicht sicher. 58 Kilo vielleicht? Deena war dünn geworden.

Keine besonderen Merkmale. Keine Tätowierungen. Krankenschwester auf einer neonatologischen Intensivstation. Ein Kind. Lebt vom Vater des Kindes getrennt.

Es besteht ein Kontaktverbot, ergänzte Nessa. Können Sie das dazuschreiben?

Blutgruppe?

A-positiv. Das wusste Nessa. Die hatten sie alle.

Die Polizistin fragte nach Deenas Kleidung, der Marke ihres Autos, dem Kennzeichen, der Uhrzeit, zu der sie aufgebrochen war.

Haben Sie ein Foto von ihr?

Nessa reichte ihr ein Foto, das Deena auf einer Schaukel im Park unweit der Grundschule zeigte. Sie selbst hatte es letzten Sommer gemacht. Die Polizistin befestigte es mit einer Büroklammer am Formular.

Wurden von der Vermissten schon einmal Fingerabdrücke genommen?

Nessa spürte, wie Joey neben ihr von einem Bein aufs andere trat und tief Luft holte.

Ja, sagte sie.

Wo?

Die Frau ließ ihren Kugelschreiber ein- und ausschnappen, während Nessa zögerte.

Auf dem Revier im 16th District. Hier in Philadelphia. Vor ein paar Jahren.

Schwarze Flecken zerstoben in ihrem Blickfeld. Sie kniff die Augen fest zu und öffnete sie dann wieder. Jetzt würden sie das alles über Deena wieder ausgraben.

Vermuteter Grund für die aktuelle Abwesenheit?

Nessa warf Joey einen Blick zu. Meinte die das ernst?

Wie gesagt, wir glauben, dass ihr etwas zugestoßen ist. Sie würde immer ihre Tochter abholen …

Sorgerechtsstreitigkeiten?

Vom anderen Ende des Raumes kam schallendes Gelächter. Nessa und die Polizistin schauten beide rüber. Der Beamte am Schreibtisch hatte wohl einen Witz gemacht.

Ja. Oder nein. Also, es gab welche. Sie sind aber inzwischen beigelegt. Das Kind lebt bei meiner Schwester. Er hat es jedes zweite Wochenende. Das Sorgerecht ist geteilt. Er ist allerdings nicht zufrieden mit dieser Regelung.

Enge Kontaktpersonen?

Da gab es nur acht. Nessa selbst, Joey, ihr Vater, Molly, Kate, Lucas, Ronan und Tina.

In welchem Verhältnis stehen diese Personen zu der Vermissten?

Molly, erklärte Nessa, war Deenas beste Freundin, die auch angerufen hatte, als Deena nicht zur Arbeit erschienen war. Kate war Joeys Verlobte und gehörte quasi zur Familie. Die beiden waren seit der zehnten Klasse ein Paar. Lucas war Deenas Ex-Partner und der Vater ihres Kindes. Ronan war Nessas Freund, der gerade aus Irland zu Besuch gewesen war. Sie kam sich blöd dabei vor, dieses Detail zu erwähnen. Was spielte das für eine Rolle? Dann noch Tina. Nessa wusste nicht recht, wie sie sie beschreiben sollte.

Eine … Bekannte. Sie hat eine Tochter im Alter meiner Nichte.

Ich will nicht zwischen die Fronten geraten, hatte Tina einmal nachmittags zu Nessa gesagt, als sie vor ihrer Tür stand. Ugg-Boots, verwaschene Designerjeans, straff gezurrter Pferdeschwanz, riesige Sonnenbrille im Haar. Tina hatte Lucas im Sorgerechtsprozess ein glänzendes Leumundszeugnis ausgestellt. Nessa konnte sie nicht leiden.

Sie ist so eine Frau, die sich immer auf die Seite der Männer schlägt.

Zum ersten Mal sah die Polizistin ihr richtig ins Gesicht.

So ein paar Tinas kenne ich auch, sagte sie. Einen Moment lang hielt sie Nessas Blick, dann schaute sie wieder auf das Formular.

Der zuständige Detective werde sich bei ihnen melden. Das könne aber einen Tag dauern. Vielleicht auch zwei. In der Zwischenzeit würden sie die Haftanstalten auf Staats- und Bezirksebene überprüfen und die Gerichtsmedizin konsultieren. Nessa und Joey sollten die örtlichen Krankenhäuser abtelefonieren. In den meisten Fällen seien Vermisste aus freien Stücken abwesend. Und vergessen Sie nicht, auf dem Revier Bescheid zu geben, falls Deena doch noch auftaucht. Sie drehte das Formular um, damit Nessa unterschreiben konnte. Vermisstenmeldung aufgegeben von. Nessas Hand war so kalt, dass der Stift darin zitterte. Nessa Garvey. Die Polizistin setzte ihren eigenen Namen darunter: S. Hernandez.

Im Wagen warteten sie, bis das Eis an der Windschutzscheibe aufgetaut war.

Sie werden nachforschen, sagte Joey. Dann sehen sie den anderen Kram. Und dann werden sie denken, dass sie wieder durchgedreht ist und sich was angetan hat.

Ach, das ist doch Bullshit.

Ich sag ja nur. Das werden sie denken.

Auf der kurzen Fahrt zurück nach Hause schwiegen beide. Nessa hatte nicht sagen können, was sie hätte sagen müssen – was Deena für ein Mensch war, was sie ausgehalten hatte, was für eine gute Mutter sie war. Dieses verdammte Formular, das Deena auf angekreuzte Kästchen und eine psychische Erkrankung reduzierte.

Soll ich heute hier schlafen?, fragte Joey, als sie in die Parrish Street einbogen. Nessa wünschte sich mit aller Kraft, dass Licht brennen würde, dass Deena zu Hause wäre und alles nur ein großes Missverständnis.

Nein. Bleib bei Dad. Ich habe keine Ahnung, wie wir ihm das beibringen sollen.

Ich bin gleich morgen früh wieder hier, sagte Joey. Wir finden sie. Wir holen sie zurück.

Nessa öffnete die Beifahrertür und stieg aus, beugte sich dann noch einmal zurück und zog ihre Handtasche über den Sitz zu sich. Okay, sagte sie.

Dann schlug sie die Hand vor den Mund.

Scheiße, Joey, die Fische! Die sind jetzt garantiert tiefgefroren.

Joey fasste unter den Fahrersitz und hielt den Beutel ins Licht. Alle Elritzen trieben mit dem Bauch nach oben im trüben Wasser.

Komm, gib her, sagte sie. Ich vergrabe sie hinten im Garten.

Spül sie im Klo runter. Das ist einfacher.

Das bring ich nicht fertig.

Joey wartete, bis sie zur Haustür vorgegangen war, sie im Dunkeln aufgeschlossen hatte, den Schlüssel in der einen, den Beutel mit den toten Fischen in der anderen Hand, und in das leere Haus getreten war.

3

RUBY

2008

Ruby reichte der Frau am Schalter des Middle Lake Post Office einen Zettel, auf dem eine Sendungsnummer notiert war.

Na, hoffentlich heißt du Chevalier und kommst wegen diesen Vögeln.

Ich bin Ruby Chevalier. Sie konnte nicht über den Schalter schauen, hörte es aber piepsen.

Da bin ich ja froh. Wird auch Zeit. Die machen vielleicht einen Lärm.

Ruby und Lucas hatten bei einer Farm in Iowa zwanzig Küken per Post bestellt. Lauter unterschiedliche Rassen. Ruby sollte sich um sie kümmern. Die Frau kam hinter dem Schalter hervor und überreichte Ruby einen braunen Pappkarton, in den viele kreisrunde Löcher gestanzt waren.

Sie sind laut, und sie stinken. Schaffst du das allein?

Ruby hielt sich den sperrigen Karton an die Brust, sodass er leicht kippte und das Piepsen darin zum bestürzten Crescendo anschwoll.

Ja, sagte sie und schob mit dem Rücken die Tür auf. Der Pickup wartete gleich unten an der Treppe.

Klingt ja, als hätten sie es alle geschafft, sagte Lucas. Gut gemacht.

Er beugte sich rüber und strich ihr über den Kopf. Sie hatte zwar nichts weiter getan, als den Karton abzuholen, trotzdem war sie stolz.

Sie versuchte, durch eines der Löcher hineinzulinsen, aber da drinnen war es stockdunkel. Als sie den Finger in ein Loch knapp über dem Boden schob, ertastete sie einen kleinen Körper, spürte den Flaum, die seltsamen, hohlen Knochen darunter. Am liebsten hätte sie den ganzen Karton an sich gedrückt, weil sie sich so freute und es kaum erwarten konnte, eins der Küken in der Hand zu halten. Lucas zog ein Messer aus der Tasche mit seiner Angelausrüstung, die vor Ruby im Fußraum stand, und zerschnitt die gelben Plastikbänder. Sie öffnete den Deckel. Zwanzig Köpfchen, braun, goldgelb, schwarz und grau, trillerten im Chor. Ruby griff hinein und hob ein honigfarbenes Küken heraus.

Ich glaube, das ist ein Rhode Island Red, flüsterte sie.

Ich glaube, da hast du recht, flüsterte Lucas zurück.

Das nächste Küken, das sie aufhob, sah aus wie von einer Ostergrußkarte – hellgelber Flaum, der ins Weißliche überging, und pechschwarze Augen. Rubys Finger streiften einen krustigen Faden unten am Bauch.

Da ist was an ihm dran.

Lucas beugte sich zu ihr. Das ist die Nabelschnur. Nicht anfassen. Die fällt von selber ab.

In einer Ecke lag ein blaugrauer Flaumball, platt und leblos. Ruby wusste, dass das Küken tot war, aber noch ehe sie danach fragen konnte, nahm Lucas es mit einem Stück Zeitung heraus und schob es in das Seitenfach an der Fahrertür.

Denk nicht drüber nach. Das kommt vor. Jetzt bringen wir sie erstmal nach Hause.

Er legte den Gang ein.

Lucas hatte Ruby eine Anleitung geschrieben. Die Küken würden die erste Woche oben im Bad verbringen. Über der Brutkiste hatte er eine Rotlichtlampe angebracht. Sie musste immer auf 35 Grad eingestellt sein. Sogar das Wasser, das sie tranken, musste warm sein. Ruby sollte die Wassertemperatur mit dem Thermometer prüfen, es in die Kükentränke füllen, dann die Kiste öffnen und jedes Küken sofort trinken lassen. Hühnerküken verzehren den Dottersack ihres Eis und können so bis zu zweiundsiebzig Stunden nach dem Schlüpfen überleben. Aber sie können auch leicht verdursten. Das musste wohl dem blaugrauen Küken in der Kiste passiert sein. Am ersten Tag hob Ruby jedes der neunzehn Küken einzeln heraus, träufelte ihm Wasser in den Schnabel und prüfte seine Nasenlöcher.

Morgens wechselte sie die Streu, füllte die Tränke auf und verteilte das Aufzuchtfutter. Abends stahl sie sich in das von rotem Licht erfüllte Bad, um bei ihnen zu sein und ihren leisen Lauten zu lauschen. Auch als sie die Brutkiste schon nach draußen in den Stall gebracht hatten, besuchte sie sie, immer sorgsam darauf bedacht, den Stall gut zuzusperren, wenn sie wieder ging, damit ihr auch ja nichts die Küken wegnehmen konnte.

Im September waren sie zu Junghennen herangewachsen und fingen an, Eier zu legen. Jeden Morgen sprintete Ruby den Weg entlang bis vor zum Briefkasten und sah auf dem Rückweg nach Eiern. An dem Tag, als die Ameraucanas das erste Mal legten, hatte sie nichts bei sich, um die Eier zu transportieren, und so hielt sie sie mitsamt der Post, einem großen gelben Umschlag und mehreren kleineren weißen, an die Brust gedrückt. Sie rannte zum Haus zurück.

Guck mal, es gibt auch blaue! Sie streckte die Hand aus, um Lucas die kleinen Eier zu zeigen.

Gute und schlechte Nachrichten, sagte er und nahm Ruby die Briefe ab. Eier und Rechnungen. Er sah den Stapel durch. Aber mach mir die Post bloß nicht mit dem Hühnerkot dreckig.

An der Spüle zeigte Clover Ruby, wie sie die Eier säubern sollte. Sie hatte große Hände, mit knotigen Knöcheln und von der Arthritis steifen Fingern. Sie ließ das kleine Ei unter dem warmen Wasserstrahl auf der Handfläche kreiseln. Kaltes Wasser weitet die Poren, dann können Bakterien eindringen. Du musst immer warmes, fließendes Wasser nehmen. Ruby stand mit der Küchenrolle bereit. Jedes Ei musste sorgfältig trocken getupft werden, damit keine Salmonellen durch die Schale drangen.

Wo hast du das her?

Lucas hielt den großen, gelben Umschlag in die Höhe.

Aus dem Briefkasten. Ruby erstarrte. Hatte sie etwas falsch gemacht?

Wer hat das geschickt?

Weiß ich nicht. Sie hatte gar nicht darauf geachtet, es viel zu eilig gehabt, in den Hühnerstall zu kommen.

Lucas klemmte sich den Umschlag unter den Arm und stürmte aus der Küche, aber Ruby sah noch für den Bruchteil einer Sekunde, dass in dicken schwarzen Filzstiftbuchstaben ihr Name darauf stand.

Lucas und Ruby saßen am Küchentisch und übten Multiplizieren. Clover war auf dem Weg in den Garten; sie sprach gerade vom Unkrautjäten, da klopfte es an der Tür. Clover machte auf, und draußen standen zwei Frauen, beide mit Aktenmappen in der Hand. Wir kommen von der Schulbehörde, sagte die größere der beiden. Clover schwieg. Sie nahm ihre Gartenhandschuhe von der Anrichte und verschwand nach draußen.

Lucas blieb sitzen. Nehmen Sie doch Platz, sagte er und schloss mit einer Armbewegung die ganze Küche ein. Willkommen in der dritten Klasse.

Keine der Frauen folgte der Aufforderung. Die Größere deutete auf Ruby. Sie zog die Brauen zusammen, als wäre sie in Sorge, ihre Mundwinkel zeigten nach unten. Können wir uns allein unterhalten, Mr Chevalier?

Lucas sah sie ungerührt an.

Es ist ein wenig heikel, fuhr die Frau fort.

Was immer Sie über Rubys Schulbildung zu sagen haben, können Sie auch vor ihr sagen.

Die Frauen wechselten einen Blick. Dann zog die Größere sich einen Stuhl heran und setzte sich Lucas gegenüber. Sie legte die Unterarme auf den Tisch und machte sich dabei so breit, dass sie an Rubys Mathe-Arbeitsblatt stieß. Ruby schob es beiseite.

Wir haben Sie mehrfach angeschrieben, Mr Chevalier. Die Bestimmungen zur allgemeinen Schulpflicht in Vermont besagen, dass ein Kind ab dem Alter von sechs Jahren eine Schule zu besuchen hat. Sie haben bisher keinen Lehrplan für den Heimunterricht vorgelegt. Dazu sind Sie aber verpflichtet.

Lucas beugte sich vor und legte seinerseits die Unterarme auf den Tisch. Mein Stundenplan fußt auf erfahrungsbasiertem Lernen. Dafür bieten Ihre Formulare keinen Raum. Ich kann schließlich nicht vorhersehen, wann ein Gewitter oder ein anderes Wetterereignis auftritt, wann es klimatische Veränderungen gibt, wann sich am See ein Gerfalke blicken lässt und wann eine Kreischeule draußen ruft. Dann müssen wir alles stehen und liegen lassen, um das mit eigenen Augen zu sehen. Auf Ihren Formularen gibt es keinen Abschnitt, der Entdeckungen zulässt, der Ruby erlaubt, sich eigene Lernziele zu setzen, und es gibt auch keinen Abschnitt, der sich mit Langeweile befasst, damit, mit den eigenen Gedanken allein zu sein.

Als er geendet hatte, beugte sich die große Frau vor. Unsere Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass kein Kind von Bildungsmöglichkeiten ausgeschlossen bleibt, Mr Chevalier.

Beim Sprechen setzte sie die rechte Hand ein, durchschnitt damit die Luft in der Tischmitte, die Finger dicht aneinander.

Wenn wir Ihren Unterrichtsplan nicht kennen, können wir ihn weder bewerten noch bewilligen.

Ruby liest weit besser, als in ihrer Altersgruppe üblich, und das Material, das ich ihr gebe, fordert sie intellektuell heraus, das hat nichts mit den üblichen simplen Lesebüchern zu tun, die an Ihren Schulen verwendet werden. Testen Sie sie ruhig. Worin Sie wollen. Sie löst Divisions- und erste Algebra-Aufgaben, die nach Ihren Vorgaben für sehr viel ältere Kinder gedacht sind, und schafft das in der Praxis auch im Kopf, darüber hinaus weiß sie aber, wie man sein eigenes Essen anbaut, sie kann Fische ausnehmen und jede einzelne Pflanze da draußen bestimmen. Lucas deutete auf die Haustür.

Ich bin überzeugt, dass Ihre Tochter sehr intelligent ist, Mr Chevalier.

Dabei kommt ihr zugute, dass sie in diesen prägenden Jahren nicht Ihren Lehrplänen ausgesetzt war.

Ruby blickte starr auf ihr Arbeitsblatt. Sie überlegte, ob sie wohl sagen sollte, dass Lucas ein sehr guter Lehrer war.

Es geht aber doch auch um Rubys Sozialisierung. Die Möglichkeit, mit anderen Kindern ihres Alters zu spielen, Mr Chevalier. Auch das wurde uns gemeldet …

Gemeldet?, fiel Lucas ihr ins Wort. Er war jetzt wütend.

Ruby, sagte die kleinere der beiden Frauen, magst du mir vielleicht den See zeigen? Dann können dein Vater und Ms Marshall sich in Ruhe weiter unterhalten.

Lucas nickte. Geh schon, Ruby.

Auf der Treppe hörte Ruby ihn noch sagen: Diese übergriffige Schlampe. Die kleinere Frau warf ihr einen Blick zu. Sie taten beide, als hätten sie nichts gehört. Wer war die übergriffige Schlampe? Irgendwer hatte gemeldet, dass Ruby nicht zur Schule ging. Clover stand gebückt im Gemüsegarten und war mit Umgraben beschäftigt. Sie richtete sich auf und beobachtete sie, eine Hand auf den Spaten gestützt. Sie gingen über das Gras aufs Ufer zu. Die Frau sank immer wieder mit ihren hohen Absätzen ein. Wer war die übergriffige Schlampe? Clover sicher nicht. Sie hielt sich aus allem raus. Wen gab es sonst noch? In ihrer Straße wohnten nur die Pucketts, Ethan und Adelaide. Die beiden waren alt und hatten keine Kinder. Sie blieben meistens für sich und hatten nie etwas darüber gesagt, dass Ruby nicht zur Schule ging. Ihre Mutter? Das konnte Ruby sich nicht vorstellen. Sie wusste nicht, wo sich ihre Mutter aufhielt, nur, dass sie vor langer Zeit fortgegangen war. Lucas auf sie anzusprechen war immer ein Fehler. Er wurde dann sauer. Sie hat uns verlassen. Sie war nicht loyal. Sie hat uns betrogen. Sie war verkorkst.

Ich glaube, die Kitten-Heels waren heute nicht die beste Wahl.

Ruby hatte keine Ahnung, was Kitten-Heels sein sollten. Die Frau deutete auf die Berge am anderen Ufer des Sees. Was ist das?, fragte sie.

Berge? Wieso wusste die Frau das nicht?

Weißt du denn auch, was für Berge?

Ruby begriff, dass sie und Lucas getestet wurden. Sie erzählte der Frau alles, was sie über die Green Mountains wusste: dass sie sowohl zum Berkshire-Gebirge als auch zu den Appalachen gehörten, dass sie Teil einer Gebirgskette waren, die von Quebec bis nach Alabama reichte, dass der Staat ihnen seinen Namen verdankte – Vert Mont, was auf Französisch grüner Berg hieß. Dass die Abenaki dort Schutz gesucht hatten. Dann erzählte sie ihr alles, was sie über die Abenaki wusste, und dass deren Name übersetzt die Menschen vom Sonnenaufgang bedeutete.

Die Frau sagte, sie sei beeindruckt.

Soll ich Ihnen meine Hühner zeigen?, fragte Ruby.

Ein Fischer hat sechsundneunzig Lachse gefangen, hat aber nur vier Kisten, auf die er sie gleichmäßig verteilen muss. Wie viele Fische kommen in eine Kiste?

Ruby hörte gar nicht richtig hin. Ganze Meuten von Kindern liefen über den Gehweg, schleppten Hanna-Montana- oder Jonas-Brothers-Rucksäcke, hielten Lunchboxen in den Händen, kletterten aus Autos oder stiegen aus dem Bus. Alle trugen T-Shirts. Die Mädchen hatten Flechtfrisuren. Sie war völlig falsch angezogen. Clover hatte ihr zu einem Kleid geraten, war sich aber auch nicht sicher gewesen.

Ruby, konzentrier dich, mahnte Lucas, weil sie nicht antwortete.

Vierundzwanzig, sagte sie, vierundzwanzig Lachse pro Kiste.

Lucas parkte den Pickup, und sie blieben kurz sitzen, betrachteten die anderen Kinder, die draußen herumrannten und redeten, die Mädchen, die sich an den Händen hielten, während sie in das Gebäude strömten. Ruby kannte niemanden. Gern hätte sie Lucas gefragt: Und was ist, wenn mich da niemand mag? Aber das hätte er als albernen Gedanken abgetan. Es war wichtig, allein sein zu können. Sie warteten. Ruby blieb im Pickup sitzen. Für sie bestand der eigentliche Test heute darin, fremde Menschen kennenzulernen. Aber das wollte sie ihm nicht sagen.

Nutzloses Wissen?, fragte Lucas.

Ja, sagte sie.

Er überlegte kurz. Welches Säugetier kann als einziges UV-Licht sehen?

Sie wusste gleich, dass es eine Fangfrage war, denn sie hatten zusammen den Artikel in einer naturwissenschaftlichen Zeitschrift gelesen, in dem behauptet wurde, Rentiere seien die einzigen Säugetiere, die UV-Licht sehen könnten. Lucas hatte darauf hingewiesen, dass das nicht stimmte. Nicht nur eins, sagte Ruby, sondern mindestens drei: Ratten, Fledermäuse und Rentiere.

Dann wollen wir mal, sagte er, und sie stiegen aus dem Wagen. Gingen an den Fahnenstangen vorbei, die Stufen hinauf und durch die Glastüren ins Foyer der Middle Lake Elementary School. Jetzt war Ruby in der Schule. Lucas stellte sich neben sie an den Empfang. Eine Frau mit breitem Lächeln und einer Brille, die sie an einer Schnur um den Hals trug, kam ihnen entgegen.

Ich bin Direktorin Clarke. Herzlich willkommen, Ruby. Lucas stand immer noch da. Alles Weitere schaffen wir allein, Mr Chevalier. Vielen Dank.

Die Direktorin führte Ruby in ein kleines Zimmer, und bevor sie hineinging, drehte Ruby sich noch einmal um. Lucas war gegangen. Sie war auf sich gestellt. In dem Zimmer bekam sie einen Test vorgelegt, um festzustellen, in welche Klasse sie kommen sollte. Er kam ihr leicht vor. Es gab keine Fangfragen, wie Lucas sie immer stellte, damit sie auch alles sorgfältig durchlas. Als sie fertig war, schob sie die Blätter über den Tisch hin zu Direktorin Clarke, die ihr dafür ein Glas Saft und zwei Schokoladenkekse gab. Sie erklärte Ruby, sie müsse den Test jetzt auswerten, und Ruby dürfe so lange eins der Bücher aus dem Regal lesen, wenn sie wolle. Ruby trank den Saft in einem Zug leer und versteckte den Becher dann in dem Mülleimer, der in der Ecke stand. Als müsste sie alle Spuren verwischen. Lucas sagte immer, dass nicht nur der Zucker die Zähne ruiniere – die Säure im Saft fresse sich regelrecht in den Zahnschmelz. Bisher hatte Ruby kein einziges Loch.

Sie sah sich die Einbände der Bücher an und entschied sich für ein blassblaues mit einem Jungen vorne drauf, der die Arme in die Höhe reckte, während über ihm ein Falke schwebte. Damit ließ sie sich in einen Sitzsack in der Zimmerecke sinken. Der Junge hauste allein in einem hohlen Baum, in dem er sich eingerichtet hatte, weil draußen ein Schneesturm tobte. Er war in die Catskill Mountains ausgerissen und schrieb beim Licht einer selbstgemachten Kerze: dazu hatte er Wildfett in einen Schildkrötenpanzer gegossen.

Direktorin Clarke ließ ihren Bleistift sinken und nahm die Brille ab. Herzlichen Glückwunsch, Ruby, wie es aussieht, kommst du gleich in die dritte Klasse. Ruby stand auf, um das Buch zurück ins Regal zu stellen, aber die Direktorin sagte: Wenn du möchtest, kannst du es dir ausleihen und zu Hause weiterlesen.

Auf dem Gang waren die Wände mit Tonpapier und Plakaten behängt. Ausgeschnittene Großbuchstaben formten die Worte Willkommen zurück! Das Ausrufezeichen fände Lucas schrecklich. Unter Programmierenden wurde das Ausrufezeichen auch »Shriek« genannt, und Kreischen war ein Laut, den kein Mensch mochte.

Sie blieben vor einer Tür stehen, und Direktorin Clarke schaute durch ein quadratisches Fenster über Rubys Kopf. Sie klopfte ein paar Mal leicht daran, winkte jemandem zu.

Das ist die dritte Klasse von Miss Bukowski. Von nun an kommst du jeden Morgen her. Jetzt bist du keine Drückebergerin mehr.

Die Kinder in Miss Bukowskis Klassenzimmer sahen alle zu ihr hin. Ruby zählte zehn von ihnen. Die Direktorin sagte: Ich überlasse sie jetzt Ihnen, Miss Bukowski, und ging wieder auf den Gang hinaus. Miss Bukowski trug ein Kleid mit einem Wellenmuster in Türkis und Grün, das ihr fast bis zu den Knöcheln reichte. Dazu hohe Converse-Sneakers. Sie hatte langes, braunes Haar mit blonden Strähnchen, und sie lächelte. Ein gutes Lächeln.

Hört mal alle her, sagte sie. Das ist Ruby Chevalier, sie kommt zu uns in die dritte Klasse. Die ganze Klasse rief: Hallo, Ruby, und winkte ihr zur Begrüßung zu. Ruby hob ebenfalls die Hand und winkte ganz leicht zurück. Es waren fünf Jungen und fünf Mädchen. Sie würde das Gleichgewicht stören. Alle starrten sie an. Ruby starrte zurück. Niemand sagte etwas, bis einer der Jungs Jetzt wird’s peinlich sagte und die anderen Miss Bukowski anschauten. Ruby musste lachen. Sie konnte nicht anders, die anderen lachten mit, und sie lachte noch lauter, von Erleichterung durchströmt. Auch Miss Bukowski fand es lustig. Dann hörte sie auf zu lachen und sagte: Okay, Ruby, dann fangen wir mal an. Du setzt dich neben Nathalie. Sie zeigte auf ein Mädchen mit langen dunklen Haaren und Brille. Das Mädchen hatte ein Tuch um den Kopf gebunden, darunter schauten Zöpfchen hervor, in die Perlen hineingeflochten waren. So etwas hatte Ruby schon mal gesehen, konnte sich aber nicht mehr erinnern, wo genau. Sie setzte sich an das freie Pult. Auf dem Boden stand Nathalies Schultasche, und darauf war ein Pirat zu sehen, der genau so ein Tuch um den Kopf trug wie sie. Da fiel es Ruby wieder ein. Sie hatte das Bild schon tausend Mal gesehen, in den Läden, auf Notizbüchern, Lunchboxen, T-Shirts. Es war überall. Fluch der Karibik. Ruby wusste nicht, was sie davon halten sollte. Lucas würde das Mädchen für völlig bekloppt erklären. Sie rang sich ein Lächeln ab. Nathalie wartete, bis Miss Bukowski der Klasse den Rücken zudrehte, dann beugte sie sich herüber, die Augen riesig hinter den Brillengläsern, und flüsterte: Dein Name ist toll. Ruby Chevalier. Klingt voll nach Korsar.

Während Clover das Abendessen machte, griff Ruby nach dem Lexikon, denn sie war heute mit gleich zwei Wörtern bezeichnet worden, von denen sie nicht wusste, was sie bedeuteten. Drückeberger, erklärte ihr das Lexikon, hieß, dass jemand seine Pflichten vernachlässigte, beispielsweise nicht zur Arbeit oder zur Schule ging. Eine andere, veraltete Bezeichnung lautete Tagedieb. Sie schlug es nach. Müßiggänger, Nichtstuer stand da, und als Beispiel »ein fauler, unnützer Tagedieb«. Ein nutzloser, unglücklicher Mensch. Ihre Wangen brannten, und sie brauchte einen Moment, um den Mut aufzubringen, das zweite Wort nachzuschlagen. Korsar.

Sie war als Piratin bezeichnet worden, als Freibeuterin. Als Abenteurerin.

4

RUBY

2008

Warum ist deine Mom so alt?, fragte einer von den Jungs Ruby auf dem Schulhof, die Ellbogen weit abgespreizt, die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Jeans gehakt, als ob er Streit suchte.

Ruby war noch damit beschäftigt, überhaupt die Frage zu verstehen, da hatte Nathalie schon für sie geantwortet.

Das ist ihre Oma, du Dödel.

Der Junge klappte den Mund auf wie ein Fisch. Ooooh, machte er, als hätte sich gerade ein großes Rätsel geklärt.

Ruby war es nie in den Sinn gekommen, dass irgendjemand Clover für ihre Mutter halten könnte.

Nach Schulschluss, wenn alle zu den Kleinwagen, SUVs oder Pickups ihrer Mütter oder Väter stürmten, rutschte Ruby auf den Beifahrersitz von Clovers blauem Pontiac Bonneville, Baujahr 1975. Clover nannte den Wagen ihr blaues Boot. Drinnen roch es nach Zigarettenqualm, Clovers Jergens-Handcreme und Duftbaum. Clover und ihr Wagen waren überall bekannt, weil sie nie schneller als dreißig fuhr und auf den Inseln überall parkte, wo es ihr gerade passte, quer vor drei Einfahrten etwa oder direkt vor der Post, wo sie eine ganze Fahrspur blockierte, anstatt auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude.

Lucas nannte den Pontiac einen Benzinfresser und einen Schandfleck. Wenn er einmal so fuhr wie sie, parkte, wo er wollte, und Vorschriften missachtete, bekam er von Ruby zu hören, was er sonst immer sagte: ein echtes Clover-Manöver. Dann lachte er; er liebte es, wenn sie seine Äußerungen wiederholte. Jeden Samstag schlurfte Clover morgens mit einer Flasche Fensterreiniger und Zeitungspapier nach draußen, um die Scheiben ihres blauen Boots zu säubern, den Aschenbecher zu leeren und die Sitze und Bodenmatten mit einer Polsterbürste zu bearbeiten. Dann zwinkerte Lucas Ruby zu, und Ruby zwinkerte zurück.

Wie kann der Dödel deine Oma für deine Mom halten?

Nathalie war ihr Schatten geworden. Jedes Mal, wenn Ruby sich umsah, fand sie Nathalie in ihrer unmittelbaren Nähe. Beim Mittagessen stand sie hinter ihr in der Schlange, in der Pause wich sie ihr nicht von der Seite. Jeden Tag ging das so. Ruby hatte noch nie so viel Zeit mit einem anderen Menschen verbracht. Und Nathalie redete ununterbrochen. Ohne Punkt und Komma plapperte sie über alles, schüttelte den Kopf, dass die Perlen in ihren Zöpfchen gegeneinander klackerten. Miss Bukowski brauchte sich gar nicht mehr umzudrehen, wenn sie etwas an die Tafel schrieb. Sie sagte nur mit warnender Stimme: Nathalie … Ruby kam der Gedanke, dass das Pult neben Nathalie womöglich aus Gründen frei geblieben war. Als sie Lucas erzählte, dass Nathalie ständig an ihr klebte, verglich er sie mit einem Neunauge, einem vampirischen Fisch, der sich an anderen Fischen festbiss und alles aus ihnen heraussaugte. Danach erwähnte sie Nathalie vor ihm nicht mehr. Ihre Hingabe verwirrte sie nicht länger. Nathalie war ihre beste Freundin.

Ruby erzählte Nathalie vom Leben am See, wie sie Fische ausnahm, ein Boot steuerte. Nathalie lauschte andächtig. Sie war zwar selbst Vegetarierin, aber jede Art von Abenteuer stand bei ihr hoch im Kurs, erst recht, wenn es auf dem Wasser stattfand und irgendwas mit Piraten zu tun hatte. Täglich schmiedete sie Pläne und redete über die Zukunft: was sie machen würden, wenn es schneite, was sie nächsten Sommer machen würden, was sie später mal werden würden. Ruby hatte sie so gern, als hätten sie sich immer schon gekannt.

Nathalie stellte ihr Fragen, über die sie noch nie nachgedacht hatte.

Warum sagst du Lucas zu deinem Vater und nicht Dad?

Das konnte Ruby nicht beantworten. Vielleicht hatte Lucas ja versucht, sie dazu zu bringen, Dad zu sagen, aber alle, mit denen sie sonst zu tun hatten, nannten ihn Lucas. Mit Clover war es genauso.

Vielleicht, weil ich ein Einzelkind bin?