Die Schatten im Wind - Edelgard Moers - E-Book

Die Schatten im Wind E-Book

Edelgard Moers

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Beschreibung

In dem Roman "Die Schatten im Wind" stehen die Zwangsadoptionen in der DDR im Mittelpunkt, unter denen die Betroffenen bis heute leiden. Die Geschwister Anne und Robert sind als Kinder getrennt worden. Viele Jahre später begegnen sie sich zufällig auf der Insel Lanzarote. Die Schönheiten dieses außergewöhnlichen Eilands, die Eindrücke vom ewigen Frühling und frischem Wind bilden einen Kontrast zu den traurigen und düsteren Geschehnissen ihrer Kindheit. In dieser besonderen Atmosphäre ist es für sie möglich, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.

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Seitenzahl: 218

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Zum Inhalt:

Die Geschwister Anne und Robert kommen Ende der 60er bzw. Anfang der 70er Jahre in der Deutschen Demokratischen Republik zur Welt. Eines Tages werden sie von fremden Personen abgeholt, in ein Kinderheim gebracht und zur Adoption freigegeben. Anne und Robert werden von unterschiedlichen Familien aufgenommen. Damit trennen sich ihre Wege. Alle Verbindungen werden gekappt. Den neuen Eltern wird gesagt, dass es Waisenkinder seien.

Während Robert in den nächsten Jahren mit seinen Erinnerungen kämpft, erinnert sich Anne an so gut wie nichts mehr, was mit ihrer alten Familie zu tun hat. Sie wächst in einer ihr zugewandten Umgebung auf und wundert sich nur über einen unverständlichen Erinnerungsfetzen, der hin und wieder durch in ihren Kopf zieht.

Robert entdeckt mit einer alten Kamera seines Adoptivvaters die Liebe zum Fotografieren.

Da fällt im Herbst 1989 die Mauer. Die DDR löst sich auf, tritt dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei und wird Teil der Bundesrepublik Deutschland.

Robert taucht in das neue Leben ein und macht Fotos, die auch von der Zeitung veröffentlicht werden. Nachdem er vergeblich versucht hat, seine leiblichen Eltern und seine Schwester zu finden, verlässt er seine Adoptiveltern und strandet auf Lanzarote, der Insel im Atlantik, auf der die Passatwinde kräftig wehen. Die Schönheiten der Insel stehen im Kontrast zu seinen trüben Erinnerungen und sind ein Schauplatz für ganz besondere Begegnungen.

Zur Autorin:

Edelgard Moers, Dr., Lehrerin i. R., ist Autorin von Romanen, Schulbüchern, pädagogischer Fachliteratur, didaktischen Materialien und Kinderlieder-Texten. Sie ist Dozentin für Lehrerfortbildungen, und sie wohnt mit ihrem Mann in Dorsten.

www.edelgardmoers.de

Inhalt

Calau, 1975: Allein ohne Eltern

Dresden, 1975: Trennung der Geschwister

Potsdam, 1975 bis 1985: Ein neues Zuhause

Potsdam, von 1985 bis 1989: Neuorientierung

Berlin und Potsdam, 1989: Mauerfall und Wende

Potsdam, 1990: Neue Zukunftsperspektiven

Calau, 1990: Erinnerungen

Potsdam, 1990: Die Entscheidung

Dresden, 2003: Urlaubsplanung

Lanzarote, 2003: Aufregende Begegnung

Dresden, 2003: Wieder zu Hause

Lanzarote, 2003: Gute Freunde unterwegs

Lanzarote, 2004: Die Welt ist klein

Dresden, Januar 2004: Blick in die Vergangenheit

Dresden und Potsdam, Anfang 2004: Schwierige Annäherung

Dresden, Oktober 2004: Besuch im Archiv

Lanzarote, November 2004: Wiedersehen auf der Insel

Berlin und Leipzig, 2005: Rehabilitation

Nachwort

Calau, 1975: Allein ohne Eltern

Ein schwarzes Auto hielt vor dem Schuleingang.

Robert stand an der Seite seines Lehrers und sah, wie zwei Fremde aus dem Auto stiegen und auf sie zugingen. »Wollen die zu uns?«

Aber der Lehrer antwortete dem Jungen nicht.

Die beiden Männer ergriffen Roberts Hand und zerrten ihn zum Auto.

»Was wollen Sie von mir?« fragte Robert verzweifelt.

Aber die Fremden sagten nichts. Sie drückten ihn nur wortlos auf den Rücksitz.

Dort saß mit verweintem Gesicht seine kleine Schwester Anne. Sie wirkte völlig eingeschüchtert und schluchzte immer wieder laut auf.

Eigentlich hätte Robert sie nach der Schule aus dem Hort abholen und mit ihr nach Hause gehen sollen, denn seine Eltern waren noch auf der Arbeit. Er nahm Anne in seine Arme, drückte sie fest an sich, streichelte ihr über das Haar und sagte immer wieder leise: »Alles wird gut. Ich bin ja bei dir.«

Wer waren diese unfreundlichen Menschen, und wohin wurden sie nur gebracht? Robert verstand nicht, was vor sich ging. Aber er ahnte, dass seinen Eltern etwas passiert sein musste. Sie hatten einmal davon gesprochen, dass sie sehr vorsichtig sein müssen. Aber warum, das wusste er nicht. Es musste irgendetwas geschehen sein. Robert nahm sich ein Herz und fragte wieder: »Wo sind unsere Eltern?«

Endlich begann einer der beiden Männer zu reden. Seine Stimme klang eiskalt. »Eure Eltern haben unseren Staat verraten. Ihr kommt jetzt in eine bessere Familie, wo ihr gut erzogen werdet, nach sozialistischen Grundsätzen.« Die letzten drei Wörter betonte er besonders.

»Wir möchten aber zu unseren Eltern.«

»Sei jetzt still.«

»Wir wollen nicht in eine andere Familie.« Robert versuchte, mit fester Stimme zu sprechen, aber er zitterte vor Angst.

Der kleinere Mann fuhr ihm über den Mund. »Du hast hier keine Ansprüche zu stellen. Eure Eltern haben euch verwahrlosen lassen. Sei froh, wenn euch überhaupt eine Familie aufnehmen will.«

Robert kniff die Lippen zusammen und ballte die Fäuste. Am liebsten wäre er aus dem fahrenden Auto gesprungen. Doch da war ja noch Anne. Er konnte sie nicht allein zurücklassen.

Dresden, 1975: Trennung der Geschwister

Nach zwei Stunden hielt das Auto kurz vor einem großen Eisentor, das sich wie von Geisterhand öffnete, dann fuhr es langsam noch einige Meter. Vor einem großen dunklen Gebäude mit einer breiten Eingangstreppe blieb es stehen.

Auf dem obersten Treppenabsatz stand eine Frau mit einem strengen Haarknoten und einem grauen Kleid.

Anne und Robert waren völlig eingeschüchtert.

Als sie mit ruppigen Griffen aus dem Auto geholt und die Treppe hinaufgeführt wurden, krallte sich Roberts Hand in die seiner kleinen Schwester. Jetzt bloß nicht getrennt werden, dachte er. Er erhaschte einen kurzen Blick auf die hohen Mauern rings herum, und im Augenwinkel konnte er sehen, wie das Tor, durch das sie gekommen waren, ins Schloss fiel. Weglaufen wäre unmöglich gewesen.

Die Frau stellte sich als Heimleiterin vor, nahm die Kinder in Empfang und begrüßte sie mit ihren Vornamen.

Die beiden Männer hatten ihre Aufgabe offensichtlich erledigt. Sie drehten sich um, stiegen ins Auto und verließen das Gelände.

Robert verstand immer noch nicht, was gerade passierte, und Anne schluchzte wieder laut auf. Immer wieder fragte er, wo seine Eltern wären.

Aber die Frau reagierte nicht darauf.

Eine zweite Frau in grauem Kleid trat aus dem Haus.

Sie sprach Anne an. »Na, meine Kleine, du kommst jetzt mit mir.«

»Nein, wir bleiben zusammen«, rief Robert laut.

Unsanft löste die Frau die noch immer ineinander verkrallten Kinderhände und zog Anne ins Haus.

Robert wollte hinterhergehen.

Doch die Heimleiterin hielt ihn zurück. »Robert, du bleibst bei mir, verstanden?«

»Wir wollen aber nach Hause zu unseren Eltern«, schluchzte er und sah die Frau flehend an.

»Das geht nicht«, sagte sie.

»Warum nicht?«, fragte Robert völlig verzweifelt.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist ihnen etwas zugestoßen. Gib endlich Ruhe.« Dann forderte sie Robert auf, mitzukommen und führte ihn in ein Zimmer.

Er musste sich einen Schlafraum mit drei weiteren Jungen teilen. Seine Schwester sah er nicht mehr.

Schon zwei Tage später wurden seine jungen Mitbewohner abgeholt. Die Heimleiterin erklärte ihnen, dass sie in eine gute Familie gebracht werden.

Weitere zwei Tage später bekam Robert Besuch von Marianne und Heinrich Keller. Sie stellten sich als seine neuen Eltern vor und nahmen ihn mit. Was mit seiner kleinen Schwester und seinen Eltern geschehen war, wusste der Junge nicht. Niemand wollte seine Fragen beantworten.

Potsdam, 1975 bis 1985: Ein neues Zuhause

Das große Haus der Eheleute Keller sollte von nun an sein Zuhause sein. Die beiden waren freundlich und nahmen sich Zeit für ihn. Aber man hatte ihnen nicht gesagt, dass er noch eine Schwester hatte, und seine Eltern seien angeblich gestorben.

Robert war verzweifelt. Er wollte es einfach nicht glauben.

Die ersten Wochen in dem neuen Haus konnte er nur schwer ertragen. Wenn er abends in seinem Bett lag und allein war, weinte er still. Aber nach einiger Zeit begann er, sich in sein Schicksal zu fügen und sich den Gegebenheiten anzupassen. Mir bleibt ja auch nichts anderes übrig, gestand er sich ein.

In der neuen Schule kam er in die zweite Klasse. Dort lernte er andere Kinder kennen und freundete sich mit einigen von ihnen an. Aber er war still geworden. Hin und wieder sah er den anderen auf dem Schulhof nur zu und verlor sich in Erinnerungen.

An das neue Haus gewöhnte er sich bald. Der zweigeschossige Altbau hatte etwas Geheimnisvolles, fast wie ein Spukschloss. Unter dem Dach war ein großer Abstellraum, auf dem viele alte Sachen herumstanden. Robert sah sich überall um und entdeckte interessante Gegenstände.

In den Sommerferien fuhr Robert mit seinen neuen Eltern nach Wustrow an die Ostsee. Die niedrigen Häuser dort gefielen ihm gut. Sie hatten ein Reetdach und bunt bemalte Türen. So etwas hatte er bisher noch nicht gesehen. Seine Eltern machten mit ihm eine Fahrt mit dem Zeesenboot auf dem Bodden. Es hatte nur sehr wenig Tiefgang, wurde ihnen erklärt. Schon vor zweihundert Jahren benutzten die Fischer hier solche Boote.

Robert bekam in diesen Sommerferien viel zu sehen und lernte auch eine Menge.

Seine Eltern besuchten mit ihm den Künstlerort Ahrenshoop und sahen sich Ausstellungen an. Und immer wieder fragten sie ihren Sohn, ob ihm das gefallen würde. Es sollte ihm an nichts fehlen, das hatten sie sich vorgenommen, und der Junge spürte das auch.

Robert wusste, dass einige seiner Mitschüler in der Nähe auch Urlaub mit ihren Eltern machten. In der Schule hatten sie darüber gesprochen. Ab und zu versuchte er deshalb, allein die Gegend zu erkunden. Am einem Tag entdeckte er am Strand zwei Kinder aus seiner Klasse. Er ging zu ihnen und spielte eine Weile mit ihnen. Freudestrahlend erzählten sie ihm von dem Zelt in den Dünen, in dem sie mit ihren Eltern übernachten würden.

Robert wohnte mit seinen neuen Eltern dagegen in einem geräumigen Gästehaus mit einem großen Garten. Davon erzählte er lieber nichts. Er wollte vor seinen Freunden nicht als Angeber dastehen. Aber er spürte, dass sein neues Zuhause besonders war. Die Eheleute Keller hatten offensichtlich mehr Geld als die anderen Familien seiner Klassenkameraden. Wie sollte er das seinen Freunden beibringen? Er beschloss daher, so wenig wie möglich von sich und seiner Familie preiszugeben. Wenn ihn die Freunde fragten, wich er aus und lenkte das Gespräch auf etwas anderes.

Lange Zeit blieb Robert ruhig und verschlossen. An den Raufereien und Streichen seiner Mitschüler beteiligte er sich kaum. Hin und wieder wurde er traurig, ohne einen Grund dafür zu haben. Dieses Gefühl hielt er tief in seinem Inneren verborgen. Er sprach mit niemandem darüber.

Seine Adoptiveltern vermuteten, dass er noch um seine Eltern trauern würde. Aber die ruhige Art, so glaubten sie, gehöre zu seinem Charakter. Sie bemühten sich sehr um den Jungen, sprachen freundlich mit ihm, versuchten, ihm seine Wünsche zu erfüllen, und wenn einmal etwas nicht klappte, waren sie ihm nie böse. Mit großer Geduld versuchten sie, ihm Mut zu machen und ihn anzuspornen. Natürlich merkten sie, dass sich Robert schwer tat, sie als Eltern zu akzeptieren. Aber sie hofften inständig, dass sich das mit der Zeit legen würde.

Innerlich wehrte sich Robert noch weiter, die Eheleute Keller als Eltern anzuerkennen. Es verging kaum ein Tag, an dem er nicht an seine richtigen Eltern dachte, und noch immer wusste er nicht, was mit ihnen passiert war. Die Eheleute Keller waren nett und freundlich, aber er würde sie niemals mit Mama oder Papa ansprechen, das hatte er sich geschworen.

Seine richtigen Eltern waren anders gewesen. Sie hatten viel mit ihm und seiner Schwester getobt, gelacht und gekuschelt. Eigentlich hatten sie das Leben in der DDR nicht gut gefunden. Manchmal hatten sie darüber gesprochen, wie unterschiedlich das Leben im Osten und Westen sein kann. Robert hatte zwar nur wenig davon verstanden, aber er wusste, dass sie gerne im Westen gelebt hätten.

Marianne und Heinrich hingegen lobten die Errungenschaften und die staatliche Ordnung der DDR und äußerten nie Kritik am System.

Heinrich Keller war Mitglied der SED, der Einheitspartei, und er arbeitete im Ministerium für Staatssicherheit. Er koordinierte die Überwachung. Seine Aufgabe war es, angebliche Feinde aufzuspüren und auszuschalten. Er drang in alle Lebensbereiche der Bevölkerung der DDR ein. Menschen, die das System kritisierten, sollten frühzeitig ihrer Kraft beraubt werden. Das sollte die Macht der Einheitspartei sichern. So hieß es, und er war von dem, was er tat, überzeugt. Seine Behörde hatte alle Befugnisse einer polizeilichen Ermittlungsbehörde. Wurde jemand verhaftet, ging es nur noch darum, im Untersuchungsgefängnis in Hohenschönhausen die bereits illegal ermittelten Beweise zu verwerten und den Verhafteten durch lange Verhöre zu einem Schuldeingeständnis zu bewegen. Heinrich Keller ließ auch die Westdeutschen beobachten, die über die Transitstrecke nach Berlin kamen oder in die DDR einreisten. Er prüfte, wie er ihre Verbindungen nutzen konnte und machte dann davon Gebrauch.

Marianne Keller war ebenfalls im Ministerium beschäftigt, aber als Sekretärin. Sie hatte die Aufgabe, Informationen auszuwerten und die Briefe zu kontrollieren, traf aber selbst keine Entscheidungen und hatte auch nicht den Einblick in die Akten wie ihr Mann.

Sobald die Eheleute Keller nach Dienstschluss die Behörde verließen, stand das Private im Mittelpunkt. Sie lebten dann wie in einer anderen Welt. Da alle Informationen, mit denen sie beruflich zu tun hatten, streng geheim waren, sprachen sie zu Hause normalerweise nicht darüber. Besuch von Arbeitskollegen hatten sie nur sehr selten, sodass in ihren vier Wänden die Arbeit kaum ein Thema war. Aber ihre politische Überzeugung war nicht zu verkennen.

Nach einiger Zeit in seinem neuen Zuhause bemerkte Robert mit Schrecken, dass seine Erinnerungen an seine frühere Familie nachließen. Immer mehr schien zu verblassen. Auf keinen Fall wollte er seine frühere Familie vergessen, und er versuchte immer wieder das, was er noch wusste, krampfhaft heraufzubeschwören: Die Stimme seiner Mutter, den Geruch der Bettwäsche und Anne, seine Schwester, wie sie beim Spielen mit ihrer Puppe leise vor sich hin summte. Er hielt alles in einem Heft fest, notierte Listen mit den Namen seiner Freunde, beschrieb Ereignisse und machte eine Skizze von der Wohnung mit allen Zimmern und Möbeln und von seinen Spielsachen. Er schrieb die Namen der Bewohner in dem Vier-Familienhaus, in dem sie gewohnt hatten, auf: Dreyer, Schindler, Baumgarten, Zimmermann. Er musste lange nachdenken, um sie zusammen zu bekommen. Dann malte er auch ein Bild von seinen Eltern und seiner Schwester, damit er nicht vergaß, wie sie aussahen. Das Heft sollte niemand sehen. Deshalb legte er es unter seine Matratze.

Lange Zeit versteckte er sich hinter Büchern, durch die er sich wegträumen konnte. Die Helden gefielen ihm, und er weinte und lachte mit ihnen, trauerte und freute sich genauso wie sie. Er spürte ihre Verzweiflung, als wäre es seine eigene, und er war erleichtert, wenn es wieder Hoffnung gab. Seine Wünsche und Gedanken waren oft dieselben, wie die der Helden in den Geschichten. Es waren fast immer Kinder, und es freute ihn, wenn sie sich bewährten und auf den Weg machten, die Welt und sich selbst zu erkunden. Dann zog er in Gedanken mit. An der Seite seiner Bücherhelden drang er in düstere Burgen ein, kletterte auf hohe Berge und erforschte verzweigte Höhlen. Hatten sie nur genug Willen und Mut, dann erreichten sie ihre Ziele auch. Das Leben der Erwachsenen faszinierte ihn. Wie würde es sein, wenn er eines Tages ein Mann ist? Er malte sich aus, wie er als Forscher die Welt bereisen und erkunden würde, so wie die Helden in seinen Büchern. Er würde, wie sie, die Welt besser machen. Das nahm er sich fest vor.

Schon oft hatte Robert vor der Vitrine im Wohnzimmer gestanden. Ihm war besonders ein Gegenstand aufgefallen, der seinem Vater gehörte: Ein Fotoapparat. Immer wieder hatte er ihn sich angesehen, aber eines Tages traute er sich zu fragen, ob er die Kamera einmal anfassen dürfe.

Heinrich Keller war im Umgang mit seiner Frau und seinem Sohn ausgesprochen wohlwollend, aufmerksam und geduldig. Er nahm den Fotoapparat heraus und drückte ihn dem Jungen in die Hand. »Hier, Robert. Du darfst die Kamera gerne ausprobieren.« Dann erklärte er ihm, wie sie funktionierte und gab ihm Tipps, wie die Bilder gelingen können.

Der Junge hörte aufmerksam zu, und schon bald kannte er alle technischen Details des Apparates. Er war wie umgewandelt. Endlich gab es einen Lichtblick in seinen trüben Gedanken. Zuerst ging er in den Garten und machte Bilder von den blühenden Krokussen, die sich überall auf der Wiese ausgebreitet hatten. Dann machte er einige auch in der Wohnung mal mit und mal ohne Blitzlicht. Er fotografierte sein Zimmer, seine Spielsachen und sein Bett. Im Wohnzimmer machte er eine Aufnahme von der Vitrine und dem Bücherregal. Dann fotografierte er auch seine Eltern.

Als er die ersten Aufnahmen aus dem Labor abholte und er ungeduldig die Tüte öffnete, war er enttäuscht. Einige Bilder waren unscharf, die Vitrine spiegelte den Blitz wieder, und die Aufnahmen in seinem Zimmer waren alle zu dunkel. Nur die Krokusse leuchteten fast so, wie in der Wirklichkeit. Er zeigte alle Abzüge seinem Vater.

»Das ist mir am Anfang auch passiert. Mach dir nichts draus«, sagte dieser freundlich, und er erklärte ihm, worauf er beim nächsten Mal achten müsse, damit die Fotos besser würden.

Robert notierte alles und befolgte die Anweisungen so gut er konnte. Von nun an gab es etwas, was ihn faszinierte. Er bekam einen ganz neuen Blick. Überall sah er Motive, Farben und Gegenstände, die er fotografieren wollte. Er sparte sein ganzes Taschengeld, um davon Filme zu kaufen und die Entwicklung zu bezahlen. Seine Fotos wurden immer besser, und sein Vater zeigte sich begeistert von seinen Fortschritten.

An seinem nächsten Geburtstag bekam er einen eigenen Fotoapparat.

Seine Adoptiveltern hatten sich großzügig gezeigt und eine hochwertige Kamera ausgewählt, eine Exakta mit verschiedenen Objektiven, einem Blitz, und einer passenden Fototasche.

Robert freute sich sehr darüber.

Für den Biologieunterricht konnte er die neue Kamera gut gebrauchen. Er machte Fotos von Bäumen, Blumen und Gräsern. Dann klebte er alles in ein Heft und schrieb zu jedem Bild den Namen der Pflanze und den Fundort.

Wenn seine Klasse Ausflüge und Besichtigungen machte, nahm er seine Kamera mit und machte einige Bilder.

Schon bald war es für Lehrer und Schüler selbstverständlich, dass Robert alles dokumentierte: Theateraufführungen, Besuche von Politikern und Schulabschlussfeiern. Er hatte einen guten Blick für das, was geschah und fing alles ein. Manche der Fotos kamen in die Wandzeitungen der Schule, und manchmal verwendete sogar die örtliche Tageszeitung Bilder von ihm. Auch die Jugendweihe hielt er mit seinen Aufnahmen fest.

Durch die Anleitung seines Adoptivvaters lernte er, die Schwarzweißfilme in einem dunklen Raum selbst zu entwickeln. In einem kleinen Fotoladen in der Stadt konnte er Farbfilme abgeben und entwickeln lassen. Robert verlor sich mehr und mehr in seinen Motiven. Das neue Sehen und die Aufmerksamkeit für besondere Momente, die er festhalten wollte, verdrängten seinen Trübsinn fast völlig.

Endlich fand er sich in seinem Leben zurecht. Seine Adoptivmutter umsorgte ihn mit viel Liebe. Sein Adoptivvater interessierte sich für das, was er tat, und wurde so zu einem Vorbild. Doch manchmal, wenn Robert merkte, dass seine Erinnerungen an früher wieder ein Stück verblassten, holte er sein Heft unter der Matratze hervor und las, was er aufgeschrieben hatte. Dann kamen die Bilder zurück und mit ihnen die Fragen, die ihm niemand beantwortet hatte. Wo sind meine Eltern? Wie geht es ihnen? Wo ist meine Schwester? Was macht sie gerade? Er hatte bisher kein Lebenszeichen von ihnen bekommen. Doch Robert begann, sich auf die Veränderungen einzustellen. Er wurde ein Meister des Verdrängens.

Seine Adoptiveltern freuten sich, dass er so viel Interesse an der Fotografie zeigte. Nun würde er endlich die Vergangenheit hinter sich lassen können. Sie liebten ihren Jungen und versuchten, ihm jederzeit zu helfen.

Robert fand auch Kontakt zu Kindern in seinem Alter. Manchmal traf er sich am Nachmittag mit den Pionieren.

Nach der achten Klasse wechselte er zur erweiterten Oberschule, die im Nachbarort Kleinmachnow lag. Sein Schulweg war nun länger, und er musste mit dem Bus fahren. Außerdem bekam er neue Mitschüler. Robert bewältigte alles gut. Er ging gerne zur Schule, und er schloss sie nach weiteren vier Jahren erfolgreich ab. Auf Wunsch seiner Eltern trat er auch die FDJ ein.

Potsdam, von 1985 bis 1989: Neuorientierung

Inzwischen waren seine Fotos so gut, dass Heinrich Keller ihm einen ganz besonderen Vorschlag machte. »In der nächsten Woche könntest du einen Auftrag übernehmen, wenn du möchtest. Du könntest unseren Fotografen begleiten, ihm bei Modeaufnahmen zusehen, und du darfst auch schon selbst einige Fotos machen, die auch bezahlt werden«, erklärte er seinem Sohn. »Morgen treffen wir uns mit einigen Mitarbeitern und werden von ihnen über den Ablaufplan informiert.«

Robert freute sich sehr über das Angebot seines Vaters. Er war stolz darauf, dass er ihm etwas so Wichtiges zutraute. Etwas aufgeregt war er schon. Doch er ließ es sich nicht anmerken.

Aufgeregt saß er am nächsten Tag mit den anderen an einem großen Tisch im Besprechungsraum.

Sein Vater stellte ihn als jungen Fotografen und als seinen Sohn vor und lächelte ihm aufmunternd zu.

Bisher hatte Klaus Weinert die Aufnahmen gemacht. Er zeigte Robert die Fotos des letzten Auftrages und erklärte ihm, worauf er achten müsse. Klaus Weinert war ein erfahrener Fotograf. In Kürze würde er in den Ruhestand gehen, erzählte er. »Bleib einfach in meiner Nähe und sieh mir zu. Wenn du es dir zutraust, kannst du auch selbst ein paar Aufnahmen machen.«

Robert war begeistert. Mit Klaus Weinert hatte er einen guten Lehrmeister, der ihm noch vieles beibringen konnte.

Eine Woche später betraten die Männer das Studio. Dort waren die Vorbereitungen bereits in vollem Gange.

Nachdem alle den Ablauf noch einmal durchgegangen waren, wurde ein Kind in den Raum geführt. Es trug ein grellgrünes Kleid, dazu eine dunkelblaue Jacke, und es sollte sich vor eine große weiße Wand stellen.

Klaus Weinert erklärte dem Mädchen, wie es sich bewegen soll. Dann begann er, während er noch sprach, mit seinen Fotos. Requisiten wurden hin und her geschoben, und ab und zu drückte jemand dem Kind etwas in die Hand und flüsterte ihm ein paar Anweisungen ins Ohr.

Als das erste Kind fertig war, kam das nächste in den Raum.

Und wieder machte Klaus Weinert Fotos.

Kinder unterschiedlichen Alters wurden nach und nach hereingeholt und fotografiert.

Robert schaute genau hin. Schon bald setzte auch er seine Kamera ein.

Nun kamen junge Männer und bauten sich vor der weißen Wand auf.

Robert drückte viele Male auf den Auslöser und legte mehrmals einen neuen Film ein.

Nach den Männern waren die Frauen an der Reihe. Sie waren modern frisiert, geschminkt und mit auffällig farbenfroher Kleidung ausgestattet. Eine nach der anderen stellte sich in Pose.

Robert fotografierte wie im Rausch. Nach mehreren Stunden war die Aktion beendet.

Heinrich Keller gab die Filme in einem Speziallabor ab.

Schon am nächsten Tag waren sie entwickelt, und es wurden großformatige Abzüge angefertigt.

Gemeinsam mit seinem Vater suchte Robert die besten Fotos aus.

Heinrich Keller war sehr zufrieden mit dem Ergebnis und reichte die Bilder noch am selben Tag weiter, damit sie schnell verwendet werden konnten.

Auch für die nächsten Modeaufnahmen wurde Robert gefragt.

Beim dritten Einsatz war er der einzige Fotograf. Die Verantwortung lag nun ganz auf seinen Schultern, und er war am Anfang sehr angespannt. Aber alles klappte, und die Bezahlung war gut.

An einem der nächsten Aufnahmetage begegnete er Franz Lindemann, einem jungen Designer, der neu in die Modeproduktion gekommen war und das Layout für die Kataloge erstellte, über die die Kleidung vermarktet wurde. Franz war drei Jahre älter als er.

Die beiden jungen Männer freundeten sich an. Sie konnten sich gut unterhalten, mochten die gleiche Musik und lachten über die gleichen Scherze.

Franz war unkompliziert, und er sagte, was er dachte.

Für Robert war es ein ganz neues Gefühl, einen so guten Freund zu haben.

Eines Tages, als die beiden ungestört zusammensaßen und Robert die neue Kollektion lobte, rutschte Franz ein Satz heraus. »Das kommt doch alles aus dem Westen.«

»Was meinst du damit, alles kommt aus dem Westen?«

»Das hätte ich eigentlich nicht sagen dürfen. Aber ich dachte, du weißt davon. Hat dir denn dein Vater nicht gesagt, wer diese ganzen Sachen hier entwirft?«

Robert sah Franz verständnislos an.

»Na, hat er dir nichts von dem Geschäft erzählt?«

»Von welchem Geschäft? Was weißt du darüber?«

»Dann wird dein alter Herr wohl einen guten Grund gehabt haben zu schweigen. Franz erzählte Robert, was er von der Geschichte wusste. »Wolfgang Joop, der bekannte Modemacher aus dem Westen ist in der Nähe des Schlosses Sanssouci auf einem Bauernhof groß geworden. Noch vor dem Bau der Mauer sind seine Eltern mit ihm in den Westen geflohen. Aber der Junge hat diesen Hof geliebt, wo er eine glückliche Kindheit verbracht hat. Als er später eine Familie und als Modeschöpfer große Erfolge gehabt hat, hat er seine alte Heimat besucht und jedes Mal einen Antrag stellen müssen. Die Stasi hat das ausgenutzt und ihm ein Angebot gemacht. So oft er wolle, könne er den alten Hof besuchen und sich dort aufhalten, so hat sie ihm versichert. Im Gegenzug müsse er der DDR regelmäßig Ideen zu Stoffen, Schnitten und Farben für neue Mode liefern. Das alles darf natürlich niemand erfahren und muss streng geheim bleiben.« Bei den letzten Worten legte Franz den Finger auf den Mund.

Robert hatte Franz nur zugehört und nichts gesagt. Das war einfach unfassbar, was er da erfuhr. »Klar, werde ich schweigen. Ehrenwort. Aber woher weißt du das alles, Franz?«

»Aus sicherer Quelle, das kannst du mir glauben. Und ich habe dir das im Vertrauen erzählt, das ist hoffentlich klar.«

Robert spürte, wie seine Empörung wuchs. Aber er biss sich auf die Zunge und sagte nichts weiter. Niemand sollte davon etwas aus seinem Mund erfahren. Er war sich darüber im Klaren, dass er seine Chance als Modefotograf vertan hätte und Franz in Gefahr geraten wäre, wenn er auch nur ein einziges Wort darüber verlauten lassen würde. So waren die Regeln. Und er hielt sich daran. Er lernte, zu schweigen.

Sein Adoptivvater musste davon wissen, denn Wolfgang Joop war einer von ihnen, die er überwachen ließ. Aber es gab von seiner Seite nie auch nur eine Andeutung darüber.

Die meisten Kleidungsstücke wurden nach den erpressten Zeichnungen und Vorgaben des Modemachers angefertigt, und Franz bearbeitete die Bilder für die Darstellung im Katalog.

Jedes Mal, wenn Robert mit einer neuen Aufnahmereihe begann, dachte er an die Geschichte, die ihm sein Freund erzählt hatte. Er hielt natürlich seinen Mund und unterdrückte seine Empörung. Wenn er seinen Vater gefragt hätte, dann hätte dieser gewusst, dass jemand aus dem Team nicht dicht gehalten hatte. Das war zu gefährlich. Vor allem wollte er Franz nicht belasten. Er hatte Franz bisher noch nicht mit nach Hause gebracht, weil dieser der Meinung war, dass seine Eltern gar nicht erst auf den Gedanken kommen sollten, dass die beiden befreundet seien. Außerdem hatten sie sich einen Geheimcode ausgedacht, mit dem sie sich über verbotene Themen verständigen konnten.

»Man kann nicht vorsichtig genug sein«, sagte Franz. »Wenn meine Eltern über heikle Themen sprechen, dann gehen sie ins Bad und lassen das Wasser laufen oder sie setzen sich draußen irgendwo hin, wo viele Nebengeräusche sind.«

Robert hatte den Dienst bei der Nationalen Volksarmee absolviert und einen Studienplatz für Informatik für das kommende Sommersemester in Aussicht.