Licht zwischen den Bäumen - Una Mannion - E-Book

Licht zwischen den Bäumen E-Book

Una Mannion

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Beschreibung

Am liebsten würde die vierzehnjährige Libby Gallagher den Sommer wie immer mit ihrer Freundin Sage verbringen. In ihrem heimlichen Königreich im Wald lauwarmes Bier trinken, reden und Menthol-Zigaretten rauchen. Doch diese Ferien fangen gar nicht gut an. Auf der Fahrt von der Schule nach Hause herrscht im Auto dicke Luft. Die fünf Geschwister liegen sich in den Haaren, und Libbys kleinere Schwester Ellen bringt die Mutter zur Weißglut. So sehr, dass sie am Straßenrand anhält und ihre Tochter auffordert, auszusteigen. Sollen die anderen Geschwister protestieren wie sie wollen, die Mutter legt den Gang ein und tritt aufs Gaspedal. Im schwindenden Tageslicht, im dunklen Schatten der Bäume bleibt die zwölfjährige Ellen zurück. Die Entscheidung eines Augenblicks, die alles verändert. Licht zwischen den Bäumen ist das bewegende Porträt einer zerrissenen Familie und literarischer Thriller. Ein Roman über Loyalität und Liebe, Scham und Schuld und den bitteren Geschmack wohlmeinenden Verrats.

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UNA MANNION

LICHT ZWISCHEN DEN BÄUMEN

Aus dem Englischen von Tanja Handels

Roman

Steidl

Für meine Mutter

1

An dem Abend, als wir Ellen am Straßenrand zurückließen, fuhren wir die 252 in nördlicher Richtung entlang, ungefähr dort, wo sie auf die 202 trifft und den Pennsylvania Turnpike überquert. Im Westen offene Felder, endlose Weiten aus goldenem Präriegras und Seidenpflanzen, durch die der letzte Streifen Sonne sein splitterndes Licht schickte. Im Osten King of Prussia – graue Industriegelände in der Abenddämmerung, Betonmischer, Kräne und ein Labyrinth aus Fern- und Schnellstraßen. Irgendwo da drüben lag, wie ein abgetrennter Körperteil, auch die Blue Route, die Interstate 476, 1967 begonnen, aber vierzehn Jahre später noch immer nicht fertig: am Ende der Asphaltdecke plötzlich Bäume und hohes Gras – weiter hatte das Geld nicht gereicht. Jugendliche ließen sich dort das Autofahren beibringen oder feierten bis spät in die Nacht. Bei uns hieß sie nur die Straße ins Nichts. So fuhren wir. Die ersten Autos schalteten ihre Scheinwerfer ein, die Anhöhen von Valley Forge direkt vor uns waren nur noch Schatten, die Bäume verwandelten sich in dunkle Umrisse.

Wir waren zu sechst im Auto, Marie saß vorn auf dem Beifahrersitz, Ellen zwischen mir und Thomas auf der Rückbank, und hintendrin, zwischen unseren Taschen und den gesammelten Arbeitsmappen des kompletten Schuljahrs, lag Beatrice. Es war der letzte Schultag, die Sommerferien hatten offiziell begonnen. Unsere Mutter fuhr. Ruppig. Sie trat auf die Bremse, beschleunigte, ließ den Motor im ersten Gang aufheulen und schaltete dann erst hoch. Sie war wütend. Das schreckliche Geruckel des Wagens sprach Bände, und außerdem konnte ich von meinem Platz hinter ihr sehen, wie ihr Kiefer unter der Haut mahlte und zuckte, obwohl sie gar nichts sagte. Ellen und sie hatten gestritten, weil Ellen ihr mit einem Kunstcamp in den Ohren lag, in das sie unbedingt wollte.

»Ich habe nein gesagt.« Die Kinder einfach mit Broschüren im Schulranzen nach Hause zu schicken, grenzte für unsere Mutter an Erpressung. Es machte sie zornig. »Ich habe so schon genug um die Ohren.«

Mir graute vor dem Sommer, der vor uns lag.

Ich drückte die Stirn an die Scheibe und sah hinüber zu dem letzten Faden Sonnenlicht. Sage war jetzt schon bei der Arbeit in der Mall, wo sie im Diner des J.C. Penney kellnerte. Während der Ferien hatte sie dort eine Vollzeitstelle. Es gab kaum einen Sommer, den ich nicht mit ihr verbracht hatte. Vielleicht sollte ich die Unterschrift meiner Mutter fälschen, um an eine Arbeitserlaubnis zu kommen. Mit fünfzehn hätte ich zwar offiziell arbeiten dürfen, aber mir war klar, dass sie mir das nie erlauben würde, weil sie mich brauchte, um auf die Kleinen aufzupassen, während sie im Krankenhaus war. Sie arbeitete am Empfang der Notaufnahme im Paoli Memorial Hospital. Sage meinte, ich solle doch froh sein. Sie beklagte sich ständig über ihre Kolleginnen, die Stützstrümpfe und Gesundheitsschuhe trugen und den Kaffee für andere alte Schachteln verschütteten, die ihrerseits um sieben Uhr morgens ihre Spiegeleier auf Toast mit Parfümpröbchen besprühten. Aber ich beneidete sie trotzdem um ihren richtigen Job mit Stammgästen und Trinkgeld und Zechprellern, beneidete sie um die Geschichten, die sie zu erzählen hatte. Eine Kundin um die neunzig trank jeden Morgen die Kaffeesahne direkt aus dem weißen Porzellankännchen, das auf der Theke stand, und hinterließ einen verschmierten, leuchtend orangefarbenen Lippenstiftabdruck darauf. Mir ging es weder um das Geld noch um die Arbeit – ich war ja jeden Freitagabend zum Babysitten bei den Bouchers. Aber ich hatte Angst vor den vielen einsamen Tagen, die vor mir lagen.

Rechts neben Ellen sagte Thomas flüsternd das Periodensystem auf. »Holmium, Hafnium, Erbium …«

»Lass es«, sagte sie.

»… Phosphor, Franzium, Fluor, Terbium.«

»Sei still. Sei einfach still!« Ellen ließ den Kopf auf die Knie sinken und schlang die verschränkten Arme um die Schienbeine. Sie weinte. Ein pochender Schmerz, der in meinem Nacken begonnen hatte, war über den Schädel bis zur Stirn gewandert. Wenn sie doch beide still wären!

»Du nervst uns alle, Thomas«, sagte ich. »Lass es einfach.«

»Habt ihr gewusst, dass Tränen Glukose, Natrium und Kalium enthalten?«

»Halt’s Maul, du blöder Wissenschaftsfreak!« Ellen trat ihm zwei Mal mit der Ferse gegen das Schienbein und ruckelte dabei am Fahrersitz, an dem sie sich festgehalten hatte.

»Schluss jetzt, sofort! Wollt ihr, dass ich einen Unfall baue?« Unsere Mutter war fuchsteufelswild.

»Außerdem enthalten Tränen ein natürliches Schmerzmittel, Enkephalin«, murmelte Thomas. »Hinterher geht’s dir also sicher besser.«

»Er soll aufhören!« Ellens Stimme klang dumpf.

Ihr Gejammer und sein Gemurmel weckten den Drang in mir, ihm oder sonst wem eine zu kleben. Ellen hatte den Kopf wieder auf den Knien. Ich reckte mich über sie hinweg und bohrte ihm unsanft die Fingerknöchel in die Schulter.

»Sei still, Thomas. Was weißt du schon von Tränen?«

Noch während ich es aussprach, wünschte ich mir schon, ich hätte es nicht getan, denn irgendwas stimmte ja nicht mit ihm, schließlich hatte er, trotz allem, was uns passiert war, nie geweint, hatte sich einfach nur in sein Zimmer und in sich selbst zurückgezogen. Wenn er Ellen ärgerte, war er wenigstens wieder ein bisschen der alte Thomas.

Er erwiderte nichts, drehte sich nur zum Fenster. Lieber wäre mir gewesen, er wäre richtig wütend geworden. Ich wollte es wiedergutmachen, und zum Glück fiel mir ein Witz ein. »Hey, Thomas, was ist ein Chemiker, der sich nichts sagen lassen will?«

Er drehte sich zu mir, sah mich abwartend an. »Was?«

»BOR-niert.«

»Sehr witzig, Libby, aber du weißt ja gar nicht, was Bor ist. Du hast mich gerade zum Element einer Supernova erklärt und damit für nicht von dieser Welt.«

»Jetzt hört ihr alle aber mal auf«, sagte Marie und drehte sich auf ihrem Sitz zu uns herum. Ihr Haar war auf der einen Seite schwarz gefärbt und stand stachlig ab wie bei Siouxsie Sioux. Kurz vor der Abschlussmesse an der Schule hatte sie sich die Wange durchstechen lassen und sich die andere Kopfseite kahl rasiert, dort wuchs das Haar jetzt in blonden Stoppeln nach. Thomas und ich waren sofort still. Marie war fast achtzehn, nur ein Jahr älter als Thomas, aber wir hörten auf sie, vor allem, seit sie angefangen hatte, die Rockplatten zu verschenken, aus denen sie sich nichts mehr machte. Mir hatte sie Who’s Next? aufs Kopfkissen gelegt, nachdem ich einmal zu Hause geblieben war, um auf Beatrice aufzupassen, während sie sich zu einer Party fortschlich, und Thomas hatte Quadrophenia bekommen, weil er Klassenbester geworden war. Jetzt waren wir beide scharf auf Tommy. Thomas fand, die Platte stehe ihm zu, schon wegen des Namens und so. Ich verkniff mir den Hinweis auf weitere Ähnlichkeiten, den toten Vater, die Mutter mit dem heimlichen Liebhaber, das Verbot, über diese Dinge zu reden. Wir beide hatten ja nicht mal einen Plattenspieler. Marie besaß einen tragbaren, den wir alle benutzten.

Draußen, wo der Wald in die Felder überging, säumten Hartriegelbüsche das Unterholz, und sogar im schwindenden Licht sah ich, dass sie all ihre Blüten verloren hatten. Cornus Florida. Ovale Blätter mit ausgeprägten Adern, die sich entlang der sanft gewellten Ränder zur Spitze hin biegen. Kugelige Blüten, von weißen Hochblättern umringt, die viele fälschlich für die Blüten halten. Am letzten Weihnachten vor seinem Tod hatte unser Vater mir das Brevier der Bäume Nordamerikas geschenkt. Ich hatte das Buch immer und immer wieder gelesen, mir so viel über die einzelnen Bäume eingeprägt, wie ich nur konnte. Auch ein Baum-Notizbuch hatte ich mir angelegt, in das ich alle Bäume eintrug, die ich sah, sie bestimmte und zu den verschiedenen Jahreszeiten beschrieb; ich zeichnete sie, pauste ihre Rinde ab, trocknete ihre Blüten.

Das Geschenk kam in einem großen Päckchen, aufgegeben in New York, wo er damals lebte und für seinen Cousin arbeitete, der wie er aus Irland eingewandert war. Er hatte für jeden von uns eine persönliche Karte ausgesucht. Meine zeigte einen Fichtenwald, und ganz vorne stand ein einzelner Baum mit einem Stern auf der Spitze. Dads Handschrift war klein und ungelenk, als wäre er es nicht gewohnt, Karten zu schreiben, was wahrscheinlich auch so war.

Für Libby, die immer unter Bäumen ist. Frohe Weihnachten! Alles Liebe, Dad

Ich kann gar nicht sagen, ob ich so viel Zeit mit Bäumen verbracht habe, weil ich sie liebte, oder weil es ihn so freute, dass ich sie liebte, das kann ich nicht voneinander trennen. Als ich vielleicht sechs war, und er noch hin und wieder bei uns wohnte, kam ich nach einem Tag im Wald abends immer barfuß und verdreckt nach Hause. Einmal setzte er mich auf die Waschmaschine, drehte den Wasserhahn am Becken daneben auf und wusch mir die Füße. Er schäumte sie mit Seife ein, schrubbte sie und bearbeitete meine Fersen, wo sich der Schmutz tief in die Hornhaut gegraben hatte, mit der Nagelbürste.

»Im Wald gibt’s Mokassinschlangen, Libby – du musst dir Turnschuhe anziehen. Du kannst nicht immer barfuß herumlaufen.« Meine Schienbeine waren mit rissigem Schorf verziert, weil ich auf Bäume geklettert und im Dickicht aus Lorbeer- und Rhododendronbüschen herumgekrochen war.

Er nahm meine Hand und führte meinen Zeigefinger über eine besonders dicke Kruste.

»Fühl mal! Du wirst schon ein richtiger Baum. Deine Beine entwickeln Rinde.«

Der furchige Schorf war dunkel und erhaben. Ich ertastete seine Form und Beschaffenheit, ließ die Hände an beiden Schienbeinen hinaufwandern, strich über die Krusten.

»Stimmt«, sagte ich und sah glücklich zu ihm auf, und er lachte und trocknete mir sorgsam Beine und Füße ab, auch zwischen den Zehen. Dann zog er mir Strümpfe über die sauberen Füße.

»Jetzt kannst du rauf zu Ihrer Ladyschaft, ohne Ärger zu kriegen. Und halt gefälligst deine Füße sauber!« Aber ich wusste, er liebte meine dreckigen Füße.

An seinem letzten Weihnachten hatte er für uns alle ein Buch ausgesucht. Noch heute stelle ich ihn mir vor, wie er dort in dem New Yorker Buchladen steht und die Bücher aussucht, die uns gefallen könnten, die Karten auswählt und das Geschenkpapier, und wie er die Geschenke dann schließlich einpackt: das Papier faltet, den Tesafilm abreißt und Schleifen bindet, mit seinen dicken Fingern, die sich eher dafür eignen, Maschinen zu bedienen und Betonblöcke zu schleppen. Für Marie hatte er den zweiten Band von Rock On! gekauft, einem illustrierten Lexikon der Rockmusik. Ich brachte Stunden damit zu, mir die Bilder darin anzusehen. Es deckte die Jahre 1964-1978 ab und damit praktisch alle meine Lieblingsbands. Thomas bekam Sterne und Planeten: Die Geheimnisse des Nachthimmels, das er auch weiterhin im Geschenkpapier eingeschlagen ließ – keine von uns durfte es auch nur berühren. Ellens Buch handelte von Kunstgeschichte und war mit einem Aquarellkasten und Pinseln versehen; für Beatrice hatte er ein Buch über die verschiedenen Hunderassen mit Aufklebern besorgt. Mir schoss auf einmal die Frage durch den Kopf, ob er an der Kasse wohl erzählt hatte, dass die Bücher für seine Kinder waren. Ich stellte mir vor, wie er mit seiner Tüte voller Geschenke in der U-Bahn zurück in die Bronx saß, zwischen all den anderen Weihnachtseinkäufern, und plötzlich war mir dort im Auto, als bekäme ich keine Luft mehr. Wenn ich ihm bloß erzählen könnte, dass jedes dieser Bücher inzwischen für uns stand, dass wir das Bild, das er jeweils von uns hatte, nicht mehr abstreifen konnten, nicht aufhören konnten, ihm zu entsprechen.

Neben mir saß Ellen immer noch vorgebeugt, die Knubbel ihres knochigen Rückgrats zeichneten sich unter dem Oberteil ihrer Schuluniform ab. »Was für ein spilleriges Dingelchen«, hatte Tante Rosie über sie gesagt, als sie zur Beisetzung unseres Vaters aus Irland gekommen war. Sie schickte uns Lebensmittelpakete und zu Weihnachten eine Flasche Sherry, um Ellens Appetit anzuregen; sie »gedeihe« nicht gut, meinte sie, ein Ausdruck, über den wir alle lachen mussten, weil es klang, als spräche sie über ein Stück Vieh auf dem Bauernhof. Aber sie hatte natürlich recht, Ellen war schmächtig. Mit ihren zwölf Jahren maß sie gerade einmal einen Meter zwanzig und wog keine dreißig Kilo. Sie sah so schmal und unglücklich aus, und ich wollte ihr den Rücken tätscheln.

»Lass mich«, knurrte sie, versuchte, mich abzuwehren und ruckelte dabei wieder am Fahrersitz.

Mom machte einen Schlenker Richtung Böschung und fuhr dann wieder zurück auf die Fahrbahn, bauschte die Heftigkeit von Ellens Geruckel an ihrer Rückenlehne künstlich auf. »Damit bringst du uns noch alle um! Ist dir das klar? Es reicht jetzt wirklich. Wenn wir zu Hause sind, kannst du erstmal unten staubsaugen und die Wäsche zusammenlegen.«

»Nein, mach ich nicht«, gab Ellen zurück. »Beatrice kann zur Abwechslung auch mal was tun.«

»Halt Beatrice da raus.« Ich sah Moms dicken Haarknoten, ein Auge im Rückspiegel, mit dem sie Ellen musterte.

»Schon gut. Klar kann ich das machen.« Beatrice beugte sich von ganz hinten vor, voller Sorge, sie könnte irgendwie schuld an dem sein, was da gerade passierte.

»Danke, Beatrice. Wenn Ellen nur auch mal so nett zu anderen wäre.«

»Du hasst uns doch sowieso alle, nur sie hast du lieb. Und deinen fetten Freund.« Ellen überspannte den Bogen. Ich stieß sie in die Seite, damit sie den Mund hielt.

»Noch ein Wort, und du kannst zu Fuß gehen.«

»Ist doch wahr. Du hasst uns!« Ellen brüllte jetzt. »Dad hast du auch gehasst, und ich hasse dich!«

Bei der Erwähnung unseres Vaters blieb uns allen die Luft weg. Vor unserer Mutter sprachen wir nie über ihn. Das Auto kam schlitternd auf dem Seitenstreifen zum Stehen, genau an der Stelle, wo die 252 über den Turnpike führt.

»Raus. Steig aus.« Mom sagte es mit ihrer leisen Stimme, woran wir merkten, dass sie es ernst meinte. Ellen griff über Thomas hinweg, öffnete die Autotür und kletterte hinaus.

»Du kannst sie hier doch nicht einfach raussetzen«, sagte Marie. »Es wird schon dunkel. Ich gehe mit.« Sie griff nach ihrer Schultasche, die vorne im Fußraum stand.

»Das wirst du schön bleiben lassen.«

»Warte mal«, sagte Thomas. Er sah erschrocken aus, machte sich Vorwürfe wegen seiner Sticheleien. Ellen stand auf dem Kiesstreifen am Rand der Überführung, in Schulkleid, Polohemd und Kniestrümpfen. Marie hatte die Beifahrertür schon halb offen, aber unsere Mutter legte den Gang ein und trat aufs Gas.

Ich schaute zurück. Ellen stand von uns abgewandt, sie blickte über das Brückengeländer nach unten, wo die Autoschlangen auf den Turnpike drängten.

»Mom, mach das nicht. Bitte!«, sagte Thomas, aber sie reagierte nicht. Wir sausten die 252 entlang bis zum Nationalpark und bogen dann nach links ab, Richtung Valley Forge Mountain, wo wir wohnten. Vor uns war die Sonne hinter den Feldern verschwunden.

»Du kannst sie nicht einfach da stehen lassen. Es ist dunkel«, sagte Marie.

Wir waren noch mindestens acht oder neun Kilometer von zu Hause weg. Ich hatte nichts gesagt, um unsere Mutter aufzuhalten. Wir rasten die Straße entlang, über die Brücke mit dem Dach hinweg, vorbei an Äckern und Zäunen. Meine Mutter fuhr weiter und neben uns flossen die Schatten der Hartriegelbüsche im Dunkeln ineinander, jeder Strauch umgeben von einem weißen Heiligenschein aus herabgefallenen Hochblättern.

2

Valley Forge war vor allem dafür bekannt, dass George Washington, zusammen mit den zwölftausend Soldaten seiner Kontinentalarmee, einen Winter hier verbracht und in improvisierten Holzhütten ums nackte Überleben gekämpft hatte. Die Soldaten waren unterernährt, zerlumpt und barfuß gewesen. Mehr als zweitausend starben an Unterkühlung, an Krankheiten oder Verletzungen, weitere dreitausend wurden dienstuntauglich. In der neunten Klasse hatte unsere Geschichtslehrerin, Miss Esposito, uns erklärt, Valley Forge sei der Wendepunkt des Unabhängigkeitskriegs gewesen, ein Symbol für den revolutionären Geist und das amerikanische Selbstverständnis. Ich war die Einzige in der Klasse, die tatsächlich dort lebte. Wenn ich durch die Wälder am Berg streifte, dachte ich an die halb erforenen Männer, die hier heraufgekommen waren, um ganze Stämme oder abgebrochene Äste hinunter ins Lager zu schleifen, an die Männer, die sich als Deserteure zwischen die Bäume geflüchtet hatten, oder an die, die vielleicht gerade noch hierher gekrochen waren, um sich zum Sterben hinzulegen. Einige waren nicht einmal Männer gewesen, sondern Jungen, so alt wie Thomas.

Das Armeelazarett lag in Yellow Springs, auf der anderen Seite des Bergs, die Kranken und Sterbenden mussten also durch unsere Wälder gekommen sein, wenn sie vom Lager dorthin wollten, über diese Wege. Kranke Männer, die ohne Schuhe durch den Schnee stapften, durch dieselben Wälder wie ich gingen oder getragen wurden. Was hatten sie von der Krankenbahre aus gesehen, wenn sie nach oben schauten, im Winter, ohne Blätterdach? Nichts als schwarze, nackte Äste vor einem grauen Himmel, dazu der Gedanke, dass sie diese Welt vielleicht gerade zum letzten Mal sahen und die Sonne es nicht für nötig hielt, sich zu zeigen. Vielleicht hatten sie nicht einmal Bäume gesehen; irgendwo hatte ich gelesen, dass die Soldaten fast alles abgeholzt hatten, um es warm zu haben und ihre Hütten zu bauen.

Der Valley Forge Mountain war weniger ein Berg als ein Hügel. Wenn man die Abkürzung durch den Wald nahm, war Washingtons Hauptquartier keine drei Kilometer von unserem Haus entfernt. In den Fünfzigerjahren war der Berg zum Wohngebiet umgewidmet worden, der Wald allerdings blieb als Teil des Nationalparks erhalten. Hinter unserem Haus führte der Horseshoe Trail entlang, ein Wander- und Reitweg, der im Nationalpark begann und dann über zweihundert Kilometer weiterging, bis er in Harrisburg auf den Appalachian Trail traf.

Der Weg zerschnitt den Berg in zwei Verwaltungsbezirke: Tredyffrin, wo Sage wohnte, und Schuylkill auf unserer Seite. Sages Teil des Bergs wirkte damals wohlhabender – die Häuser waren größer und besser in Schuss. Die größte Ortschaft in Schuylkill war Phoenixville, ein altes Eisen- und Stahlarbeiterstädtchen am Fuß des Bergs. Im Lauf unserer Kindheit wurden die Stahlwerke verkleinert, bauten Personal ab, schlossen. Phoenixville litt. Marie meinte, die Stadt hänge in einer Zeitschleife fest: Die Achtziger hatten begonnen, aber in Phoenixville herrschten immer noch die Sechziger und für junge Leute gab es kaum Perspektiven dort. Kinder, die am Berg wohnten und aus Schuylkill kamen, gingen auf die Phoenixville High School und die aus Tredyffrin auf die Conestoga, eine der besten staatlichen Schulen in ganz Pennsylvania. Wir besuchten keine von beiden. Wir gingen auf katholische Schulen, die näher an Philadelphia lagen.

Ich verbrachte meine Zeit am Berg meistens damit, durch die Wälder zu streifen oder zu Washingtons Hauptquartier hinunterzuwandern. Thomas und ich hatten auch mal versucht, im Schuylkill River zu angeln, der gleich daneben entlangfloss. Er meinte, wir könnten vielleicht Welse oder Barsche erwischen. Aber wir fingen nie etwas, am Flussufer roch es nach Abwasser und an den seichteren Stellen sahen wir Radkappen, kaputte Toaster und anderen Müll herumliegen. Oben am Berg, abseits des Weges, konnte man im Wald noch die Überreste alter Steinbrüche ausmachen, und am Ende unserer Straße, knapp einen halben Kilometer entfernt, lag eine tiefe Schlucht, die einmal zu einer Quarzmine gehört hatte. Dort wurden Quarz-Erze abgebaut und irgendwo zu Sand verarbeitet. Überall am Berg fand sich Quarz – riesige glitzernde Steine, die einfach so auf der Erde lagen, oder schimmernde Quarzkanten, die aus dem Boden ragten, als würden sie dort wachsen. Dad hatte mir erzählt, im prähistorischen Irland habe der Quarz als heiliger Stein gegolten und sei mit den sterblichen Überresten der Toten begraben worden.

Nachdem wir Ellen an der Straße zurückgelassen hatten, fuhren wir schweigend den Berg hinauf. Ich sah, wie das Scheinwerferlicht des Wagens auf die Bäume traf, wenn wir um eine Kurve bogen. Jedes Mal, wenn unsere Mutter runterschaltete und langsamer wurde, hoffte ich, sie würde sich besinnen, würde wenden, zurückfahren und Ellen von der Straße holen, und keiner von uns würde mehr wütend sein, weil wir alle so dankbar wären, sie wieder sicher bei uns im Auto zu haben. Aber wir fuhren weiter. Beatrice hintendrin war die Einzige, die etwas sagte.

»Da sind keine Straßenlaternen. Wie soll sie denn nach Hause finden?« Niemand gab eine Antwort.

Wir hielten in unserer Einfahrt, und Marie stieg aus, um das Garagentor zu öffnen. Auf der anderen Straßenseite hatten die Walkers ihre Gartenbeleuchtung eingeschaltet; in ihrem Licht sah ich das wuchernde Gras unseres Vorgartens, kniehoch und ganz verwildert. Alles fühlte sich falsch an. Das Haus, das ungemähte Gras, Ellen draußen auf der Straße, Dad nicht mehr da. Vor ein paar Monaten hatte Mr Walker uns einen Brief geschrieben, eine kaum verhohlene Beschwerde darüber, wie unser Haus aussah. Außen auf der Karte stand Von Herzen, innen sprach er uns sein Beileid aus für alles, was wir im vergangenen Jahr durchgemacht hätten, er habe viel an uns gedacht. Seine Frau Minnie und er hätten für uns gebetet, schrieb er und schloss mit den Worten: »Wir haben uns überlegt, es könnte Ihre Last vielleicht ein wenig lindern, wenn Sie diesen Sommer jemanden hätten, der Ihren Rasen mäht und kleinere Instandhaltungsarbeiten für Sie erledigt. Soviel ich weiß, ist einer der De Martino-Söhne gerade auf der Suche nach genau dieser Art von Arbeit. Geben Sie uns doch Bescheid, wenn wir Ihnen irgendwie behilflich sein können.« Unterschrieben hatte er mit: »Ihr Nachbar und Freund, Harry Walker«.

Marie hatte gedroht, ihn höchstpersönlich aufzusuchen. »Ich werde ihn ganz direkt fragen: Wenn er so ein toller Christ ist und sich solche Sorgen wegen unserem hohen Gras macht, warum kommt er dann nicht selbst rüber, schwingt seinen fetten Elmer-Fudd-Hintern auf den Echtledersitz von seinem verdammten Rasentraktor-Cadillac und mäht für uns?«

Wir mussten alle lachen, sogar unsere Mutter. Mit seinen knallbunten, gestärkten Karohemden und den viel zu hoch sitzenden Freizeithosen sah Mr Walker tatsächlich ein bisschen aus wie Elmer Fudd. Marie parodierte Minnie Walker im Die Frauen von Stepford-Stil. Sie drehte sich altmodische Lockenwickler in die Haare, stopfte sich Fußbälle unter den Pullover, so dass sie fast vornüber kippte, band sich eine bodenlange Schürze um und bemalte sich den Mund mit knallrotem Lippenstift, weit über die Konturen hinaus. So trug sie dann ein unsichtbares Tablett mit einem Glas Limonade durch unser Wohnzimmer: »Ach, liebster Harry Walker, ich bin ja so beschäftigt mit meiner christlichen Nächstenliebe und meiner Barmherzigkeit, dass ich fast vergessen hätte, dir deine Erfrischung zu servieren. Du bist doch sicher ganz müde davon, dir den Arsch platt zu sitzen und die paar Grashalme zu mähen. Und wie aufreibend es doch für dich sein muss, mein armer Harry, die ganze Zeit auf dieses schändliche Haus und diese schändlichen Leute gegenüber zu schauen.« Sie brachte uns alle hemmungslos zum Lachen. Thomas lachte so sehr, dass er gar keinen Ton mehr herausbekam. Ich wusste, ihn belastete das mit dem Gras am meisten, weil er das Gefühl hatte, eigentlich für das Mähen zuständig zu sein. Aber wir besaßen keinen Rasenmäher und hatten auch die anderen Geräte unseres Vaters nie von seinem Cousin aus der Bronx zurückbekommen. Wir hatten ihn nie danach gefragt, und von sich aus hatte er auch nichts gesagt. Wir hatten überhaupt nichts von Dad zurückbekommen, nur den Transporter, den Mom dann verkauft hatte, und seine Leiche. Ich fragte mich, was wohl aus den vielen Karten und Geschenken geworden war, die wir ihm geschickt hatten. Aus all den Dingen, die wir in der Schule für ihn gebastelt hatten. Ich war mir sicher, er hatte sie aufgehoben. Mir wurde ganz übel bei dem Gedanken, dass sein Cousin all seine Sachen einfach weggeworfen hatte.

Im Scheinwerferlicht sah ich, wie Marie das Garagentor nach oben schob. Jetzt, wo sie den Kopf auf einer Seite rasiert hatte, konnte sie kaum noch die Minnie Walker mit Lockenwicklern geben. Marie trat zur Seite, und unsere Mutter fuhr in die Garage, zog die Handbremse an, stellte den Motor ab, griff sich ihre Handtasche vom Boden vor dem Fahrersitz und verschwand sofort im Haus und in ihrem Zimmer.

Ich hievte meine Schultasche und meine Mappen aus dem Wagen, nahm auch die von Ellen mit und schleppte sie ins Haus. Ellen hatte ihre großformatige Kunstmappe mit ihren Arbeiten aus dem Schuljahr dabei. In Schreibschrift hatte sie groß Ellen darauf geschrieben und die einzelnen Buchstaben mit verschiedenen Farben umrandet, die sich nach außen hin psychedelisch zu Blumen und Mustern verzweigten, wie auf einem Plattencover von Cream. Ich öffnete die Mappe und breitete die Bilder auf dem unteren Teil des Ausziehbetts aus, wo sie schlief. Es waren Farbräder und Bleistiftzeichnungen dabei, Stillleben mit Früchten und Blumen. Auch ein Familienportrait war darunter, mit nur fünf Figuren; sie hatte Mom und Dad nicht mitgezeichnet, nur uns. Auf dem Bild war Marie die Größte, obwohl Thomas und ich sie beide überragten. Mitten im Stapel steckte auch ein Selbstportrait, mit Wachs- und Ölkreiden. Ellen hatte nur Blau, Lila und Schwarz dafür verwendet. Es wollte gar nicht realistisch sein, und doch fing es viel von ihr ein, ihre großen blauen Augen, die mit den leichten, lila-bläulichen Schatten darunter immer etwas eingesunken aussahen, die dunklen Wimpern und Brauen, den Seitenscheitel. Das Gesicht war nicht klar umrissen; es schien aus den dunklen Formen aufzutauchen. Hinten auf der Mappe stand eine Nachricht, mit grünem Filzstift geschrieben.

Eine sehr schöne, ausdrucksstarke Mappe, Ellen. Großartige Arbeit über das ganze Jahr hinweg, und so kunstvoll. Ich habe Dir ein paar Ölkreiden in die Mappe gesteckt, dazu die Informationen über das Kunst-Sommercamp und ein Empfehlungsschreiben. Die Arbeiten, von denen ich glaube, dass Du sie mit der Anmeldung einschicken solltest, haben einen grünen Kreis auf der Rückseite. Du bist zwar noch sehr jung, aber ich bin völlig überzeugt, dass sie Dich nehmen werden. Herzlich, Miss LeBlanc.

Ich griff wieder in die Mappe und zog einen großen Umschlag hervor. Er enthielt eine Broschüre des Sommercamps der Chestnut Grove Art Academy sowie einen kleineren, verschlossenen Umschlag, auf dem mit Schreibmaschine die Worte Empfehlungsschreiben für Ellen Gallagher getippt waren. Vorhin im Auto hatte Ellen weder das Geschenk erwähnt noch den Brief oder das Empfehlungsschreiben. Ich steckte alle Bilder wieder in die Mappe zurück, den Umschlag ließ ich auf meinem Bett liegen. Ich musste mich fürs Babysitten umziehen.

Jeden Freitag passte ich auf die beiden kleinen Söhne von Mrs Boucher auf. Außer meiner Mutter war sie der einzige geschiedene Mensch, den ich kannte, aber bei ihr wirkte es glamourös. Marie meinte, da zeige sich eben der Klassenunterschied. Solange man Geld und gesellschaftliches Ansehen habe, sei es völlig in Ordnung, die Regeln zu brechen. Mrs Boucher trug schmale schwarze Kleider, türkisfarbene Ketten und große Kreolen an den Ohren. Sie hatte langes, rabenschwarzes Haar, das sie immer offen ließ, wenn sie ausging. Mir hatte sie erzählt, sie sei Halbindianerin, und die Haare habe sie von den Shawnee, dem Volk ihrer Großmutter. Sie war Anwältin und lebte in einem Haus, das meine Mutter wohl als »modern« bezeichnet hätte, tief im Wald, mit großen Fensterfronten, in denen sich die Bäume ringsum spiegelten. Ihr Baumhaus, nannte sie es immer.

Ich zog meine Schuluniform aus und schlüpfte in Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Meine großen Zehen bohrten sich durch den Leinenstoff. Ich hatte schon genug Geld vom Babysitten gespart, um mir neue zu kaufen. Mrs Boucher zahlte mir zehn Dollar pro Abend, im Wesentlichen fürs Fernsehen, was für mich ein ganz besonderes Vergnügen war, weil wir zu Hause keinen Apparat hatten. Eigentlich wollte ich nicht weg, solange Ellen noch irgendwo da draußen herumirrte, aber so kurzfristig konnte ich Mrs Boucher nicht anrufen und absagen. Ich spähte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus, die Hände rechts und links vom Gesicht, um das Licht im Zimmer auszusperren. Jemand, wahrscheinlich Marie, hatte die Außenbeleuchtung eingeschaltet. Ich konnte die großen Quarzsteine vorne in unserer Einfahrt erkennen, das hohe Gras, die leere Straße.

Marie kam ins Zimmer und ließ sich auf ihr Bett plumpsen, das schräg gegenüber von dem Ausziehbett stand, wo Ellen und ich schliefen. »Lass nicht immer dein Zeug auf meinem Bett liegen.« Sie warf mir meinen Schottenrock zu. »Du brauchst gar nicht zu gucken: Das dauert noch Stunden. Es kann zehn oder elf werden, bis sie wieder hier ist.«

»Sie hätte Dad nicht erwähnen sollen.«

»Wieso denn nicht?«, fragte Marie. »Wieso müssen wir hier eigentlich immer diesen Eiertanz aufführen? Wir dürfen über nichts reden, und wenn es doch mal einer tut, ist es gleich eine Riesenkatastrophe.« Marie hatte den Rock und die Bluse ihrer Schuluniform ausgezogen. Sie streifte ein schwarzes T-Shirt über, mit brennenden Autos darauf. »Und sie schließt sich natürlich gleich wieder in ihrem Zimmer ein.« Sie schob den Fuß in einen schwarzen Stiefel. Es stimmte schon, Mom würde sich den ganzen Abend nicht mehr blicken lassen. »Außerdem war es gar nicht der Dad-Kommentar, über den sie sich so aufgeregt hat.« Marie setzte sich aufs Bett und machte sich daran, sich die Augen mit schwarzem Eyeliner zu umranden. »Sondern der über den fetten Freund.«

Nach Dads Tod waren wir zwei Mal bei der Familienberatung gewesen. Beim ersten Besuch hatten wir uns alle einzeln mit Gwen, der Therapeutin, unterhalten. Ich hatte ihr von Bill erzählt, dem Freund unserer Mutter, dass sie ihn vor uns allen versteckte, außer vor Beatrice, dass wir anderen ihn nicht mal kannten, obwohl es ihn schon seit Jahren gab. Dass er offensichtlich Beatrices Vater war und ich die ganze Zeit wütend auf meine Mutter. Ich hatte die anderen nie gefragt, worüber sie gesprochen hatten.

Bei der zweiten Sitzung rief Gwen uns alle in einem Zimmer zusammen, und wir saßen in einem Kreis aus gemütlichen Sesseln. Ich schaute von Gwen zu meiner Mutter, und mir war klar, dass das hier nichts bringen würde. Gwen mit ihren langen Ohrringen und dem himmelblauen Lidschatten, dem goldenen Fußkettchen um den sonnengebräunten Knöchel. Meine Mutter mit ihrer reinen, blassen Haut, das Haar zum Knoten gezurrt, nicht die leiseste Spur von Leichtsinn. Sie schminkte sich nicht, gab praktisch nie auch nur einen Penny für sich selbst aus. Gwen wollte, dass sie über Dad redete, wie es vor der Trennung mit ihm gewesen war, was genau passiert war. Jemand von uns hatte etwas gesagt. War wirklich nur ich das gewesen? Ich spürte einen Schmerz in der Brust. Aber Mom ließ sich nicht erweichen, ihre Miene war entschlossen. Sie wollte nicht schlecht über unseren Vater reden. Sie würde nichts ausplaudern. An der Wand hing ein Poster von Holly Hobbie in ihrem Flickenkleid, mit der absurd großen Mütze, der Blume, an der sie immer schnupperte. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen. Wir musterten die Wände, den grünen Büroteppichboden, die Tweedpolster der Sessel, in denen wir saßen, alles, nur damit wir einander nicht ansehen mussten. Moms Loyalität zu unserem Vater tat mir weh. Ich selbst hatte sie immer und immer wieder verraten, zuletzt gegenüber Gwen, einer Wildfremden, die für ihre Notizen auf dem Klemmbrett einen Bleistift mit Trollhaaren und aufgeklebten Kulleraugen verwendete. Marie zog die Augenbrauen hoch, als sie sie damit schreiben sah. Mit uns würde Gwen nicht weit kommen.

Hinterher beschloss unsere Mutter, solche Beratungen seien sinnlos und sie könne Gwen mit ihrer herablassend süßen Stimme nicht ertragen. »Wir brauchen einfach Zeit«, sagte sie. Und wir gingen nie wieder hin.

Marie nahm ihren weißen Puder und verteilte ihn auf Wangen und Stirn. Ich sah ihr kurz dabei zu. Wir hatten ganz unterschiedliche Gesichter. In der Schule konnte keiner glauben, dass wir Schwestern waren. Marie war zierlich, wie Ellen, und hatte ein zartes Gesicht. Meines war breiter, flacher. Marie war hübsch und lebhaft, während Sage von mir sagte, ich wirke irgendwie »ätherisch«, als sei ich ständig mit den Gedanken woanders. Meine Augen waren blau, aber heller als die von Marie, von allen Geschwistern waren sie denen unserer Mutter am ähnlichsten, und während die anderen alle hellbraunes oder blondes Haar hatten, waren außer den Brauen und Wimpern bei mir auch die Haare ganz dunkel. Hippie-Haare, wie Marie immer sagte. Sie hingen einfach glatt zu beiden Seiten meines Gesichts herunter, bis zur Taille. Formlos im Vergleich zu Maries Punkfrisur oder Sages Stufenschnitt, aber mir fiel auch nicht ein, wie ich sie hätte schneiden lassen sollen. Die meisten Mädchen in meiner Klasse hatten jetzt eine Dorothy-Hamill-Frisur, aber ich glaubte nicht, dass mir so etwas stehen würde. Ich hatte eine Lücke zwischen den Vorderzähnen, also lächelte ich nur mit geschlossenem Mund. Marie trug lila Lippenstift auf, so dunkel, dass er fast schwarz aussah.

»Ich muss zum Babysitten. Rufst du mich bei den Bouchers an, wenn sie wieder da ist?«

»Klar.« Im Spiegel sah sie zu mir hin. Mir war nicht ganz klar, warum sie sich ihr Punk-Gesicht malte, obwohl sie gar nicht mehr raus wollte.

Ich ging runter in die Küche und machte den Kühlschrank auf. Er war praktisch leer. Unsere Mutter bewahrte das Brot immer im Gemüsefach auf, damit es nicht alt wurde. Ich nahm mir eine Scheibe und verteilte ein Stück Butter darauf. Das Brot war so kalt, dass ich es kaum kauen konnte. Kurz fürchtete ich, mir würde schlecht werden. »Die Sorgenvolle«, hatte Gwen mich genannt. Das stimmte. Ich machte mir ständig und wegen allem Sorgen. Wenn die anderen über den Zaun zum Schwimmclub kletterten, um nackt zu baden, blieb ich draußen und hielt auf der Straße nach der Polizei Ausschau, falls jemand versehentlich den Alarm auslöste oder ein Nachbar sie meldete. Wenn Marie abends heimlich aus dem Fenster kletterte, konnte ich nicht einschlafen, bis sie wieder da war, stellte mir all die vielen schrecklichen Dinge vor, die ihr zustoßen könnten, horchte nach den Schritten unserer Mutter draußen auf dem Flur. So war ich schon vor Dads Tod gewesen. Einmal hatte unsere Mutter uns allen Poster gekauft. Meines zeigte ein Löwenjunges, das mit weit offenem Maul heulte, und darunter stand: Mach dir keine Sorgen. Die Welt ist auch so schon traurig genug.

Für Marie hatte sie ein Poster gekauft, auf dem Comictiere Musikinstrumente spielten, und der Spruch dazu lautete: Der Zauber der Musik zähmt selbst das wilde Tier.

Auf dem von Ellen stand: Freu dich, du bist nicht wie die anderen.

Ich warf das Brot in den Müll. Ich brachte es einfach nicht runter.

Im Wohnzimmer war Beatrice dabei, auf dem Sofa Wäsche zusammenzulegen, während Thomas staubsaugte. Sie hatten die Arbeiten übernommen, die eigentlich Ellen erledigen sollte. Beatrice war sieben, fünf Jahre jünger als Ellen und sieben Jahre jünger als ich. Und Ellen hatte recht, unsere Mutter verwöhnte sie, das machten wir im Grunde alle, aber trotzdem war sie kein nerviges Kind und stand nicht gern im Mittelpunkt. Ich setzte mich neben sie auf das Sofa und faltete ein Schuloberteil.

»Ich weiß gar nicht, warum Ellen so sauer auf mich war.« Beatrice sah mich an. In ihrem Mund klaffte eine Lücke, wo ihr zwei Milchzähne ausgefallen waren. Ihr lockiges Haar war dicht hinter den Ohren zu zwei dicken Zöpfen gebunden.

»Sie war nicht sauer auf dich. Du kannst nichts dafür, Bea.«

»Und wenn sie sich jetzt verläuft oder von einem Auto angefahren wird?«

»Ihr wird schon nichts passieren. Wir sind es doch alle gewohnt, im Dunkeln über den Berg zu laufen. Sie kennt die Straßen. Hilf Marie, nach ihr Ausschau zu halten, ja?« Beatrice nickte.

Thomas rief über den Staubsaugerlärm hinweg: »Was ist denn das für eine Arbeitsmoral? Weiterfalten, aber dalli! Links, zwo, drei, vier!« Sofort strahlte Bea wieder und rollte ein paar Socken zusammen.

»Ich muss los. Ruft mich auf jeden Fall bei den Bouchers an, wenn sie wieder da ist.« Ich ging noch einmal die Treppe hoch, um unserer Mutter Bescheid zu sagen. Ihre Zimmertür war abgeschlossen. Ich klopfte. »Ich bin dann jetzt weg, Mom.« Sie reagierte nicht.

Im Flur kam mir Marie entgegen, die nach unten wollte. »Lass sie besser in Ruhe.«

»Ich sage ihr ja nur, dass ich jetzt gehe.« Am liebsten hätte ich mit voller Kraft gegen die Tür getreten. Ich ging zurück in unser leeres Zimmer und nahm mir Ellens Mappe, sah die Blätter durch und suchte die mit den grünen Kreisen: das schemenhafte Selbstportrait, die Familie ohne Eltern, ein paar Skizzen zu einem Hirsch, nur Kopf und Geweih, alle mit Bleistift gezeichnet, in unterschiedlichen Graustufen. Das waren keine süßen Kinderzeichnungen; sie wirkten nüchtern, abgeklärt und traurig. Mir war klar, dass Ellen in ihrer Klasse die absolute Ausnahme sein musste. Ich nahm den Brief, die Broschüre, das Empfehlungsschreiben und die Blätter. Mom musste das wissen. Ich ging zurück zu ihrem Zimmer, kniete mich auf den Teppich und schob alles einzeln unter ihrer Tür durch. Dann brach ich auf.

Unser Haus am Berg hatte mehrere Ebenen. Insgesamt waren es vier, mit kurzen Treppen von jeweils fünf Stufen dazwischen. Es gab vier Schlafräume. Das Zimmer unserer Mutter, Beas Kammer und das Zimmer, das ich mir mit Ellen und Marie teilte, lagen auf derselben Ebene. Beas Zimmer war wirklich klein und grenzte direkt an das unserer Mutter. Thomas hatte ein großes Zimmer ganz oben. Ich liebte dieses Haus und den Wald ringsherum. Wir waren kurz nach Ellens Geburt an den Berg gezogen. Vorher hatten wir in Ardmore gewohnt. Ich glaube, unser Vater hat sich am Berg nie richtig wohl gefühlt. Er war nicht wie die anderen Väter dort. Das lag nicht nur an seiner Arbeit; er war schon nach dem fünften Schuljahr, das unserer amerikanischen fünften Klasse entsprach, von der Schule abgegangen. In Irland, erzählte er uns, war das für Kinder, die auf Bauernhöfen aufwuchsen, ganz normal gewesen. Sie mussten mitarbeiten. Und mein Vater arbeitete härter als jeder andere Mensch, den ich kannte. Er war nur offenbar nicht in der Lage, Geld zurückzulegen.

Vor Beatrices Geburt hatten unsere Eltern eine Mal-zusammen-und-mal-getrennt-Phase durchlaufen, aber als sie zur Welt kam, war er schon ausgezogen. Danach sahen wir ihn nicht mehr so oft, aber ich half ihm noch immer beim Rasenmähen und Laubrechen. Er blieb in der Gegend um Philadelphia und hatte wechselnde Wohnsitze, aber es hielt ihn nirgendwo lange. Dann bot ihm ein entfernter Verwandter Arbeit und Unterkunft in der Bronx an, wo er eine Firma für Garten- und Landschaftsbau betrieb. Ein einziges Mal hatten wir ihn dort besucht – Marie, Thomas, Ellen und ich. Wir waren an der 30th Street Station, dem Zentralbahnhof, in Philadelphia in den Zug gestiegen, und er hatte uns an der Penn Station in Manhattan abgeholt. Er stand oben an der Rolltreppe, als wir vom Bahnsteig hinauffuhren. Nach der Arbeit hatte er geduscht und ein Hemd und eine Krawatte angezogen, ganz altmodisch, so wie er es auch, als er noch bei uns wohnte, immer gemacht hatte, wenn wir irgendwohin gingen. Nie sah man ihn in Freizeitkleidung wie die Väter meiner Freundinnen. Er besaß keine Jeans, keine leichten Hosen oder Shorts. Nicht einmal Turnschuhe, die auch einfach nicht zu ihm gepasst hätten. Er trug klassische weiße T-Shirts, aber nichts mit Aufdruck und beim Rasenmähen Arbeitshosen. Sein lockiges Haar war immer zurückgekämmt und seitlich gescheitelt.

»Dad ist halt Fünfzigerjahre«, sagte Marie immer voller Stolz. Sie meinte, es sei doch komisch, dass erwachsene Männer in den USA sich inzwischen anzögen wie kleine Jungs, sie besäßen überhaupt keine Eleganz mehr.

Wir fuhren mit der U-Bahn bis nach Woodlawn in der Bronx, wo er jetzt wohnte. Die Häuser standen dicht beieinander, mit Maschendrahtzäunen dazwischen. Straßen und Höfe wirkten nackt. Es gab keine Bäume, nur ein paar versprengte, kümmerliche Sträucher, und mir kam es seltsam vor, dass mein Vater an einem Ort so ganz ohne Blätter lebte. Vor den Häusern, in deren Gärten wir ihm bei der Arbeit geholfen hatten, lag das Laub manchmal so hoch, dass es mir bis zur Taille reichte, wenn ich hindurchwatete. Dann schaltete Dad den Laubbläser ein, und die Blätter wirbelten um uns herum auf und fielen wieder herab. In der Bronx hatte er eine möblierte Einraumwohnung gemietet, wie er es nannte, ein Zimmer, das an ein anderes Haus grenzte, aber seinen eigenen Eingang hatte. Unter dem Fenster war eine kleine Küchenzeile. Auf einem Elektroherd mit zwei Kochplatten bereitete er zum Abendessen Steak mit Kartoffelbrei für uns zu. Es gab ein winziges Bad mit Dusche und ein Sofa, das ihm auch als Bett diente. Er holte den Schaumstoff, den er hinter dem Fahrersitz seines Pickups lagerte, und rollte ihn auf dem Boden aus, und so verbrachten wir die Nacht, wir vier und er, zusammen in diesem einen Zimmer in der Bronx. Er hatte extra für unseren Besuch neue Teller und neues Besteck gekauft, damit wir zu fünft essen konnten. Bis heute denke ich beim Einschlafen noch manchmal an diese Nacht. Wir alle zusammen, wie wir dort im Dunkeln lagen und redeten, gemeinsam atmeten, in diesem einen Zimmer.

3

Ich trat in die Dunkelheit hinaus. Dort, wo die Rasenflächen an den Wald grenzten, schimmerten die Leuchtkäfer. Die Nachtluft war warm und fühlte sich nach Sommer an. Die Bouchers wohnten auf der anderen Seite des Bergs; zu Fuß etwa zwanzig Minuten. Auf dem Weg musste ich am Haus der Addisons vorbei, dem »Manson-Haus«. Die Addisons waren aus Kalifornien an den Berg gezogen und wohnten eine Straße weiter oben als wir. Kurz nach ihrem Einzug fingen die Leute an zu reden. Es hieß, Mr Addisons Firma habe in Kalifornien Mammutbäume gefällt, deren Holz dann nie verarbeitet und irgendwann im Pazifik versenkt worden sei, und sein Name stehe ganz oben auf der »Todesliste«, die Charles Manson im Gefängnis geschrieben hatte. Ein paar Jahre zuvor hatte ein Mitglied der Manson-Familie versucht, Präsident Ford zu töten, um die Mammutbäume Kaliforniens zu retten. Niemand konnte sagen, ob an den Gerüchten um Mr Addison etwas dran war. Marie besaß eine Ausgabe von Helter Skelter, und ich hatte sie gelesen. In der Mitte gab es einen Bildteil mit Fotos. Ich betrachtete sie aufmerksam, versuchte, die Gesichter der jungen Frauen zu entschlüsseln, die sich Mansons Gruppe angeschlossen hatten, prägte sie mir ein, für den Fall, dass mir jemals eine von ihnen hier begegnete. Noch immer ging ich automatisch schneller, sobald ich einen VW-Bus sah.

Das Haus der Addisons lag tief im Wald. Je näher ich ihm kam, desto langsamer wurde ich, machte mich zum Sprint bereit. Die Außenbeleuchtung war mit einer Art Sensor ausgestattet und wenn nachts jemand vorbeiging, schaltete sie sich ein und tauchte das Haus und den umliegenden Wald in gleißendes Licht. Ich wechselte die Straßenseite, um sie nicht auszulösen, und ungefähr fünf Meter vor dem Grundstück rannte ich los, lief, so schnell ich konnte, gut hundert Meter weit, und dabei malte ich mir die Mörderinnen aus, die im Wald lauerten. Ich schaute über die Schulter zurück, um zu sehen, ob ich irgendwie verfolgt wurde. Oben an der High Point Road gab es eine Abkürzung direkt durch den Wald, die am Wasserturm vorbeiführte und zum Horseshoe Trail gehörte. Es war dunkel, aber ich kannte den Weg. Ich war schon so oft hier entlang gerannt. Gelbe Rechtecke, die an die Baumstämme gemalt waren, kennzeichneten den Wanderweg und leuchteten im Dunkeln kurz auf, wenn ein Splitter Mondlicht darauf fiel. Ich fand diese Markierungen immer sehr beruhigend; wie in einem Märchen zeigten sie mir, dass ich noch auf dem richtigen Weg war. Aber heute schwappte eine Welle der Panik über mich hinweg. Wie weit war Ellen wohl gelaufen?

Vor mir öffnete sich der Weg auf eine kiesbestreute Lichtung mit zwei Türmen. Der eine war ein riesiger Wasserturm aus Metall, ein massiges graues Gebilde, umringt von Eichen und Ahornbäumen. An manchen Tagen, wenn die Sonne am späten Nachmittag schon tiefer stand als das Blätterdach, warfen die Bäume perfekte Schatten auf die glatte Oberfläche, und der Turm schien fast ein Teil des Waldes zu werden. Der andere Turm war höher, ein bloßes Gerüst aus sich kreuzenden Metallteilen. Er sah aus, als würde er sich jeden Moment bewegen, seine Glieder ausstrecken und alle menschlichen Eindringlinge zerquetschen. Wir vermuteten, dass er irgendwie mit Strom zu tun hatte. Beide Türme waren von einem hohen Zaun umgeben, an dem oben in einem Winkel Reihen von Stacheldraht gespannt waren. Vergebens: Die Jugendlichen kletterten trotzdem darüber, sprangen dann hoch an die unterste Sprosse der Steigleiter des Wasserturms und zogen sich hinauf, um ihn zu erklimmen. Vor dem anderen Turm, der womöglich unter Strom stand, fürchteten sich alle.

Von der anderen Seite der Lichtung hörte ich Stimmen und Gelächter, wahrscheinlich ein paar Jugendliche aus Phoenixville, die dort herumhingen, kifften und Bier tranken. An beiden Türmen blinkten rote Lichter, als Warnung für den Flugverkehr oder auch als Signal an andere Außerirdische.

Letzten Winter waren Thomas und ich mit Jack Griffith hier oben gewesen, Thomas’ ältestem Freund am Berg. Seit Dads Beerdigung hatten wir ihn nicht oft zu Gesicht bekommen. Thomas ging kaum noch aus dem Haus, rief niemanden mehr zurück. Es war ein, zwei Tage nach Neujahr, in der Abenddämmerung; wir hatten noch Weihnachtsferien, und es schneite. Marie, Thomas und ich waren draußen und versuchten die Einfahrt freizuschippen, als Jack in einem kleinen Nissan Datsun herangerumpelt kam. Er habe jetzt den Führerschein, sagte er, und habe sich gedacht, Thomas und er könnten ein bisschen in der Gegend rumfahren, bevor die Schneepflüge kämen. Marie sagte zu Thomas, er solle ruhig mitfahren. Bevor sie in den Wagen stiegen, drehte Jack sich zu mir um und fragte, ob ich auch mitwolle, und ohne groß nachzudenken, sagte ich ja und kletterte auf den Rücksitz.

Wir fuhren durch tiefen Schnee. Die Straßen waren leer, nirgends waren Reifenspuren zu sehen; nur die Bäume legten den Verlauf der Fahrbahn fest. Es war dunkel, und wir fuhren, geborgen in Jacks Datsun, über den Berg, während es um uns herum weiterschneite. Im Radio lief »The Logical Song« von Supertramp, und wir versuchten, die Horseshoe Trail Road hinaufzukommen, aber die Räder drehten durch, der Wagen rutschte immer wieder zurück. Jack bekam ihn nicht weiter die Straße hinauf, also hielt er an, wir stiegen aus und stapften zu Fuß hoch bis zum Wasserturm, um zu sehen, wie es dort, ganz oben auf dem Berg aussah, wenn alles weiß war. Zu dritt standen wir in der abendlichen Schneestille, mit kalten Gesichtern, inmitten dicker Flocken und blinkender Lichter, und ich fühlte mich glücklich. Ich weiß noch, wie ich zu Jack hinüberschaute und er auf einmal schön geworden war, das dunkle Haar, die roten Wangen. Ich sah ihm an, dass auch er glücklich war, einfach nur, weil er hier mit uns stand. Seither war ich ein klein wenig verknallt in ihn, aber das hatte ich nicht mal Sage erzählt. Ich bekam ihn ja sowieso kaum zu Gesicht. Und Thomas auch nicht.

Als ich am Turm vorbeiging, hörte ich noch mehr Gelächter, Glas splitterte, und ich rannte los, damit sie mich nicht entdeckten. Aber ich war noch nicht bis zu den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung gekommen, als sich in der Dunkelheit vor mir Schatten bewegten. Ich verlangsamte meine Schritte und ging auf die fünf oder sechs Jugendlichen zu, die, von Grasgeruch umweht, in einem lockeren Kreis zusammenstanden. Abbey Quinn machte einen Schritt auf den Weg hinaus.

»Hey, Gallagher, bist du das? Wo willst du denn hin?«

Ich blieb stehen. Ich mochte Abbey, aber die anderen, die bei ihr waren, machten mich befangen. »Hallo, Abbey. Ich gehe babysitten.«

»Bei der bildschönen Mrs Boucher?« Abbey kicherte. Sie war bekifft.

Ich schaute zu den anderen hinüber, versuchte, ihre Gesichter zu erkennen. »Ja.«

»Ich hab gehört, es gibt jemanden, der Mrs Boucher besonders schön findet«, sagte sie und fing wieder an zu lachen.

Ich wusste nicht, was sie damit sagen wollte, und zuckte nur die Achseln. Abbey legte mir den Arm um die Schultern. Getrunken hatte sie auch.

»Du solltest mal ’n bisschen öfter herkommen. Würde dir guttun. Mit Sage.«

»Ich versuch’s«, sagte ich. »Aber jetzt muss ich los. Bis dann.« Und damit ging ich weiter den Weg entlang.

Er endete an der Straße, in der die Bouchers wohnten, und ich wandte mich nach links, hangabwärts. Hinter dem Haus der Bouchers lag eine Nike-Raketenbasis im Besitz der US-Regierung. Weil Philadelphia zu den wichtigsten Städten der USA gehörte, war es von vielen solcher Stützpunkte umgeben, die angeblich angreifende Raketen orten und Abwehrgeschosse abfeuern konnten, um sie zu treffen und zu zerstören. Einige der Stützpunkte hatten den Radar, die anderen hatten die Raketen. Ich wusste nicht, wie es bei unserem war. So oder so, es bedeutete, dass der Atomkrieg in greifbare Nähe gerückt war, dass wir zum Ziel werden konnten und im Boden unter uns Raketen lagerten. Nuklearwaffen und Radioaktivität machten mir Sorgen. Vor ein paar Jahren, nach dem Reaktorunfall auf Three Mile Island, mussten viele Menschen evakuiert werden. Wir hörten im Autoradio von Dads Pickup davon, auf dem Heimweg von der Schule. Harrisburg lag nur anderthalb Stunden Fahrt von uns weg, Luftlinie weniger. Ich hatte mir vorgestellt, wie die Menschen zu Fuß flüchteten und sich angsterfüllt nach dem Unsichtbaren umdrehten, das die Luft mit sich trug, wie alles von einer Verseuchung ausgelöscht werden konnte, die man nicht einmal sah. Es hieß, die Stützpunkte hätten schon seit den Sechzigerjahren ausgedient. Waren also auch die Boden-Luft-Raketen entfernt worden, oder ruhten sie immer noch hier unter der Erde? Das wusste niemand.

Mrs Bouchers Haus lag mehrere hundert Meter abseits der Straße, an einem steilen Abhang, und war vom Anfang der Zufahrt aus praktisch nicht zu sehen. Auf dem Weg nach unten sah ich die durch die Bäume zerschnittenen Lichter des Hauses. Ich nahm mir vor, Mrs Boucher zu erzählen, was mit Ellen passiert war. Vielleicht würde sie sich ja mit mir und den Jungs ins Auto setzen und den Berg hinunterfahren, um auf der Straße nach ihr Ausschau zu halten. Oder ich würde mit den Jungs im Haus bleiben, und sie könnte sich auf die Suche machen. Ich wusste, sie würde uns helfen. Aber kaum stand ich vor der Haustür, öffnete Mrs Boucher mir bereits; ich kam nicht einmal zum Klopfen. Sie hatte sich einen leichten Schal um die Schultern gelegt und schon nach Handtasche und Schlüssel gegriffen. Sie trat einen Schritt zurück, um mich einzulassen, nahm aber die Hand nicht von der offenen Tür.

»Hallo, Libby. Entschuldige, ich bin heute sehr in Eile. Die Jungs sind schon im Schlafanzug. Im Gefrierfach steht Eis. Ich habe Schoko-Mint für dich besorgt.« Ich zögerte kurz, bevor ich ins Haus trat. Mrs Boucher sah mich an. »Alles in Ordnung?«

»Ja, alles bestens. Danke. Auch für das Eis. Heute war der letzte Schultag vor den Sommerferien«, setzte ich noch hinzu, als würde das irgendetwas erklären. Ich ging an ihr vorbei in die Diele.

»Ach, das Paradox der Freiheit«, sagte Mrs Boucher, als wäre ihr alles klar. »Wir sehen uns später, wenn ich zurück bin.« Und damit zog sie die Haustür hinter sich zu.

Warum hatte ich ihr nichts erzählt? Ich fasste nach der Klinke, um die Tür zu öffnen, sie zurückzurufen, ihr zu sagen, dass wir Hilfe brauchten. Aber ich fand es schrecklich, andere um etwas zu bitten. Vielleicht würde sie ja auf ihrem Weg den Berg hinunter an Ellen vorbeifahren. Ich rief mir all die Leute vor Augen, die auf dem Heimweg an Ellen vorbeifahren könnten. Irgendwer würde doch sicher anhalten. In ihrer Schuluniform war sie leicht zu erkennen.

Ich spielte mit den Jungs und brachte sie dann ins Bett. Bruce, dem Zweijährigen, las ich Gute Nacht, Mond vor, Peter, dem Fünfjährigen, Peter Hase. Bruce nuckelte am Daumen und kuschelte sich an mich. Er hatte eine Mondlampe in seinem Zimmer, und als ich an der Stelle war, wo dem Zimmer Gute Nacht gesagt wird, schlief er längst. Nach dem Vorlesen nahm Peter gern selbst das Buch, um die Bilder noch einmal ganz genau zu betrachten. Ich tat so, als wäre auch er ein Hase, wir rieben zum Gute-Nacht-Sagen die Nasen aneinander und ich ermahnte ihn, sich noch schön das Fell zu putzen und zum Schlafen die Ohren anzulegen.

Dann ließ ich ihn allein und ging nach oben ins Wohnzimmer. Die ganze Zeit lauschte ich angestrengt auf das Telefon. Um zehn nahm ich den Hörer ab, um zu überprüfen, ob das Freizeichen zu hören war, und legte ihn dann sorgfältig wieder auf die Gabel. Ich hätte gern zu Hause angerufen, aber dann würde womöglich meine Mutter an den Zweitapparat bei sich im Zimmer gehen. Stattdessen rief ich Sage an, außer Marie und Thomas der einzige Mensch auf dieser Welt, der mich sofort verstehen würde.

»Hallo, ich bin’s.«

»Warum flüsterst du?«

»Weiß ich auch nicht. Ich bin bei den Bouchers. Mom hat vorhin, als es schon dunkel war, Ellen aus dem Auto geworfen. Auf der Brücke über den Turnpike. Sie muss zu Fuß nach Hause laufen, aber ich glaube, sie ist noch nicht wieder da.«

»Am Turnpike? Arme Ellen. Diese Straße ist so einsam.«

»Ja. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Ich schicke Charlotte mit dem Wagen los«, sagte Sage. »Das macht sie bestimmt.«

»Nein. Bitte nicht. Dann wird alles nur noch schlimmer. Mom kriegt vielleicht Ärger.«

»Und wenn schon.«

»Sag deiner Mutter bitte nichts. Ich melde mich, sobald ich weiß, dass sie zu Hause ist.« Ich setzte mich wieder auf das Sofa und versuchte, fernzusehen, konnte mich aber nicht konzentrieren. Wenn ich bloß etwas zu Mrs Boucher gesagt hätte, vielleicht hätten wir Ellen dann schon gefunden und alles wäre längst vorbei. Um halb elf klingelte das Telefon.

Marie war dran. »Sie ist immer noch nicht da.«

»O Gott. Mir ist ganz schlecht.«

»Auf der Straße ist sie nicht. Sie muss wohl durch den Wald gegangen sein.«

»Woher weißt du das?«

»Wilson McVay ist die ganze Strecke mit dem Motorrad abgefahren und hat sie nicht gesehen.«

»Du hast Wilson McVay angerufen?«

»Ja. Wen denn sonst?«

»Jeden, bloß nicht ihn. Der ist verrückt, Marie.«

»Die Leute, die so was sagen, kennen ihn nicht.«

»Die Leute haben Gründe, so was zu sagen. Er hat ziemlich verrücktes Zeug gemacht.«

»Er hat uns geholfen, Libby. Werd erwachsen.«