Sakamura, Corrales und die lachenden Leichen - Pablo Tusset - E-Book

Sakamura, Corrales und die lachenden Leichen E-Book

Pablo Tusset

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Beschreibung

Drei Ausländer werden an der Costa Brava tot aufgefunden. Alle drei sind krebsrot, und alle drei haben ein unerklärliches Lachen auf den Lippen. Der Fall scheint für Rafael Corrales von der Guardia Civil klar zu sein: Das müssen die Quallen gewesen sein, deren Gift den Einheimischen offenbar nichts ausmacht, weil "wir eine bessere Haut haben". Inspektor Sakamura jedoch, der verehrungswürdige japanische Zenmeister, der von Interpol ausgesandt wurde, um den Fall zu lösen, hat den Verdacht, dass noch viel mehr dahinter stecken könnte - und er hat offensichtlich recht.

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PABLO TUSSET

SAKAMURA,

CORRALES UND DIE

LACHENDEN LEICHEN

Roman

Aus dem Spanischen

von Ralph Amann

#

Erster Teil

#

Eins

Die dritte Leiche befand sich auf dem Deck ihrer Yacht und war ziemlich hässlich. Der Mann hatte einen Überbiss, ein feistes Gesicht und einen Schnurrbart, der ihm überhaupt nicht stand. Sein Körper war nackt und übergewichtig und sah aus wie der einer Seekuh, lugte da nicht ein winziges Geschlechtsorgan wie ein Champignon unter dem dicken Bauch hervor, als wäre es der Schniepel eines Schwimmreifens. Die Leiche schien zu allem Überfluss auch noch zu atmen, das sah besonders eklig aus. Der Wellengang ließ den Bauch wie einen Wackelpudding hin und her schaukeln. Andererseits waren, mal abgesehen von diesem unheimlichen Lebenszeichen post mortem, weder Blutspuren noch Verunstaltungen zu sehen, die auf einen gewaltsamen Tod hingedeutet hätten. Ganz im Gegenteil: Das schnauzbärtige Gesicht des Toten strahlte vor Glück und sah auf eine so bescheuerte Weise verzückt aus, dass der Mann auch noch dümmlich wirkte.

Inspektor Sakamura hielt ein wenig Abstand von der Teakholzliege, auf der diese hässliche und doch so glückselige Leiche lag. Sekundenlang stand der Inspektor reglos da: die kurzen Beinchen leicht gespreizt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Seine Schlitzäuglein glänzten wie zwei Stecknadelköpfe und wanderten im Halbschatten des Sonnensegels hin und her. Die Kollegen von Interpol hätten gewusst, dass Sakamura sich den Tatort minutiös einprägte. Zwar hatte der Fotograf der katalanischen Polizei, der Mossos d’Esquadra, die Leiche aus verschiedenen Perspektiven abgelichtet, doch die dreidimensionalen Bilder, die der ehrwürdige Zenmeister in seinem Gedächtnis festhielt wie eine Computeranimation, waren besser als die modernsten Digitalkameras.

Neben ihm auf dem Deck der Yacht klebte Rafael Corrales von der Guardia Civil beiläufig den Aufkleber der Spanienflagge wieder fest auf das Armband seiner Real-Madrid-Uhr. Dann wagte Corrales eine steile These, um zu erklären, warum gleich drei Leichen in den letzten Tagen aufgefunden worden waren, die alle auf eine so unglaublich dämliche Weise glücklich aussahen:

»Keine Frage, das liegt an den Quallen, das können Sie mir ruhig glauben.«

Doch der Inspektor bat mit einer geschmeidigen Armdrehung um Ruhe, schnupperte mit wackelnden Nasenflügeln durch die Luft und beendete seine organoleptische Prüfung.

Dann sagte er mit flötender Stimme und einem ulkigen Kyotoer Akzent:

»Pufeffer … Tumate … Sellirie … klein wenig Zitrone … reiner Sake …«

»Sie meinen die Bladdie Märrie«, sagte Corrales und zeigte auf das Glas, das neben einer zusammengefalteten Zeitung auf einem Tischchen unweit der Liege stand.

»Aaaaha …«, rief Inspektor Sakamura, als sei ihm plötzlich ein Licht aufgegangen. »Bla Qi Mary?«

»Auf den Cocktail hatte sich der Tote sicher schon gefreut.«

»Aaaaha … spanische Cocktail mit Pfeffer?«

»Natürlich«, sagte Corrales und gab sich souverän wie immer, wenn er etwas unsicher war. »Der Drink kommt aus Andalusien, sozusagen eine Art Gazpacho, halt ohne Knoblauch …«

»Aaaaha …«, sagte Maestro Sakamura, als habe er eine weitere Erkenntnis gewonnen: »Ga Pa Qo?«

»Natürlich … Das essen die im Sommer, gewissermaßen als Suppe …«

»Suppe Bla Qi Mary im Sommer?«

»Nein, nein, eine Bladdie Märrie wird nicht gelöffelt, sondern getrunken, aber dann bekommt man am nächsten Morgen sozusagen einen fetten Kater …«

»Aaaaha … Ka Ta … Auch spanische Spezialität?«

»Um Himmels willen, nein, einen Kater bekommt man, wenn man sich volllaufen lässt. Am nächsten Morgen brummt einem dann tierisch der Schädel …« Corrales untermalte seine Ausführungen mit vielsagenden Bewegungen und hielt sich zum Schluss theatralisch die Stirn.

»Aaaaha …«, rief erneut der Inspektor und setzte ein intelligentes Gesicht auf, wodurch seine Augen, die hinter den schmalen Lidschlitzen kaum zu erkennen waren, noch mehr glänzten.

»Und? Was halten Sie von der Geschichte …?«, fragte Corrales, der vor Japanern einen gewissen Respekt hatte, ebenso wie vor Deutschen und Italienern. Von seinen Vorgesetzten wusste er außerdem, dass Sakamura einer der berühmtesten Spezialagenten auf der ganzen Welt war.

»Och, Tote im Meer schwimmen«, sagte der Inspektor und vollführte eine elegante Zenbewegung mit dem Arm. »Salzwasser in den Haaren …«, dabei deutete er auf seinen eigenen Schopf, der deutlich grauer und schütterer war als der des opulenten Meeressäugetiers mit den nassen, verfilzten Haaren. »Aus dem Wasser klettert, will scharfe spanische Suppe trinken … ohne Löffel: um Ka Ta bekommt …«, sagte er ernst, als wäre ihm das besonders wichtig. »Zack, dann Toter mysterios tot.«

»Genau so war’s, gar nicht so dumm …! Und wieso lacht der so?«, Corrales steckte die Hände in die Hosentaschen seiner blauen Synthetikhose, die ihm um die Hüfte schlabberte, und beugte sich über die Leiche, um sich das Gesicht noch einmal genauer anzusehen.

»Aaaah … in Ruhe meditieren über großes Rätsel … Großes Koan!«

Corrales zuckte mit den Achseln und redete jetzt, da er sich ein wenig an den Inspektor gewöhnt hatte, freier drauflos:

»Hören Sie, ich glaub, der Fall ist eigentlich ganz einfach: Alle drei toten Touris lachen doch wie blöde, nicht wahr? Letzten Sonntag die Engländerin am Strand, am Mittwoch der Holländer auf der Parkbank und jetzt dieser Deutsche auf seiner Yacht … Und alle drei sehen aus wie gekochte Krebse, knallrot. Ich sage Ihnen was, das waren die Quallen, garantiert, die haben ein Gift, das die Touristen nicht vertragen. Uns Spaniern macht das vermutlich nichts aus, oder wir haben einfach eine bessere Haut … Aber ich wette, dass sich bei der Autopsie der Engländerin herausstellt, dass die Quallen irgendwas mit ihrem Lachmuskel angestellt haben.« Er kniff sich in die Backen und zog seinen Mund zu einer Grimasse, bis ein sardonisches Grinsen auf seinem Gesicht lag. »Dos nennt mon schoschuschagen eine Quollenvagüftung! Sie werden schon sehen.«

Inspektor Sakamura hörte Corrales aufmerksam zu und versuchte wenigstens die Hälfte von dem zu verstehen, was ihm da zu Ohren kam, während sein von Natur großzügig ausgestatteter Geist bereits komplexeren Überlegungen nachhing.

»Oft Morde in Carabeya?«, fragte er.

»Morde? Hier?«, Corrales schnalzte verneinend mit der Zunge. »Hier sorgen die Bonzen dafür, dass nicht mal eine Disco neu aufgemacht wird … Diese Katalanen in Ampurien sind ziemlich gerissen, das werden Sie schon noch sehen … Oder meinen Sie, die Urlauber würden noch an die Costa Brava kommen, um ihre Kohle bei uns zu verjubeln, wenn die Leute hier sterben würden wie die Fliegen? In Lloré ist das wieder was anderes, auch in Caster’defés, da wäre ich mir nicht so sicher, aber hier in Calabella wird niemand umgebracht …«

»Drei Morde in einer Woche, hi hi«, kicherte Meister Sakamura, streckte drei Finger in die Höhe und lachte, so unangebracht es auch schien, als wäre dies alles für einen Japaner äußerst witzig.

Corrales, der trotz all seiner Wertschätzung nicht viel über Japan wusste (ebenso wenig wie über Italien oder Deutschland), schnalzte erneut mit der Zunge:

»Ich schwör’s Ihnen, das sind die Quallen … Wie gesagt, ich lebe seit dreißig Jahren in diesem Nest. Hier herrscht absolut tote Hose.«

»Aaaaha …«, sagte Sakamura wie immer, wenn sich ein Rätsel auflöste. »Sie in Carabeya nicht geboren?«

»Ich? Wie kommen Sie denn da drauf …? Ich bin ein waschechter Madrilene und komme zudem aus Carabanchel, dem geilsten Viertel von ganz Madrid.«

»Aaaaha, verstehe …«, sagte der Inspektor. »Ich habe Sardinen aus Carabanchel gegessen.«

Der gute Corrales brauchte ein paar Sekunden, bis er verstand, welch irreführende Assoziation dem verehrungswürdigen Maestro durch den Kopf gegangen sein musste.

»Sardinen aus Carabanchel, ach du Scheiße, nein, Sie meinen Sardinen en escabeche, eingelegte Sardinen …«, verbesserte er geflissentlich, gleichwohl leicht gekränkt in seinem Lokalpatriotismus.

»Aaaah, ja. Viel scharfe Essen in Spanien«, sagte Inspektor Sakamura schmunzelnd.

Dann wandte er sich den Mossos d’Esquadra zu, die auf dem Deck der Yacht Wache standen, grüßte sie respektvoll – mit gefalteten Händen und einer tiefen Verbeugung – und verschwand auf dem Treppchen in Richtung Heck.

Der ehrenwerte President der autonomen Regierung Kataloniens nutzte den Augenblick, in dem seine Frau auf der Toilette verschwunden war, um sich unter der Bettdecke einer quälenden Flatulenz zu entledigen, die ihm ordentlich zu schaffen gemacht hatte. Überaus befriedigt lauschte er dem lang gezogenen, volltönenden Furz, bevor er die Muskeln anspannte, um einem unerwünscht feuchten Nachspiel vorzubeugen. Da seine Frau jeden Augenblick ins Bett zurückkommen konnte (vom Pipistrahl war im Klo schon nichts mehr zu hören), lüftete er eifrig die Decken, um die Methanwolke flugs in alle Winde zu zerstreuen.

In diesem Augenblick klingelte das Handy, das der katalanische President immer auf seinem Nachttisch liegen hatte:

Segur que tomba, tomba, tomba, i ens podrem alliberar …

An dem Klingelton erkannte er die Anrufe der Mitglieder seiner Regierung. Auf dem Display standen drei Buchstaben, Edu, die Abkürzung für den Vornamen des Conseller de Presidència, eines Ministers, der dem President eigens unterstellt war.

Der Anruf eines Ministers der autonomen Regionalregierung bei seinem President kurz vor Mitternacht verhieß nichts Gutes.

»Was zum Teufel ist denn nun schon wieder los …?«, schimpfte der President ungehalten auf Katalanisch (falls spanische Autoren ihre katalanischen Protagonisten verstehen), nachdem er sich das Handy geholt und auf die grüne Taste gedrückt hatte.

»Schläfst du etwa schon?«, sagte Edu am anderen Ende der Leitung ebenfalls auf Katalanisch.

»So gut wie … Und? Was gibt’s denn …?«, antwortete der President unwirsch.

»Es ist etwas Schreckliches passiert …«

»Nun mach es nicht so spannend. Ich liege schon im Bett …«

»Du erinnerst dich doch sicher an das Katalanische Experiment.«

»Psscht! Natürlich erinnere ich mich. Warum …?«, fragte der President und senkte auffällig die Stimme.

»Drei Freiwillige sind unter ganz komischen Umständen ums Leben gekommen.«

Dem President verschlug es die Sprache.

»Unter komischen Umständen? Ach du Scheiße. Was soll das denn heißen?«

»Die Ergebnisse der Autopsie liegen uns noch nicht vor, aber drei von denen … tja, grinsen, als hätte man ihnen eine Überdosis gute Laune verabreicht, obwohl sie mausetot sind. So jedenfalls drückte sich der Direktor der Mossos vorhin wortwörtlich aus … Heute Abend haben sie jetzt schon die dritte Leiche gefunden, einen deutschen Unternehmer, der eine Yacht im Hafen von Calabella liegen hatte.«

Der President wusste im ersten Augenblick gar nicht, welche der Neuigkeiten er am beunruhigendsten finden sollte.

»Und da mussten erst drei Leute sterben, bevor ich informiert werde?«

»Ich habe es auch eben erst erfahren. Das ist ja alles erst in den letzten Tagen passiert. Letzten Sonntag wurden die Mossos über die erste Leiche informiert, eine Engländerin mit Wohnsitz in Calabella, am Mittwoch haben sie dann einen Niederländer tot aufgefunden, der ebenfalls viel Zeit hier verbracht hat, und jetzt heute Abend kam zu allem Überfluss auch noch der Deutsche dazu …«

Der President rieb sich die Schläfen.

»Und du meinst, da besteht ein Zusammenhang mit dem … Experiment?«

»Anzunehmen, oder? … Wenn von zehn Freiwilligen drei innerhalb von einer Woche unter ähnlich rätselhaften Umständen und ohne erkennbare Todesursache das Zeitliche segnen … Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber für mich klingt das nicht gerade nach Zufall.«

»Du hast recht, vor allem dürfen wir nicht das geringste Risiko eingehen. Das Experiment wird unverzüglich gestoppt. Denk dir irgendeinen glaubhaften Grund aus … Und wirbel bitte dabei keinen Staub auf, hörst du, nicht auszudenken, was passiert, wenn sich die Neuigkeiten bis nach Madrid herumsprechen.«

»Ich fürchte, das wird nicht so einfach … Der Deutsche ist dummerweise ein Großaktionär der Volkswagen-Gruppe … Die Nachricht wird wohl nicht nur in Madrid, sondern in halb Europa die Runde machen.«

»Ach du Scheiße! Und welcher Schlauberger kam auf die Idee, ein hohes Tier von Volkswagen für unser Katalanisches Experiment zu rekrutieren?«

»Wir wollten zehn Freiwillige, und zwar Frauen und Männer aus allen sozialen Schichten und aus verschiedenen Ländern. Das weißt du doch selbst …«

»Oh Mann, hoffentlich geht das Experiment nicht nach hinten los!« Der President hatte sich bereits aufgesetzt und überlegte fieberhaft, mit welchem geschickten Schachzug er das Schlimmste verhindern konnte.

»Mal sehen. Ich will, dass wir uns unverzüglich mit dem Direktor der Mossos zusammensetzen. Verstehst du, ab jetzt müssen alle Nachforschungen unter größter …«

»Vergiss es, Andreu. Zu spät.«

»Zu spät wofür?«

»Die Angelegenheit lässt sich nicht mehr geheim halten.«

Der President seufzte:

»Raus mit der Sprache. Was ist denn sonst noch schiefgelaufen …?«

»Der zweite Tote, der Holländer, arbeitete als Übersetzer für irgend so eine Polizeistaffel, die irgendwie mit Interpol zusammenhängt. Interpol hat daraufhin bereits einen Inspektor nach Calabella geschickt, offenbar einen Japaner, der ein kleines Genie auf seinem Gebiet sein soll, und das Ganze in direkter Absprache mit dem Innenministerium und …«

»Waaas? Die haben Madrid eingeschaltet?«

»Sieht ganz so aus.«

Der President saß auf seinem Bett und hatte das dumpfe Gefühl, dass seine Pyjamahose feucht geworden war. Da war er wohl wieder mal nicht schnell genug gewesen.

»Ein Japaner von Interpol? Ach du Scheiße …! Ich möchte, dass einer unserer Leute diesen Typen keine Sekunde mehr aus den Augen lässt. Schick jemanden, dem wir blind vertrauen können, verstanden? Ihr könnt ihm den Mann meinethalben als Stadtführer vorstellen oder als seinen Dolmetscher oder … als Hostess oder … Lass dir gefälligst was einfallen!«

»Auch der Zug ist bereits abgefahren. Die in Madrid haben ihm einen Typen von der Guardia Civil zur Seite gestellt. Die haben doch noch ein paar Leute unten am Hafen in Calabella beim Zoll …«

»Einen von der Guardia Civil …? Edu, du Missgeburt«, fluchte er auf Katalanisch. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst, oder …?«

»Seine Akte habe ich mir bereits besorgt: Rafael Corrales, dreiundfünfzig Jahre alt, und der Typ ist seit 1979 in Calabella im Dienst.«

»Das darf doch nicht wahr sein. So langsam habe ich die Faxen aber dicke. Du rufst mich mitten in der Nacht an, um mir zu erzählen, dass ein beknackter japanischer Inspektor von Interpol und ein Schwachkopf von der Guardia Civil bei uns herumschnüffeln, weil drei Freiwillige unseres Katalanischen Experiments verreckt sind? Habe ich dich richtig verstanden? Du schwörst mir jetzt bitte auf der Stelle, dass du nicht vorhast, mich mit einem Herzinfarkt um die Ecke zu bringen, um selbst bei den nächsten Wahlen auf Platz eins unserere Liste zu kandidieren.«

»Ich schwöre es.«

Als der President auflegte, war seine Frau bereits wieder im Bett.

»Was ist denn?«, fragte sie ihren Gatten.

»Da ist was gründlich in die Hose gegangen«, sagte er, während er sich den Gummizug der Pyjamahose vom Leib hielt und mißmutig ins Badezimmer stapfte.

Natürlich hatte Inspektor Sakamura die Einrichtung seines Zimmers im Hotel Marina Brava nach allen Regeln des Feng-Shui umgeräumt: jene Lehre der harmonischen Wohnraumgestaltung, durch die das Qi oder die Lebensenergie frei fließen kann und Yin und Yang in Einklang gebracht werden.

Bereits morgens um fünf saß er in seine Mönchsrobe gehüllt auf einem Kissen und meditierte Za-Zen. Die Beine hatte er zu einer vollendeten Lotusposition ineinander verschlungen, der Oberkörper war aufrecht, die Hände lagen im Schoß. Vollkommen reglos saß er da, obwohl man eine ungeheure Spannung in seinem Körper spüren konnte wie bei einem Flitzebogen.

Tief in die Meditation versunken, ganz bei sich und seiner Atmung, stand er erst auf, als die Glocken in Calabella sechs Uhr schlugen.

Dann begann er mit der uralten Kin-Hin-Meditation, um sich die Beine ein wenig zu vertreten, und lief mit rhythmischen Schritten im Zimmer auf und ab wie ein Fasan. Als würden seine Füße feste, lautlose Spuren im Sand hinterlassen wie die eines Räubers …

Nach einer Viertelstunde Tai-Chi und einer weiteren Viertelstunde Qigong trat der Inspektor auf den Balkon des Hotels, um an der frischen Luft noch ein paar Kampfsportübungen zu machen. Oben im vierten Stock ging er am Geländer mit dem rechten Bein in die Kranichposition, hielt auf beneidenswerte Weise das Gleichgewicht und verharrte drei Minuten lang mucksmäuschenstill in dieser Haltung. Dann schrie er urplötzlich los, und das kriegerische Gebrüll hallte in der menschenleeren, dunklen Allee wider:

»Utuuuuu, Assaaaaaaa, Ishoooooo …!«

Die gutturalen Laute und das furchteinflößende Geschrei gehörten zu den Shisei-Übungen, mit denen er seine Körperhaltung und die Geschwindigkeit seiner Bewegungen trainierte. Danach legte er einen schönen Aikido-Tanz hin, entschwand mit seinem Körper vor einem imaginären Gegner, »Upaaaaaa, Upaaaaaaa, Upaaaaaa!«, bevor seine Beine im Stil von Taekwondo nur so durch die Luft wirbelten, »Nisiiiiii, Nisiiiiiyaaaa!«, und er unmittelbar darauf eine Reihe trockener Karateschläge ansetzte: »Youuuu, Youuuu, Utaishoooooo!?«

Der Maestro war so auf seine Kampfsportübungen konzentriert, dass ihm nicht auffiel, wie einige Leute in den Nachbarhäusern an die Fenster und auf die Balkone traten:

»Warum stopft dem Idioten niemand das Maul? Eine Frechheit, uns morgens um sieben alle aus den Federn zu holen«, schimpfte ein Gast, der im selben Hotel logierte und in Unterhosen auf der Terrasse stand.

Unbeirrt trainierte Meister Sakamura achtzehn weitere koreanische Kampftechniken, den Shippalgi, zog dann seinen imaginären Säbel, der nicht weniger scharf war, bloß weil es ihn nicht gab, und rannte mit geschlossenen Augen entfesselt auf dem Balkon hin und her, bevor er als Kendoka wie ein gefürchteter japanischer Schwertkämpfer durch die Luft flog: »Icooo, Ya, Icooooo, Ya, Icoooo …!«

»Um Gottes willen!«, flehte eine Urlauberin aus Vic, die sich in ihr Badetuch vom Strand gehüllt hatte. »Die Leute schlafen noch!«

An der Rezeption hörte das Telefon nicht mehr auf zu läuten. Doch als der Hotelangestellte endlich auf die Straße flitzen konnte, um nachzusehen, was sich da auf dem Balkon im vierten Stock abspielte, hatte der ehrwürdige Meister bereits seinen imaginären Säbel weggesteckt und die Trugbilder seiner ebenso ehrenwerten Gegner mit einer tiefen Verbeugung verabschiedet, genauso wie die zwei nicht minder verehrungswürdigen kleinen Knirpse, die aus der Wohnung gegenüber applaudierten, und den keineswegs weniger ehrbaren Säufer, der angesichts des Spektakels mit offenem Mund seinen Heimweg unterbrochen hatte und unten stehen geblieben war.

In die Straße war wieder Stille eingekehrt. Der Inspektor hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen und ein Tuch aus seinem Gepäck geholt, mit dem er jetzt den Fußboden gewissenhaft wischte. Danach machte er sein Bett. Zu guter Letzt ging er ins Bad und unterzog sich vor dem Frühstück einer rituellen Reinigung. Normalerweise fastete der Inspektor jeden zweiten Tag. Zu Zeiten des Sa Shin fastete er sogar sieben Tage am Stück. Da ihn die Ermittlungen in den nächsten Tagen womöglich viel Energie kosten konnten, hielt er es für ratsam, nun darauf zu verzichten. Er zog sich eines der beiden weißen Leinenhemden über, eine Art Guayabera, die er in Lyon gekauft hatte, als er erfuhr, dass er nach Spanien reisen musste. Dann ging er hinunter in den Speisesaal, um in aller Ruhe einen kritischen Blick auf das Frühstücksbüfett zu werfen. Die Wurstplatte, den gebratenen Speck, den Toast und die Butter ließ er ebenso links liegen wie die vielen bunten Marmeladentöpfchen, stattdessen zog es ihn zu einem großen Früchtekorb, aus dem er sich nach reiflicher Überlegung einen kleinen Apfel herausnahm. Danach zog er sich wieder in sein Zimmer zurück und frühstückte im Stile eines Zenmeisters das Äpfelchen. Seine Gedanken kreisten um nichts, was nicht mit seiner Kaubewegung zusammenhing oder dem, worauf er herumkaute. Alle Gedanken zogen wie eine Wolke dahin, ohne eine Spur am Himmel zu hinterlassen. Bis ihm seine innere Uhr sagte, dass er jetzt zu der Verabredung mit Corrales aufbrechen musste.

Das Treffen hätte mit der Präzision einer Schweizer Uhr vonstatten gehen können, wäre Corrales nicht erst um acht Uhr vierundzwanzig ins Foyer des Hotels Marina Brava gekommen, also genau vierundzwanzig Minuten zu spät. Um die Unpünktlichkeit besser einordnen zu können, muss man wissen, dass Corrales vor vielen Jahren einmal gehört hatte, dass Pünktlichkeit die Tugend der Könige sei – da er sich aber zum gemeinen Volk zählte, fühlte er sich von da an seinen Mitmenschen gegenüber von solchen Pflichten für immer entbunden.

»Alles klar, Maestro?«, grüßte er, sobald er den Inspektor erspäht hatte, der mit hinter dem Rücken verschränkten Armen in der Halle stand und ihn erwartete. Der Inspektor verbeugte sich wortlos und blieb dann so reglos stehen wie zuvor.

»Worauf warten wir noch …?«, fragte Corrales.

»Jetzt du warten«, antwortete der Inspektor.

Zur völligen Verblüffung von Corrales, der in jener ungastlichen Rezeption weder rauchen durfte noch die bescheidenste Sitzgelegenheit entdecken konnte, traten sie erst auf die Straße hinaus, als weitere vierundzwanzig Minuten verstrichen waren.

Der spanische Ministerpräsident ließ sich in seinem Dienstwagen, einem Audi A8, zum Abgeordnetenhaus fahren: einer dunkelblauen, bis zum Auspuffrohr gepanzerten Kiste mit getönten Scheiben, die von außen kaum als Regierungswagen zu erkennen war, weil die Behörden auf Fähnchen oder andere Insignien der Macht lieber verzichteten, um den Unaussprechlichen nicht mehr Anhaltspunkte zu liefern als unbedingt nötig.

Wie gewöhnlich lauschte er der morgendlichen Radiosendung, die bei den Taxifahrern in Madrid am beliebtesten war: Don José Domingo de la Cascada, Radioreporter und die scharfzüngigste Schandschnauze des Landes, putzte gerade seinen Wirtschaftsminister herunter, der am Vorabend vor die Presse getreten war, um ein Paket mit Eilmaßnahmen zur schnellstmöglichen Überwindung der Finanzkrise vorzustellen.

»Dieser fette Pissbackenzeisig glaubt wohl, dass er uns Spanier für dumm verkaufen kann«, schimpfte die Stimme im Radio, »das glauben aber auch nur Sie, Don Dosenbefruchter, es dürfte keinem ehrbaren Spanier entgangen sein, was für ein Rüschelbrunzer Sie sind …«

Der Ministerpräsident nahm sich vor, das Wort »Rüschelbrunzer« später in dem dicken Wörterbuch nachzuschlagen, das in seinem Büro stand, und nutzte die Zeit, in der sein Fahrer vollauf mit dem morgendlichen Berufsverkehr beschäftigt war, um seinen kleinen Finger auf Wanderschaft zu schicken, tief in die Nase hinein, etwas aufstöbernd, das ihn in den Atemwegen kitzelte. Die kleine Razzia verlief erfolgreich, und schon nach kurzer Zeit klebte der verkrustete Kopf und vor allem der durchscheinende Schwanz eines Popels am Finger, der in gewisser Weise einer Sojasprosse nicht ganz unähnlich sah.

Genau in diesem Augenblick klingelte das Handy in seiner Aktentasche.

Saliste a la arena del night club, y yo te recibí con mi quite mejor. / Estabas sudadita, pues era una noche que hacía calo-or …

Das Radio hätte der Ministerpräsident an der Innenseite der Wagentür leiser stellen können, ihm wurde aber sofort klar, dass er beide Hände frei haben musste, um die Schlösser seines Aktenkoffers zu öffnen. Wohin nur mit dem Popel?

Y yo bolinga, bolinga, bolinga / haciendo frente a la situación / con torería y valor …

Jenes klebrige Würmchen hatte begonnen, ein eigenständiges und aufmüpfiges Leben zu führen. Er versuchte, es am Ledersitz abzustreifen, musste aber feststellen, dass es sich auf hartnäckige Weise überhaupt nicht von seinem Finger trennen wollte. Währenddessen war der Klingelton immer lauter geworden, bis er seine volle Lautstärke erreicht hatte:

La culpa fue del cha cha cha / que tú me invitaste a bailar …

Endlich ließ sich die zarte Kreatur gnädigerweise auf dem Polster seines Sitzes absetzen, und der Ministerpräsident konnte nun seine Aktentasche öffnen und das Handy herausholen. »Andreu« stand auf dem Display, zu Zeiten eines Felipe González noch sein junger Parteigenosse, seit drei Jahren aber bereits President der autonomen Regierung Kataloniens.

»Mensch, Andreu, gerade habe ich noch an dich gedacht …«, log der spanische Ministerpräsident in guter sozialistischer Manier.

»Paquito, wie geht’s?«, antwortete der katalanische President. Wie die Freunde und nahestehenden Mitstreiter benutzte er den Spitznamen des Ministerpräsidenten.

»Ich sitze gerade im Auto und höre mir das Lästermaul im Radio an … Weißt du vielleicht, was ein Rüschelbrunzer ist? Er hat meinen José Miguel gerade als Rüschelbrunzer beschimpft.«

»Keine Ahnung, mich hat er vor Kurzem als Alufolienglattstreicher bezeichnet.«

»Ich wüsste ja gern mal, wo der Typ seine Schimpfworte hernimmt …«

»Wahrscheinlich hat er die früher als Messdiener aufgeschnappt …«

An beiden Enden der Leitung war ein komplizenhaftes kirchenfeindliches Gekicher vernehmbar, danach schwiegen sie, bis es für beide beklemmend wurde.

»Genau wegen José Miguels Pressekonferenz wollte ich dich kurz sprechen«, sagte der katalanische President schließlich. »Sehr gut, hm … zumindest hier bei uns hat er einen sehr guten Eindruck gemacht. Ich habe sie mir mit Pirol von der Sparkasse zusammen angesehen, der Banker jedenfalls fand ihn sehr besonnen. Hast du den Leitartikel in La Vanguardia schon gelesen?«

»Dazu bin ich noch nicht gekommen, ich habe sie aber in meinem Aktenköfferchen dabei«, flunkerte der spanische Ministerpräsident erneut in bester Manier.

»Darin kommt er ziemlich gut weg. Ich finde, er hat Vertrauen ausgestrahlt, vor allem als er sagte, man müsse den Stier bei den Hörnern packen …«

»Ja, das war klasse …«

Wieder musste der katalanische President ein ausgedehntes Schweigen brechen – immerhin hatte er ja angerufen. Diesmal jedoch lag eine Spur Befangenheit in seiner Stimme:

»Und sonst so … Gibt’s was Neues in Madrid?«

»Nein, nein, hier läuft alles glatt …«

»Schön … Steht noch irgendwas an, was wir demnächst besprechen müssten?«

»Nicht dass ich wüsste … Im Fußballblättchen Marca habe ich gelesen, dass ihr den Brasilianer von Liverpool verpflichtet habt, stimmt das?«

»Das ist ein Staatsgeheimnis, weißt du doch! Dementieren würde ich es aber nicht …«

»Junge, Junge, ihr seid mir welche … Und dann verkackt ihr in der Liga doch wieder, nur dass du’s weißt.«

»Das wird man ja sehen …«

Wieder Funkstille.

»Sehr schön, na, dann einen herzlichen Glückwunsch von mir an José Miguel, ich muss jetzt Schluss machen, weil ich gleich noch so ein blödes Frauenzentrum in Manresa einweihen soll. Allein schon bei dem Gedanken wird mir ganz schlecht …«

»Selbst schuld, solche Dinge übernimmt bei uns die Emanzipationsministerin … Du hast einfach zu wenige Frauen in deinem Kabinett. Das habe ich dir ja schon immer gesagt …«

»Es hat auch seine Vorteile, wenn man sich um alles selbst kümmert …«

Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, saß der spanische Ministerpräsident eine Weile nachdenklich in seinem Wagen, der nun endgültig in einem riesigen Stau auf der Gran Vía feststeckte.

Irgendetwas an dem Anruf des katalanischen President Andreu kam ihm komisch vor.

Er griff erneut zum Telefon und suchte sich die Nummer von Alberto heraus, seinem Innenminister.

»Berto, störe ich dich gerade?«

»Nein, ich stecke auf der Gran Vía fest …«

»Echt? Ich auch … Auf welcher Höhe?«

»Kurz vor der Calle Montera. Und du?

Der Ministerpräsident ließ die abgetönte Scheibe herunter, streckte den Kopf heraus und entdeckte auf der Nebenspur, nur wenige Wagen vor ihm, einen weiteren gepanzerten Audi A8 mit dunklen Fensterscheiben.

»Ah, da bist du. Wir sind dicht hinter euch«, sagte er, »vielleicht zwanzig Meter. Komm doch schnell mal rüber in meinen Wagen.«

»Jetzt sehe ich dich auch. Wenn ich jetzt aussteige, bekommen meine Bodyguards einen Herzkasper!«

Der Ministerpräsident schaute sich die zwei Wagen an, die zum Schutz diskret vor und hinter jedem der beiden dunkelblauen Audi A8 fuhren.

»Da hast du recht … Ich rufe dich an, weil ich gerade mit Andreu telefoniert habe, dem katalanischen President.«

»Aha, und was wollte er …?«

»Nichts Besonderes … Er hat gesagt, dass er José Miguel gestern sehr gut fand, dass er die Pressekonferenz mit dem Vorsitzenden der Sparkasse gesehen hat und so weiter: bla, bla, bla …«

»Das ist ja erstaunlich. Normalerweise hat er doch immer etwas an José Miguel und mir auszusetzen …«

»Und weißt du, was am erstaunlichsten war: Wir haben sicher fünf Minuten miteinander telefoniert, ohne dass er auch nur ein einziges Mal von den Vorzügen einer ökonomischen Unabhängigkeit Kataloniens geredet hätte. Obwohl nichts näher gelegen hätte, als von José Miguels Auftritt gestern direkt auf sein Lieblingsthema zu kommen …«

»Ist nicht wahr, oder? Das kann ich kaum glauben.«

»Sage ich doch … Hast du vielleicht heute schon in La Vanguardia geschaut?«

»Nee, heute ist bei mir die regionale Presse dran, El Faro de Vigo und El Oriente de Asturias. Wahrscheinlich hat er dich angerufen, um mal zu hören, wie du reagierst, oder was meinst du?«

»Das glaube ich auch … Wer weiß, was die in Barcelona so still und heimlich gerade am Laufen haben.«

»Tssss … Nur die Geschichte mit dem Brasilianer, den sie Liverpool weggeschnappt haben, sonst wüsste ich auch nichts.«

»Schau doch bitte mal die katalanische Presse durch und ruf die entsprechenden Leute an, sei so gut … Dann sprechen wir uns am Nachmittag wieder.«

Als er das Gespräch beendet hatte, kam auch der Verkehr wieder ins Rollen, und da sein Fahrer ihn nun nicht mehr im Rückspiegel beobachten konnte, ging auch der Finger des spanischen Ministerpräsidenten wieder auf Wanderschaft, um sich den nächsten Popel zu schnappen, der ihn diesmal im linken Nasenloch kitzelte.

Da sich die Witwe des deutschen Großaktionärs noch immer unpässlich fühlte, beschloss Inspektor Sakamura, die Ermittlungen mit einem Besuch des Freundes der ersten Verstorbenen, der Engländerin, zu beginnen, die am Strand tot aufgefunden worden war.

Corrales lotste den Japaner durch die steil ansteigenden, gewundenen Gässchen der Altstadt von Calabella. Immer weiter entfernten sie sich vom Trubel des Touristenviertels, der Strandpromenade und der Hauptstraße. Vor der Tür eines niedrigen, schmalen, dunkelviolett angestrichenen Häuschens machten sie Halt. Wie ein Mosaikstein fügte es sich in die gleichförmige Häuserzeile ein.

Corrales klingelte.

Nach einer halben Minute hatte sich nichts getan, das feine Gehör des Inspektors jedoch nahm gedämpfte, leise Musik hinter der Tür wahr (They tried to make me go to rehab / I said no, no, no), während sein mentales Datenarchiv versuchte, die Wahrnehmungen der feinen Nasenschleimhäute genau einzuordnen: irgendwo bei qualmenden, getrockneten Pflanzenblättern …

Corrales warf dem Inspektor einen verschwörerischen Blick zu und klingelte erneut. Plötzlich war die Musik aus, zuerst hörten sie ein Husten, dann rief jemand im Haus:

»Ok, ok, give me just a minute …«

Als die Tür endlich geöffnet wurde, gab es für Inspektor Sakamura keinen Zweifel mehr: Es roch nach genmanipuliertem Marihuana der Sorte XP4 sowie hellem Tabak der Marke Lucky Strike, die in ein Reispapier gerollt und angezündet worden waren. Der Mann, der ihnen die Tür geöffnet hatte, war ungefähr dreißig Jahre alt, ziemlich groß, auffällig dünn, und hatte Dreadlocks, an denen bunte Kügelchen klapperten. Mit seinem Blick streifte er erst die ausladende Figur von Corrales, der sich mit einem Schritt vor die unscheinbarere, zierliche Gestalt des Inspektors geschoben hatte, dessen ruhig wirkende Augen unter den mandelförmigen, ungewöhnlich großen Lidern nahezu verschwanden.

»Hola«, sagte der junge Mann in Anbetracht von Corrales, dessen Visage so typical spanish aussah.

»Einen schönen guten Tag, mein Name ist Corrales, ich bin von der Guardia Civil«, sagte Corrales im Tonfall eines Nachrichtensprechers. »Darf ich vorstellen, Inspektor Sakamura von Interpol …«

Der Inspektor hatte aus dem Nichts eine goldene Interpolmarke gezückt, grüßte mit einer Verbeugung und hielt den Kopf leicht geneigt.

»Inspektor Sakamura leitet die Ermittlungen im Todesfall Ihrer jüngst verstorbenen Lebensgefährtin«, redete Corrales weiter. »Wären Sie so freundlich, sich ein paar Minuten Zeit für uns zu nehmen?«

»Oh Mann, die Mossos waren schon vor Ihnen da, und auf dem Kommissariat musste ich auch schon aussagen«, erklärte der junge Mann, der einen ulkigen Stan-Laurel-und-Oliver-Hardy-Akzent hatte.

»Das wissen wir alles, und wir haben volles Verständnis dafür, dass die Umstände schwierig für Sie sind. Trotzdem müssen wir mit Ihnen über ein paar Details sprechen, die sich noch als wichtig herausstellen könnten. Dürfen wir eintreten? Wir werden Sie auch nicht länger als nötig aufhalten.« Corrales zeigte mit einer lässigen Bewegung in den Hausflur hinein.

»Ja, klar«, sagte der junge Mann missmutig. Offenbar traute er sich nicht, die freundlich und korrekt vorgetragene Aufforderung auszuschlagen, die gleichzeitig so entschlossen und unwiderruflich klang, als verberge sich eine verschleierte Drohung dahinter. In Corrales’ Augen verkörperte sein Auftreten haargenau den elegant-kühlen Stil des FBI, den er in vielen Filmen bewundert hatte und jetzt endlich einmal selbst in Szene setzen durfte. In weiser Voraussicht hatte er deshalb die Sonnenbrille mitgenommen, die er sonst eigentlich nur zum Autofahren aufsetzte, und sogar kurz in Erwägung gezogen, sich in den Hochzeitsanzug seines Neffen zu werfen, um ein noch perfekteres Bild abzugeben. Die Wettervorhersage hatte jedoch einen besonders heißen Sommertag angekündigt, und so hatte er seine Frau letztlich nur gebeten, ihm eines seiner weißen, kurzärmeligen Hemden aufzubügeln. In dem Hemd und den blauen Hosen sah er zwar aus wie ein sendungsbewusster Mormone, der sichere Tonfall seiner Stimme jedoch war unverkennbar der eines erfahrenen Kriminalisten.

Sie folgten dem jungen Mann durch einen langen, im Violett der Hausfassade gehaltenen Flur, der in ein kleines Wohnzimmer führte. Der kurze Weg war lang genug, um Inspektor Sakamura vor Augen zu führen, wie fürchterlich es um das Feng-Shui in dieser Wohnung bestellt sein musste und wie sehr Yin und Yang sich hier selbst überlassen worden waren. Doch davon mal ganz abgesehen, waren in dem kleinen Innenhof, der sich an das Wohnzimmer anschloss, vier üppig gedeihende Cannabispflanzen zu bestaunen, die im Sonnenlicht grün glänzten. Der Raum musste trotz der unglücklichen Anordnung der Möbel der einzige Ort in dieser Wohnung sein, mutmaßte der Inspektor, den man Gästen präsentieren konnte, sonst hätte der Kerl sie nie und nimmer auf diesem Weg ins Haus geführt, der ihnen seine Vorliebe für die psychoaktive Botanik wie auf einem Servierteller präsentierte.

»Möchten Sie sich setzen?«, fragte der Bursche.

Corrales hatte das Gefühl, seinen Job prima erledigt zu ha-ben, und nahm zufrieden am einen Ende des Ecksofas Platz, während der britische Gastgeber sich am anderen Ende platzierte.

Nun war der Inspektor an der Reihe, und Corrales freute sich genüsslich darauf, Zeuge eines meisterhaft geführten Verhörs zu werden, das den Burschen nach allen Regeln der Kunst aus der Reserve locken würde. Der Inspektor seinerseits, der sich prinzipiell nie mit dem Rücken zur Tür auf ein Sofa setzte, war stehen geblieben und betrachtete die vier unterschiedlich großen, vergilbten Poster, die an kaugummirosafarbenen Wänden hingen, die sich wiederum mit den papageiengrünen Türen bissen. Auf dem ersten Poster lachte Bob Marley mit schwarzen Zähnen den Betrachter an, auf dem zweiten war das markante Gesicht des drogensüchtigen Lou Reed zu sehen, auf dem dritten die besoffene Janis Joplin bei einem Livekonzert und auf dem letzten Amy Winehouse, die in die Kamera schaute, als wolle sie den Fotografen gleich eigenhändig erschlagen. Die wild zusammengewürfelten, abgenutzten und teilweise überpinselten Möbel sahen aus, als kämen sie vom Sperrmüll. Bücher waren keine zu sehen, nur ein paar Magazine lagen verstreut auf dem Tischchen in der Mitte und interessierten den Inspektor ebenso wie die CDs, die ungeordnet in Stapeln herumlagen. Alles war übersät mit Zigarettenasche, von Aschenbechern dagegen fehlte jede Spur, woraus der Inspektor schloss, dass der Engländer sie noch schnell aus dem Verkehr gezogen hatte, bevor er sie ins Haus gelassen hatte.

»Was arbeiten?«, fragte der große Meister Sakamura plötzlich und schaute den Engländer dabei mit seinen leuchtenden Augen an.

Der junge Mann schien die Frage halbwegs verstanden zu haben.

»Ich verkaufe Armbänder auf der Straße«, antwortete er und hob dabei das Handgelenk, um zu zeigen, um welches Produkt es sich handelte.

»Aaaaha …«, sagte der Inspektor und verlieh wie üblich seinem blitzartigen Verständnis Ausdruck.

»Dürfen bitte übermorgen anderen Tag kommen?«

Jetzt verstand der Engländer überhaupt nichts mehr, nicht aber, weil er Engländer war, sondern weil die Frage ziemlich unverständlich formuliert war.

»Klar, kein Problem«, sagte der junge Mann, um auf Nummer sicher zu gehen.

»Gut, danke und auf Wiedersehen«, sagte der Inspektor, als hätte er die Namen der Heiligen Drei Könige auswendig aufgesagt. Dann wartete er an der Tür zum Flur, bis ihnen ihr Gastgeber vorausging.

Corrales brauchte mindestens ebenso lang wie der junge Mann, um zu begreifen, dass der Moment gekommen war, sich zu erheben und zu verabschieden. Kaum hatte er die Lage gepeilt, rückte er sich in bester FBI-Manier die dunkle Brille zurecht und überspielte gekonnt seine zwischenzeitliche Perplexität.

Als sie sich wieder an der frischen Luft befanden, wollte er eine Erklärung vom großen Meister:

»Das war’s schon? Mehr wollten Sie von dem gar nicht wissen?«

»Ja, das war’s schon, ja, ja«, antwortete der Inspektor lächelnd.

»Und wir sind den ganzen Weg hierher gelatscht, bloß um herauszufinden, womit der Typ sein Geld verdient? Wofür haben wir denn dann die Akten und die Mossos …?«

Der Inspektor blieb kurz stehen, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und heftete seine kaum sichtbaren Äuglein auf Corrales.

»Wichtig ist der Mensch, seine Ausstrahlung und sein Zuhause – Akte nicht wichtig.«

Dann ließ er den verdatterten Corrales stehen und marschierte los.

»Nichts für ungut«, rief dieser und versuchte mit ihm Schritt zu halten. »Aber wo die Ermittlungen schon so schnell so weit fortgeschritten sind, spräche doch sicher nichts dagegen, jetzt erst einmal ein Bierchen zu zischen, bevor wir dem Holländer einen Besuch abstatten, oder was denken Sie?«

»Eine kleine Frage: Was ist By Qen?«

»Von wegen Bieh Chen, ein Bierchen, das ist ein sehr beliebtes spanisches Sommergetränk. Eine Erfindung von uns aus Carabanchel, aus der Zeit, als es noch keine Klimaanlagen gab.«

»Aaaaha …«, sagte Inspektor Sakamura verständnisvoll.

Der Lehendakari, also der baskische Präsident, Satrústegui, kam nur mit großer Mühe an seinen linken großen Zeh heran, um den Fußnagel zu schneiden, und tat dies auf unorthodoxe Weise. Der Nagel sah danach aus, als hätte ihn ein Hamster angeknabbert. Auf dem Badewannenrand sitzend, musste er für einige Minuten durchschnaufen, bis ihm klar wurde, dass es keinen Sinn hatte, sich etwas vorzumachen: Er würde sich einer Diät unterwerfen müssen, wobei allein schon das Wort »unterwerfen«, mit all seinen totalitären Assoziationen, einen Albtraum für ihn darstellte.

In Unterhemd und Unterhose kam er aus dem Bad und brüllte lauthals Richtung Küche:

»Maitechu! Komm doch mal schnell.«

»Was ist denn?«

»Du sollst kommen, hab ich gesagt!«

Maitechu erschien und trocknete sich die Hände ab.

»Und?«

»Ich kann mir die Fußnägel schlecht allein schneiden.«

»Warst du schon unter der Dusche?«

»Mache ich gleich …«

»Geh erst mal unter die Dusche, was denkst du dir denn eigentlich …?«

»Ich habe mich erst gestern Abend geduscht …«

»Ab mit dir unter die Dusche, deine Füße stinken.«

»Stimmt doch gar nicht, die riechen überhaupt nicht.« Der Lehendakari schnupperte an den Fingern, in denen er gerade einen Fuß gehalten hatte. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände.

»Gib mir mal deine Socken rüber, die kommen gleich in die Wäsche … Und reib deine Füße nachher gründlich mit Peusek ein, hörst du?«

In diesem Moment klingelte das Handy des Lehendakari, das im Bad auf der Ablage lag:

Tenemos pollo asau, asau, asau, asau con ensala-a-da. / Buen menú, buen menú, buen menú, señor …

Auf dem Display stand »Koldo«, die Nummer eins der Partei der Baskischen Grünen Täler und Mitglied der letzten Sechs-Parteien-Koalitionsregierung im Baskenland. Dem Lehendakari schwante missmutig, dass er jetzt Baskisch reden musste, eine Sprache, die er bis zu seinem sechsunddreißigsten Lebensjahr kaum verwendet hatte und die er, mal abgesehen von den einstudierten Auftritten, trotz eifriger Bemühungen nicht fließend beherrschte.

Er setzte sich auf den Klodeckel, um es sich für die kommenden Herausforderungen ein bisschen gemütlicher zu machen, nahm das Handy und drückte auf das kleine, grüne Knöpfchen.

»Was gibt’s, Koldo?«, begrüßte er ihn auf Baskisch.

»Wenn du wüsstest, was für interessante Neuigkeiten ich für dich habe«, antwortete Koldo (falls ein spanischer Autor seine baskischen Protagonisten richtig versteht).

»Ja, dann schieß los …«

»Halt dich gut fest: Die Katalanen haben sich einen Konfigurator organisiert.«

Der Lehendakari sprang von seinem improvisierten Thron auf.

»Was? Wirklich?«

»Wenn ich es dir sage!«

»Hijos de puta!« Auf Spanisch fluchte es sich immer noch besser. »Woher weißt du das?«

»Aus zuverlässiger Quelle. Mehr darf ich nicht verraten. Aber du kannst es mir wirklich glauben.«

Dem Lehendakari war klar, dass »zuverlässige Quelle« nur die Unaussprechlichen meinen konnte, die aufgrund ihrer globalen Vernetzung im Untergrund über hervorragende Informationskanäle verfügten.

»Wie haben die das bloß geschafft? Wir haben damals Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, und trotzdem war nichts zu machen …«

»Keine Ahnung, die scheinen den Deal über irgendeinen Kontakt in Kuwait oder in den Arabischen Emiraten eingefädelt zu haben. Das dürfte sie doch mindestens ein Atomkraftwerk gekostet haben, oder nicht? Und das jetzt, mitten in der Krise …«

»Pah, die Katalanen sind hinter dem Geld her wie der Teufel hinter der armen Seele: Ich könnte wetten, dass sie die Gewölbe unter ihrer Kathedrale mit den Haushaltszuschüssen gepflastert haben. Deswegen waren sie auch gegen eine Bahntrasse unter der Sagrada Familía. Außerdem werden sie die Kosten in drei Monaten wieder eingespielt haben, wenn sie sich nur schlau genug anstellen. Und schlau sind sie ja, wie wir alle wissen … Sag mal, weiß man, ob die Maschine problemlos funktioniert? Ich habe mal gehört, die Dinger seien wegen ihrer Strahlungen nicht so ganz ungefährlich …«

»Keine Ahnung, falls sie das Teil schon mal getestet haben sollten, hat es wohl noch keiner mitgekriegt.«

»Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass sie eine solche Maschine noch nicht ausprobiert haben … Das sind mir Schlitzohren. Halt mich auf dem Laufenden, verstanden, und melde dich, sobald du wieder etwas hörst …«

Kaum hatte der Lehendakari aufgelegt, da stand auch schon seine Frau im Türrahmen.

»Na sag mal, du warst ja immer noch nicht unter der Dusche …«

»Selbst im Badezimmer hat man keine Ruhe mehr. Habe gerade mit dem Koldo von den Baskischen Grünen Tälern telefoniert.«

»Weshalb musst du auch immer stundenlang herumtelefonieren …?«

»Das geht dich gar nichts an, verflucht noch mal, das sind Staatsgeheimnisse …«

Die Wohnung des verstorbenen Niederländers lag direkt an der Uferpromenade. Corrales führte Inspektor Sakamura also erneut quer durch das Zentrum von Calabella. Auf der Hauptstraße traten sich die Touristen gegenseitig auf die Füße und drängten sich an die Schmuckstände, als warteten sie nur auf eine Gelegenheit, um ihr Geld zwanghaft unter die Leute zu werfen. Sie hätten die überfüllte Calle Mayor eigentlich leicht umgehen können, Corrales aber liebte es viel zu sehr, sich ab und an mit ausgesuchten weiblichen Sommergästen ein wenig auszutauschen:

»Hallo, mein Schätzchen, schon auf dem Weg zum Strand?«, säuselte er einer gut gebauten Französin mit Sonnenbrille hinterher, »ich könnte dir ein bisschen Schatten spenden, dann bekommst du keinen Sonnenbrand …«

»Ta geule …«, blaffte die Französin zurück und hielt ihm ihren Fotoapparat vor die Nase, sodass ihm das Blitzlicht in die Augen flashte.

»Haben Sie das gesehen? Die hat ein Foto von mir gemacht: Mann, fand die mich scharf«, meinte Corrales und wandte sich dabei dem Inspektor kurz zu. »Wenn ich nicht im Dienst wäre … Warten Sie mal, ich hol mir schnell am Kiosk ein paar Ducados …«

Der Inspektor hatte nicht die geringste Ahnung, um was es sich bei »Ducados« handeln könnte, daher durchschritt er hinter Corrales die Glastür, die sich automatisch öffnete und den klimatisierten Innenraum von der Hitze der Außenwelt abschirmte.