Sagen aus Dorsten - Edelgard Moers - E-Book

Sagen aus Dorsten E-Book

Edelgard Moers

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Beschreibung

Edelgard Moers hat für dieses Buch Sagen aus Dorsten zusammengestellt und für große und kleine Leserinnen und Leser bearbeitet. Sie erzählt darin von der geheimnisvollen Quelle, dem ersten Dorstener, wie der Name der Stadt entstanden ist, vom Werwolf, der Seherin an der Lippe, den tapferen Frauen, der Hexenkatt, von Riesen und Zwergen, von Spökenkiekern, dem Einsiedler Brotmann, dem Deutener Moor, der Burg im Barloer Busch, der Eule vom Hardtberg, der wilden Jutta von Hagenbeck, dem Spuk in der Hervester Heide, dem geheimnisvollen Kutscher, dem Schlossgeist in Lembeck, der Hexenbuche, dem Heidekönig, vom unheimlichen Kranenmeer, von vergrabenen oder versunkenen Schätzen, vom wundersamen Hülskrabbenbusch, vom Woachtmännlein, von verschobenen Grenzsteinen, vom Priester Wulfhem und vom großen Schlüter.

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Seitenzahl: 168

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Zur Autorin:Edelgard Moers, Dr. phil, schreibt pädagogische Fachliteratur, Schulbücher, Romane, Kinderlieder und lebt mit ihrem Mann in Dorsten. www.edelgardmoers.de

Inhalt

Vorwort

Der erste Dorstener

Wie der Name Dorsten entstand

Der Fremde in Dorsten

Der Werwolf an der Lippe

Die Seherin von der Lippe

Der Schatz in der Lippe

Der Wallmeister

Die tapferen Frauen

Rollende Räder am Katharinenmarkt

Das Marienbild zu Neviges

Das Steinkreuz in Dorsten

Die Hexenkatt

Der Kampf um die Lippebrücke

Die Lügenbrücke

Die geheimnisvolle Quelle

Die Bauern, die Bürger und das Schaf

Die Riesen an der Lippe

Die Eule vom Hardtberg

Die Burg im Barloer Busch

Der Meilenstein am Freudenberg

Die wilde Jutta von Hagenbeck

Der Ritter von der Horst

Unschuldig im Schlossverlies

Der Spuk am Hagen

Der Verbannte im Runebrauk

Das versunkene Kapellchen

Die Zwerge in Deuten

Das Deutener Moor

Der Spökenkieker von Deuten

Der Einsiedler Brotmann

Der Schäfer von der Gälkenheide

Der Spuk in der Hervester Heide

Die Riesen in Lembeck

Der große Schlüter

Der geheimnisvolle Kutscher

Der letzte Zwerg in der Heide

Der Zwerg von Lembeck

Der kluge Steinebrecher

Der mutige Schmied

Die Elfen am Schloss

In der Spokenkuhle

Das Steinkreuz in Lembeck

Der ungerechte Richter

Fluch über Schloss Lembeck

Das Steinkreuz in der Bauerschaft Beck

Die Hexenbuche

Der Heidekönig

Der Hauert

Rhade und die heiligen Ewalde

Der Glückstaler

Wie das Kranenmeer entstand

Geheimnisvolles Kranenmeer

Der erste Weihnachtsbaum

Der vergrabene Schatz

Das unheimliche Wellken

Die Hochzeit des Grafen zu Wolfsberg

Späte Bekehrung

Der versunkene Schatz

Der Ritter von Wolf

Die Wolfsgrube

Das Woachtmännlein

Der Schatz unter dem Hülskrabbenbusch

Der alte Grenzstein zwischen Wulfen und Lippramsdorf

Der Grenzstein in Wulfen

Priester Wulfhem

Der Händler und der Teufel

Der Schlüssel

Der Grenzstein

Die Erlösung

Vorwort

Für Menschen einer Stadt sind Geschichten sinnstiftend und gemeinschaftsfördernd. Jung und Alt entdecken darin Spuren der Vergangenheit. Sie identifizieren sich durch die Inhalte eng mit ihrer Heimat, blicken über den Gartenzaun zum Nachbarn, erfahren von Schicksalen anderer, verstehen Einstellungen und Haltungen der Mitmenschen, lernen aus deren Erfahrungen, spüren Konflikten nach, erkennen Sehnsüchte oder Ängste wieder, erweitern ihre Fantasie, lassen sich unterhalten, versinken in eine andere Welt, informieren und bilden sich, erweitern ihr Wissen, hören von alten oder von neuen Helden, staunen und wundern sich, werden angerührt, aufgerührt, getröstet, ermutigt, vollziehen einen Standortwechsel oder sehen einen neuen Weg und werden zum Handeln ermuntert. Geschichten verbinden und geben Lebenshilfe, sind Teil der Heimathistorie und gehören zum Kulturgut einer Region. Vor allem die überlieferten Sagen erzählen von seltsamen oder wundersamen Dingen. Die Geschichten, die vom Leben und Wirken der Heiligen berichten, gehören eher zu den Legenden als zu den Sagen. Aber manchmal sind die Übergänge fließend.

Sagen sind Geschichten, die dem Märchen oder der Legende ähnlich sind. Durch die Angaben von Personen oder Orten erscheinen sie wie Berichte. Sie erzählen von übernatürlichen Wesen wie Elfen, Zwergen, Riesen, Werwölfen, vom Teufel oder von verzauberten Menschen, von gefährlichen Moorlandschaften, versetzten Grenzsteinen und untergegangenen Burgen oder Kapellen. Aber sie beschreiben auch ungerechte und bitterböse oder herzensgute und hilfsbereite Bewohner. Manchmal berichten sie von Spökenkiekern, die in die Zukunft schauen können. Mitunter kommen außergewöhnliche Dinge von unheimlichen Mächten und bestrafen das Böse oder belohnen das Gute. Oft wird ein Held herausgestellt.

Die sagenhaften Geschichten haben dennoch mit dem wirklichen und alltäglichen Leben zu tun. Meist erkennt der Leser irgendwo ein Körnchen Wahrheit und kann das ursprüngliche Ereignis erahnen, eine Höhle wiederfinden, einen verwitterten Stein aufsuchen, einen Straßennamen verstehen oder eine Botschaft verinnerlichen. Manchmal erfährt er etwas über den Umgang der Menschen miteinander und ihre Werteorientierung oder er bekommt einen Einblick in gewaltige Naturereignisse. Denn in den Sagen wird die Achtung vor dem Leben und vor der Natur zum Ausdruck gebracht. Der Schluss lässt den Leser oft aufatmen oder zum Nachdenken anregen und hoffen, dass die Gerechtigkeit siegt.

Menschen sind schon immer von diesen Erzählungen fasziniert gewesen. Von Generation zu Generation haben sie sie weitergegeben, aber nicht jedes Mal in dem gleichen Wortlaut vorgetragen, sondern haben sie im Laufe der Zeit etwas verändert. Manche Erzähler haben sie erweitert, ausgeschmückt oder vom Plattdeutschen ins Hochdeutsche übersetzt. Irgendwann hat sie dann jemand in der geläufigen Sprache aufgeschrieben.

Sagen machen nicht unbedingt an der Stadtgrenze halt, sondern überschreiten sie auch schon mal. Mitunter finden sich auch ähnliche Erzählungen in den Nachbargemeinden wieder oder es geht um Streitigkeiten zwischen zwei Ortschaften.

Die ursprünglichen Verfasser der Sagen sind heute unbekannt. Hingegen wissen wir, wer sich in den letzten einhundert Jahren um den Erhalt der Dorstener Sagen gekümmert hat. Joseph Kellner hat in seiner Zeit als Lehrer einige Sagen gesammelt und aufgeschrieben. Auch Hugo Hölker sowie Gertrudis und Ludwig Tüshaus sind unvergessen, weil sie mehrere nacherzählt und veröffentlicht haben. Dirk Sondermann hat in seiner Sammlung interessierten Leserinnen und Lesern verschiedene Dorstener Sagen zugänglich gemacht und online gestellt. Darüber hinaus sind einzelne Sagen aus unserer Region von mehreren Autorinnen und Autoren in unterschiedlichen Publikationen abgedruckt worden, die bis heute kleine und große Menschen in den Bann ziehen.

Für dieses Werk habe ich die Sagen aus Dorsten zusammengefasst, bearbeitet und zum Teil neu erzählt. Den Leserinnen und Lesern wünsche ich viel Freude bei der Lektüre.

Edelgard Moers

Der erste Dorstener

Vor langer, langer Zeit, kurz nachdem Gott die Welt erschaffen hatte, formte er in einer Region eine raue Landschaft, die mit Urwäldern und Sümpfen bedeckt war. Mitten hindurch schlängelten sich mehrere Bäche und ein großer Fluss. Sonne und Regen wechselten sich regelmäßig ab, sodass die Wälder in ein sattes Grün gehüllt waren und die Wiesen weich wie Samt schimmerten.

Erschöpft von der vielen Arbeit ließ sich Gott am Fluss nieder, an der Stelle, an der eine kleine Furt über das Wasser führte. Petrus meinte, dass das Land wohl unwirtlich aussähe, aber die Erde fruchtbar erschiene. Er bat Gott, einen Menschen zu schaffen, der nun dieses Land urbar machen und hier eine Stadt bauen sollte, damit es eine schöne Heimat für die Nachkommen sein könnte.

Gott reckte und streckte sich, griff eine Handvoll Lehm, und wollte aus ihm einen Erdbewohner formen. Ein großer starker Mann war zu erkennen, ein breitschultriger Hüne, wie geschaffen für die harte Arbeit auf Feld und Hof. Doch da hielt Petrus Gott von der Vervollständigung ab und meinte, dass der Mensch ein dickköpfiger und sturer Bauer werden würde.

Gott knetete den Lehm wieder zusammen und legte den Klumpen beiseite. Nun füllte er die andere Hand mit Lehm und wollte aus ihm einen wohlgestalteten Jüngling formen. Gott erklärte, dass dieser Jüngling nicht so stark wie der Bauer sein würde, den er aus dem Lehm südlich der Lippe formen wollte, aber intelligent genug sei, sich sein Leben so zu gestalten, dass er ein auskömmliches Leben finden könne. Er hoffte, das Petrus mit seinem Werk nun zufrieden sein würde.

Doch Petrus widersprach auch jetzt, denn dieser Jüngling wird zwar schön und klug geraten, doch er wurde aus Lehm westlich des Schölzbaches erschaffen. Gott richtete sich enttäuscht auf und knetete den Lehm wieder zusammen. Er beschloss, es noch einmal zu versuchen. Diesmal griff er etwas weiter, füllte wieder die Hand mit Lehm und wollte aus ihm ein Mädchen formen. Er kannte seinen Begleiter gut und war sicher, diesmal auf keinen Widerspruch zu stoßen.

Petrus sah seinem Herrn interessiert bei der Arbeit zu. Doch plötzlich bat er Gott, inne zu halten und meinte, dass das Mädchen ein gar liebliches Geschöpf werden würde, doch leider sei der Lehm vom Kirchhellener Gebiet. Daraufhin knetete Gott den Lehm wieder zusammen.

Da nahm Gott alle drei Lehmteile, vermischte sie mit dem Wasser aus dem Fluss und knetete sie zu einem großen Klumpen zusammen. Er forderte Petrus auf, diesen Klumpen kräftig mit dem Fuß anzustoßen. Sogleich rührte sich etwas, und ein mächtiger, wilder Mann, ein Riese, wuchs aus ihm hervor. Er reckte sich hoch, trat sofort drohend auf den erstaunten Petrus zu und brüllte ihn an, weil er ihn getreten hatte. Petrus erschrak und versteckte sich hinter dem Rücken Gottes.

Gott schmunzelte und erklärte seinem Begleiter, dass ihm der wilde Mann gefallen würde. Er sei zwar in seiner

Erscheinung rau und schroff , aber robust, um in der Landschaft zu überleben, und seine Augen seien treu und gut und sein Herz sanft und voller Liebe. Gott sprach, dass er so wie er sei, bleiben solle, und auch jeder, der als Nachfahre dieses Land bewohnen wird, soll sein Wesen haben.

Und so sind die Dorstener auch heute noch. Sie können stur wie ein Bauer sein, sorgen aber treu und verantwortungsvoll für ihre Familien, und sind tief in ihren Herzen sanft und zärtlich zu den Menschen, die sie lieben. Und wenn sie sich über die Menschen nördlich der Lippe, westlich des Schölzbaches oder südlich der Stadtgrenze beklagen, so wissen sie doch, dass sie selbst von diesem Fleische sind. Und so sind die Dorstener gastfreundlich, weltoffen und haben Freude am Leben.

Und wenn Gott mal wieder in diese Gegend kommt, lässt er sich nieder und betrachtet zufrieden sein Werk, das er einst vor langer Zeit geschaffen hat.

Quellen

Josef Kellner: Der erste Westfale. In: Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck. Dorsten 1930, Seite 29.

Werner Wenig: Wie Gott den ersten Dorstener erschuf. In: Edelgard Moers (Hrsg). Neue Dorstener Geschichten. Dorsten 2002, Seite 11–13.

Wie der Name Dorsten entstand

Vor langer Zeit schaute Gott wieder einmal vom Himmel hinunter auf die Erde, um zu sehen, ob dort noch alles nach seinem Willen geschah. Dabei erblickte er ein Fleckchen Erde, das gar lieblich anzusehen war. Prächtige Baumreihen durchzogen Flur und Felder, von Wallhecken eingerahmt gaben sie mannigfachen Tierarten eine Heimat. Vereinzelte Bauernhöfe standen verstreut zwischen sanft abfallenden Hügeln. Wollgras leuchtete aus weitläufigen Mooren dem Beobachter strahlend entgegen. Gott war neugierig geworden. Er wollte hinuntersteigen, um sich alles genau anzusehen. Schon bald darauf machte er sich auf den Weg.

Der Teufel aber, der die Angewohnheit hatte, sich stets allem Guten an die Fersen zu heften, folgte ihm, so schnell es sein Pferdefuß zuließ. Gott, der Herr, schritt zügig voran, blieb dann und wann stehen, schaute in ein Haus oder roch an den duftenden Sträuchern. Der Teufel blieb immer in seiner Nähe. Er gab nicht auf, auch wenn er des Öfteren in die großen Fußstapfen des Herrn purzelte, aus denen er nur mühsam wieder herauskrabbeln konnte. Übermächtig war seine Angst, einen Menschen zu übersehen, der geeignet war, seinen teuflischen Einflüsterungen zu folgen.

Aber Gott lächelte nur.

Als der Teufel wieder einmal in eine der riesigen Fußabdrücke fiel, holte Gott ihn heraus. Er ging mit ihm in den nächsten Ort, um zu sehen, ob die Bevölkerung dieses Geschenkes und auch seines Segens würdig sei. Sollten die Menschen dem Teufel folgen, wären sie sein, was immer er auch damit vor hätte. Streben sie jedoch Gottes Liebe nach, würde er sie auf seine Weise belohnen.

Im Ort angekommen ließen sich die beiden Wanderer auf dem Marktplatz am Dorfbrunnen nieder. Was sie sahen, erfreute den Herrn. Menschen aus unterschiedlichen Gegenden trieben Handel miteinander und sprachen freundlich miteinander. Niemand wurde wegen seiner Herkunft oder seines Geschlechts benachteiligt. Jeder Einzelne war in besonderem Maße bemüht, dem Anderen gegenüber zuvorkommend und gerecht zu sein.

Immer wieder kamen die Menschen zum Brunnen, um von seinem erfrischenden Nass zu trinken. Erstaunt schaute sich der Herr um und entdeckte ein Schild mit der Aufschrift „Quelle der Gerechtigkeit“. Erfreut rief Gott aus, dass alle Menschen, so wie in diesem Ort, nach Gerechtigkeit dürsten sollten. Als Mahnung an die Welt und als Belohnung für die Menschen soll der Ort diese Gottesworte als Namen tragen. Weil er aber den damaligen Bewohnern zu lang war, nannten sie ihn kurzerhand „Dürsten“.

Im Laufe der Jahre wurde aus dem Wort der Name „Dorsten“. Stolz erzählen seine Bürger jedem Besucher ihrer friedvollen Gemeinschaft den Ursprung ihres Ortsnamens. Inzwischen ist der Ort zu einer Stadt angewachsen, denn viele Menschen wollten in diesem Paradies leben.

Der Teufel aber, der einsah, dass ihm niemand folgen würde, stampfte so hart mit seinen Hufen auf, dass die Erde unter ihm nachgab und ihn verschlang.

Leider kommt er immer mal wieder dort an die Erdoberfläche, wo er gewiss sein kann, dass Menschen auf ihn hören werden.

Quellen

Brigitte Frieben: Wie der Name Dorsten entstand. In: Edelgard Moers (Hrsg): Dorstener Geschichten. Dorsten 2000, Seite 11–12.

Der Fremde in Dorsten

Vor langer Zeit gab es einen Aufstand der Sachsen gegen die Franken unter Pippin von Herstal. Bedingt durch diese Unruhen wurde auch der Apostel Suitbertus verfolgt. Er musste vor den heidnischen Sachsenfliehen und kam in die Besiedlung an der Lippe, dem heutigen Dorsten.

Die Bewohner fragten sich, was ihn veranlasst haben könnte, seine Heimat zu verlassen. So hegten sie Misstrauen gegen ihn, nahmen ihn schließlich gefangen und warfen ihn in den Kerker. Einige hatten sogar vor, ihn zu töten.

Doch seine Anhänger, die sich auf der nördlichen Seite der Lippe aufhielten, spürten ihn auf und befreiten ihn. Zusammen mit ihnen überquerte er die Lippe. Er bedankte sich bei ihnen und predigte von Nächstenliebe und vom Himmelreich auf Erden. Sie nahmen bereitwillig seine Lehren an. Bald taufte er die Gläubigen, betete für sie und begann damit, für seine neue Gemeinde ein Haus zum Beten zu bauen, bei dem ihm viele mithalfen. Schon zwei Jahre später konnte die kleine Kirche eingeweiht werden. Viele Menschen kamen nun zu dem Gotteshaus.

Auch die Bewohner auf der südlichen Seite der Lippe waren neugierig und liefen an der schmalsten Stelle durch den Fluss, um sich die Kirche anzusehen. Unter ihnen war auch ein junger Mann. Weil die Menschen im Wasser immer mehr drängten, um an das andere Ufer zu kommen, verlor er den Halt und fiel in den Fluss. Der Jüngling strampelte um sein Leben, doch niemand achtete darauf. Alle waren damit beschäftigt, im Wasser nicht auszurutschen. Mit einem letzten Aufbegehren ging der junge Mann schließlich in den Wassermassen unter. Endlich, im Anblick des Todes, nahmen ihn die Menschen wahr, verharrten sofort und starrten fassungslos auf den leblosen Körper, der im Wasser trieb.

Eine Frau gab das Kommando, den jungen Mann sofort herauszuziehen. Einige Männer stapften zu ihm und zogen ihn heraus. Da rief einer, dass es der Sohn des Guntherus sei. Schon bald darauf informierten einige den Vater des jungen Mannes, der sofort kam. Guntherus ließ den Leichnam seines Sohnes über die Lippe nach Hause bringen. Dort betete er zu seinem Abgott Martil und brachte ihm auch ein blutiges Opfer. Aber nichts geschah. Nach mehreren erfolglosen Versuchen wandte sich Guntherus, nun voller Zweifel gegen seine heidnischen Götter, an den Apostel der Christenmenschen, der auf der anderen Seite der Lippe predigte.

Suitbertus folgte dem Ruf des Mannes und machte sich unverzüglich auf den Weg nach Dorsten. Er rief demütig den Herrn um Hilfe, besprenkelte den toten Jüngling mit geweihtem Wasser, berührte ihn mit dem Hirtenstab und hörte nicht auf, für dessen Wiederauferstehung zu beten. Da erhob sich zum Staunen der Menge der Jüngling und pries laut den Allmächtigen. Danach war es einen Augenblick still, doch dann tobte die Menge vor Begeisterung. Die Bewohner fielen sich gegenseitig in die Arme und priesen den Gott der Christen.

Suitbertus waren vor Erleichterung die Knie weich geworden. Er dankte in stummer Zwiesprache seinem Herrn, der ihm zur rechten Zeit beigestanden hatte.

Nachdem sich die Menge wieder beruhigt hatte, bat Guntherus ihn um Vergebung, weil die Bürger von Dorsten ihm zunächst keinen Glauben schenken und ihm nach dem Leben trachten wollten. Er bedankte sich bei Suitbertus. Als Anerkennung wollten die Bewohner seinen Glauben annehmen und sich von ihren alten Göttern lossagen. Guntherus bat ihn, in Zukunft auch hier zu predigen.

Die Dankbarkeit hält bis in unsere Zeit an. Noch heute trägt eine Gasse in Dorstens Innenstadt seinen Namen. Sie ist ungefähr an der Stelle, an der der Apostel Suitbertus einst zum Gefängnis geschleppt wurde.

Quellen

Karl Heck: Suitbertus an der Lippe. Weseler Sagenbuch. Sagen, Legenden und Anekdoten aus Wesel und seiner Umgebung. Beilage in einer Tageszeitung. Wesel 1937.

Ute Heymann, gen. Hagedorn: Wie Gott seinem Apostel in letzter Sekunde beistand. In: Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck und Stadt Dorsten. Dorsten 2011. Seite 162–163.

Der Werwolf an der Lippe

Am Ufer der Lippe lebte in früheren Zeiten ein sonderbarer Mann. Seine Augen blickten düster aus dem finsteren Gesicht. Kaum jemand bekam ihn zu sehen, aber alle fürchteten sich vor ihm. Was er auf dem Gewissen hatte, wusste niemand. Die Bewohner des Ortes sagten, dass er ein verzauberter Mensch sei. Wegen vieler boshaft er Taten sollte er sein Dasein so lange fristen, bis eines Tages einmal ein Mensch freundlich zu ihm sein würde und Mitleid mit ihm haben sollte. So kam schließlich die bittere Einsamkeit über ihn, und Grimm und Groll beherrschten seine Seele.

Nach und nach entwickelte er sich zu einem Werwolf. Er hauste jahraus und jahrein in einer Höhle, ohne dass sich jemand in seine Nähe traute. Wenn er seine Höhle verließ, dann bewegte er sich zwischen den dunklen, krummen Kiefern.

Doch um Mitternacht, wenn die Turmuhr schlug, wurde er einige Male am Ostgraben gesehen. Er duckte sich in die Schatten der Häuser und lauerte auf Bürger, die spät aus dem Gasthof heimwärts wankten, sprang ihnen auf den Rücken und drückte sie mit den Pranken zur Erde. Erst mit dem Glockenschlag eins verlor der Werwolf seine Macht. Die überfallenen Bürger flüchteten verstört nach Hause und atmeten erst wieder in der heimischen Kammer auf.

Ein Bewohner hatte sich aus Neugier einmal bis zu seiner Höhle gewagt. Er ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Deshalb machten die Menschen nun aus Angst einen großen Bogen um ihn.

Doch eines Tages kam ein junger Handwerksbursche von der Ruhr durch diese Gegend. Er war fleißig und sehr tapfer. Bisher hatte ihn noch kein Wesen das Fürchten gelehrt. Die Furt über die Lippe hatte er genutzt, um auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. Nun wollte er weiter in das nördliche Münsterland, um sein Handwerk auszuüben.

Von dem Werwolf und den Geschichten über ihn hatte der Handwerksbursche noch nie gehört. Unbeabsichtigt kam er der Höhle sehr nahe. In dem Augenblick sprang das Ungetüm aus seinem Quartier. Eigentlich wollte es sich gerade etwas Essbares suchen. Doch da entdeckte es den Wanderer und erschrak. Schon lange hatte es keinen Menschen mehr gesehen und wollte ihn nicht vertreiben, denn es hoffte auf Erlösung. Deshalb verharrte es still und reglos.

Der Jüngling blieb ebenfalls stehen und schaute den Werwolf interessiert an. Angst hatte er keine. Vielmehr hatte er Mitleid mit dem zotteligen und bedauernswerten Geschöpf. Dann sprach er es freundlich und mit sanft er Stimme an. Zunächst erzählte er, woher er komme und wohin er wolle. Dann sagte er voller Anteilnahme, dass das schaurige Aussehen des Ungeheuers den Menschen wohl einen gehörigen Schreck einflößen könne, und er drückte sein Bedauern darüber aus. Schließlich fragte er, womit er ihm helfen könne.

In dem Augenblick gab es einen heftigen Donner und dichter Nebel breitete sich aus. Der Jüngling traute seinen Augen kaum. Als sich der Nebel auflöste, war der Werwolf spurlos verschwunden.

Quellen

Joseph Kellner: Der Werwolf am Ostgraben. In: Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck und Stadt Dorsten. Ausgabe 1968. Seite 103.

Edelgard Moers: Der Werwolf von der Lippe. Unveröffentlichter Text. Dorsten 2022.

Die Seherin von der Lippe

Der römische Geschichtsschreiber Tacitus berichtete von einer Jungfrau mit dem Namen Veleda. Sie gehörte zum Stamm der Brukterer und lebte direkt an der Lippe. Die Bewohner von Spellen und Haltern vereinnahmen Veleda für sich. Aber Historiker haben kürzlich herausgefunden, dass ihr Wohnsitz wohl Dorsten gewesen sei.

Überliefert ist, dass Veleda eine Druidin war, eine keltische Priesterin. Als solche verkündete sie, wie sie sagte, den Willen der Götter. Sie wurde als Seherin verehrt und prophezeite den Germanen immer wieder einen Sieg über die Römer. So stieg das Ansehen dieser Frau stetig. Für ihre Weissagungen benutzte sie kleine Stäbe aus Buchenholz, die sie in die Höhe warf. Wenn diese Stäbe wieder auf den Boden zurückfielen, bildeten sie Zeichen und Runen, aus denen Veleda Deutungen ablesen konnte. Das Wort Buchstabe ist aus dieser Handlung entstanden.