Salz & Stein - Victoria Scott - E-Book

Salz & Stein E-Book

Victoria Scott

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Beschreibung

Erst das Finale entscheidet über Leben und Tod

»Vor sechs Wochen sind einhundertzweiundzwanzig Kandidaten in den Dschungel gegangen, um im Brimstone Bleed gegeneinander anzutreten. Vor drei Wochen sind sechsundsiebzig Kandidaten zu dem gleichen Zweck in die Wüste gegangen. Und heute sind vierundsechzig übrig, um die beiden letzten Etappen des Rennens in Angriff zu nehmen.«

Das Brimstone Bleed geht in die zweite und letzte Runde. Tella hat mehr als einen Freund verloren. Einzig ihr Pandora Madox ist tapfer an ihrer Seite. Kann sie das Rennen gewinnen und ihren Bruder retten? Kann sie die Veranstalter des Brimstone Bleed ein für alle Mal vernichten, damit niemand mehr so leiden muss wie sie? Und was geschieht mit Guy und ihr – kann die Liebe über alles siegen, oder bleibt sie auf der Strecke?

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Seitenzahl: 521

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Victoria Scott

Salz&Stein

Aus dem Englischen von Michaela Link

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe
©2015 by Victoria Scott. All rights reserved. Published by arrangement with Scholastic Inc., 557 Broadway, New York, NY 10012, USA. Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Salt & Stone« bei Scholastic Press, an imprint of Scholastic Inc., New York © 2015 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück, 30287 Garbsen. Aus dem Englischen von Michaela Link Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: © Shutterstock MG · Herstellung: kw Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling ISBN: 978-3-641-16872-8V003
www.cbt-buecher.de

Für Erin Black, meine geniale Lektorin.

Deine Erfahrung, deine Ermutigung und dein Einsatz

machen das Beste aus mir und meinen Geschichten.

Danke.

THEBRIMSTONEBLEED, Inc.

Pandora-Zuteilungen, Forts.

Kandidatengruppe C

Pandora: KD-8

Bauart: Fuchs, Kleinformat

Fähigkeit A: Nachbildung

Zugeteilte Kandidatin: Tella Holloway

Farbcode: Rot

Pandora: RX-13

Bauart: Adler

Fähigkeit A: Unsichtbarkeit

Fähigkeit B: Nautisch

Zugeteilte Kandidatin: Harper Shaw

Farbcode: Grün

Pandora: M-4

Bauart: Löwe

Fähigkeit A: Feuer

Zugeteilter Kandidat: Guy Chambers

Farbcode: Orange

Pandora: EV-O

Bauart: Elefant, Kleinformat

Fähigkeit A: H2O

Zugeteilte Kandidatin: Olivia Finch

Farbcode: Blau

*Pandora: Z-54

Bauart: Gepard

Fähigkeit A: Nachtsicht

Zugeteilter Kandidat: Jaxon Levine

Farbcode: Grün

*gestorben

Pandora: BK-68

Bauart: Schwein

Fähigkeit A: Hypnotisierung

Zugeteilter Kandidat: Braun Kirkland

Farbcode: Grün

DIE TRENNUNG

Kapitel 1

Ich bin jetzt stärker als früher.

Noch vor sechs Wochen war ich eine ganz normale Sechzehnjährige aus Montana, deren Bruder im Sterben lag. Und neun Monate davor hatte ich in Boston gelebt und war mit meiner besten Freundin durch die Shoppingcenter gezogen. Meine einzige Sorge war es gewesen, den perfekten korallenfarbenen Lipgloss zu finden. Ich liebte griechischen Salat, schön kalt und bitte ohne Zwiebeln, simste meinen Freundinnen sofort, wenn es bei Express einen Sale gab, und hatte einen ganzen Schrank voller Glitzerkram. Ich meine, hey, ein Mädchen hat ein Recht auf Glitzerkram.

Früher, als klar wurde, dass mein Bruder Cody krank war, als er zum ersten Mal eine zweite Portion Hackbraten mit Soße ablehnte und begann abzunehmen, da dachte ich: Das hier, das ist es jetzt. Das ist das Drama, dem ich mich in meinem Leben stellen muss, mit dem ich fertigwerden muss –hautnah mitzuerleben, wie mein großer Bruder langsam dahinschwindet, und meine Familie mit ihm.

Ich versuchte, tapfer zu sein. Zu lächeln, auch wenn es keinen Grund dazu gab. Im Wartezimmer beim Arzt einen Witz zu machen, damit Cody seine Angst abschütteln und lachen konnte.

Leb wohl, Angst. War nett mit dir! Aber jetzt brauche ich dich nicht mehr, meine Schwester ist ja hier bei mir.

Heute bin ich eine Kandidatin im Brimstone Bleed, um sein Leben zu retten. Damals hatte ich gedacht, das Leben hätte uns mit Codys Krankheit ein mieses Blatt zugeteilt. Doch das stimmte nicht. Noch mieser war die Karte, die mir einen flüchtigen Schimmer Hoffnung bot. Denn so ist das Leben. Wenn du das miese Blatt siehst, denkst du: Egal, jetzt kann es nicht noch schlimmer kommen.

Und dann kriegst du eins auf den Schädel, weil du so unglaublich naiv warst.

Ich war nicht gemacht für ein Rennen quer durch den Dschungel oder einen Marsch durch die Wüste unter der Glut der Sonne, die mir die Haut versengte.

Aber wie gesagt …

Ich bin jetzt stärker als früher.

Kapitel 2

Guy Chambers wirkt besorgt. Und wenn er besorgt ist, bin ich es auch. Natürlich ist es alles andere als einfach, an etwas anderes zu denken als daran, wie heiß er ist. Selbst in der Hitze der Wüste – während die frische, rosa Narbe auf meinem Bauch juckt wie verrückt – könnte ich ihn immer noch wie ein Eis am Stiel wegschlabbern. Nom-nom-nom.

»Tella«, sagt er. Seine Stimme ist scharf und drängend.

In meiner Fantasie klingt das allerdings eher wie Tel-lla.

Guy neigt den Kopf, als sei er sich nicht sicher, ob ich ihm zuhöre. Das tue ich auch nicht. Wir sind seit über einer Woche in diesem Basislager in der Wüste, um uns »auszuruhen und zu erholen«. Aber es ist schwer, das hinzukriegen, wenn man nur die Tage zählt, bis das Brimstone Bleed weitergeht.

Das Brimstone Bleed führt uns durch vier Ökosysteme: Dschungel, Wüste, Meer und Gebirge. Oder besser gesagt Gebirge und dann Meer. Zwei haben wir hinter uns; zwei sind noch übrig. Wir haben Halbzeit. Hurra! Siegestanz.

Es ist nur verdammt schwer, sich über diesen Fortschritt wirklich zu freuen, denn wir kämpfen gegeneinander um das Heilmittel, das jeder von uns braucht, um einen geliebten Menschen vor dem Tod zu retten. Und weil wir unterwegs schon Freunde verloren haben. Das Schlimmste ist, dass die Leute, die dieses Rennen veranstalten, diejenigen sind, die unsere Angehörigen krank gemacht haben. Trotzdem tun sie so, als seien sie die Helden. Und das große Finale? Die zweite Etappe war härter als die Erste, das lässt mich nichts Gutes hoffen für das, was noch vor uns liegt.

Guys Löwe, sein Pandora, stößt ein kurzes Knurren aus. Aus tiefster Kehle. Als sei er frustriert, dass ich seinem Kandidaten keine Aufmerksamkeit schenke. Mein eigener Pandora erwidert das Knurren. Witzig, wenn man bedenkt, dass er ein schwarzer Fuchs und kaum ein Zehntel so groß wie Guys Löwe ist. Ich nehme Madox, meinen Pandora, auf den Arm und versuche, mich auf das zu konzentrieren, was Guy sagt.

»Was ist denn?«, frage ich betont lässig. Vielleicht kann ich so seinen besorgten Gesichtsausdruck vertreiben. Hoffentlich.

»Ich glaube, sie bereiten sich vor, um uns zu transportieren.«

»Uns zu transportieren«, wiederhole ich stirnrunzelnd. »Als wären wir Vieh oder so was.« Mein Blut rast schneller durch meine Adern, als ich daran denke, dass diese Monster uns befohlen haben, die Pandoras der anderen Kandidaten zu töten, um uns für den Rest des Rennens zu qualifizieren. Ich werde nie den Augenblick vergessen, in dem ich Levis sterbendem Pandora eine Klinge in den Leib gerammt habe – auch wenn sein Bruder mich gebeten hatte, es zu tun.

Guy macht eine Bewegung, als wolle er mir das Haar aus dem Gesicht streichen, so, wie die Männer in Liebesschnulzen es tun. Nicht, dass ich wüsste, dass sie das tun! Bestimmt nicht. Ich habe mir diese Schmöker nie aus dem Nachttisch meiner Mom gekramt und sie dann verschlungen, eine große Packung Kekse griffbereit neben mir. Ich doch nicht.

Bevor Guy sich in irgendeinen Fabio verwandeln kann, lässt er die Hand wieder sinken. Vielleicht liegt es daran, dass ich mir das Haar abgesäbelt habe und dass alles, was er noch liebkosen könnte, die blaugrüne Feder ist, die Mom mir gegeben hat. Dieselbe Feder, die meine Großmutter einst in ihrem Haar getragen hat. Oder vielleicht ist er auch wieder auf Abstand gegangen. Ich dachte, das hätten wir hinter uns, aber in letzter Zeit bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Guy fährt sich über das glatt rasierte Kinn. Es wird nicht mehr lange so bleiben. »Ich kann einfach spüren, dass etwas passiert. Wir sind lange genug hier gewesen. Es wird Zeit.« Er hält inne und beißt sich auf die Innenseite seiner Wange. »Hör mal, Tella …«

Tel-lla.

»Du solltest vergessen, was ich gesagt habe«, fährt er mit gesenkter Stimme fort. Guy fährt sich durch das dunkle Haar, und er sieht dabei trotz des Marsches durch den Dschungel und die Wüste aus, als könne er sofort ein Shooting für das Cover der GQabsolvieren. »Ich werde nicht zulassen, dass du …«

»Wir haben das besprochen«, unterbreche ich ihn. »Ich muss versuchen zu gewinnen, für meinen Bruder. Danach helfe ich dir, das Rennen …« Ich sehe zu den anderen Kandidaten hinüber, bemerke ihre erschöpften Gesichter und ihre hängenden Schultern. Ich mustere die Pandoras neben ihnen, geschlagen und geschunden, weil sie ihren Kandidaten geholfen haben zu überleben. »Ich helfe dir, das Rennen zu vernichten, damit niemand das hier noch einmal durchmachen muss.«

Mister Special Forces nickt, aber ich merke, dass er nicht überzeugt ist. Falls ich am Ende zu den letzten fünf gehöre und man mir anbietet, Angestellte beim Brimstone Bleed zu werden, wird er versuchen, mich des Betrugs zu bezichtigen, damit sie mich doch nicht nehmen. Falls Betrug hier überhaupt ein Problem ist. Wahrscheinlich nicht, oder doch?

»Hal-lo! Packen wir zusammen? Ziehen die Rambos weiter?« Das will mein Freund Jaxon wissen. Er hat sich eine der blauen Flaggen, die den Weg zu den Basislagern markieren, um die Stirn gebunden. Seine blonden Locken stehen darüber ab. Als er merkt, dass ich die Flagge beäuge, fügt er hinzu: »Siehst du, wie Rambo.« Jaxon hebt die Arme, als habe er eine Maschinenpistole in der Hand, und feuert eine imaginäre Salve auf Guy ab.

Guy findet das gar nicht witzig.

An Jaxons Bein klammert sich Olivia, ein zehnjähriges Mädchen mit genau neun Fingern. Sie zeigt jedem, der fragt, diese Finger, und auch jedem, der nicht fragt. Um Olivias Taille ist ein blaugrauer Rüssel geschlungen.

»Hör auf damit«, befiehlt Olivia ihrem Elefanten. Aber ich weiß, dass sie die Zuneigung ihres Pandoras insgeheim genießt. Jaxon wirft ihrem Elefanten, EV-0, einen sehnsüchtigen Blick zu. Er hat seinen Pandora in der Wüste verloren, als sich herausstellte, dass einer unserer Mitkandidaten ein Pandora und sehr gefräßig war.

Und die Leute, die dieses Rennen veranstalten, denken, wir könnten uns im Basislager »ausruhen und erholen«.

Bitte.

»Also, geht’s los?«, wiederholt Jaxon. »Ziehen wir weiter?«

Guy nickt, als sei er sich sicher, aber ich weiß nicht, wie er das sein kann. Andererseits – wenn Guy sagen würde, die nächste Etappe finde auf dem Mond statt, würde ich sofort nach dem Spaceshuttle Ausschau halten. Er starrt in die Wüste, als läge die Antwort dort. »Es ist etwas durchgesickert.«

»Skandalös.« Jaxons Kopf wippt auf und ab, er hat ein breites Lächeln auf dem Gesicht.

Guy seufzt und ich sehe ihm in die Augen. Blaue Augen. Nicht blau wie der Ozean bei Flut oder der Himmel an einem Sommernachmittag. Mehr wie das Blau eines Toten. Ein Blau, bei dem einem der Atem stockt und man automatisch hofft, dass die Sterne einem gewogen sind. Es gefällt mir, wenn Guy mich ansieht. Dieses Blau könnte die Welt niederknien und erzittern lassen, aber ich würde glücklich darin ertrinken.

Eine riesige Hand mit polierten Nägeln legt sich auf Jaxons Schulter. »Er wird dich eines Tages umbringen«, erklingt eine überraschend sanfte Stimme. Überraschend, weil ihr Besitzer die Größe eines Planeten hat.

Braun wälzt sich in Sicht. An seiner Seite grunzt sein Schweinepandora. »Wissen wir, wohin wir als Nächstes gehen?«

Guys Augen weiten sich. Er sieht über Braun hinweg, und ich drehe mich um, um festzustellen, was seine Aufmerksamkeit erregt hat. Die beiden Männer vom Brimstone Bleed haben das Lager verlassen. Sie halten in jeder Hand eine orangefarbene Flagge und ziehen am Rand des Lagers einen Kreis in den Sand. Einen großen Kreis. Und dann höre ich es, bevor ich etwas sehe – das unverkennbare Wump-Wump-Wump eines herannahenden Hubschraubers.

Kapitel 3

Der Hubschrauber sieht aus wie eine Krähe vor einem Meer von Blau. Als er näher kommt, wirkt er mehr wie ein Klecks schwarzer Farbe, den ich mit dem Daumen vom Himmel wischen könnte. Und dann erscheint er mir nur noch als das, was er ist, ein Funken Hoffnung. Oder ein Funken Angst.

Die Kandidaten kommen aus den kleinen Hütten ins Freie gelaufen. Mit einer Hand beschatten sie die Augen und beobachten, wie das stählerne Monster über unseren Köpfen schwebt. Sand peitscht meine Haut. Aber es ist nicht viel schlimmer als das Brennen der allgegenwärtigen Sonne. Die wenigen Büsche, die es hier gibt, drücken sich flach auf den Boden, und ich spüre, wie ich das Gleiche tue.

Jemand packt mich am Ellbogen und brüllt mir etwas ins Ohr. Es ist Guy, aber ich könnte ihn nicht einmal hören, wenn er telepathisch begabt wäre, nicht bei dem Lärm der wirbelnden Rotorblätter. Eine braune Schnauze stupst mich nervös am Arm an und ich wühle meine Hand in das dichte Fell des Bären. AK-7 ist ein Grizzlybär-Pandora mit entsprechender Körpermasse und passendem Gebiss. Sein Vorbesitzer hat ihm unaussprechliche Dinge angetan, und obwohl ich versucht habe, dem Tier zu zeigen, dass man es nicht wieder verletzen wird, ist er immer noch scheu. Ich habe AK-7 adoptiert, auf Gedeih und Verderb, aber es ist schwer, nicht Titus vor mir zu sehen, seinen früheren Besitzer, wenn ich sein dickes Fell streichele, oder zu vergessen, dass Titus bei dem Versuch ums Leben gekommen ist, mich zu töten. Zumindest weiß ich, dass er nicht zurückkommt und dass der Rest der Trigger – seine ergebene Truppe – sich praktisch aufgelöst hat.

Dirigiert vom Schwenken der orangefarbenen Landeflaggen setzt der Hubschrauber auf. Der Wind lässt nach und eine unheimliche Stille breitet sich aus. Einer der Männer vom Brimstone Bleed läuft zum Hubschrauber hin. Er öffnet die Tür und Guy zieht mich zurück. Braun, Olivia und Jaxon folgen uns. Die Pandoras stellen sich vor uns in einer Reihe auf und Madox hebt seine feuchte Nase.

»Nicht zu dicht rangehen«, befiehlt Guy.

Die Pilotin steigt anmutig wie eine Ballerina aus dem Hubschrauber. Sie trägt einen orangefarbenen, knielangen Bleistiftrock und eine steife Bluse mit weißem Kragen. Braune Stiefel mit niedrigen Absätzen zieren ihre Füße, und als sie einen Schritt in dem Sand macht und schwankt, bietet ihr der Mann, der ihr die Tür geöffnet hat, seinen Arm an. Sie ergreift ihn mit einem warmen Lächeln und wirft dabei einen klobigen Kopfhörer in den Hubschrauber.

Der andere Mann, der hochgewachsene mit den riesigen Ohren, der kaum noch Haare auf dem Kopf hat, greift in den Hubschrauber und zieht eine Kiste hervor. Er hebt sie hoch, unter vollem Einsatz seiner Rückenmuskulatur, obwohl doch jeder weiß, dass das ganz falsch ist. Zu dritt gehen sie zu der größten Hütte am Rand des Basislagers. Die Landeflaggen bleiben unbeachtet zurück. Die grün und blau karierte Decke vor dem Eingang der Hütte wird beiseitegezogen und die Crew verschwindet dahinter.

Es ist der Abend des sechsten Tages unserer Ruhewoche; die vierzehn Tage, die wir hatten, um das Basislager zu erreichen, sind vorbei. Nach den vierzehn Tagen erreicht niemand mehr ein Basislager. Nicht im Dschungel und nicht in der Wüste. Ich denke darüber nach, was mit denen geschieht, die immer noch unterwegs sind. Aber Guy sagt, ich solle damit aufhören. Es wirkt, als fiele es ihm leicht, sie zu vergessen, und das macht mir Angst.

»Wir sollten in unsere Hütten gehen und uns entspannen«, erklärt Guy. »Sie werden uns morgen transportieren.«

Er klingt dabei ganz zuversichtlich. Ich hasse ihn dafür. Aber dann dreht er sich zu mir um, und sein markantes Kinn, seine Wangenknochen, seine Schultern – seine ganze Körpersprache sagt mir, dass ich lockerer werden soll. Außerdem ist er der Kandidat in diesem Rennen, der sich am besten zu helfen weiß. Sein Vater hat ihm alles über das Brimstone Bleed erzählt und ihn dazu ausgebildet, es von innen heraus zu vernichten. Ich betrachte sein zerfetztes linkes Ohrläppchen und den Schnitt durch seine rechte Augenbraue, Souvenirs von diesem Training.

»Wie wäre es«, schlägt Jaxon vor, »wenn wir uns stattdessen in einer Hütte zusammenkauern und die ganze Nacht darüber reden, warum eine Fremde im Basislager auftaucht, die vielleicht sogar richtig heiß aussieht. Oder auch nicht.«

»Im Ernst?« Braun kichert. »Sie ist eine von ihnen.«

»Sie ist jetzt eine von ihnen«, erwidert Jax und stellt seinen Kragen auf.

Olivia verdreht die Augen. »Klapp deinen Kragen runter, Blödmann. Das macht niemand mehr so.«

Guy geht auf seine Hütte zu, in der ich mit ihm die letzten paar Tage verbracht habe, und Olivia, Jaxon und Braun folgen ihm. Jaxon plappert weiter darüber, dass er die Frau in Orange »umdrehen« könne, und wir alle ignorieren die Tatsache, dass er immer noch ein gebrochenes Herz hat, weil Harper fortgegangen ist. Wir hören, dass er sie in jedem zweiten Gespräch erwähnt, und sehen auch, wie er nachts in die Wüste starrt, als könne Harper dort plötzlich auftauchen.

Harper hat die zweite Etappe des Rennens gewonnen. Mit diesem Sieg hat sie genug von dem Heilmittel bekommen, damit ihre Tochter fünf gesunde Jahre vor sich hat. Aber ihre Tochter ist gestorben, bevor man es ihr verabreichen konnte, und Harper hat das Heilmittel stattdessen Caroline gegeben. Bevor sie das Basislager verließ, hat Harper einen Brief geschrieben. In diesem Brief hat sie erklärt, dass sie zurückkehren würde, um das Rennen zu beenden – und mir zu helfen, es zu gewinnen.

Ich bin mir nicht sicher, ob sie das kann, und ich wünschte, sie hätte nichts versprochen, was sie vielleicht nicht halten kann. Denn manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich Jaxons Blick folge und bete, dass sie mit ihren blonden Haaren, den grünen Augen und ihrem eisernen Willen wieder auftaucht.

Guy scheucht Jaxon, Braun und Olivia schließlich weg. Die drei kauern sich mit ihren verbliebenen Pandoras neben eine brennende Fackel und unterhalten sich leise, während die Sonne zur Erde stürzt. Die Nacht bringt endlich Erleichterung und kühlt unseren Lagerplatz.

»Geh rein«, sagt Guy zu mir und betritt als Erster unsere Hütte. Sobald wir das Basislager erreicht hatten, hat Guy Anspruch auf diese spezielle Hütte erhoben. Es ist die, in der ich aufgewacht bin, nachdem Braun mich hierher getragen hatte. Die Hütte, in der ich aufgewacht bin, nachdem ich geholfen hatte, Titus zu töten. Es schlafen zwar auch andere Kandidaten mit uns in der Hütte, aber Guy hat klargemacht, dass die Stunden um die Abenddämmerung herum für uns reserviert sind.

Auf Guy hören die Leute. Nicht, weil er aggressiv ist, sondern weil alle in diesem Rennen nach einem Anführer suchen, ob sie es sich nun eingestehen oder nicht. Und Guy vermittelt einem ein Gefühl von Sicherheit, wenn er sagt, was er will.

Ich setze mich auf ein Feldbett, und Guy setzt sich neben mich. Sein Arm berührt meinen. Eine Gänsehaut überzieht meinen Körper, und ich bin mir sicher, dass es nichts mit der plötzlichen Kühle der Luft zu tun hat. »Wir sollten den anderen von unserem Plan erzählen«, flüstere ich.

Er sieht mich an und mein Herz schnürt sich zusammen. »Es würde die anderen in Gefahr bringen«, antwortet er. »Das kann ich nicht riskieren.« Ich seufze, denn diesen letzten Satz meint er wirklich genau so. Dass andere ein Risiko für seinen Plan wären. Guy will allein handeln, das ist seine Strategie. Eine Ein-Mann-Nummer. Er kann aufs Ganze gehen, solange er der Einzige ist, den es betrifft. Deshalb wollte er mir ausreden, an seinem Kreuzzug teilzunehmen. »Ich schleiche mich heute Nacht rüber zur Haupthütte und versuche, etwas herauszubekommen.« Guy mustert mich und langsam wandert sein Blick zu meinem Mund. Ich presse erwartungsvoll die Lippen aufeinander. Vielleicht versuche ich, seine Aufmerksamkeit dort zu halten; ich weiß es nicht.

Guy hat mich nicht mehr geküsst, seit er mir von seinen Plänen für das Brimstone Bleed erzählt hat. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass das nicht wehgetan hat. Mein oberstes Ziel ist es, Cody zu helfen, aber es war schön, das Gefühl zu haben, ich würde jemandem etwas bedeuten.

»Du solltest heute Nacht hierbleiben«, sagt Guy.

»Auf keinen Fall, ich komme mit dir.«

»Tella, du musst auf mich hören, wenn es funktionieren soll.«

Vielleicht ist es die Distanz, die er in den letzten Tagen zwischen uns aufgebaut hat, oder das Versprechen, dass er mich nie wieder verlassen würde, aber was er sagt, frustriert mich. »Warum?«

»Weil ich will, dass du weiterlebst, und es gefällt mir nicht, dass du unnötige Risiken eingehst.«

»Es ist nicht dein Job, mich am Leben zu erhalten.«

Guy lächelt. »Ich mache es zu meinem Job.«

Madox trabt auf Guy zu und stößt ein spielerisches Knurren aus. Guy unterdrückt ein Lachen und streckt die Hand nach ihm aus. Madox wendet den Kopf ab und verweigert alles bis auf meine Zuneigung … oder Leckerbissen.

Einen Leckerbissen würde er mit Sicherheit auch von Guy annehmen. »Entspann dich, Fuchs«, sagt Guy. »Du solltest mich lieben.«

Jetzt lächele ich. »Das sollte er, nicht wahr?«

Madox bietet Guy widerstrebend das rechte Ohr an, damit er es kraulen kann. »Na ja, deine Kandidatin würde immer noch in diesem Dschungel festsitzen, wenn ich nicht gewesen wäre.«

Es wird schlagartig kalt im Raum, und ich zucke zusammen, weil seine Worte mich treffen. Ich weiß, er wollte mir gerade nicht absichtlich wehtun. Aber er hat es getan. Guy kichert leise und schenkt mir ein aufrichtiges Lächeln, und ich tue mein Bestes, die Geste zu erwidern.

Ich habe sechs Wochen unter immensem Stress mit Guy verbracht und doch ist dieser eine Satz genauso schwer zu verwinden wie einige der größten Hindernisse auf unserem Weg. Denkt er so über mich? Das Mädchen, das gerettet werden muss? Das Mädchen, das nicht hier wäre, wäre er nicht gewesen?

Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, habe ich genau darüber viel nachgedacht in den letzten Tagen, vor allem seit er mich vor Titus und den Triggern gerettet hat. Wie würde es mir ohne Guy ergehen? Hätte ich ohne ihn trotzdem eine Chance zu gewinnen, zu überleben? Ich bin mir nicht sicher, warum seine Worte mich so hart getroffen haben.

Oder doch, eigentlich schon.

Weil es die Wahrheit ist.

»Geht es dir gut?«, fragt er.

Ich nicke und setze eine gelassene Miene mit einem falschen Lächeln auf. »Ich bleibe hier, wenn du dich heute Abend umsiehst.«

»Gut«, sagt er erleichtert. »Das ist gut.« Kurz sieht es aus, als wolle er meine Hand nehmen. Dann steht er einfach auf und verschwindet wie ein Geist durch die mit einer Decke verhangene Tür. Meinen Stolz nimmt er mit.

Kapitel 4

Sobald Guy weg ist, fühle ich mich mutterseelenallein. Das heißt, bis auf Madox. Mein Pandora döst auf meinen Beinen, seine Zunge baumelt auf die Decke, wo sich eine Pfütze Fuchssabber von der Größe eines Vierteldollars bildet.

Nett.

In Gedanken gehe ich unser Gespräch noch einmal durch. Guy denkt, ich hätte es bisher nur durch seine Hilfe geschafft. Was die Frage aufwirft: Was würde aus der Mission werden, das Rennen zu vernichten, wenn er nicht da wäre? Die Tatsache, dass ich mir unsicher bin, macht mich krank. Die Tatsache, dass Guy sich wahrscheinlich unsicher ist, ob ich durchhalten kann, macht es noch schlimmer. Ich weiß nicht mal, wie ich das ändern soll. Ich brauche Guy. Nein, das stimmt nicht. Ich bin gern mit ihm zusammen. Er bedeutet mir ungeheuer viel. Aber vielleicht muss ich anfangen, mich mehr auf mich selbst zu verlassen als bisher.

Ich stehe auf und gehe in der Hütte auf und ab, steige über schlafende Menschen, die sich unruhig hin und her wälzen und stöhnen. Ein älterer Kerl fragt mit geschlossenen Augen: Wo bleibt das Bier? Bier steht im Moment nicht gerade ganz oben auf meinem Traumwunschzettel, wie man sich sicher denken kann.

Madox hüpft von der Pritsche und springt über die Schläfer.

»Sollen wir Guy folgen?«, flüstere ich ihm zu.

Mein schwarzer Fuchs legt den Kopf schief und sieht mich an, als hätte ich einen Knall.

Dann fällt mir wieder ein, dass wir auf andere Art kommunizieren. Sollen wir Guy folgen?, denke ich an Madox gerichtet.

Er strafft sich und sein Schwanz hört auf zu wedeln. Wir kommunizieren jetzt, aber es ist nicht gerade ein Befehl.

Soll ich Guy überhaupt folgen? Er hat mir gesagt, ich solle hierbleiben. Weil es sein Job sei, mich am Leben zu erhalten. Weil ich ohne ihn immer noch in diesem Dschungel wäre. Habe ich nicht gerade gedacht, dass ich stärker sei als zuvor? Wie stark kann ich sein, wenn ich Guy während der letzten anderthalb Monate blind gefolgt bin?

Meine Lippen bilden einen dünnen Strich, und ich denke an Madox gerichtet: Wir folgen Guy. Komm mit.

KD-8, mein Pandora, folgt mir zur Tür und wartet, während ich hinausspähe. Wie in den meisten Nächten in der Wüste ist der Himmel wolkenlos. Die Fülle an leuchtenden Sternen erinnert manche Leute daran, dass da ein höheres Wesen auf uns herabsieht. Andere kommen sich angesichts der Weite des Himmels klein vor. Und ich? Ich denke an das silberne Paillettenkleid, das meine Mom mir gekauft hat: ein Kleid, das ich nie getragen habe, ein Homecoming-Ball, den ich nie besucht habe. Ja, bei Sternen denke ich an ein Wahnsinnskleid.

Hasst mich nicht.

Ich will gerade gehen, als mich etwas von hinten anstößt. Ich wirbele herum und sehe AK-7, den Pandora in Bärengestalt, mit verschlafenen Augen auf seine Anweisungen warten. Er hebt seinen müden Kopf, und ich schicke ihn zurück ins Bett. Der Bär stupst mich an, als wolle er nicht, dass ich ohne ihn gehe, aber ich schiebe ihn sanft zurück. Er bewegt sich keinen Zentimeter.

»Du bist ein bisschen zu groß, Monster«, sage ich und benutze meinen Spitznamen für ihn. Der Name ist aufgekommen, kurz nachdem wir die Wüste erreicht haben. Ich hörte, wie einer der anderen Kandidaten AK-7 als Monster bezeichnete. Olivia und ich haben darüber ordentlich gelacht, denn AK-7 ist alles andere als ein Monster. »Heute Nacht muss ich unsichtbar sein.« Er senkt die Schnauze und versucht, sich kleiner zu machen. Ich unterdrücke ein Lachen. »Nächstes Mal, okay?« AK-7 schnaubt und tapst zurück zu meiner Pritsche. Er lässt sich auf den Boden fallen und legt den Kopf auf die Vorderbeine. Ich widerstehe dem Drang, die nächsten zehn Minuten damit zu verbringen, das Tier zu umarmen und zu streicheln. Es ist ein schwieriger Kampf, wenn er mich mit diesen schokoladenpuddingbraunen Bärenaugen ansieht. Aber ich bleibe hart.

Während ich mit Madox an meiner Seite durch das Basislager laufe, stelle ich mir vor, unbesiegbar zu sein. Statt Cargohosen trage ich eine Tarnuniform. Statt Seitenstechen habe ich einen Pistolengürtel um die Hüfte geschnallt wie John Wayne. Guy ist wahrscheinlich gefesselt und geknebelt, und ich stehe kurz davor, ihn mit qualmenden Colts zu retten.

Ich sehe Guy und seinen Löwen draußen vor der Haupthütte hocken. Der Geruch von gebratenem Fleisch dringt mir in die Nase und mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Jetzt bin ich mehr Madox als John Wayne und sabbere vor mich hin. Ich höre auch Musik, und als ich näher komme, wird der Gesang lauter.

Ich schleiche mich an Guy und seinen Pandora heran und bin unglaublich stolz, dass ich so nah herankommen kann, ohne von Mister Special Forces oder seinem Löwen bemerkt zu werden. Sein Kopf fährt herum, und zuerst scheint auch er stolz zu sein, dass ich da bin. Aber dann runzelt er die Stirn, packt mich am Oberarm und zieht mich neben sich auf den Boden.

Er legt sich einen Finger auf die Lippen und zeigt von der Hütte weg auf unsere eigene, als solle ich ihm folgen. Doch vorher spähe ich durch eine Lücke, die Guy in die Wand der Grashütte gemacht haben muss. Ich sehe ein kleines Feuer in der Mitte, das strategisch günstig fern der brennbaren Wände platziert ist. Einer der beiden Männer vom Brimstone Bleed dreht über der offenen Flamme einen Braten und besprenkelt die straffe, rotbraune Haut gelegentlich mit grünen Blättchen. Links neben ihm steht ein batteriebetriebenes Radio, und ein knisternder Sender übertönt alles, was das Trio gesagt haben mag. Der andere Mann vom Brimstone Bleed sitzt an der Wand und stochert sich in den Zähnen herum.

Die Frau in dem orangefarbenen Rock, immer noch tadellos gekleidet, steht vor einem großen Bogen Papier, der an der Wand befestigt ist, eine Hand nachdenklich in den Nacken gelegt. Auf dem Papier sind Namen, daneben eine Reihe von Ziffern, und am Ende einzelner Zeilen steht eine Farbe geschrieben.

Kandidat Joseph– 31– Rot

Kandidatin Courtney– 101– Grün

Mein Blick kehrt zu der Frau zurück und ich betrachte sie genauer. Mir stockt der Atem, als mir klar wird, dass es die Dame aus dem Zug in Lincoln ist. Damals hat sie ein grünes Kleid getragen und grüne Tabletten an mich und zwei andere Kandidatinnen in unserem Abteil verteilt. Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Bogen Papier, aber bevor ich weiterlesen kann, führt Guy mich weg, und unsere Pandoras folgen uns. Ich sage nichts, bis wir vor unserer Hütte stehen, in einem sicheren Abstand von der mit einer Decke verhängten Tür, als ob wir dadurch ungehört bleiben würden.

Guy drückt mich gegen die Außenwand, bis mir der Rücken von den Strohhalmen juckt, die durch mein Shirt piksen. Er umfasst mein Gesicht mit beiden Händen, streicht mit den Daumen über die empfindliche Haut unter meinen Augen. »Warum bist du mir gefolgt, Tella?« Er spricht ruhig und eindringlich. Aber heute Nacht stößt seine Eindringlichkeit mich ab. Ich kann nicht aufhören, an das zu denken, was er vorhin zu mir gesagt hat. Wie er sich in den letzten Tagen distanziert hat. Dass unsere Lippen sich nicht berührt haben, seit ich gesagt habe, dass ich ihm helfen würde, das Rennen zu vernichten.

»Ich wollte selbst sehen, was sie vorhaben«, antworte ich.

Guy schluckt. Sein Blick fällt auf den Sand, auf unsere ramponierten Kampfstiefel. Für einen Moment sagt er nichts. Es ist entsetzlich still. Ich höre den Lärm dieses verdammten Radiosenders und frage mich, wie es möglich war, dass ich ihn vorher aus dieser Entfernung nicht bemerkt habe.

Ich will noch etwas sagen. Dass er sich in mir irrt.

Sein Kopf fährt hoch und er lässt die Hände sinken. »Tella, wenn ich dich bitte zurückzubleiben, dann tue ich das, weil ich denke, dass es am sichersten ist.«

Ich runzele die Stirn. »Ich kann selbst denken, ohne dass mir was passiert, weißt du.«

Guys Löwe stupst seine Finger an, aber Guy reißt die Hand fort. Der Löwe brummt unzufrieden und lässt sich auf den Bauch nieder. Madox springt vor seine Pfoten, und der Löwe schlägt träge nach meinem Pandora, verärgert über die spätnächtliche Verspieltheit des Fuchses.

»Natürlich kannst du das«, sagt Guy, aber sein Mangel an Überzeugung ist wie ein Hieb in den Magen.

Ich zucke zusammen, als hätte er mich tatsächlich geschlagen. Er glaubt wirklich nicht an mich. Und er denkt wirklich, dass er der einzige Grund ist, warum ich hier bin. Aber wer weiß, ob ich es nicht allein so weit geschafft hätte? Vermutlich niemand. Denn so war es nicht. Ich habe mich im Dschungel an Guy rangehängt und mich von ihm führen lassen und seitdem habe ich nicht mehr damit aufgehört.

Wann habe ich das letzte Mal eine Antwort in mir selbst gesucht?

Plötzlich fühle ich mich zutiefst gedemütigt bei dem Gedanken daran, wie er mich sehen muss. Ich wende mich ab und kann kaum atmen. Ich will gerade zu Guys Hütte, zu meiner Hütte zurückkehren, als mir einer der Männer vom Brimstone Bleed auffällt. Er geht mit langen Schritten auf eine kleine, dunkle Masse auf dem Boden zu. Als er näher kommt, beugt er sich vor, um die Masse zu untersuchen. Es ist ein Tier – zweifellos ein Pandora – und es schläft tief und fest. Der Mann tritt den Pandora, und ich öffne den Mund, um zu protestieren. Doch Guy legt mir seine raue Hand auf den Mund und bringt mich zum Schweigen. Früher hätte ich mich nicht gerührt. Ich hätte ihm erlaubt, mich festzuhalten, weil es sicher das Beste ist.

Jetzt trete ich Guy kräftig auf die Zehen, und er zieht den Fuß hoch, aber seine Hand bleibt, wo sie ist. Ein Ausdruck der Verwirrung huscht über seine Züge.

Der Mann hockt sich hin, und ich bemerke, dass er eine Dose in der rechten Hand hält. Ich höre ein leises Klappern und dann ein Zischen. Der Mann tätschelt das Tier, steht auf und geht davon. Guy lässt mich los und ich taumele zurück.

Er wirkt so verwundert, dass ich ihm auf den Fuß getreten habe, dass ich unwillkürlich sage: »Entschuldige, es hat mir … es hat mir einfach nicht gefallen, dass du mir den Mund zuhältst.«

Guys Miene wird weicher, aber er verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich wollte nicht, dass du Ärger bekommst, Tella.«

»Ich kann auf mich selbst aufpassen«, blaffe ich.

Guy zieht fragend eine Augenbraue hoch. Kannst du das wirklich?

Ich stürme auf den Eingang meiner Hütte zu, bleibe aber stehen, bevor ich hineingehe. Dann drehe ich mich um und betrachte prüfend den Pandora auf dem Boden. Jetzt, da der Mann mir nicht mehr die Sicht versperrt, sehe ich, dass es ein langes, dürres Reptil ist, und auf seinen Rücken ist ein roter Streifen gesprüht. Das Geschöpf scheint okay zu sein, daher wende ich mich wieder ab.

Ich fange Guys Blick auf und denke wieder an das, was er gesagt hat. Würde immer noch in diesem Dschungel festsitzen, wenn ich nicht gewesen wäre.

So viel mir Guy auch bedeutet, ich bilde mir ein, dass ich ihm das Gegenteil beweisen kann. Dass ich alles kann, was ich mir vornehme, genau wie es die Schulpsychologin an der Ridgeline High gesagt hat. Und dass ich alles ohne seine Hilfe schaffen kann. Aber die Stimme in meinem Kopf kann ich nicht zum Schweigen bringen.

Kannst du das wirklich?

Kapitel 5

Am nächsten Morgen weckt mich ein Tumult. Die Hälfte der Kandidaten, die bei mir in der Hütte waren, sind fort, und die zurückgebliebenen stehen gerade auf. Draußen vor den Strohwänden höre ich die Stimme eines älteren Mannes, der Befehle ruft. Ich suche mit den Augen den Boden nach Guy ab. Er wird vielleicht wissen, was los ist. Er wird definitiv wissen, was zu tun ist.

Dann erinnere ich mich an die vergangene Nacht und mir schnürt sich die Kehle zu. Ich nehme Madox auf den Arm und stehe entschlossen von meiner Pritsche auf. Der Fuchs windet sich in meinem Griff und streckt sich nach oben, um mich unter dem Kinn zu lecken. Ich wische mir den Sabber ab und senke die Arme, damit er nicht mehr an mich drankommt. Zwecklos. Er leckt mir stattdessen einfach die Hand ab.

»Komm, Monster«, sage ich zu AK-7. Der Grizzly erhebt sich und trottet glücklich hinter mir her. »Sieht so aus, als könntest du einen Winterschlaf gebrauchen«, erkläre ich seinem verschlafenen Gesicht. Der Bär reibt seinen enormen Leib an meiner linken Seite und ich nehme Madox in einen Arm und kraule Monster mit der freien Hand hinter dem rechten Ohr. Dies entlockt dem Bären ein Stöhnen, das die verbliebenen Pandoras in unserer Hütte äußerst nervös macht.

Draußen im grellen Sonnenlicht steht hoch aufgerichtet ein Mann, der für das Brimstone Bleed arbeitet, einen kleinen Koffer zu seinen Füßen. Ich verkrampfe mich, als ich mein Gerät aus der Tasche nehme. Es blinkt nicht, aber vermutlich braucht es mir nicht zu sagen, was ich bereits weiß. Dies ist der Moment, in dem wir entscheiden, wie mutig wir wirklich sind. Ob wir bereit sind, einmal mehr unser Leben zu riskieren, um unsere Familien und Freunde daheim zu retten.

Obwohl es mich rasend macht, ertappe ich mich dabei, dass ich nach Guy suche. Mein Blick schweift über die Kandidaten und Pandoras und Meilen giftigen Sandes. Dann sehe ich ihn. Er erwidert meinen Blick, den stolzen Löwen an seiner Seite. Guy macht einen schnellen Schritt in meine Richtung und bleibt dann stehen. Er wirkt so zögerlich, wie ich mich fühle. Vielleicht ist er immer noch frustriert, weil ich gestern Nacht nicht auf ihn gehört habe. Tja, was soll’s. Ich bin frustriert, dass er denkt, er müsse mir sagen, wann ich atmen soll. Trotzdem kämpfe ich gegen den Instinkt an, ihn herüberzuwinken. Ein Teil von mir – okay, der größte Teil von mir – möchte vergessen, was er gesagt hat. Was ist schon dabei, wenn ich mich zu sehr auf ihn verlasse?

Er bedeutet mir etwas.

Jaxon, Braun und Olivia und zwei Pandoras kommen zu mir. Die drei haben darauf bestanden, in einer anderen Hütte im Basislager zu schlafen, damit wir »es« ungestört tun könnten. Olivias Worte, nicht meine. Obwohl ich manchmal bezweifle, dass Olivia alt genug ist, um zu wissen, worüber sie redet; auch wenn ich darauf hingewiesen habe, dass bei so vielen Kandidaten und so wenigen Unterkünften ohnehin keine Chance auf Privatsphäre besteht.

»Guy hatte recht, glaube ich«, bemerkt Jaxon, als wir alle zusammenstehen.

»Wann hat er das nicht?«, fügt Olivia hinzu.

»Es ist ziemlich offensichtlich«, blaffe ich. »Ich meine, es ist der siebte Tag der Ruhepause.«

Braun reibt mir den Rücken. »Alles okay mit euch zweien?«

Ich seufze und setze Madox ab. »Wir sind kein Paar. Wir sind Kandidaten.«

Es tut weh, es laut auszusprechen, und vielleicht habe ich es gesagt, um den Stich zu spüren. Oder vielleicht habe ich es gesagt, weil meine Vorstellung von Guy und mir als gleichberechtigten Partnern einen Riss bekommen hat. Es ist eher so, als sei ich ein Kind, das er beschützen muss. Was für ein verstörender Gedanke.

Braun nickt verständnisvoll und Olivia bleibt still. Jaxon dagegen kommt näher heran. Er befingert die blaugrüne Feder über meiner Schulter. »Hey, Mädchen, hey. Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie gut du in letzter Zeit aussiehst? Ich stehe voll auf Frauen mit kurzem Haar.«

Ich ziehe ihm die Feder aus den Fingern und lache. Mein geschorenes Haar wächst langsam nach, geht mir aber längst noch nicht bis zu den Schultern. Ich frage mich oft, ob ich diese Länge nach dem Rennen beibehalten soll. Der Moment, in dem ich es mir abgeschnitten habe, war der Moment, in dem ich mit dem Rennen Ernst gemacht habe.

Es war der Moment, in dem ich wusste, dass ich jede Herausforderung annehmen würde, um jemanden zu retten, den ich liebe.

»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten«, donnert der dicke Mann. »Genau wie beim letzten Mal werden wir zwei Reihen bilden. Wenn Sie den Wunsch haben, nach Hause zurückzukehren, stellen Sie sich bitte auf die rechte Seite. Wenn Sie weitermachen möchten, gehen Sie nach links.«

Jaxon ist sonst immer der Spaßvogel, aber dazu sagt er kein Wort. Es gibt nichts zu sagen. Wir haben über eine Woche auf diesen Moment gewartet, ihn sogar herbeigesehnt. Denn manchmal ist Stillsitzen schlimmer als zu rennen.

Jaxon sieht Braun und mich an, dann legt er Olivia den Arm um die Schulter und geht mit ihr zu dem Mann auf der linken Seite. Olivias Pandora trottet hinter ihnen her und wirbelt mit jedem Elefantenschritt kleine Sandwolken auf. Schon jetzt stehen mindestens ein Dutzend Kandidaten in der Schlange, um weiterzumachen.

Braun legt mir seine riesige Hand auf die Schulter und lässt sie für einen Moment dort liegen. Er sieht mir prüfend ins Gesicht, daher schenke ich ihm ein Lächeln. Dann lässt er den Arm sinken und geht hinter Jaxon her, gefolgt von seinem Schwein.

Ich stehe allein da.

»Wir können das schaffen«, flüstere ich Madox zu, obwohl er mich nicht versteht, wenn ich laut spreche. »Wir haben Halbzeit.«

Ich betrachte meinen schwarzen Fuchs und meinen braunen Bären. Hier draußen sind sie meine Familie. Meine Kameraden.

Meine Gang.

»Diese Etappe des Rennens gehört mir, Mann«, erkläre ich Monster. Ich hoffe, das klingt hart. Als hätte ich keine Angst vor der gewaltigen Nadel, die der dicke Mann gleich aus der geschnitzten Holzbox nehmen wird.

»Rechte Ärmel hochkrempeln«, instruiert der Mann uns.

Ich befehle mir, nicht hinzusehen. Ich wiederhole den Gedanken, bis ich nichts anderes im Kopf höre. Es hilft nicht. Ich drehe mich trotzdem um und schaue in die Richtung, in der ich Guy zuletzt gesehen habe.

Er steht so fest wie ein Wolkenkratzer da und leuchtet wie ein Gott in der Sonne. Ich schlucke meinen Stolz herunter, straffe die Schultern und gehe flankiert von meinen Pandoras auf die Schlange zum Bleiben zu. Ich hoffe, ich wirke selbstbewusst, während ich vorwärtsmarschiere. Ich hoffe, Guy denkt: Oh Mist! Seht sie euch an! Ich habe sie total unterschätzt.

Als ich mich hinten anstelle, halte ich Ausschau nach der Frau in Orange. Der Hubschrauber steht noch da, daher muss sie auch noch da sein. Ich entdecke sie am Eingang zur Haupthütte. Sie spricht hastig mit einem der Männer, die in der Tür stehen. Dann gestikuliert sie ungeduldig, bevor man ihr ein schwarzes Notizbuch reicht. Sie schlägt es auf und prüft seinen Inhalt. Klappt es zu.

Alle Kandidaten haben ihre Seite gewählt, und der Mann, der die Spritze halten wird, liegt auf der Lauer. Sein Blick fällt auf die Frau und sie geht zu den beiden Reihen. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen.

»Bringen Sie mir die Box«, befiehlt sie einem der Männer.

Er geht in die Hütte und kommt mit der Box heraus, die ich ihn gestern Abend habe ausladen sehen. Die Frau stellt sich neben den zweiten Mann, während der erste ihr die Box vor die Füße stellt. Mein Puls beschleunigt sich, als mir klar wird, dass gleich etwas Großes geschehen wird.

Ich drehe mich auf dem Absatz um, um mich an Guy zu wenden, und stelle fest, dass er direkt hinter mir steht, ein Mann aus Stein. Er mustert mich so eindringlich, als wolle er sich mein Gesicht einprägen. Ich hasse ihn dafür, dass er mich so ansieht, denn ich weiß, was er wirklich denkt: schwach. Ich beiße die Zähne zusammen und drehe mich nach vorn, meine Frage unausgesprochen.

»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten«, sagt die Frau, fasst sich an ihr blondes Haar und blinzelt in die Sonne. Die Kandidaten verstummen. »Da Sie auf dem Weg zur dritten Etappe des Rennens sind, wollen wir dafür sorgen, dass Sie so sicher wie möglich sind.«

Bull. Shit.

»Das möchten wir zum einen dadurch tun, dass wir Sie markieren«, fährt sie fort. »Es wird vollkommen schmerzlos sein, nur ein Armband um Ihr rechtes Handgelenk. Jede Farbe steht für einen Teamleiter im Hauptquartier, dessen Aufgabe es ist, Sie im Auge zu behalten. Wenn einer von Ihnen es nicht ins nächste Basislager schafft, wird es sein Job sein, Sie zu finden und wenn nötig zu retten.«

Ich weiß, dass ihre Worte uns beruhigen sollen, aber das tun sie nicht. Denn für die Etappen im Dschungel und in der Wüste gab es keine Teams, und wenn es ihnen darum gehen würde, uns zu beschützen, hätten sie verhindert, dass wir aufgespießt wurden oder beinahe in einem reißenden Fluss ertranken oder nur von unreifen, unbekannten Früchten in der Wüste lebten. Wie lange hatte es gedauert? Tage? Wochen? Also müssen die Armbänder etwas anderes bedeuten.

Einer der Männer öffnet die Box und zieht einen Beutel mit blauen Plastikstreifen heraus. Die Frau nimmt sie entgegen und konsultiert ihren Notizblock. »Wenn ich Ihren Namen aufrufe und Sie in der Reihe für Bleiben stehen, treten Sie bitte vor.«

Die Frau verliest den ersten Namen.

Kapitel 6

Ein Mann, vielleicht Ende zwanzig, geht zu der Frau, und ein Schwan-Pandora watschelt hinter ihm her. Der Mann ist kräftig gebaut – starke Schultern, dicke, behaarte Unterarme. Wir verrenken uns alle den Hals, um zu sehen, was geschieht. »Sie werden im Team Blau sein«, sagt die Frau. Dann fügt sie an uns alle gewandt hinzu: »Sehen Sie es so, es sind Teams. Das macht doch Spaß, nicht wahr?«

Es ist kein Spaß. Es ist gar nichts. Es ist verflucht heiß draußen, das ist es. Und ich sehne mich nach einem Milchshake mit Erdnussbutter und Schokolade. Und einer Klimaanlage. Und ich will wissen, in welchem Farbteam ich sein werde.

Die Frau bittet den Kandidaten, den rechten Arm auszustrecken, und sie bindet ihm den blauen Kabelbinder um. Der Mann vom Rennen nimmt eine Schere aus der Box und geht auf den Kerl zu. Der springt zurück.

Kluger Mann.

»Haben Sie keine Angst«, sagt die Frau mit einem Lachen. »Er wird nur den Überstand abschneiden.«

Und genau das tut der Mann. Der Typ Ende zwanzig und sein Pandora kehren in die Bleiben-Reihe zurück. Einer erledigt.

Danach treten weitere Kandidaten vor, um ihre Armbänder in Empfang zu nehmen. Als Olivias Name verlesen wird, trete ich beinahe vor sie hin, obwohl ich nicht weiß, wovor ich sie beschützen würde.

Ich betrachte mit klopfendem Herzen die andere Schlange. Nur vier Leute verlassen das Rennen. Sie wirken hochzufrieden über ihre Entscheidung, auszusteigen, während sie sich die neuen Ereignisse betrachten. Ich kenne einen der Männer, die gehen – ein Trigger. Er sieht mir in die Augen, bevor er sich abwendet. Als ich mich daran erinnere, wie sein ehemaliger Anführer in den Abgrund gestürzt ist, dreht sich mir der Magen um.

Die nächste Runde von Kandidaten bekommt ein grünes Armband. Sowohl Jaxon als auch Braun erhalten eins, bevor sie in die Reihe zurückkehren. Die Frau hält einen Beutel mit orangefarbenen Kabelbindern hoch, und nachdem einige Kandidaten aufgerufen wurden, fällt Guys Name. Er geht auf die Frau zu, als lasse ihn das alles völlig kalt, sein mächtiger Löwe ist an seiner Seite, und ich beneide ihn um die innere Ruhe, mit der er unbekannte Faktoren im Brimstone Bleed akzeptiert. Schließlich wird die letzte Runde aufgerufen: die Roten. Zwei Jungen und eine ältere Frau werden nach vorn befohlen. Und dann …

»Tella Holloway.« Die Frau muss mit aller Macht dagegen ankämpfen, aber der Anflug eines Lächelns zupft trotzdem an ihren Mundwinkeln. Ich marschiere mit schwitzenden Händen auf sie zu. Hinter mir jaulen Madox und Monster auf, aber ich werfe ihnen einen festen, beruhigenden Blick zu, damit sie bleiben, wo sie sind. Die Frau bittet mich, den rechten Arm auszustrecken. Dann legt sie mir das rote Plastikarmband um das Handgelenk und zieht es stramm. Der Mann schnippelt das überstehende Ende ab, als arbeite er an einer Jahrmarktbude.

Ich kann es mir nicht verkneifen, die Frau anzustarren. Gefangen in ihrem Blick, habe ich das Gefühl, als stünde ich vor einem heranrasenden Zug, dessen Sirene mir zuschreit, ich solle von den Gleisen runter. Aber es hat auch etwas Schönes, dem Tod so nahe zu sein und dabei zu wissen, dass man sich selbst retten kann. Dass man bis zum allerletzten Moment warten kann, bevor man springt.

»Sie können jetzt in Ihre Reihe zurückkehren«, sagt sie.

Ich beschließe, dass ich diese Frau hasse.

Als ich wieder an meinem Platz bin, verliest sie noch einige weitere Namen und zieht sich dann zurück. Als sie auf die Hütte zugeht und ihre kleinen Pfennigabsätze sich in den Sand bohren, erklingt eine zögerliche Stimme. Sie wirbelt herum, und die Schönheit, auf die ich zuvor einen Blick erhascht hatte, verschwindet. Etwas Dunkleres hat sie ersetzt. »Hat jemand etwas gesagt?«, fragt sie mit einem schmallippigen Lächeln.

Ein Endvierziger hebt die Hand. Er ist in der Bleiben-Reihe, sechs Leute hinter mir. »Nicht alle von uns haben Farben zugewiesen bekommen.«

Die Frau legt sich eine Hand auf die Brust und streicht mit den Fingern über die himmelblaue Bluse, die sie trägt. »Oh, es tut mir so leid«, erwidert sie. »Ich hätte das erklären sollen. Das letzte Team ist fleischfarben. Sie brauchen kein Armband.« Die Frau umfasst ihre klobige, weißgoldene Kette und drückt sie. Ihr Blick liegt kurz auf mir, und sie lächelt warm, bevor sie davonstöckelt.

Diese Frau mag mich. Oder vielleicht zieht sie mich den anderen vor. Sie hat mich angesehen, als kenne sie mich irgendwoher, als hätte sie vielleicht Gefallen an mir gefunden.

Nachdem die Frau hinter der verhängten Tür verschwunden ist, beugt sich einer der Männer vom Brimstone Bleed vor, um den Kasten zu seinen Füßen zu öffnen. Es ist derselbe wie zuvor – geschnitztes Holz mit einem smaragdfarben glitzernden Riegel. Er entnimmt ihm eine Mammutspritze, die mit einer grünen, wirbelnden Flüssigkeit gefüllt ist.

Ah, alter Freund. Wie ich dich verabscheue.

Ich krempele den Ärmel hoch und warte auf den Stich, während die Kandidaten in der Gehen-Schlange zusehen. Der Mann erreicht mich schnell, viel zu schnell. Sein Atem riecht nach Zigaretten und er pumpt mir eine Dosis von der verwünschten grünen Flüssigkeit in den Arm. Ich will ihm von Altoids erzählen. Oder von York Peppermint Patties. Oder von Kaugummi von der Rolle. Doch bevor ich dazu komme, dreht sich mir alles, und Brauns Hinterkopf verschwimmt.

Ein Geräusch hinter mir erregt meine Aufmerksamkeit und ich wirbele herum. Jetzt treiben die Männer vom Brimstone Bleed herrenlose Pandoras zusammen, die die Kandidaten, die aufhören, nicht mehr brauchen. Der erste Mann schlingt den Pandoras ein Seil um den Kopf und sichert es an Pflöcken im Boden. Der andere Mann greift nach dem Tier, das er in der vergangenen Nacht mit roter Sprühfarbe markiert hat, einem Leguan. Er bindet ihm ein Seil um die Mitte und beginnt ihn von den anderen wegzuzerren. Was hat er mit dem Pandora vor? Was machen sie mit ihnen?

Meine Haut kribbelt, sowohl wegen des Inhalts der Spritze als auch, weil ich schreckliche Angst um den Leguan-Pandora habe.

Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, als ich auch schon rufe: »Warten Sie.«

Meine Stimme klingt, als käme sie aus einem Rekorder. Es ist ein seltsames Gefühl, gefolgt von dem Wunsch zu fragen: Ich höre mich doch nicht wirklich so an, oder?

Ich sage es noch einmal, diesmal lauter. »Warten Sie!« Kandidaten gaffen mich an, und der Mann mit der Spritze sagt mir, es sei zu spät, die Reihe zu wechseln. Aber das will ich gar nicht. Ich will wissen, wohin der Mann vom Brimstone Bleed diesen Pandora bringt. Obwohl es über vierzig Grad haben muss, friere ich bei dem Gedanken daran bis auf die Knochen.

Er sollte den Pandora nicht so hinter sich herschleifen. Er sollte ihn nicht irgendwohin bringen, wo wir ihn nicht sehen können. Und ich bin mir sicher, dass der Rücken des Pandoras nicht mit einem unheimlichen roten Streifen markiert sein sollte.

Ich stolpere schwerfällig mit den Stiefeln durch den Sand auf den Pandora zu. Es ist schwer zu gehen, schwer zu stehen, aber irgendetwas muss ich tun.

»Gehen Sie zurück in die Reihe«, befiehlt der Mann, der den Leguan hinter sich herzieht. Seine Stimme klingt auch komisch. Das Gleiche gilt für die Stimme hinter mir. Sie klingt wie die von Guy. Nun, damit muss er klarkommen. Ich bin ein zugedröhntes Mädchen mit einer Mission.

Ich greife nach dem Seil und der Mann reißt es weg. »Überlassen Sie ihn mir«, flehe ich.

Der Mann lacht spöttisch und meine Lider werden schwer. Madox springt um mich herum und kommt mit den Pfoten immer wieder an mein Knie. Er wiegt fast nichts, aber in diesem Moment ist es fast genug, um mich umzustoßen.

»Überlassen Sie ihn mir«, wiederhole ich. »Sie haben schon anderen Kandidaten erlaubt, Pandoras zu übernehmen.« Es ist wahr. Am Ende des Dschungelbasislagers haben Titus und seine Trigger unter anderem Levis Widder-Pandora genommen, und die beiden Männer, die das Rennen leiteten, haben sie nicht daran gehindert.

Der Mann macht den Eindruck, als denke er darüber nach, obwohl ich mir nicht sicher bin. Sein Gesicht verschwimmt immer wieder vor mir. Madox bellt, und es klingt, als käme es von einem gewaltigen Höllenhund und nicht von einem Fuchsbaby. Ich erkenne eine große, braune Masse, die auf mich zugetapst kommt. AK-7.

»Nein«, sagt der Mann entschieden.

Ich stürze mich auf das Seil. Ich weiß nicht, was ich tue. Oder vielleicht doch. Vielleicht hätte ich mich schon längst auf jemanden stürzen sollen, egal wen. Vielleicht musste erst etwas meine Sinne abstumpfen, bevor ich klar denken konnte. Diese Menschen haben uns befohlen, die Pandoras der anderen zu töten. In diesem Rennen geht es nicht nur darum, uns eine Chance zu geben, für die Menschen zu kämpfen, die wir lieben. Es geht darum, dass sie diese Menschen infiziert und uns befohlen haben, unser Leben zu riskieren, und die ganze Zeit über haben sie uns sadistische Aufgaben wie die Ermordung unschuldiger Tiere gegeben. Es spielt keine Rolle, dass Pandoras gentechnisch verändert sind. Sie bluten und leiden wie echte Tiere. Sie lieben ihre Kandidaten, so wie Haustiere ihre Menschen lieben. Und sie riskieren ihr Leben für uns.

Meine Finger sind taub von der Injektion. Meine Worte vernuscheln, aber ich merke, dass ich schreie, dass ich dem Mann das Seil aus der Hand winde und wegrenne. Jemand packt mich und reißt mich zu Boden.

»Still jetzt«, sagt er. »Denk an Cody.«

Fuchszunge an meiner Wange. Ein Grizzlybär auf den Füßen, der eine Warnung brüllt. Ein Leguan flach auf meinem Bauch. Ich habe nicht viel Zeit, bevor meine Gedanken verschwunden sind. Also fülle ich die Lungen und denke an Caroline. Und Dink. Und an Ransom und Levi und all die Freunde, die aus unterschiedlichen Gründen nicht hier sind. Ich denke auch an Harper und frage mich, ob sie ihr Versprechen erfüllen und zurückkehren wird, um mir zum Sieg zu verhelfen.

Ich balle die Hände zu Fäusten. Ich schließe die Augen. Und ich flüstere in den Windungen meines Gehirns den Namen meines Bruders: Cody.

Cody am letzten Tag, an dem ich ihn gesund gesehen habe. Er trank den Saft von eingelegten Gurken aus dem Glas und verzog das Gesicht, weil es so sauer war. Hat er das Zeug schon immer gemocht? Ich kann mich nicht erinnern, aber ich möchte wieder sehen, wie er es trinkt. Ich möchte ihn irgendetwas trinken sehen, ohne dass er einen Strohhalm braucht und nur winzige Schlucke zu sich nehmen kann. Ich möchte jedes gemeine Wort, das ich jemals zu ihm gesagt habe, zurücknehmen und stattdessen sagen: Ich bewundere dich.

Die Frau erscheint. Sie sagt etwas. Sie hält etwas in der Hand. Sie hebt den schlanken Arm hoch, um den Männern ihre Beute zu zeigen.

Ich kneife die Augen zusammen und reiße sie auf, versuche, durch den Nebel der Betäubung zu sehen.

Und dann weiß ich genau, was sie in der Hand hält.

Es ist eine Schwimmweste.

DIE FLUT

Kapitel 7

Bei diesem Geräusch könnte ich ewig schlafen. Es ist ein Wiegenlied, das ich am liebsten einmachen würde. Dann würde ich mir das Glas ans Ohr halten und schütteln, wann immer ich will. Schwipp, schwapp, schwipp, schwapp.

Ich öffne langsam die Augen. Die Sonne steht mitten am Himmel, übereifrig wie immer. Obwohl mir warm ist, streicht mir eine kühle Brise über die nackte Haut, und wenn ich einatme, begrüßt mich der angenehme Salzgeruch in der Luft. Ich werde hin und her geschaukelt, sanft wie in den Armen meiner Mutter, als ich noch klein war.

Ich richte mich auf und stelle fest, dass ich in einem fahrenden Schiff sitze. Monster ist zu meiner Linken, Madox zur Rechten. Ich bin mir nicht sicher, ob Madox mich viel gewärmt hat, aber der Bär hat es ganz sicher. Als er sich wie ein übergroßer Labrador zur Seite rollt und stöhnt, peitscht mir kalte Luft über die Wangen und flüstert von frühen Oktobertagen.

Unter mir liegt eine blaue Isomatte, und auf dem Holzdeck sind noch mehr davon verteilt, belegt mit schlafenden Kandidaten. Andere Kandidaten sind hellwach, stehen neben ihren Pandoras an einer cremefarbenen Reling und blicken in die Ferne. Die beiden Männer, die für das Rennen arbeiten, sind auf der anderen Seite des Schiffs, die Arme vor der Brust verschränkt. Niemand wagt sich in ihre Nähe.

Das Schiff ist gewaltig, groß genug, um Platz für Dutzende weiterer Kandidaten und ihre Pandoras zu bieten. Die Kulisse hier wäre die perfekte Vorlage für einen anständigen Witz über Noahs Arche. Darüber werde ich später nachdenken. Hinter mir befindet sich ein verglaster Bereich, und darüber ragen weiße Stangen und Seile auf, mit denen ich nichts anfangen kann, aber ich wette, dass Guy alles darüber weiß. Ich muss mich zwingen, nicht unter den anderen Kandidaten nach ihm zu suchen. Ich werde nicht nach ihm suchen.

Ich erinnere mich sofort an die Szene, die ich in dem Wüstenbasislager gemacht habe. Es überrascht mich, dass sie mich nicht rausgeschmissen haben. Mein Blick schweift über das Deck um mich herum, aber ich sehe ihn nicht …

Und dann sehe ich ihn doch.

Den Leguan.

Ich springe auf die Füße und Erleichterung durchströmt mich. Das Tier neigt den Kopf in meine Richtung, als ich mich ihm nähere. Vorsichtig strecke ich die Hand aus und streichele es. Bei der Berührung schließt es die Augen. Ich betrachte den roten Streifen auf seinem Rücken, er wird wohl vermutlich bleiben. »Wie geht’s dir, Mädchen?«

Das Leguanweibchen öffnet die Augen und seine dicke, rosige Zunge schießt heraus, probiert meine Haut, schnuppert an mir. Ich hebe erst ein Hinterbein und dann das andere an, bevor ich finde, wonach ich suche. FDR-1 ist mit schwarzer Tinte auf der Unterseite der krallenbewehrten Pfote eintätowiert, so klein, dass ich es kaum lesen kann. Ich bin überglücklich, den Leguan hier zu finden. Es ist ein Sieg, mit dem ich nicht gerechnet habe.

Und das macht mich unglaublich nervös.

»Tinker Bell, du bist wach.«

Ich lasse von meinem neuen Pandora ab und drehe mich zu Braun um. Er steht mit seinem Schwein, BK-68, an der Reling, zusammen mit den anderen Kandidaten, die schon wach sind. Ich gehe zu ihm hinüber, und als Madox hinter mir hertappt, bitte ich ihn in Gedanken, zu bleiben, wo er ist. Er winselt, legt sich aber wieder hin. Ich möchte FDR-1 jetzt noch nicht allein lassen, und Gott weiß, dass Monster so bald nicht aufwachen wird. Dem verschlafenen Blick meiner beiden – ähm, aller drei – Pandoras nach zu urteilen, bin ich mir fast sicher, dass die Männer auch ihnen das wirbelnde, grüne Serum gespritzt haben müssen, nachdem sie mit den Kandidaten fertig gewesen sind.

Frustration vertreibt meine letzte Müdigkeit, als ich Braun erreiche. Doch als Olivia neben ihm hervortritt und mir die Hand hinhält, kann ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.

»Knall mir eine«, sagt sie.

Wie bitte?

Olivia wackelt mit den Fingern. »Leg deine Hand auf meine, Frau.«

Ich gebe ihr ein High Five, oder in diesem Fall eher ein Low Four. Sie lächelt breit und klopft mir auf den Rücken, als seien wir alte Kumpel. Die Geste passt überhaupt nicht zu einer Zehnjährigen.

Sie und Braun tragen beide das Gleiche wie ich, eine Art schwarzen Neoprenanzug. Er besteht aus einem kurzärmeligen Top und passenden Shorts, die bis zum Knie reichen. Auf der rechten Brusttasche des Shirts ist das Bild einer zusammengerollten goldenen Klapperschlange. Ich klopfe die Tasche ab und spüre darin etwas Kleines – bestimmt mein Gerät. An unseren Füßen tragen wir schwarze Neoprenschuhe, neben denen Bowlingschuhe wie der letzte Schrei aussehen. Kein Witz.

»Du musst zugeben, es ist schön«, sagt Braun.

Mir wird bewusst, dass er nicht das Outfit oder die Schuhe meint. Zum ersten Mal wende ich mich dem Meer zu.

Das Blau verschluckt alles. Es streckt sich vor mir aus wie eine offene Handfläche und der Himmel umarmt die Flut wie ein Geliebter. Über uns sind keine Wolken, als hätte die Sonne sich am Kinn gekratzt und sich gesagt: Heute nicht, heute lassen wir das große Meer leuchten.

Wellen rollen dahin, und wenn sie sich brechen, eine nach der anderen, ist es beinahe so, als würde das Meer sich bewegen. Ich meine, ich weiß, dass es sich tatsächlich bewegt und sich unablässig dem Ufer nähert und wieder davon entfernt. Aber so, wie ich es jetzt sehe, ist es mehr wie eine Herde purpurner Hengste, die über die Erde donnern, Strecke machen, nach irgendetwas jenseits des Horizonts suchen, sodass man am liebsten nach Sattel und Zaumzeug greifen möchte.

»Es ist wunderschön«, stimme ich zu, und aus dem Augenwinkel sehe ich Braun nicken.

Aber vielleicht behaupte ich, es sei schön, weil man mir beigebracht hat, das zu sagen. Weil es das war, was wir immer gesagt haben, wenn Mom und Dad mit Cody und mir im Sommer nach Long Island gefahren sind und wir aufs Wasser hinausgeschaut haben. Es ist wunderschön.

Tatsächlich haben Cody und ich den Atem angehalten und uns gefragt, wie lange wir noch auf das Wasser starren mussten, bevor Dad sagte, wir könnten Hummerbrötchen und Süßkartoffelpommes holen gehen. Sobald er dem Wasser den Rücken zukehrte und brummelte, dass wir genauso gut essen gehen können, denn seine Kinder werden Gottes Geschenke an die Menschheit nie richtig zu würdigen wissen, stießen Cody und ich die Fäuste in die Luft und zischten: Ja!

Jetzt, da ich das Meer mit den Augen einer Kandidatin sehe, von der Sonne wie mit einem Scheinwerfer beleuchtet, und mein Verstand die Herausforderungen abhakt, vor die es uns stellen wird, denke ich, dass ich mich früher vielleicht geirrt habe.

»In Wahrheit«, flüstere ich, »ist das Meer beängstigend.«

Olivia streckt die Arme zur Seite aus. »Was habe ich die ganze Zeit gesagt, Braun?«