Sag nicht, wir hätten gar nichts - Madeleine Thien - E-Book

Sag nicht, wir hätten gar nichts E-Book

Madeleine Thien

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Beschreibung

Ein preisgekrönter Roman über China von den 1940ern bis heute, über zwei eng verbundene Musikerfamilien und ihr Schicksal. Die herzzerreißenden Lebensgeschichten der Musiker, ihrer Freunde, Familien und Geliebten, die in den Strudel der Politik geraten, in das Auf und Ab von Revolution, Gewalt und Unterdrückung, führen zu der universellsten und zugleich privatesten aller Fragen: Wie kann der Mensch sich selbst treu bleiben, lieben und kreativ sein, wenn er sich verstellen und verstecken muss, weil er um sein Leben fürchtet? Erzählerin dieses vielschichtigen Epos ist Marie, die mit ihrer Mutter in Kanada lebt und nicht versteht, warum ihr Vater nach China zurückgekehrt ist. Als sie zehn Jahre alt war, haben sie einen Gast bei sich aufgenommen, die junge Ai-ming, die nach dem Massaker am Platz des Himmlischen Friedens aus Peking geflohen ist. Marie ahnte bald, dass sie eine gemeinsame Geschichte haben, und nun versucht sie, Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen.

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EPUB
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Seitenzahl: 790

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Ein preisgekrönter Roman über China von den 1940ern bis heute, über zwei eng verbundene Musikerfamilien und ihr Schicksal. Die herzzerreißenden Lebensgeschichten der Musiker, ihrer Freunde, Familien und Geliebten, die in den Strudel der Politik geraten, in das Auf und Ab von Revolution, Gewalt und Unterdrückung, führen zu der universellsten und zugleich privatesten aller Fragen: Wie kann der Mensch sich selbst treu bleiben, lieben und kreativ sein, wenn er sich verstellen und verstecken muss, weil er um sein Leben fürchtet? Erzählerin dieses vielschichtigen Epos ist Marie, die mit ihrer Mutter in Kanada lebt und nicht versteht, warum ihr Vater nach China zurückgekehrt ist. Als sie zehn Jahre alt war, haben sie einen Gast bei sich aufgenommen, die junge Ai-ming, die nach dem Massaker am Platz des Himmlischen Friedens aus Peking geflohen ist. Marie ahnte bald, dass sie eine gemeinsame Geschichte haben, und nun versucht sie, Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen.

Zur Autorin

MADELEINE THIEN wurde 1974 in Vancouver, British Columbia, geboren. Ihre Eltern stammen aus Malaysia und China und emigrierten in den 1960ern nach Kanada. Sie hat mehrere Romane und Erzählungen veröffentlicht, ihr Werk ist in 25 Sprachen übersetzt. Für ihren Roman »Flüchtige Seelen« wurde Thien 2015 mit dem LiBeraturpreis von Litprom ausgezeichnet. »Sag nicht, wir hätten gar nichts« kam 2016 auf die Shortlist des Man Booker Prize und wurde ausgezeichnet mit dem Governor General’s Literary Award und dem Scotiabank Giller Prize, den höchsten Literaturpreisen Kanadas. Madeleine Thien lebt in Montreal.

Madeleine Thien

Sag nicht, wir hätten gar nichts

Roman

Aus dem kanadischen Englisch vonAnette Grube

btb

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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Do Not Say We Have Nothing bei Alfred A. Knopf Canada, Penguin Random House Canada Ltd.

Die Arbeit der Übersetzerin wurde durch ein Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

E-Book-Ausgabe August 2021 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2016 Madeleine Thien

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Bridgeman Images / Jenny Wheatley

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-19408-6V002www.btb-verlag.de

Teil eins

Es gibt tausend Arten zu leben. Wie viele davon kennen wir beide?

Zhang Wei, Das alte Schiff

Von allen Szenen an den Wänden der Höhle waren die schönsten und aufwändigsten die Szenen vom Paradies.

Colin Thubron, Im Schatten der Seidenstraße

 1

In nur einem Jahr verließ uns mein Vater zweimal. Das erste Mal, um seine Ehe zu beenden, und das zweite Mal, als er sich das Leben nahm. In diesem Jahr, 1989, flog meine Mutter nach Hongkong, um meinen Vater auf einem Friedhof nahe der Grenze zu China zur Ruhe zu betten. Danach kehrte sie verstört nach Vancouver zurück, wo ich allein zu Hause geblieben war. Ich war zehn Jahre alt.

Daran erinnere ich mich:

Mein Vater hat ein schönes, altersloses Gesicht; er ist ein freundlicher, aber melancholischer Mensch. Er trägt eine randlose Brille, und die Gläser scheinen wie der allerdünnste Vorhang vor ihm zu schweben. Seine dunkelbraunen Augen blicken vorsichtig und unsicher; er ist erst neununddreißig Jahre alt. Der Name meines Vaters war Jiang Kai, und er wurde in einem Dorf außerhalb von Changsha geboren. Später, als ich erfuhr, dass mein Vater in China ein gefeierter Pianist gewesen war, dachte ich daran, wie er mit den Fingern auf den Küchentisch getrommelt, auf Ablageflächen und die weichen Arme meiner Mutter, von den Schultern bis zu ihren Fingerspitzen geklopft, sie damit in den Wahnsinn und mich in Ausbrüche von Schadenfreude getrieben hatte. Er gab mir meinen chinesischen Namen, Jiang Li-ling, und meinen englischen, Marie Jiang. Als er starb, war ich noch ein Kind, und die wenigen Erinnerungen, die ich an ihn hatte, wie bruchstückhaft und ungenau auch immer, waren alles, was mir von ihm geblieben war. Ich habe sie nie verloren.

Zwischen zwanzig und dreißig, während der schwierigen Jahre nach dem Tod beider meiner Eltern, widmete ich mein Leben voll und ganz der Beobachtung von Zahlen, Hypothesen, Logik und Beweisen, den Werkzeugen, über die wir Mathematiker verfügen, nicht nur um die Welt zu interpretieren, sondern auch einfach um sie zu beschreiben. Seit zehn Jahren bin ich Professorin an der Simon Fraser University in Kanada. Zahlen erlauben mir, mich zwischen dem unvorstellbar Großen und dem unglaublich Kleinen hin und her zu bewegen, ein Leben in Distanz zu meinen Eltern und ihren nicht erfüllten Träumen zu führen, die, wie ich glaubte, auch meine eigenen waren.

Vor ein paar Jahren, 2010, kam ich in Vancouvers Chinatown an einem Geschäft vorbei, das DVDs verkaufte. Ich erinnere mich, dass es in Strömen regnete und die Gehwege menschenleer waren. Aus zwei riesigen Lautsprechern vor dem Laden drang klassische Musik. Ich kannte die Musik, Bachs Sonate Nr. 4 in c-Moll für Violine und Klavier, und wurde zu ihr hingezogen, als hätte mich jemand bei der Hand genommen. Der Kontrapunkt, der den Komponisten, die Musiker und sogar die Pausen zusammenhält, die Musik mit ihren sich auftürmenden Wogen von Trauer und freudiger Verzückung – an all das erinnerte ich mich.

Schwindlig lehnte ich mich an die Glasscheibe.

Und plötzlich saß ich mit meinem Vater im Auto. Ich hörte, wie die Reifen im Regen Wasser verspritzten und mein Vater summte. Er war so lebendig, ich liebte ihn so sehr, dass die Unfassbarkeit seines Selbstmords mich wieder überwältigte. Mein Vater war seit zwei Jahrzehnten tot, und nie zuvor hatte ich mich so klar an ihn erinnert. Ich war einunddreißig Jahre alt.

Ich betrat das Geschäft. Auf einem Flachbildschirm war der Pianist Glenn Gould zu sehen: Er und Yehudi Menuhin spielten die Bach-Sonate, die ich wiedererkannt hatte. Glenn Gould neigte sich tief über das Klavier, er trug einen dunklen Anzug, hörte musikalische Strukturen weit jenseits dessen, was die meisten von uns wahrnehmen können, und er war … mir so vertraut wie eine Sprache, eine Welt, die ich vergessen hatte.

1989 war das Leben für meine Mutter und mich zu einer Reihe notwendiger Routinen geworden: Arbeit und Schule, fernsehen, essen, schlafen. Mein Vater verließ uns zum ersten Mal, als in China Ereignisse von großer Tragweite stattfanden, Ereignisse, die meine Mutter zwanghaft auf CNN verfolgte. Ich fragte sie, wer diese Demonstranten waren, und sie sagte, Studenten und ganz normale Leute. Ich fragte, ob mein Vater dort war, und sie sagte: »Nein, das ist der Platz des Himmlischen Friedens in Peking.« Die Demonstrationen, bei denen über eine Million Chinesen auf die Straße gingen, hatten im April begonnen, als mein Vater noch bei uns lebte, und wurden fortgesetzt, nachdem er nach Hongkong verschwunden war. Am 4. Juni und in den darauffolgenden Tagen und Wochen nach dem Massaker weinte meine Mutter. Abend für Abend sah ich ihr dabei zu. Ba hatte sich 1978 aus China abgesetzt und durfte nicht mehr einreisen. Doch mein Unverständnis heftete sich an die Dinge, die ich sehen konnte: diese chaotischen, furchterregenden Bilder von Menschen und Panzern und meine Mutter vor dem Fernseher.

In diesem Sommer besuchte ich wie in einem Traum weiter meinen Kalligraphiekurs in dem nahen chinesischen Kulturzentrum, benutzte Pinsel und Tusche, um Zeile über Zeile chinesischer Gedichte abzuschreiben. Doch ich erkannte nur wenige Wörter wieder – groß, klein, Mädchen, Mond, Himmel (大,小女,月,天). Mein Vater sprach Mandarin und meine Mutter Kantonesisch, aber ich konnte nur Englisch fließend. Anfänglich erschien mir das Rätsel der chinesischen Sprache wie ein Spiel, ein Vergnügen, doch meine Unfähigkeit, sie zu verstehen, begann mir bald Sorgen zu bereiten. Wieder und wieder schrieb ich Schriftzeichen, die ich nicht lesen konnte, ich malte sie größer und größer, bis die überschüssige Tusche das dünne Papier aufweichte und zerriss. Es war mir gleichgültig. Ich ging nicht mehr hin.

Im Oktober standen zwei Polizisten vor unserer Tür. Sie setzten meine Mutter davon in Kenntnis, dass Ba verstorben war und die Gerichtsmedizin in Hongkong die Akte führte. Sie sagten, Ba habe Selbstmord begangen. Von da an lebte Stille (qù) wie eine weitere Person in unserer Wohnung. Sie schlief im Schrank bei den Hemden, Hosen und Schuhen meines Vaters, sie bewachte seine Beethoven-, Prokofjew- und Schostakowitsch-Partituren, seine Hüte, seinen Sessel und seine persönliche Tasse. Stille (闃) zog in unsere Gedanken und stürmte wie ein Ozean in meiner Mutter und mir. Vancouver war in diesem Winter noch grauer und nasser als üblich, als wäre der Regen ein dicker Pullover, den wir nicht ausziehen konnten. Ich schlief ein in der Gewissheit, dass Ba mich wie immer morgens wecken, dass seine Stimme mich behutsam aus dem Schlaf holen würde, bis diese Illusion den Verlust noch verschlimmerte und heftiger schmerzte als das, was tatsächlich passiert war.

Die Wochen krochen dahin, und 1989 verschwand in 1990. Ma und ich aßen jeden Abend auf dem Sofa, weil auf dem Esstisch kein Platz war. Die offiziellen Dokumente meines Vaters – diverse Bescheinigungen, Steuererklärungen – waren bereits geordnet, doch einiges war übrig geblieben. Als Ma die Wohnung gründlich durchforstete, tauchten andere Papiere auf, Partituren, eine Handvoll Briefe, die mein Vater geschrieben, aber nie abgeschickt hatte (»Sperling, ich weiß nicht, ob Dich dieser Brief erreichen wird, aber …«), und immer mehr Notizbücher. Während ich zusah, wie sich diese Dinge vermehrten, kam es mir manchmal so vor, als glaubte meine Mutter, Ba würde als ein Blatt Papier wiedergeboren. Oder vielleicht glaubte sie auch wie die alten Chinesen, dass auf Papier geschriebene Worte Talismane waren, die uns irgendwie vor Unglück schützten.

An den meisten Abenden saß Ma, noch in ihrer Bürokleidung, vor den Papieren.

Ich versuchte, ihr nicht auf die Nerven zu gehen. Ich blieb im angrenzenden Wohnzimmer und hörte hin und wieder nahezu geräuschloses Umblättern.

Das qù ihres Atems.

Prasselnder Regen, der an den Fenstern hinunterrann.

Die Zeit um uns stand still.

Immer wieder fuhr auf der Straße der Oberleitungsbus Nr. 29 vorbei.

Ich dachte mir Gespräche aus. Ich malte mir aus, dass Ba in der Unterwelt wiedergeboren war und mit einer anderen Währung ein neues Tagebuch kaufte, das Wechselgeld in die Tasche einer neuen Jacke steckte, einer leichtgewichtigen Jacke aus Federn oder vielleicht eines Kamelhaarmantels, eines Mantels, der fest genug sowohl für den Himmel als auch für die Unterwelt war.

In der Zwischenzeit lenkte meine Mutter sich ab, indem sie versuchte, die Familie meines Vaters zu finden, wo immer ihre Mitglieder auch waren, um ihnen mitzuteilen, dass ihr lange verlorener Sohn oder Bruder oder Onkel nicht mehr in dieser Welt lebte. Sie suchte nach Bas Adoptivvater, einem Mann, der einst in Shanghai gelebt hatte und als »der Professor« bekannt gewesen war. Er war das einzige Familienmitglied, das Ba je erwähnt hatte. Die Suche nach Informationen ging langsam und mühsam vonstatten; damals gab es keine E-Mail und kein Internet, und es war einfach für Ma, Briefe zu schicken, doch schwierig, ehrliche Antworten zu erhalten. Mein Vater hatte China vor langer Zeit verlassen, und falls der Professor noch am Leben war, wäre er ein sehr alter Mann.

Das Peking, das wir im Fernsehen sahen, die Leichenhallen und trauernden Familien, die Panzer an den Straßenkreuzungen, strotzend von Gewehren, war eine ganz andere Welt als das Peking, das mein Vater gekannt hatte. Und dennoch denke ich manchmal, der Unterschied war gar nicht so groß.

Es war ein paar Monate später, im März 1990, als mir meine Mutter das Buch der Aufzeichnungen zeigte. An diesem Abend saß Ma an ihrem gewohnten Platz am Esstisch und las. Das Notizbuch in ihrer Hand war lang und schmal, von den Proportionen einer Miniaturtür. Es war locker in walnussbraune Baumwolle gebunden.

Lange nachdem ich hätte ins Bett gehen sollen, bemerkte mich Ma.

»Was ist los mit dir?«, sagte sie. Und dann, verwirrt von ihrer eigenen Frage: »Bist du fertig mit deinen Hausaufgaben? Wie viel Uhr ist es?«

Ich war seit Ewigkeiten mit den Hausaufgaben fertig und hatte bei stummgeschaltetem Ton einen Horrorfilm angeschaut. Ich erinnere mich noch: Gerade war ein Mann mit einem Eispickel umgebracht worden. »Es ist Mitternacht«, sagte ich, beunruhigt, weil der Mann weich wie Teig gewesen war.

Meine Mutter streckte die Hand aus, und ich ging zu ihr. Sie schlang den Arm um meine Taille und drückte mich an sich. »Willst du sehen, was ich lese?«

Ich neigte mich über das Notizbuch und starrte auf die Ansammlung von Wörtern. Chinesische Schriftzeichen zogen sich die Seite hinunter wie Abdrücke von Tieren im Schnee.

»Es ist eine Geschichte«, sagte Ma.

»Oh. Was für eine Geschichte?«

»Ich glaube, es ist ein Roman. Es gibt einen Abenteurer namens Da-wei, der nach Amerika segelt, und eine Heldin, die Vierter Mai heißt und durch die Wüste Gobi wandert …«

Ich schaute konzentriert hin, doch ich konnte die Wörter nicht entziffern.

»Es gab einmal eine Zeit, als die Leute ganze Bücher mit der Hand abgeschrieben haben«, sagte Ma. »Die Russen nennen es Samisdat und die Chinesen … nein, ich glaube nicht, dass wir ein Wort dafür haben. Schau nur, wie schmutzig das Buch ist, es kleben sogar Grashalme darauf. Weiß Gott, wie viele Leute es mit sich herumgetragen haben … es ist viele Jahrzehnte älter als du, Li-ling.«

Ich fragte mich: Was war das nicht? Ich fragte, ob Ba das Buch abgeschrieben hatte.

Meine Mutter schüttelte den Kopf. Sie sagte, dass die Handschrift wunderschön sei, die Arbeit eines herausragenden Kalligraphen, und die Handschrift meines Vaters sei nur soso gewesen. »Das Buch ist ein Kapitel von etwas Längerem. Hier steht: Nummer 17. Der Verfasser ist nirgendwo erwähnt, aber schau, hier ist der Titel, das Buch der Aufzeichnungen.«

Sie legte das Buch weg. Die Papiere meines Vaters auf dem Esstisch sahen aus wie Schaumkronen, die nach vorn drängten, als wollten sie sich von der Tischplatte stürzen und auf den Teppich ergießen. Auch unsere Post lag hier. Seit Neujahr erhielt Ma Briefe aus Peking, Kondolenzschreiben von Musikern der Zentralen Philharmonie, die erst vor kurzem vom Tod meines Vaters erfahren hatten. Zum Lesen der Briefe hatte Ma ein Wörterbuch zur Hand, weil sie in vereinfachtem Chinesisch geschrieben waren, das sie nie gelernt hatte. Sie war in Hongkong zur Schule gegangen und hatte das traditionelle Chinesisch gelernt. Doch auf dem Festland, im kommunistischen China, war in den fünfziger Jahren eine neue, einfachere Schreibweise Gesetz geworden. Tausende Wörter wurden verändert; zum Beispiel »schreiben« (xiĕ) wurde von 寫 zu 写 und »wissen« (shí) von 識 zu 识. Sogar »kommunistische Partei« (gòng chăn dng) wurde von 共產黨 zu 共产党. Manchmal erkannte Ma das frühere Selbst des Wortes, dann wieder musste sie die Bedeutung erraten. Sie sagte, es sei, als würde sie einen Brief aus der Zukunft lesen oder mit jemandem sprechen, der ihr den Rücken zukehrte. Dass sie kaum mehr Chinesisch las und ihre Gedanken überwiegend in Englisch ausdrückte, machte die Sache noch komplizierter. Sie mochte es nicht, wenn ich Kantonesisch sprach, weil »dein Akzent völlig verquer ist«, wie sie sagte.

»Es ist kalt«, flüsterte ich. »Sollen wir nicht unsere Schlafanzüge anziehen und ins Bett gehen?«

Ma starrte auf das Buch und hörte nicht zu.

»Mutter wird morgen müde sein«, sagte ich. »Mutter wird zwanzigmal auf die Schlummertaste drücken.«

Sie lächelte, doch ihr Blick hinter den Brillengläsern war hart. »Geh ins Bett«, sagte sie. »Warte nicht auf Mutter.«

Ich drückte ihr einen Kuss auf die weiche Wange. Sie sagte: »Was hat der Buddhist zum Pizzakoch gesagt?«

»Was?«

»Mach mir eine mit allem.«

Ich lachte und stöhnte und lachte noch einmal, dann schauderte ich, weil mir das Opfer im Fernsehen eingefallen war, seine teigige Haut. Lächelnd schob sie mich fort.

Als ich im Bett lag, dachte ich über mehrere Tatsachen nach.

Erstens: In meiner fünften Klasse war ich eine völlig andere Person. Dort war ich so gutmütig und gut angepasst, meine Leistungen waren so ausgezeichnet, dass ich mich fragte, ob mein Gehirn und meine Seele getrennte Wege gingen.

Zweitens: Leute wie Ma und ich wären in einem ärmeren Land nicht so einsam. Im Fernsehen waren arme Länder überbevölkerte Orte, überladene Aufzüge, die versuchten, in den Himmel aufzusteigen. Sechs Personen schliefen in einem Bett, ein Dutzend in einem Zimmer. Dort konnte man immer laut aussprechen, was man dachte, in der Gewissheit, dass einen jemand hörte, auch gegen seinen Willen. Ja, eine Möglichkeit, jemanden zu bestrafen, wäre, ihn aus dem Kreis seiner Familie und Freunde herauszuholen, in einem kalten Land zu isolieren und ihn mit Einsamkeit zu zerbrechen.

Drittens, und das war keine Tatsache, sondern eine Frage: Warum hatte unsere Liebe Ba so wenig bedeutet?

Ich musste eingeschlafen sein, denn ich erwachte abrupt, weil sich Ma über mich neigte. Sie fuhr mir mit den Fingerspitzen übers Gesicht. Tagsüber weinte ich nie, nur nachts.

»Sei nicht so, Li-ling«, sagte sie. Sie murmelte vor sich hin. Sie sagte: »Wenn du in einem Zimmer gefangen bist und niemand kommt, um dich zu retten, was kannst du dann tun? Du musst gegen die Mauern hämmern und die Fenster einschlagen. Du musst hinausklettern und dich selbst retten. Es liegt auf der Hand, Li-ling, dass Weinen im Leben nicht weiterhilft.«

»Ich heiße Marie«, rief ich. »Marie!«

Sie lächelte. »Wer bist du?«

»Ich bin Li-ling!«

»Du bist Mädchen.« Sie benutzte den Kosenamen, den mein Vater mir gegeben hatte, weil das Schriftzeichen 女sowohl Mädchen als auch Tochter bedeutet. Er hatte oft im Scherz gesagt, dass die armen Leute dort, wo er herkam, sich nicht die Mühe machten, ihren Töchtern einen Namen zu geben. Ma schlug ihm dann auf die Schulter und sagte auf Kantonesisch: »Füll ihren Kopf nicht mit Müll.«

Geborgen in ihren Armen, schlief ich wieder ein.

Später erwachte ich von Mas Gemurmel und Gekicher. Diese Wintermorgen waren so lichtlos, und Mas unerwartetes Lachen durchschnitt das Zimmer wie das Surren des elektrischen Heizlüfters. Ihre Haut duftete nach den sauberen Kissen und der süßen Duftblütencreme, die sie benutzte.

Als ich ihren Namen flüsterte, murmelte sie: »He.« Und dann: »Hehe.«

Ich fragte sie: »Gehst du über Land oder ins Meer?«

Sie sagte ganz deutlich: »Er ist da.«

»Wer?« Ich versuchte, in dem dunklen Zimmer etwas zu erkennen. Ich glaubte wirklich, dass er da war.

»Der Adoptivmann. Dieser hmmm. Dieser … Professor.«

Ich hielt mich an ihren Fingern fest. Der Himmel auf der anderen Seite der Vorhänge veränderte seine Farbe. Ich wollte ihr in die Vergangenheit meines Vaters folgen, und traute ihr doch nicht. Menschen können auf eine Illusion zugehen, sie können etwas so Berückendes sehen, dass sie vergessen, umzukehren. Ich hatte Angst, dass sie sich wie mein Vater nicht mehr daran erinnern würde, warum sie heimkehren sollte.

Das Leben draußen – der Beginn des neues Schuljahrs, die regelmäßigen Prüfungen, das Vergnügen des Sommerlagers für mathematisch Hochbegabte – ging weiter, als würde es nie enden, vorwärtsgetrieben von der zyklischen Welt der Jahreszeiten. Die Sommer- und Winterjacken meines Vaters warteten noch immer neben der Wohnungstür, unter seinen Hüten und über seinen Schuhen.

Anfang Dezember kam ein dicker Umschlag aus Shanghai, und Ma setzte sich wieder einmal mit ihrem Wörterbuch hin. Das Lexikon ist ein kleinformatiges, extrem dickes gebundenes Buch mit einem grün-weißen Umschlag. Die Seiten sind, wenn ich sie umblättere, transparent und scheinen kein Gewicht zu haben. Hier und da stoße ich auf einen Fettfleck oder einen Kaffeering von der Tasse meiner Mutter oder vielleicht auch meiner. Jedes Wort ist unter seiner Wurzel aufgelistet, auch als Wortstamm bekannt. So bedeutet zum Beispiel 門 Tor, aber es ist auch ein Wortstamm, das heißt ein Baustein für andere Wörter und Konzepte. Wenn Licht oder die Sonne 日 durch das Tor scheint, ergibt sich Raum 間. Wenn ein Pferd 馬 im Tor steht, ist es ein Hinterhalt 闖, wenn sich ein Mund 口 im Tor befindet, handelt es um eine Frage 問. Wenn ein Auge 目 und ein Hund 犬 darin sind, dann heißt es Ruhe 闃.

Der Brief aus Shanghai war dreißig Seiten lang, und die Handschrift war spinnwebartig; nach ein paar Minuten war ich es müde, dabei zuzusehen, wie sich meine Mutter hindurchkämpfte. Ich ging in das vordere Zimmer und schaute hinaus zu den Nachbarn. Auf der anderen Seite des Hofes stand ein armseliger Weihnachtsbaum. Er sah aus, als hätte jemand versucht, ihn mit Lametta zu erwürgen.

Regen wurde herangetrieben, und der Wind pfiff. Ich brachte meiner Mutter ein Glas Eierpunsch.

»Ist es ein schöner Brief?«

Ma legte die Blätter weg. Ihre Lider waren geschwollen. »Es ist nicht, was ich erwartet habe.«

Ich fuhr mit den Fingern über den Umschlag und dechiffrierte den Namen des Absenders. Ich war überrascht. »Eine Frau?«, fragte ich und hatte plötzlich Angst.

Meine Mutter nickte.

»Sie hat eine Bitte«, sagte Ma, nahm mir den Umschlag ab und schob ihn unter andere Papiere. Ich trat näher zu ihr, als wäre sie eine Vase, die gleich vom Tisch fallen würde, doch Mas geschwollene Augen deuteten auf eine unerwartete Gefühlsregung. Trost? Oder zu meinem Erstaunen vielleicht auch Freude. »Sie bittet um einen Gefallen.«

»Liest du mir den Brief vor?«

Ma kniff sich in den Nasenrücken. »Er ist wirklich lang. Sie schreibt, dass sie deinen Vater seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat. Aber früher einmal waren sie wie eine Familie.« Sie zögerte vor dem Wort Familie. »Sie schreibt, dass ihr Mann der Kompositionslehrer deines Vaters am Shanghai-Konservatorium war. Aber sie hatten den Kontakt verloren. Während der schwierigen Jahre.«

»Welche schwierigen Jahre?« Ich begann zu vermuten, dass jeder Gefallen auf amerikanische Dollar oder einen neuen Kühlschrank hinauslaufen würde, und befürchtete, dass Ma ausgenutzt werden sollte.

»Bevor du geboren wurdest. In den sechziger Jahren. Damals, als dein Vater Musik studierte.« Ma blickte mit einem nicht zu deutenden Ausdruck zu Boden. »Sie schreibt, dass dein Vater sich letztes Jahr bei ihnen gemeldet hat. Ba hat ihr ein paar Tage, bevor er starb, aus Hongkong geschrieben.«

Eine Reihe Fragen stellte sich mir. Ich wusste, dass ich ihr nicht auf die Nerven fallen sollte, aber weil ich einfach nur verstehen wollte, sagte ich schließlich: »Wer ist sie? Wie heißt sie?«

»Ihr Nachname ist Deng.«

»Und ihr Vorname?«

Ma öffnete den Mund, aber keine Worte kamen heraus. Schließlich schaute sie mir in die Augen und sagte: »Ihr Vorname ist Li-ling.«

Sie hieß wie ich, nur dass ihr Name in vereinfachtem Chinesisch geschrieben war. Ich griff nach dem Brief. Ma legte ihre Hand auf meine. Um meiner nächsten Frage zuvorzukommen, fuhr sie fort: »Diese dreißig Seiten handeln von der Gegenwart, nicht von der Vergangenheit. Deng Li-lings Tochter ist nach Toronto geflogen, aber sie kann mit ihrem Pass nicht reisen. Ihre Tochter weiß nicht, wohin, sie braucht unsere Hilfe. Ihre Tochter …« Rasch schob Ma den Brief in den Umschlag. »Ihre Tochter wird zu uns kommen und eine Zeitlang bei uns wohnen. Verstehst du? Der Brief ist über die Gegenwart.«

Mir war, als kippte das Zimmer. Warum sollte eine Fremde bei uns leben?

»Ihre Tochter heißt Ai-ming«, sagte Ma, die versuchte, mich zurückzuholen. »Ich werde sie jetzt anrufen und alles arrangieren, damit sie zu uns kommen kann.«

»Ist sie so alt wie ich?«

Ma schien verwirrt. »Nein, sie muss mindestens neunzehn sein, sie ist Studentin. Deng Li-ling schreibt, dass ihre Tochter … sie schreibt, dass Ai-ming während der Demonstrationen auf dem Tiananmen-Platz in Peking in Schwierigkeiten geraten ist. Sie ist davongelaufen.«

»Was für Schwierigkeiten?«

»Es reicht«, sagte meine Mutter. »Mehr musst du nicht wissen.«

»Doch! Ich muss mehr wissen.«

Verärgert schlug Ma das Wörterbuch zu. »Wer hat dich großgezogen? Du bist zu jung, um so neugierig zu sein.«

»Aber –«

»Es reicht.«

Ma wartete, bis ich im Bett lag, bevor sie anrief. Sie sprach in ihrer Muttersprache, Kantonesisch, mit kurzen Einwürfen in Mandarin, und obwohl sie die Tür geschlossen hatte, hörte ich, wie sie vor den Lauten zögerte, die ihr nie automatisch über die Lippen gekommen waren.

»Ist es sehr kalt da, wo du bist?«, hörte ich Ma fragen.

Und dann: »Du kannst die Busfahrkarte abholen bei …«

Ich nahm meine Brille ab und schaute aus dem beschlagenen Fenster. Der Regen sah aus wie Schnee. Mas Stimme klang fremd in meinen Ohren.

Nach einem langen Schweigen setzte ich die Brille wieder auf, stieg aus dem Bett und ging hinaus. Ma hielt einen Stift in der Hand, als wartete sie auf ein Diktat, vor ihr ein Stapel Rechnungen. Sie sah mich an und sagte: »Wo sind deine Hausschuhe?«

Ich antwortete, dass ich es nicht wüsste.

Ma explodierte. »Geh ins Bett, Mädchen! Warum begreifst du nicht? Ich möchte nur ein bisschen Ruhe! Du lässt mich nie allein, du beobachtest mich andauernd, als würdest du glauben, dass ich …« Sie knallte den Stift auf den Tisch. Ein Stück brach ab und rollte davon. »Glaubst du, dass ich dich verlassen werde? Hältst du mich für so egoistisch wie ihn? Glaubst du, dass ich dich jemals alleinlassen und so verletzen werde, wie er es getan hat?« Es folgte ein langer, zorniger Ausbruch in Kantonesisch. »Geh jetzt ins Bett!«

Sie sah so gealtert und zerbrechlich aus, wie sie mit ihrem alten schweren Wörterbuch dasaß.

Ich lief ins Bad, knallte die Tür zu, öffnete sie wieder, knallte sie noch heftiger zu und brach in Tränen aus. Ich ließ Wasser in die Wanne einlaufen, doch dann wurde mir klar, dass ich eigentlich nichts anderes wollte als ins Bett gehen. Aus meinem Schluchzen wurde ein Schluckauf, und als der endlich nachließ, hörte ich nur noch das Wasser rauschen. Ich saß auf dem Wannenrand und sah zu, wie sich meine Füße unter Wasser verzerrten. Meine bleichen Beine verschwanden, als ich mich ins Wasser legte.

In meiner Erinnerung schob Ba eine Kassette in den Rekorder und sagte, dass ich das Fenster herunterkurbeln solle, und wir fuhren die Mainstreet und den Great Northern Way entlang, aus dem Auto schallte Beethovens 5. Klavierkonzert, im angelsächsischen Sprachraum als Emperor-Konzert bezeichnet, gespielt von Glenn Gould, dirigiert von Leopold Stokowski. Sich überschlagende Töne stürzten herab und stiegen unendlich weit auf, und mein Vater dirigierte mit der rechten Hand, während er mit der linken lenkte. Ich hörte ihn summen, sein melodisches, abgehacktes DA! DA-de-de-de DA! Da, da, da! Während wir triumphierend durch Vancouver fuhren, hatte ich das Gefühl, dass nicht Beethoven den ersten Satz komponiert hatte, sondern mein Vater. Seine Hand bewegte sich im Viervierteltakt, ein kurzes Innehalten der Spannung zwischen dem vierten und dem ersten Takt, und ich fragte mich, was es bedeuten konnte, dass ein einst berühmter Mann, der in Peking vor Mao Zedong höchstpersönlich gespielt hatte, nicht einmal ein Klavier zu Hause hatte. Dass er seinen Lebensunterhalt damit verdiente, in einem Laden zu arbeiten. Obwohl ich selbst darum bat, Geige lernen zu dürfen, lehnte es mein Vater kategorisch ab. Und doch fuhren wir jetzt quer durch die Stadt, eingetaucht in diese triumphale Musik, so dass die Vergangenheit, Beethovens und die meines Vaters, nicht tot war, sondern von der Windschutzscheibe zurückgeworfen wurde, aufstieg und auf uns schien wie die Sonne.

Den Buick hatten wir nicht mehr; Ma hatte ihn verkauft. Sie war immer die Robustere gewesen, wie der Kaktus im Wohnzimmer, die einzige Pflanze in der Wohnung, die Bas Verschwinden überlebt hatte. Mein Vater hatte mehr gebraucht zum Leben. Das Badewasser schwappte über mich hinweg. Die Verschwendung war mir unangenehm, und ich drehte den Hahn zu. Mein Vater hatte einst gesagt, dass Musik voller Stille ist. Er hatte mir nichts zurückgelassen, keinen Brief, keine Botschaft. Kein einziges Wort.

Ma klopfte an die Tür.

»Marie«, sagte sie. Sie drückte auf die Klinke, aber es war abgeschlossen. »Li-ling, alles in Ordnung?«

Ein langer Augenblick verging.

Die Wahrheit war, dass ich meinen Vater mehr geliebt hatte. Dies wurde mir im selben Atemzug klar, in dem ich zweifelsfrei wusste, dass mein Vater sehr gelitten haben musste und meine Mutter mich nie, nie verlassen würde. Auch sie hatte ihn geliebt. Weinend legte ich die Hände aufs Wasser. »Ich wollte nur baden.«

»Ja«, sagte sie. Ihre Stimme schien in der Wanne widerzuhallen. »Lass das Wasser nicht kalt werden.«

Sie versuchte es noch einmal mit der Tür, aber sie war immer noch abgeschlossen.

»Es wird alles gut«, sagte sie schließlich.

Mehr als alles andere wollte ich uns beide aus diesem Traum aufwecken. Stattdessen spritzte ich mir in meiner Hilflosigkeit Wasser über die Tränen und nickte. »Ich weiß.«

Ich horchte auf das Geräusch ihrer Hausschuhe, das leiser wurde, als sie sich entfernte.

Am 16. Dezember 1990 kam Ma im Taxi mit einer neuen Tochter nach Hause, die keinen Mantel, sondern nur einen dicken Schal, einen Wollpullover, Bluejeans und Stoffschuhe trug. Ich hatte noch nie ein chinesisches Mädchen kennengelernt, das heißt jemanden, der wie mein Vater tatsächlich aus Festlandchina kam. An einer Schnur um ihren Hals baumelten graue Fäustlinge und stießen in einem nervösen Rhythmus gegen ihre Beine. Wie bei einem Gelehrten hing ein fransiges Ende ihres blauen Schals nach vorn, das andere nach hinten. Es regnete heftig, und sie ging mit gesenktem Kopf, sie hatte einen mittelgroßen Koffer dabei, der leer zu sein schien. Sie war blass, und ihr Haar schimmerte wie das Meer.

Beiläufig öffnete ich die Tür und riss die Augen auf, als würde ich keine Besucher erwarten.

»Mädchen«, sagte Ma. »Nimm den Koffer. Mach schon.«

Ai-ming trat ein und blieb am Rand des Türvorlegers stehen. Als ich nach ihrem Koffer griff, berührte ich mit meiner Hand zufällig ihre, und sie schreckte nicht zurück, sondern legte ihre andere Hand auf meine. Sie sah mich so offen und neugierig an, dass ich aus Schüchternheit die Augen schloss.

»Ai-ming«, sagte Ma. »Darf ich dir meine Tochter vorstellen? Das ist mein Mädchen.«

Ich zog meine Hand zurück und öffnete die Augen.

Ma legte ihren Mantel ab und schaute zuerst zu mir, sah sich dann im Zimmer um. Das braune Sofa mit den drei kamelhaarfarbenen Streifen hatte schon bessere Tage gesehen, aber ich hatte es mit den geblümten Kissen und den Stofftieren von meinem Bett auf Vordermann gebracht. Ich hatte auch den Fernseher eingeschaltet, um dem Zimmer den Anschein von Lebendigkeit zu geben. Ma nickte mir nachdrücklich zu. »Mädchen, begrüß deine Tante.«

»Wirklich, es ist okay, wenn du einfach Ai-ming zu mir sagst. Bitte. Das wäre mir lieber.«

Um sie beide zu besänftigen, sagte ich: »Hallo.«

Wie ich vermutet hatte, war der Koffer sehr leicht. Ich streckte die freie Hand aus, um Ai-mings Mantel zu nehmen, bevor mir einfiel, dass sie gar keinen anhatte. Mein Arm schwebte in der Luft wie ein Fragezeichen. Sie nahm meine Hand und schüttelte sie fest.

In ihren Augen stand eine Frage. Ihr Haar, auf einer Seite mit einer Klammer festgesteckt, fiel auf der anderen Seite locker herunter, so dass es schien, als sähe ich nur ihr Profil, das sich mir demnächst zuwenden würde. Ohne meine Hand loszulassen, schlüpfte sie geräuschlos aus den Schuhen, einem nach dem anderen. Winzige Regentropfen schimmerten auf ihrem Schal.

Unser Leben hatte sich so reduziert, dass ich mich nicht erinnern konnte, wann zuletzt ein Fremder unsere Wohnung betreten hatte; aufgrund von Ai-mings Anwesenheit wirkte alles fremd, als würden sich ihr die Wände ein paar Zentimeter nähern, um sie zu betrachten. Am Vorabend hatten wir endlich Bas Papiere und Notizbücher in Schachteln verpackt und unter den Tisch gestellt. Jetzt empfand ich den Tisch als trügerisch leer. Ich löste meine Hand und sagte, dass ich den Koffer in ihr Schlafzimmer tragen würde.

Ma zeigte ihr die Wohnung. Ich setzte mich aufs Sofa und tat so, als würde ich den Weather Channel schauen, der Regen für den Rest der Woche, den Rest von 1990, den Rest des Jahrhunderts und sogar bis ans Ende der Zeit vorhersagte. Ihre Stimmen wechselten sich ab, hintereinander herschnurrend wie die Wagen einer Straßenbahn, hin und wieder von Schweigen unterbrochen. Die intensive Spannung in der Wohnung übertrug sich auf mich, und ich hatte das Gefühl, der Boden wäre aus Papier, als würden überall Wörter stehen, die ich nicht lesen konnte, und eine unbedachte Geste könnte das ganze Haus zum Einsturz bringen.

Wir aßen zusammen. Ma hatte eine Klappe des Tisches entfernt, so dass er nicht mehr oval, sondern rund war. Sie hielt im Reden inne, um mir einen Blick zuzuwerfen, der besagte: Hör auf zu starren.

Hin und wieder stieß ich mit dem Fuß versehentlich gegen eine der Schachteln unter dem Tisch, und Ai-ming erschrak.

»Ai-ming, macht dir die Kälte etwas aus?«, fragte Ma gutgelaunt und ignorierte mich. »Ich selbst habe keinen Winter gekannt, bevor ich nach Kanada gekommen bin.«

»In Peking gibt es einen Winter, aber das hat mir nichts ausgemacht. Ich bin weit im Süden aufgewachsen, wo es feucht und warm ist, und als wir nach Peking gezogen sind, war die Kälte neu für mich.«

»Ich war nie in der Hauptstadt, aber ich habe gehört, dass der Staub aus den Wüsten im Westen bis dorthin geweht wird.«

»Das stimmt.« Ai-ming nickte lächelnd. »Der Sand war in unseren Kleidern, in den Haaren und sogar im Essen.«

Ich saß ihr gegenüber und sah, dass sie wirklich neunzehn war. Ihre Augen waren geschwollen und blickten müde und erinnerten mich unerwartet an Mas trauriges Gesicht. Ich glaube, dass man manchmal eine Person anschaut und weiß, dass sie voller Worte ist. Die Worte werden zurückgehalten, vielleicht aufgrund von Schmerz oder Verschwiegenheit oder als List. Vielleicht sind es messerscharfe Worte, die darauf warten, einen blutigen Schnitt zu machen. Ich fühlte mich sowohl als Kind als auch als Erwachsene. Ich wünschte mir, Ma und ich wären allein, aus mir unerklärlichen Gründen wollte ich ihr nahe sein.

»Was bedeutete das ›ming‹ von Ai-ming?«, fragte ich in Englisch und stieß zum Nachdruck gegen eine Schachtel. »Ist es das ›ming‹, das verstehen heißt, oder das ›ming‹, das Schicksal bedeutet?«

Sie schauten mich beide an.

»Iss dein Huhn«, sagte Ma.

Die Tochter betrachtete mich erfreut. Sie schrieb ein Schriftzeichen in die Luft zwischen uns, 明. Die Sonne und der Mond, miteinander verbunden, ergaben Verstehen oder Helligkeit. Es war ein alltägliches Wort.

»Meine Eltern hatten eine bestimmte Bedeutung von aì míng im Sinn«, sagte sie. »›Klugheit schätzen.‹ Aber du hast recht, es gibt da eine Unklarheit. Die Vorstellung von … hm, nicht das Schicksal schätzen, eher es annehmen.« Sie griff nach ihrer Schale und steckte die Spitzen der Stäbchen in den weichen Reis.

Ma fragte sie, ob sie etwas brauche oder ob sie gern etwas unternehmen würde.

Ai-ming stellte ihre Schale ab. »Um ehrlich zu sein, ich fühle mich, als hätte ich seit langem nicht mehr richtig geschlafen. In Toronto bin ich nicht zur Ruhe gekommen. Alle paar Wochen musste ich umziehen.«

»In eine andere Wohnung?«, fragte Ma.

Ai-ming zitterte. »Ich dachte … ich hatte Angst vor der Polizei. Ich hatte Angst, dass sie mich zurückschicken würden. Ich weiß nicht, ob dir meine Mutter alles erzählen konnte. Ich hoffe es. Ich habe nichts Falsches getan in Peking, nichts Kriminelles, aber trotzdem … In China haben mir mein Onkel und meine Tante dabei geholfen, das Land zu verlassen, und ich bin über die Grenze nach Kirgisistan und dann … Du hast mir die Fahrkarte gekauft, trotz allem hast du mir geholfen … Ich bin sehr dankbar, ich fürchte, ich kann dir gar nicht genug danken. Es tut mir leid …«

Meine Mutter war verlegen. »Hier«, sagte sie. »Iss.«

Doch mit Ai-ming war eine Veränderung vorgegangen. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie die Stäbchen nicht mehr halten konnte. »Jeden Tag denke ich darüber nach, aber ich verstehe einfach nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich komme mir vor wie ein Flüchtling. Zu Hause hat meine Mutter zu kämpfen. Ich habe Angst zu schlafen … Manchmal träume ich, dass nichts von alledem wirklich passiert ist, aber dann wird das Aufwachen zu einem Albtraum. Wenn ich nur bei meiner Mutter wäre, wenn nur mein Vater noch leben würde, wenn er nur nicht … Aber das Wichtigste ist, dass ich etwas aus mir mache, denn jetzt habe ich überhaupt nichts. Ich habe nicht einmal einen Pass. Ich habe Angst, den zu benutzen, den ich habe, er ist nicht … legal. Es ist nicht mein Pass, aber ich hatte keine andere Wahl. Ich habe gehört, wenn ich es über die Grenze in die Vereinigten Staaten schaffe, dass es dort eine Amnestie für chinesische Studenten gibt, die vielleicht auch für mich gilt. Auch wenn ich jetzt nichts habe, werde ich alles zurückzahlen, ich schwöre es. Ich verspreche es.«

»Zhí nŭ«, sagte Ma und neigte sich zu ihr. Die Worte verwirrten mich. Sie bedeuteten »Tochter meines Bruders«, aber Ma hatte keine Brüder.

»Ich wollte mich um sie kümmern, aber dann hat sich die Lage so schnell verändert. Alles ging schief.«

»Du musst dich hier nicht rechtfertigen«, sagte Ma. »Du gehörst zur Familie, und das ist nicht nur so dahingesagt, verstehst du? Es ist wirklich ernst gemeint.«

»Und außerdem«, sagte Ai-ming und wurde blass, »möchte ich dir aufrichtig mein Beileid aussprechen.«

Meine Mutter und Ai-ming sahen sich an. »Danke«, sagte Ma. Die unerwarteten Tränen in ihren Augen trafen mich ins Mark. Trotz allem, was wir durchgemacht hatten, weinte meine Mutter nur selten. »Und ich dir meins. Mein Mann hat deinen Vater sehr geliebt.«

Am ersten Samstag, an dem Ma nicht arbeiten musste, ging sie zum Einkaufen und kam mit Socken, Pullovern, einem Paar Winterschuhen und einer dicken Jacke nach Hause. Anfangs schlief Ai-ming sehr viel. Sie kam mit zerzaustem Haar in einer Leggings von mir und einem alten T-Shirt von Ma aus Mas Schlafzimmer. Ai-ming hatte Angst, vor die Tür zu gehen, und so vergingen Wochen, bevor sie die neuen Schuhe anzog. Die Jacke jedoch trug sie jeden Tag. Nachmittags saß sie am Küchentisch mit einem Stapel Bücher von meinem Vater. Sie las mit den Händen in den Jackentaschen und legte ein Hackmesser auf das Buch, um die Seiten zu beschweren. Manchmal fielen ihr die Haare ins Gesicht und blockierten das Licht, dann drehte sie es zusammen und steckte es im Nacken in den Pullover.

Nachdem sie ungefähr eine Woche bei uns war, bat sie Ma eines Abends, ihr die Haare zu schneiden. Es war kurz nach Weihnachten, daran erinnere ich mich. Seit Schulferien waren, saß ich die meiste Zeit vor dem Fernseher und aß Schokoladenschildkröten. Ma rief mich zu sich und sagte, ich sollte Ai-mings Haar mit Wasser aus der Plastikflasche einsprühen, aber ich weigerte mich, weil ich der Meinung war, dass man das Haar unseres Gastes in Ruhe lassen sollte.

Die Frauen lachten. Ai-ming sagte, dass sie modern aussehen wolle. Sie gingen in die Küche und legten Zeitungen aus, und Ai-ming zog die Jacke aus und stieg auf einen Schemel, damit ihr langes Haar Mas Schere entgegenfiel. Ich sah eine Folge von Das A-Team, und das kalte Schnappen der Schere sowie ihr Kichern verhinderten, dass ich mich konzentrieren konnte. In der ersten Werbepause ging ich in die Küche, um mir ihren Fortschritt anzusehen.

Ai-ming, die Hände gefaltet, als würde sie beten, verdrehte die Augen. Ma hatte ungefähr ein Drittel ihres Haars geschnitten, und die langen nassen Enden lagen auf dem Boden wie hingemetzelte Geschöpfe aus dem Meer. »Oh«, sagte ich, »wie konntet ihr nur?«

Ma hielt ihre Waffe hoch. »Als Nächstes bist du dran, Mädchen.«

»Ma-li, es ist schon fast Neujahr. Zeit für einen Haarschnitt.« Ai-ming hatte Schwierigkeiten, Marie zu sagen, deswegen hatte sie sich für die chinesische Variante entschieden, die laut Wörterbuch »bezauberndes Mineral« bedeutete.

In diesem Augenblick schnitt Ma eine weitere dicke Haarsträhne ab. Sie segelte zu Boden, als würde sie noch atmen.

»Es ist das kanadische Neujahr. Die Menschen in Kanada lassen sich zu Neujahr nicht die Haare schneiden. Sie trinken Champagner.«

Jedes Mal, wenn Ma Wasser versprühte, hüllte ein feiner Dunst Ai-ming ein, und sie kniff wegen der Kälte die Augen zu. Ai-ming verwandelte sich unter meinen Blicken. Sogar ihre blasse Haut wirkte weniger krank. Als sie ihr Haar bis auf Schulterlänge gekürzt hatte, begann Ma einen Pony zu schneiden, der auf dezidiert modische Weise schräg über Ai-mings Stirn fiel. Sie sah sehr, sehr schön aus. Ihre Augen waren dunkel und klar, und die Form ihres Mundes war, wie die Dichter sagen, eine Rose auf ihrer Haut. Eine leichte Röte überzog Ai-mings Wangen, die eine Stunde zuvor noch nicht da gewesen war und intensiver wurde, wenn Ma sie länger musterte, um ihre Arbeit zu begutachten. Sie hatten mich völlig vergessen.

Als ich ins Nebenzimmer zurückkehrte, lief der Abspann von Das A-Team. Ich ließ mich auf die Couch fallen und zog die Beine an die Brust. Alle Fenster außer unserem leuchteten festlich, und ich hatte den Eindruck, als würde unsere Wohnung von der Besatzung eines UFOs beobachtet, die nicht sicher war, ob sie in Vancouver landen oder weiterfliegen sollte. Die Außerirdischen in meinem Raumschiff fragten sich: Haben sie Mineralwasser? Was essen sie? Vielleicht sollten wir warten und erst im Frühjahr wiederkommen? Landet, sagte ich zu ihnen. Menschen sind nicht dafür geschaffen, durch die Luft zu schweben. Wenn wir das Gewicht unseres Körpers nicht kennen, wenn wir den Zug der Schwerkraft nicht spüren, vergessen wir, wer wir sind, wir verlieren uns, ohne es zu merken.

Ai-ming hatte zuvor in einem zweisprachigen Gedichtband meines Vaters gelesen. Ich nahm ihn in die Hand, das Buch war mir vertraut, weil ich es für den Kalligraphieunterricht benutzt hatte. Ich blätterte darin, bis ich auf ein mir bekanntes Gedicht stieß, Worte, die mein Vater unterstrichen hatte.

Sieh zu, wie nach und nach die Nacht vergeht.

Echos im Haus; möchte hinaufgehen, wage es nicht.

Ein Glühen hinter dem Paravent; möchte

hindurchgehen, kann nicht.

Es würde zu sehr schmerzen, die Schwalbe auf ihrer

Haarnadel zu sehen.

Mich wahrhaft beschämen, den Phönix in ihrem

Spiegel zu sehen.

Nach Hengtang kehre ich bei Tagesanbruch zurück,

verblasse wie das Licht auf einem juwelenbesetzten

Sattel.

Ich las das Gedicht zweimal und schlug das Buch zu. Ich hoffte, dass mein Vater in dem Leben nach dem Tod, in das er eingetreten war, auch Weihnachten und Neujahr feierte, aber ich befürchtete, dass er allein war und im Gegensatz zu Ai-ming noch keine Familie gefunden hatte, die ihn beschützte. Trotz meiner Wut auf ihn, trotz des Schmerzes, der nicht aufhören wollte, wünschte ich immerzu, dass er glücklich wäre.

Es war natürlich unvermeidlich, dass Ai-ming die Schachteln unter dem Tisch entdeckte. Im Januar kam ich von der Schule nach Hause und fand die Schachteln mit den Unterlagen meines Vaters geöffnet vor – nicht weil sie sie hervorgeholt, sondern weil sie den Esstisch zurückgeschoben hatte. Eine Schachtel war vollständig geleert. Bas Notizbücher, die auf dem Tisch lagen, erinnerten mich an die Armseligkeit des Flohmarkts von Vancouver. Schlimmer noch, Ai-ming konnte jedes Schriftzeichen entziffern, während ich, seine Tochter, keine einzige Zeile lesen konnte.

Sie machte Krautsalat und hatte so viel Meerrettich gerieben, dass ich mich fragte, ob der Kohl noch in die Schüssel passen würde.

Ich sagte, ich wisse nicht, ob mein Magen so viel Meerrettich vertrage.

Sie nickte zerstreut, warf den Kohl hinein und mischte die Zutaten wild. Alles flog in die Luft und fiel zurück in die Schüssel. Ai-ming trug Mas »Kanada: Die Welt nebenan«-Schürze über ihrer Winterjacke.

Sie ging zum Tisch. »Einmal, als ich noch sehr klein war, habe ich deinen Vater gesehen.«

Ich blieb stehen, wo ich war. Ai-ming und ich hatten nie über Ba gesprochen. Dass sie ihn gekannt, dass sie nie daran gedacht hatte, es mir gegenüber zu erwähnen, erfüllte mich mit einer so intensiven Enttäuschung, dass ich kaum mehr atmen konnte.

»Heute Nachmittag«, sagte sie, »habe ich in die Schachteln geschaut. Das sind die Sachen deines Vaters, nicht wahr? Ich weiß, ich hätte dich natürlich um Erlaubnis fragen sollen, aber es lagen so viele Notizbücher darin.«

Ich antwortete, ohne sie anzusehen. »Mein Vater ist 1979 nach Kanada gezogen. Das sind Papiere aus zwölf Jahren. Ein ganzes Leben. Er hat uns so gut wie nichts hinterlassen.«

»Ich nenne es das Zimmer des zá jì«, sagte sie. »Der Dinge, die nicht passen. Dies und das …«

Um das Frösteln, das in meiner Brust begonnen hatte und jetzt in meine Extremitäten ausstrahlte, zu stoppen, wiederholte ich in Gedanken immer wieder die Wörter, die Ai-ming gerade benutzt, die ich jedoch nie zuvor gehört hatte: zá jì.

»Du verstehst doch, oder?«, sagte sie. »Die Dinge, die wir nie laut aussprechen und die hier enden, in Tagebüchern und Notizbüchern, an ganz persönlichen Orten. Wenn wir sie finden, ist es zu spät.« Ai-ming hatte ein Notizbuch fest in der Hand. Ich erkannte es sofort: Es war groß, aber dünn, hatte die Form einer Miniaturtür, locker in Baumwolle gebunden. Das Buch der Aufzeichnungen.

»Das hast du also schon mal gesehen?« Als ich immer noch nichts sagte, lächelte sie mich traurig an. »Es ist die Handschrift meines Vaters. Verstehst du? Seine Schrift wirkt so mühelos, so kunstfertig. Er schrieb immer mit großer Sorgfalt, auch wenn das Schriftzeichen einfach war. Es lag in seiner Natur, aufmerksam zu sein.«

Sie schlug das Buch auf. Die Worte schienen auf den Seiten zu schweben, sich aus eigenem Antrieb zu bewegen. Ich wich zurück. Sie musste es mir nicht zeigen, ich wusste, wie es aussah.

»Ich habe mein eigenes zá jì«, fuhr sie fort. »Aber es ist jetzt überall, und ich weiß nicht, wie ich es eindämmen soll. Weißt du, warum wir Aufzeichnungen machen, Ma-li? Es muss einen Grund dafür geben, aber was nützt es, so unbedeutende Dinge aufzubewahren? Mein Vater war ein großartiger Komponist und Musiker, aber er hat sein Talent aufgegeben, um mich zu beschützen. Er war ein aufrichtiger und ernsthafter Mensch, und sogar dein Vater wollte einen Teil von ihm behalten. Sogar dein Vater hat ihn geliebt. Aber sie haben ihn sterben lassen. Er wurde umgebracht wie ein Tier. Wie kann mir das jemand erklären? Wenn mein Vater noch leben würde, wäre ich nicht hier. Ich wäre nicht allein. Und dein Vater, er hätte sich nicht … Oh, Ma-li. Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«

Ai-ming tat etwas, was sie seit ihrer Ankunft einen Monat zuvor nicht mehr getan hatte. Sie weinte, aber sie war zudem so überwältigt, dass sie sich weder abwandte noch ihr Gesicht bedeckte. Das Geräusch verstörte mich ungemein, ein leises Klagen, das alles demontierte. Ich meinte, »Hilf mir, hilf mir« zu hören. Ich hatte panische Angst davor, dass ihr Schmerz in meinen Körper übergehen und dort für immer bleiben würde, wenn ich sie berührte. Ich ertrug es nicht. Ich wandte mich von ihr ab, ging in mein Schlafzimmer und schloss die Tür.

Das Zimmer fühlte sich sehr klein an. Familie, flüsterte ich. Familie war eine wertvolle Schachtel, die sich nicht von allein öffnete und schloss, nur weil Ma es so wollte. Bas Foto auf der Kommode tat mir weh. Nein, es war nicht das Foto, sondern das Gefühl, das es auslöste, dieses scheuernde Gefühl, das allem, sogar meiner Liebe für Ma und Ai-ming, einen bitteren Geschmack beimischte. Ich wollte das Foto auf den Boden werfen, doch ich hatte Angst, dass es real war, dass es meinen Vater selbst enthielt und dass er nie wieder würde nach Hause kommen können, wenn ich es beschädigte. Der Regen draußen prasselte gegen meine Gedanken. Während er an den Fensterscheiben hinunterrann, veränderte er sich, und diese Rinnsale, die größer und kleiner wurden, sich vereinigten und zitterten, begannen mich zu verwirren und zu hypnotisieren. War ich auch so unbedeutend? Würde ich je etwas verändern? Plötzlich erinnerte ich mich an den Geruch meines Vaters, an eine Süße wie junge Blätter oder frisch gemähtes Gras, der Duft seiner Seife. An seine Stimme und seine merkwürdig formale Syntax. »Was wünscht Tochter Vater zu sagen? Warum weint Tochter?« Seine Stimme wie keine andere auf dieser Erde.

Ich erinnerte mich unfreiwillig, wie ich Ma hatte sagen hören, dass Ba so gut wie nichts mehr besaß, als er gefunden wurde. Sie hatte ein Ferngespräch mit einer Freundin in Hongkong geführt. Sie sagte, dass sein Koffer, voll bei seiner Abreise, leer gewesen sei. Er hatte sich aller Dinge entledigt, einschließlich seines Eherings, seines tragbaren CD-Spielers von Sony und seiner Musik. Er hatte nicht einmal mehr ein Foto von uns. Der Brief, den er hinterließ, war kein Abschiedsbrief. Darin stand nur, dass er Schulden hatte, die er nicht begleichen konnte, dass es Versäumnisse gab, mit denen er nicht leben konnte, und dass er in Hongkong an der Grenze zu China begraben werden wollte. Er schrieb, dass er uns liebte.

Einmal im Jahr war mein Vater mit uns immer in ein Konzert gegangen. Wir hatten nie gute Sitze, aber Ba sagte, das sei nicht wichtig, entscheidend sei, dass wir dort, im Saal waren, während die Musik, so alt sie auch sein mochte, wiederbelebt wurde. Im Leben gebe es so viele Hindernisse, sagte mein Vater zu mir, und niemand könne sicher sein, dass morgen oder im nächsten Jahr alles unverändert wäre. Er erzählte mir, dass sein Adoptivvater, der Professor, mit ihm als kleinem Jungen in ein Konzert in Shanghai gegangen war und dass dieses Erlebnis ihn für immer verändert hatte. Mauern in ihm, von deren Existenz er nichts gewusst hatte, traten plötzlich klar zutage. »Ich wusste, dass mir ein anderes Leben bestimmt war«, sagte er. Nachdem er von diesen Mauern wusste, beschäftigte er sich nur noch damit, wie er sie einreißen könnte.

»Was für Mauern?«, hatte ich gefragt.

»Mìng«, sagte er. »Schicksal.« Erst später, als ich das Wort wieder nachschlug, sah ich, dass mìng 命 sowohl Schicksal als auch Leben bedeutet.

Das Klopfen an der Tür holte mich in den Regen, ins Zimmer und zu mir selbst zurück.

»Ma-li«, sagte Ai-ming und setzte sich ans Fußende des Betts. Sie hatte die Schreibtischlampe eingeschaltet und sah aus wie der blasse Schatten, den ich warf. »Ich hätte die Notizbücher deines Vaters nicht lesen sollen. Das wollte ich dir sagen. Es tut mir wirklich leid, Ma-li. Bitte, verzeih mir.«

Die Stille wurde dichter. Ich saß so weit weg von ihr wie nur möglich, auf meinen Kopfkissen.

Ai-ming flüsterte: »Ich bin wirklich ein sehr furchtsamer Mensch.«

»Wovor hast du Angst?«

»Dass deine Mutter mich bittet, wieder zu gehen. Allein kann ich nicht noch einmal überleben. Ich weiß, dass ich es nicht kann.«

Ich schämte mich. Ihre Worte erinnerten mich irgendwie an Ba. »Du gehörst zur Familie, das hat Ma gesagt.«

»Ma-li, unsere Leben sind verworren. Und zwischen deiner Familie und meiner gibt es … großen Kummer.«

Ich nickte, als würde ich verstehen.

Ai-ming fuhr fort: »Mein Vater liebte Musik, genau wie deiner. Er hat am Konservatorium von Shanghai unterrichtet, aber das war, bevor ich geboren wurde.«

»Was hat er danach gemacht?«

»Er hat zwanzig Jahre lang in Fabriken gearbeitet. Zuerst hat er Holzkisten gebaut und später dann Radios.«

»Das verstehe ich nicht. Warum hat er das getan, wenn er Musik geliebt hat?« Es regnete so heftig, dass die Tropfen wie Silberkügelchen gegen das Fenster prasselten. Plötzlich dachte ich an Ma, die an der Bushaltestelle wartete, mit nassem Mantel, und der Wind und die Feuchtigkeit krochen ihr bis in die Knochen.

»Ich habe deinen Vater getroffen«, sagte Ai-ming und wich meiner Frage aus. »Als ich ein kleines Mädchen war, kam Jiang Kai in unser Dorf. Mein Vater hat sich sehr gefreut, ihn nach so vielen Jahren wiederzusehen. Das war 1977, der Vorsitzende Mao war gestorben, und es war der Anfang einer neuen Ära. Viele Dinge veränderten sich, aber trotzdem war mein Vater vorsichtig, wenn es darum ging, Gefühle zu zeigen. Doch ich habe gesehen, wie viel ihm Jiang Kais Besuch bedeutet hat, und deswegen habe ich ihn nicht vergessen. Und nachdem mein Vater gestorben war, hat Jiang Kai bei uns angerufen. Dein Ba war in Hongkong. Ich habe mit ihm am Telefon gesprochen.«

»Ai-ming, ich möchte nicht, dass du über meinen Ba sprichst. Ich will seinen Namen nie, nie wieder hören.«

»Hmmm«, sagte sie. Sie steckte die Hände in die Jackentaschen und nahm sie sofort wieder heraus.

»Warum frierst du immer so?«, fragte ich.

Sie klatschte in die Hände, um sie zu wärmen. »Ich bin im Winter aus Peking weg, und ich glaube, die Kälte ist mir in den Knochen steckengeblieben, weil mir nie warm ist. Meine Mutter und meine Großmutter haben mir geholfen, China zu verlassen. Sie hatten Angst, weil … ich nicht so tun konnte, als ob. Ich konnte nicht so tun, als ob nichts passiert wäre.« Ai-ming vergrub sich tiefer in ihrer Jacke. Sie wirkte schrecklich jung und einsam.

»Du vermisst deine Mutter sehr, oder?«

Ai-ming nickte.

In meinem Kopf machte es klick. Ich stieg vom Bett und ging hinaus. Das Notizbuch, das ihr Vater abgeschrieben hatte, das Buch der Aufzeichnungen, war leicht zu finden. Ich holte es, weil ich wusste, dass es ihr gefallen würde. Doch als ich es ihr hinhielt, ignorierte mich Ai-ming.

Ich versuchte es noch einmal. »Ma hat gesagt, dass es um ein großes Abenteuer geht, dass jemand nach Amerika fährt und jemand anders durch die Wüste wandert. Sie hat gesagt, dass die Person, die es abgeschrieben hat, ein Meister der Kalligraphie ist.«

Ai-ming kam wieder aus ihrer Jacke hervor. »Das stimmt, mein Vater hatte eine wunderschöne Handschrift, aber er war kein Meister der Kalligraphie. Und außerdem, so schön das Buch der Aufzeichnungen auch ist, es ist nur ein Buch. Es ist nicht die Realität.«

»Das ist schon in Ordnung. Wenn du es mir vorliest, wird mein Chinesisch besser. Das ist die Realität.«

Sie lächelte. Nachdem sie ein paarmal umgeblättert hatte, legte sie das Buch auf die Bettdecke, die zu einer Art neutralem Territorium zwischen uns geworden war. »Das ist keine gute Idee«, sagte sie. »Das hier ist Kapitel 17. Es ist sinnlos, irgendwo in der Mitte anzufangen, vor allem wenn es das einzige Kapitel ist, das du hast.«

»Du kannst die ersten sechzehn Kapitel kurz zusammenfassen. Du kennst sie bestimmt.«

»Unmöglich!« Sie lachte. »So habe ich meiner Großmutter zugesetzt, damit sie etwas tut, was sie nicht tun wollte.«

»Und hat deine Großmutter nachgegeben?«

»Manchmal.«

Ich zog die Decke um mich, als wäre die Sache geklärt.

»Bevor du es dir zu gemütlich machst«, sagte Ai-ming, »solltest du wissen, dass meine Großmutter unter dem Namen Große Mutter Messer bekannt war.«

»Das ist kein richtiger Name!«

»In dieser Geschichte ist jeder Name ein richtiger Name.« Sie legte verschmitzt den Kopf schräg. »Soll ich Mädchen zu dir sagen? Oder Ma-li? Oder Li-ling? Welches ist dein richtiger Name?«

»Sie sind alle richtig.« Doch noch während ich es aussprach, zweifelte ich daran und überlegte und befürchtete, dass jeder Name so viel Raum einnahm und womöglich sogar eine eigene Person war, dass ich selbst irgendwann verschwinden würde.

Verwirrt rollte ich mich auf der leeren Fläche zwischen uns zusammen. Ai-ming blätterte noch immer im Buch der Aufzeichnungen. Ich fragte sie, wie Große Mutter Messer aussah. Ai-ming strich mir übers Haar und dachte einen Augenblick lang nach. Sie erwiderte, dass alles an Großer Mutter entweder groß oder klein war: lange Augenbrauen über schmalen Augen, kleine Nase und breite Wangen, Schultern wie Hügelkuppen. Als kleines Mädchen hatte Große Mutter Messer begonnen, sich die Haare zu locken; im Alter waren ihre Locken so fein und dünn, dass sie aus Luft zu sein schienen. Große Mutter lachte wie eine Dohle, war schrecklich jähzornig und hatte eine laute Stimme, und auch als sie noch ein Kind war, hatte niemand es gewagt, sie nicht ernst zu nehmen.

Ich schloss die Augen, und Ai-ming legte das Notizbuch aufs Bett.

In Teehäusern und Gaststätten sangen Große Mutter Messer und ihre jüngere Schwester, Wirbelwind, so betörende Harmonien, dass große und kleine Probleme sich im Zauber ihrer Stimmen auflösten. Sie reisten von Stadt zu Dorf, erzählte Ai-ming, traten auf provisorischen Bühnen auf, das dunkle Haar geschmückt mit Blumen oder Schnüren mit Münzen. Geschichten wie Am Rand des Wassers oder Wu Song kämpft gegen den Tiger umfassten manchmal hundert Kapitel, und die alten Geschichtenerzähler konnten sie über Monate, sogar Jahre hinweg ausspinnen. Es war unwiderstehlich; pünktlich war das Publikum da, um die nächste Fortsetzung zu hören. Es war eine Zeit voller Chaos, Bomben und Überschwemmungen, als Liebeslieder aus den Radios klangen und die Menschen auf den Straßen zu Tränen rührten. Musik unterstützte Hochzeiten, Geburten, Rituale, Arbeit, Märsche, Langeweile, Streit und Tod; Musik und Geschichten waren auch in Zeiten wie diesen eine Zuflucht, ein Reisepass, überall.

In jenen Tagen konnte ein Dorf alle paar Wochen die Hände wechseln, an einem Tag fiel es an die Kommunisten, am nächsten an die Nationalisten und am übernächsten an die Japaner. Wie leicht war es, deinen Bruder für einen Verräter zu halten oder deinen Liebsten für einen Feind, zu fürchten, dass man selbst in einem falschen Augenblick der Geschichte geboren war. Doch in den Teehäusern konnte jeder ein paar Lieder zum Besten geben, den Weinbecher erheben und auf die Wahrheit und Beständigkeit der Liebe anstoßen. »Die Leute wussten, dass die Familie und die Verwandtschaft real waren«, sagte Große Mutter. »Sie wussten, dass es einst ein normales Leben gegeben hatte. Aber niemand konnte ihnen erklären, warum einfach so und aus keinem guten Grund alles, woran ihr Herz hing, zu Staub zermahlen wurde.«

Sie war achtzehn, als sie ihr neugeborenes Baby Sperling nannte, ein bescheidener Name, der Jungen nur selten gegeben wurde. Der kleine Sperling war ein so gewöhnlicher Vogel, dass Götter und Menschen, Idealisten und Diebe, Kommunisten und Nationalisten ihn mit Verachtung übergingen. Der friedliche Sperling war federleicht, weil er kein Gepäck tragen und keine Botschaften übermitteln musste.

Während seiner gesamten Kindheit wurde Sperling in kleinen Städten aus dem Schlaf gerissen. Teehausgäste schrien betrunken neben seiner Mutter und seiner Tante, die Männer trompeteten wie Posaunen, und die Frauen trällerten wie Flöten. Mit fünf Jahren verdiente er sich seinen Lebensunterhalt, indem er das »Lied des kalten Regens« oder »An jenem fernen Ort« sang, Balladen, die so anrührten, dass ihm sogar Leute mit nichts weiter als Staub in den Taschen etwas zu essen gaben, ein Stückchen Kohlrübe oder eine Brotkruste oder auch einen Zug aus ihrer langen Tabakspfeife. »Da ist ja der kleine Sandsperling (oder Goldflügel oder roter Sperling oder Steinspatz) wieder«, sagten die Großmütter, »der an unserem Herzen picken will.«

Einmal kamen sie in dem Chaos in einem verlassenen Dorf an einer Gruppe blinder Musiker vorbei. Die Gruppe wurde – Hand an Ellbogen, Ellbogen an Hand – von einem sehenden Mädchen geführt, das erst acht oder neun Jahre alt war. Sperling fragte seine Mutter, wie sich die blinden Musikanten, die sich wie ein Seil über die nackte Erde schlängelten, vor den Kriegsflugzeugen verstecken konnten, die Häuser und Flüchtlinge, Bäume und Flüsse bombardierten. Große Mutter erwiderte grausam: »Ihre Tage sind gezählt. Kann man mit einer einzigen Hand den Himmel bedecken?« Es stimmte. Jahr für Jahr hatten die Straßen mehr Löcher und brachen weg, ganze Städte verschwanden, in den Schmutz gebombt, und es blieben Abfall, Hunde und der kränklich süße Verwesungsgestank der Leichen übrig, deren Zahl in die Hunderte, Tausende und dann Millionen ging. Doch die Texte von zehntausend Liedern (»Du und ich sind für immer durch einen Fluss getrennt/mein Leben und meine Gedanken gehen in verschiedene Richtungen …«) verdrängten alles andere in Sperlings Gedächtnis, so dass er als Erwachsener kaum Erinnerungen an den Krieg hatte. Nur diese Truppe blinder Musikanten konnte er nicht vergessen. Sie tauchten einmal zu Beginn und dann erstaunlicherweise gegen Ende des Krieges auf, das sehende Mädchen war jetzt ein Teenager, sie kamen aus dem Nirgendwo und verschwanden im Nirgendwo, ein Band, das sich mit summenden Instrumenten endlos zwischen den Gebäuden wand. Waren sie real? Hatten er, Große Mutter und Wirbelwind, ohne es zu merken, wie die Musiker einen Weg gefunden zu überleben, indem sie vollkommen unsichtbar wurden?

Es war 1949, und der Bürgerkrieg taumelte seinem Ende entgegen. Sie waren in einer Stadt an einem breiten Fluss, und draußen machte das schmelzende Eis ein Geräusch, als würden alle Knochen in China brechen. Zwischen zwei Liedern tauchte auf einmal das Gesicht von Großer Mutter verkehrt herum auf, breit und weich, und schaute unter den Tisch.

Sie gab ihm ein Bonbon mit Birnensirup. »Damit bleibt deine Stimme süß«, flüsterte sie. »Denk an meine Worte: Musik ist die große Liebe des Volkes. Wenn wir ein schönes Lied singen, wenn wir uns wortgetreu an den Text erinnern, wird uns das Volk nie im Stich lassen. Ohne Musiker wäre das Leben nur Einsamkeit.«

Sperling wusste, was Einsamkeit war. Es war die Leiche seines kleinen Cousins, in ein weißes Tuch gewickelt. Es war der Mann auf dem Gehweg, der so alt war, dass er nicht davonlaufen konnte, als die Roten kamen, es war der Soldatenjunge, dessen abgeschlagener Kopf auf dem Stadttor lag und in der Sonne weich wurde und sich verformte.

Während er wartete, vervollständigte Sperling seine Bibliothek mit Liedern und sang vor sich hin: »Meine Jugend ist fort wie der Vogel, der davonfliegt …«