Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Hund entdeckt die Welt. Eine Menschenwelt, die ihm anfangs fremd ist und die er versucht zu verstehen. Eine Annäherung von Mensch und Hund im Familienalltag einer Münchner Vorstadt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 82
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
KAPITEL 1: Frühjahr 2020
KAPITEL 2: Sommer 2020
KAPITEL 3: Herbst 2020
KAPITEL 4: Winter 2020
KAPITEL 5: 2021 – Ein neues Jahr beginnt
KAPITEL 6: Frühjahr 2021
KAPITEL 7: Sommer 2021
KAPITEL 8: Spätsommer 2021
KAPITEL 9: Herbst 2021
KAPITEL 10: Winter 2021/22
Schon wieder raus! Ich war doch erst Joggen mit Chris, heute morgen fast zwei Stunden, und jetzt kommt auch noch Eva mit den Kindern.
„Sami, auf geht’s, frische Luft!“ Ich brauche keine frische Luft, ich will einfach meine Ruhe, endlich mal wieder ausschlafen, meinen Körper schonen, leckeres Essen. Und dieser Name: Sami! So habe ich mir mein neues Leben nicht vorgestellt. Nur weil ich in Griechenland in einem Dorf auf der Insel Samos aufgewachsen bin, soll mich meine Vergangenheit mit diesem seltsamen Namen bis ans Ende meines Lebens verfolgen?
Okay, es war nicht einfach, damals auf der Straße zu leben. Mama hatte mich die ersten Wochen gut versorgt, aber plötzlich war sie weg, auch meine Geschwister. Und Papa hab ich nie kennengelernt. Aber da gab es Pepe, Rina und all die anderen in unserer Gang, die mir zeigten, wie man überlebt. Ich lernte zu betteln, zu klauen und vor allem schnell abzuhauen, wenn’s brenzlig wurde.
Schön waren die Monate, wenn die Fremden kamen. Das Dorf war voller Menschen, die Mülleimer quollen über, es gab immer was zu essen und warme Plätzchen zum Schlafen. Mein Lieblingsplatz aber war am Brunnen vor dem El Greco, der Dorfkneipe. Lucia, die Kellnerin, hatte einen Narren an mir gefressen. Sie steckte mir heimlich Essensreste zu und oft knuddelte sie mich auch. „Du bist so ein Süßer“, sagte sie dann in der mir vertrauten Sprache – Worte, deren Bedeutung ich nur ahnte und fühlte. Diese Wärme tat so gut. Es erinnerte mich an Mama und dann hatte ich plötzlich diese Sehnsucht. Aber ich unterdrückte sie ganz schnell wieder, denn ich war jetzt ja schon fast erwachsen. Gefühle hatten keinen Platz in unserer Welt, das wusste ich. Es ging ums Überleben. Viele meiner Kumpels verschwanden über den Winter und ich erfuhr nie, wohin.
Der Winter ging vorbei – auch Pepe war verschwunden – und es kamen, wie jedes Jahr im Frühling, die ersten Fremden. Ich saß am Brunnen, etwas abseits vom El Greco, und genoss die ersten Sonnenstrahlen. Lucia stellte die Tische und Stühle nach draußen und gegen Mittag, als die Sonne am höchsten stand, war das Lokal voll mit Gästen.
Ich beobachtete Lucia von Weitem und wartete sehnsüchtig darauf, dass sie mich rief, mich kraulte und mich an sich drückte. Aber man will ja nicht aufdringlich sein.
„Du bist ja ein Süßer“, hörte ich plötzlich in einer mir fremden Sprache – Worte, die ich nur ahnte und fühlte. Ein kleines blondes Mädchen kam auf mich zu und umarmte mich. Sie roch seltsam, anders als Lucia und nicht nach Fisch, Fleisch oder Essensresten. Aber es war nicht unangenehm. „Mama, Papa schaut mal.“
Was dann geschah, weiß ich nicht mehr so genau. Da waren dieser Mann und diese Frau und das kleine blonde Mädchen, die lange und aufgeregt in der mir fremden Sprache aufeinander einredeten. Ich sah Lucias Lächeln. Sie kam auf mich zu, streichelte mir über den Kopf. „Alles wird gut“, flüsterte sie. Und ich verließ mich auf sie.
Der Mann nahm mich auf den Arm, wir fuhren in einem Auto – die kannte ich bisher nur von außen, als stinkende, gefährliche und rücksichtslose Blechkisten – zu einem anderen Mann in einem weißen Kittel, der mit einem komischen Schlauch im Ohr an meinem Bauch herumfummelte, mich dann auf den Rücken legte, glitschiges Zeug auf mich schmierte, meinen Mund und die Zähne inspizierte und mich zuletzt in den Hintern pikste.
Er sagte so was wie „Alles okay“ und als ich dann endlich was zu essen und zu trinken bekam, war auch für mich alles okay. Nur diese Box beunruhigte mich. Gitterstäbe? Sollte ich etwa auf diese perfiden Hundefänger hereingefallen sein, vor denen mich Pepe immer gewarnt hatte? Aber als ich dann auf dem weichen Kissen lag, Lucias Lächeln sah – oder war es das Lächeln des blonden Mädchens? –, schlief ich ein.
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe. Ab und an spürte ich ein heftiges Rütteln in meinem Körper und dann wachte ich auf. „Hallo Sami“, hörte ich von Weitem, „wir sind zu Hause.“
Sami? Zu Hause? Ich hatte schon was von einem Hundehimmel gehört, als Endstation, wenn alles schiefläuft, sich alle wiedersehen – Mama, Papa – und alles gut ist. Und vielleicht begegnete ich ja Pepe? Aber das hier schien anders. Es war nicht der Hundehimmel, denn ich spürte meine Knochen, meinen Körper und vor allem: Ich hatte Hunger!
Das kleine blonde Mädchen öffnete die Tür der Box. Ich streckte und dehnte mich und dann verschlang ich gierig alle diese leckeren Teilchen, die sie mir reichte. Eigentlich war es unnötig, denn kurze Zeit später kam das Ganze wieder raus.
„Das ist die Aufregung, die Fahrt, der Flug“, sagte die Frau und machte das Auto wieder sauber.
Seitdem sind fast vier Wochen vergangen. Ich bin in Deutschland, in München, wie ich mittlerweile weiß. Der Mann heißt Papa oder Chris, die Frau heißt Mama oder Eva, das blonde Mädchen Miri und da gibt es noch Leon, ihren älteren Bruder. Sie sind alle sehr nett zu mir, aber Miri mag ich am liebsten. Ich hab mich mittlerweile an das regelmäßige Essen gewöhnt. Morgens und abends die volle Ration und der Wassernapf ist immer gefüllt. Ich kotz auch nicht mehr und meine Verdauung hat sich an die regelmäßigen Spaziergänge angepasst. Regelmäßig ist aber leicht untertrieben, denn eigentlich bin ich ständig auf Achse. Wenn nicht mit Miri und Leon im Garten, dann mit Papa Chris beim Joggen, mit Mama Eva beim Radeln oder mit Oma Herta auf einen „kleinen gemütlichen Ausflug“ an die Isar. Abends bin ich dann völlig erschöpft und träume davon, mal wieder Zeit für mich zu haben – einfach nur chillen. Dass sie sich permanent um mich kümmern, wird mir langsam zu viel. Ich bin das nicht gewöhnt und ich frag mich manchmal: Was wollen die alle von mir?
Sie nehmen in kleinen Beuteln meine Hinterlassenschaften auf und legen sie in seltsame Behälter, die in regelmäßigen Abständen am Wegesrand stehen. Irgendwie erinnern sie mich an diese Kreuzwegstationen in meinem Dorf, zu denen Menschen manchmal pilgern, um mit Gebeten diesem Menschengott zu huldigen. Er hat scheinbar Arges erlitten, für die Menschen und so. Deshalb muss man ihm auch Opfergaben bringen als eine Art Wiedergutmachung. Mit Religion und Tradition kenn ich mich aus, denn es spielte eine große Rolle in meiner Heimat Griechenland. Mama brachte mich unter der Treppe vor der kleinen Dorfkirche zur Welt und erzählte mir davon. Kann es sein, dass auch in diesen Behältern Opfergaben hinterlegt werden? Aber wozu um Himmels willen braucht ein Gott Hundekot als Opfergabe? Wie erbärmlich.
Und dann diese täglichen, endlosen Vorträge, was ich in den Augen meiner Familie zu tun oder zu lassen habe: „Sami, könntest du bitte mal ... du weißt doch ... und du sollst doch nicht ... und wenn du fremde Menschen so anspringst ... die mögen das nicht ... denn die wissen ja nicht, dass du nur spielen willst ... das verstehst du doch, oder?“
Nix, aber auch gar nix verstehe ich. So was kapiert doch kein Hund. Kann man nicht einfach Klartext reden?
Hundesprache ist kurz und prägnant im Gegensatz zu dieser umständlichen Menschensprache. Ich bin doch nicht blöd. Diese sogenannten Kommandos: „Sitz, Platz, Bleib ...“, das haben wir doch in der Hundeschule geübt. Kenn ich, mach ich und reicht doch. Das sind klare Ansagen und damit kann ich umgehen, vor allem wenn ich auch noch Leckerli dafür bekomme. Aber Mama Eva meint, das klingt so „militaristisch“ und man muss doch auch einem Hund erklären, warum er etwas machen soll. Aber muss man mich deshalb verbal zumüllen mit diesem Psycho-Erziehungsgedöns? Zum Glück bin ich clever und ahne meist, was sie wollen. Ich hole auch gern Bällchen. „Apportieren“ nennt man das. Das macht Spaß und Frisbee spielen könnte meine Leidenschaft werden.
Eigentlich hab ich ein tolles Leben. Miri sagt immer: „Du gehörst jetzt zur Familie.“ Aber irgendetwas scheint meine neue Familie zu beunruhigen. Papa Chris sitzt ständig zu Hause, schließt sich in seinem Zimmer ein und hackt auf einem schwarzen Gerät herum, das „Computer“ heißt. Mama Eva telefoniert viel und Miri und Leon streiten sich ständig, was Papa Chris und Mama Eva nervt. Seltsam, warum sind die alle immer zu Hause? Männer sind nie zu Hause, Frauen schon. Das weiß ich aus meiner Kindheit, aus dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Und die Kinder sind in der Schule oder spielen auf der Straße oder am Strand – aber hier ist alles ganz anders.
Der Sommer zog ins Land, die Tage wurden länger, die Temperaturen stiegen und mein stressiges Alltagsleben hat sich normalisiert. Die Welt scheint wieder in Ordnung. Papa Chris hat sein Exil verlassen und ist meist weg, „auf Arbeit“, wie er sagt. Miri ist im Kindergarten und Leon in der Schule. Und auch Mama Eva ist sehr entspannt, vor allem vormittags, wenn wir alleine zu Hause sind.
„Zeit für Körperpflege, Sami“, sagt sie dann manchmal, „damit du unser hübscher Mausebär bleibst“, und greift zur Fellbürste. Mittlerweile ziept es auch nicht mehr. Mein Fell ist glatt und weich und wenn ich mich dann wohlig auf dem Teppich ausbreite, auf dem Rücken liegend alle viere von mir strecke, sie mir den Bauch krault und massiert, ist auch für mich die Welt in Ordnung. Aber dieses Mausebär nervt langsam. Ich bin Sami! Hat lang genug gedauert, bis ich mich an den Namen gewöhnt habe. Und er steht ja auch offiziell in meinem Pass, in meinem Impfpass mit Bild. Zugegeben ein Jugendbild, aber das hat nix