Sammelband: Die Blumenzauber-Reihe Band 1-3 - Isabella Muhr - E-Book

Sammelband: Die Blumenzauber-Reihe Band 1-3 E-Book

Isabella Muhr

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Die AutorinIsabella Muhr, geboren 1984 in Moosburg an der Isar, lebt und liebt seit 2001 in München und arbeitet dort als Erzieherin. Bereits zu Schulzeiten hat sie ihre Klassenkameraden mit kleinen Kurzgeschichten unterhalten und sich schließlich kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag den großen Traum vom ersten eigenen Roman erfüllt. Seither schreibt sie mit Begeisterung an neuen Projekten. Zusammen mit ihrem Mann, ihren beiden Söhnen und ihrer Katze wohnt sie am Münchener Stadtrand und backt und häkelt, als hätte sie eine Großfamilie.

Das Buch

Teil 1 bis 3 der spannenden Romance-Reihe in einem Band – plus extra Weihnachtskurzgeschichte. Über 720 Seiten Lesevergnügen.Die melancholische Nadine, die lebenslustige Linda und die introvertierte Ella könnten unterschiedlicher nicht sein. Was die drei Freundinnen verbindet, sind ihre neue Rolle als Mutter und ein Winter voller Veränderungen. Während Linda an ihrer Ehe zweifelt, versucht Nadine, ihre eigene zu retten. Ella wollte eigentlich nur mit ihren Freundinnen einen Abend lang abschalten und Spaß haben, da trifft sie ausgerechnet auf ihren Exfreund Chris … Drei Geschichten über Freundschaft, Liebe und die Erkenntnis, dass man sein Happy End nicht finden kann, bevor man nicht zu sich selbst gefunden hat.   Dieser Sammelband enthält zusätzlich die Weihnachtskurzgeschichte »Schneekugel ist nicht gleich Schneekugel« von Isabella Muhr.

Isabella Muhr

Sammelband: Die Blumenzauber-Reihe Band 1-3

3 Romane in einem Bundle + Weihnachtskurzgeschichte

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Neuausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Dezember 2017 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 ISBN 978-3-95818-245-5  Schneeglöckchenzauber: © Originalausgabe 2015 Isabella Muhr Neuausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin März 2016 (3) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Lektorat: Stefan Stern Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95818-092-5  Veilchenzauber: Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Juni 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95818-093-2  Eisblumenzauber: Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Oktober 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95818-090-1  Kurzgeschichte: Schneekugel ist nicht gleich Schneekugel © Isabella Muhr  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Schneeglöckchenzauber

Blumenzauber-Reihe Teil 1

Für Lukas und Leon.Ihr motiviert mich jeden Tag aufs Neue dazu, mein Bestes zu geben.

Protagonisten

Nadine FischbachMann: Torsten SeifertSohn: Fynn Fischbach

Linda BlodigMann: Dennis BlodigTochter: Luisa Blodig

Ella SteinbeckMann: Ralf SteinbeckTochter: Sophia Steinbeck

Dies ist ein fiktiver Roman. Orte, Events, Markennamen und Organisationen werden in einem fiktiven Zusammenhang verwendet. Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

April 2014

Nadine tigerte aufgewühlt in der Personaltoilette des »Peppino« auf und ab und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch ihre wilden Locken. Ihr Spiegelbild blickte ihr vom Badezimmerschrank verängstigt aus großen Augen entgegen.

»Du wirst Mutter«, wisperte sie ungläubig dieses Spiegelbild an und ihre Stimme klang dabei seltsam fremd in ihren Ohren. Sie griff nach dem weißen Stäbchen, das sie auf der Ablage vor sich geparkt hatte und warf erneut einen prüfenden Blick darauf. Der zweite blaue Strich, der sich dort selbst eingeladen hatte, glotzte hämisch grinsend zurück. Er dachte gar nicht daran, wieder zu verschwinden. Nadine ließ den Schwangerschaftstest durch ihre zittrigen Hände gleiten und starrte ihn an, wie ein unbekanntes Insekt. In ihrem Kopf breitete sich eine lähmende Leere aus und sie ließ sich erschöpft auf den Toilettendeckel sinken.

Ein Baby …, dachte sie fassungslos.

Und dann auch noch von Torsten.

Wo sie doch noch nicht einmal genau wusste, was das zwischen ihr und Torsten überhaupt sein sollte. Ihrer beider Leben hatten sich so zufällig gekreuzt und waren dabei irgendwie aneinander kleben geblieben, wie ein Kaugummi an einem Turnschuh. Und jetzt sollten sie gemeinsam die Verantwortung für ein Kind übernehmen? Schwer atmend pfefferte sie den Test in den Mülleimer neben der Toilette und rieb sich ratlos über die Stirn. Hier ging es um ein unschuldiges Menschenleben. Das war nicht einer ihrer unzähligen Kakteen, die ihre Fensterbretter zierten und die mit ein paar Tropfen Wasser alle zwei Wochen auskamen. Ein Kind brauchte viel Zeit und Liebe und geordnete Verhältnisse. Kann ich einem Kind das geben, was es braucht? Könnte ich eine gute Mutter sein? Nadine versuchte die Panik, die in ihr aufzusteigen drohte, herunterzuschlucken.

Angestrengt begann sie, sich mit den gegebenen Fakten auseinander zu setzen, in der Hoffnung, sie würden sie beruhigen. Sie war mit ihren 23, fast 24 Jahren alt genug, Torsten verdiente in seinem Job als Artdirector ordentlich und ein Dach über dem Kopf hatten sie auch.

Fuck, sie war mitten im Studium! Sie stampfte energisch mit dem Fuß auf den ausgeblichenen Laminatboden. Einem extrem hart erkämpften Studium! Die Zeit zwischen Arbeit, Abitur nachholen und anschließendem Studieren war so belastend und schwer gewesen. Sollte sie das jetzt alles einfach so aufgeben?

Ein tiefer Seufzer entfuhr Nadines Kehle und sie begann erneut, verzweifelt in dem beengten Raum hin und her zu wandern. Ihr Studium hatte von einer Sekunde auf die andere jegliche Bedeutung verloren. Jetzt galt es, sich auf Wichtigeres zu konzentrieren. Nämlich auf das kleine Wunder in ihrem Bauch. Alles andere würde eben warten müssen, dachte Nadine entschieden und blickte dabei auf ihren so harmlos wirkenden Unterleib.

Sie hatte keine Wahl. Bei Kindern konnte man nicht einfach die Reset-Taste drücken. Man hatte nur diese eine Chance und wenn man die versaute, dann waren es diese kleinen Geschöpfe, die ein Leben lang darunter zu leiden hatten. Nadine wusste das nur zu gut und sie war nicht bereit, diese Schuld auf sich zu laden. Sie würde dieses Kind bekommen und sie würde ihm all das geben, was es brauchte, um groß und glücklich zu werden.

Schützend hielt Nadine ihre Hand vor ihren Bauch und flüsterte leise aber entschlossen:

»Ich freue mich auf dich.«

Ein lautes Klopfen an der Tür ließ sie verschreckt zusammenzucken.

»Nadine, bist du in die Kloschüssel gefallen, oder was? Hier draußen ist ganz schön was los. Ich könnte ein wenig Unterstützung gebrauchen.« Es war Gino, ihr neuer Arbeitskollege. Er klang gestresst und erinnerte Nadine an ihre gegenwärtigen Pflichten als Servicekraft eines kleinen Imbissstandes.

Schnell fuhr sie sich mit ihrer Hand über das blasse Gesicht und versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen. Dann glitten ihre Finger zurück zu der Stelle unter ihrem Bauchnabel. Ihr Blick war zärtlich und entschieden zugleich, als sie ihrem ungeborenen Kind versprach:

»Ich werde es nicht versauen.«

17 Monate später

Kapitel 1

September 2015

Als Linda damit anfing, Ella und Nadine von der Absicht zu berichten, ihren Mann mit einem anderen zu betrügen, da war Nadine vor allem eines: geschockt. Sie hatte Linda und Ella gerade erst vor fünf Monaten beim Babyschwimmen kennengelernt und war daher auf ein derart intimes Gespräch nicht im Mindesten vorbereitet gewesen. Ella und Linda kannten sich schon eine halbe Ewigkeit und waren ihr, was Vertrautheit und abgelegte Hemmungen untereinander anging, meilenweit voraus. Nadine wusste es zu schätzen, dass die beiden sie so vorbehaltlos in ihren engen Kreis aufgenommen hatten. Dennoch überforderte sie das Tempo, das die beiden an Offenheit und Ehrlichkeit an den Tag legten, hin und wieder. Und so rutschte sie an diesem Vormittag unbehaglich auf ihrem Hintern hin und her, als Linda ihr eröffnete, dass sie drauf und dran war, Salami verstecken mit einem Mann zu spielen, der nicht ihr eigener war.

Linda erklärte gerade, wie sie Mark – so hieß der unmoralische Verführer – kennengelernt hatte. Nadine schwieg, aber sie war sich sicher, dass ihr Gesichtsausdruck Bände sprach. Nervös kaute sie auf einer ihrer dunklen Haarlocken herum (was sie immer tat, wenn sie sich unsicher oder unwohl fühlte) und hoffte inständig, einen nicht allzu wertenden Eindruck auf die anderen beiden zu machen. Lindas verzagtem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, quälte sie sich ohnehin bereits selbst mit ihren eigenen moralischen Einwänden genug. Sie fuchtelte etwas hilflos mit ihren perfekt manikürten Fingernägeln in der Luft herum, als sie erklärte:

»Wir sind uns ein paar Mal zufällig auf dem Spielplatz vor unserem Haus begegnet. Er hat einen Sohn, allerdings ist dieser etwas älter als meine kleine Luisa. Mark lebt getrennt von seiner Frau. Und gestern hat er mich einfach gefragt, ob ich nicht mal mit zu ihm nach Hause kommen will, wenn seine Ex den Kleinen hat. Schließlich sind wir ja fast Nachbarn und es wäre schön, sich mal ungestört unterhalten zu können …«

Sie zeichnete Anführungszeichen mit ihren Fingern in die Luft und warf Ella und Nadine abwechselnd einen etwas verzweifelt wirkenden Blick zu.

»Bisher haben wir nur äußerst sittliche und rein asexuelle Themen besprochen«, beteuerte Linda nachdrücklich, als die beiden anderen Frauen jegliche Art von aufmunternder Mimik vermissen ließen und zählte bereitwillig auf: »Babykotze, wie lecker der Babybrei zum Anrühren schmeckt, Baby, Baby, Baby, dreckige Wäscheberge, Baby, Schlafmangel… weshalb mich dieses unverblümte Angebot gestern umso mehr überraschte!«

Wieder dieser Hundeblick hin zu den Zuhörern. Nadine bekam Mitleid und versuchte sich kooperativ an einem Lächeln, was jedoch kläglich misslang. Hilfesuchend sah sie zu Ella hinüber. Diese starrte, wie schon zu Beginn von Lindas Eröffnung, auf die Kinder, die sich vor ihnen im Sandkasten amüsierten und verzog keine Miene.

Ella – mit ihrem schwarzen Bob, ihrer Brille und ihren esoterisch anmutenden Steinchenohrhängern – sah, ganz im Gegensatz zu Nadine, mit ihren 29 Jahren schon sehr erwachsen aus. Sie erinnerte Nadine stets ein wenig an eine gesetzte Bibliothekarin. Mit ihrem Style wollte sie optisch so gar nicht zu der bunten Neuzeitblondine in ihrer beider Mitte passen. Linda war definitiv die auffälligste Erscheinung der Drei. Sie war immer laut und bunt. Was sie eigentlich nicht nötig hatte, denn sie besaß durchaus eine natürliche Schönheit, mit der sie auch so genug Aufmerksamkeit von ihrem Umfeld bekommen hätte. Was Nadine selbst betraf, so war sie rein optisch der klassische Langzeitstudenten-Typ. Mit ihren wilden Locken und ihrer Vorliebe für bequeme Jeans und weite Hemden wirkte sie trotz ihrer 25 Jahre immer noch jugendlich und klein-mädchenhaft. Was zum Teil auch an ihrer schlaksigen Figur liegen mochte.

»So der Reihe nach auf dieser Holzbank aufgereiht geben wir bestimmt ein fesselndes Bild ab«, dachte Nadine. Die Bibliothekarin, die Neuzeitblondine und die Langzeitstudentin. Sie musste unwillkürlich schmunzeln, auch wenn ihr, angesichts des aktuellen Themas, nicht danach sein sollte. Gerade so, als wolle Linda Nadines letzten Gedankengang bestärken, fuhr diese weiter fort:

»Es hatte so unverfänglich angefangen – wirkte so unschuldig und unverbindlich. Klar haben wir immer wieder ein wenig miteinander geflirtet, doch das war nur Herumgeblödle. Nichts Ernstes. Ich muss allerdings gestehen, dass ich süchtig nach diesen Treffen mit ihm geworden bin! Diese Aufmerksamkeit, dieses aufrichtige Interesse an mir und meiner Person. Ihr ahnt ja gar nicht, wie sehr mir das alles gefehlt hat! Ich wusste bis vor Kurzem ja selbst nicht einmal, wie sehr!«

Es entstand wieder eine nachdenkliche Pause, in der alle drei Frauen wie die Hühner auf der Stange auf dieser Holzbank neben dem Spielplatz ihrer Kinder saßen und nachdenklich schwiegen.

Diese besagte Holzbank, mitten im Zentrum Münchens, im Stadtteil Schwabing, war seit einigen Wochen zu einer Art Stammplatz für die Freundinnen mutiert. Dieser kleine Spielplatz war der ideale Treffpunkt für junge Mütter. Es gab ein Bistro in der Nähe mit einer funktionierenden Toilette, einem unerschöpflichen Vorrat an Kaffee und jeder Menge Alternativen für die so oft zu Hause vergessene Breze. Die U-Bahn war nur wenige Gehminuten entfernt. Falls vollgekotzte Kleidung, ausufernde Trotzanfälle oder sonstige Babynotfälle eintreten sollten, war der Zeitaufwand zur Schadensbegrenzung also minimal. Ein weiterer Pluspunkt war die spärliche Ausstattung des Spielplatzes. Außer zwei mickrigen Wipptieren und einer kleinen Rutsche neben einem Sandkasten war nichts geboten, weshalb die Anzahl der dort spielenden Kinder auch an sonnigen Tagen überschaubar blieb. Und das Beste: Größere Arschlochkinder, die den drei kleinen Krabbelkindern hätten gefährlich werden können, waren überhaupt nicht anzutreffen.

Die Frauen hatten ihn eines Tages, als sie gemeinsam mit den Kinderwägen durch die Straßen geschlendert waren, entdeckt und sein Potenzial sofort erkannt.

Nadine konnte aus den Augenwinkeln beobachten, wie Linda unglücklich ihre Fußspitzen fixierte, während Ella mit ausdrucksloser Miene nach wie vor zu den mittlerweile 10 Monate alten, friedlich spielenden Kleinkindern hinüberstarrte. Ihr Gesicht spiegelte die sprichwörtliche Neutralität der Schweiz . Keine Spur von Abneigung oder Zuspruch. Sie sah aus wie ein Cowboy, so breitbeinig wie sie da saß, mit den Ellenbogen auf die Knie gestützt und irgendetwas mit kreisendem Unterkiefer vor sich hin kauend. Ein Vogel landete vor ihren Füßen, hopste zwei Schritte auf sie zu und musterte sie mit schief gelegtem Kopf. Nadine konnte beobachten, wie Ella unmotiviert ein Stück Breze aus ihrer Tasche zog, ein paar kleine Fetzen davon herunterriss und vor dem Vogel auf den Boden hinwarf. Nadine kannte die beiden zwar erst wenige Monate, doch kam ihr Ellas Verhalten an diesem Tag trotzdem recht seltsam vor. Sie war nicht der grüblerische Typ. Das war in der Regel Nadines Part bei einer Konversation. Aber dieses Thema schien Ella ebenso zu berühren und in ihrem Verhalten zu verändern, wie Nadine. Nur eben auf andere Art und Weise.

Ohne es wirklich zu wollen, musste Nadine plötzlich an ihre Mutter denken. Wie ein Schmetterling war sie damals von Beziehung zu Beziehung geflattert, nachdem die Scheidung von Nadines Vater vollzogen, und beide von da an auf sich alleine gestellt waren. Ja, sie war der Schmetterling und Nadine während ihrer gesamten Kindheit die eine Wiesenblume unter vielen, die ihrer Mutter zwar beim Flattern zusehen konnte, ansonsten allerdings darauf hoffen musste, dass sie eines Tages den Weg zu ihr zurück finden würde, um ihr die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie zum Wachsen und Gedeihen benötigte. Während ihre Mutter leichtfüßig von Mann zu Mann schwebte und ihr Leben lebte, war Nadine immer nur dann ein Teil von diesem, wenn ihre Mutter dazu Zeit und Lust hatte. Sie hatte sich gleichzeitig mit dem Konzept der Ehe auch von ihren Mutterinstinkten gelöst und war von diesem Moment an auf emotionaler Ebene nur noch schwer bis gar nicht für ihre Tochter zu erreichen. »Ob Ella eine ähnliche Kindheit vorzuweisen hat und sich deshalb so benimmt?« Mit diesem Bild im Hinterkopf wandte sich Nadine wieder Linda zu. Diese starrte immer noch auf ihre Füße und kaute dabei so heftig auf ihrer Unterlippe herum, dass diese bereits ganz geschwollen wirkte. Als sie merkte, dass sie wieder Nadines ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, begann sie:

»Diese Linda-die-Mutter-Geschichte hat mittlerweile so einen dominanten Platz in meinem Alltag eingenommen, dass sich Linda-die-Frau aus Mangel an Relevanz irgendwann einmal klammheimlich in den Garten verzogen hat und seither in einem selbst gebuddelten Erdloch auf einen langsamen und qualvollen Tod wartet. Mark hat diesen Teil von mir einfach gepackt und aus seinem Erdloch hinaus, direkt auf den Laufsteg des Münchner Nachtlebens katapultiert. Und Leute: Das Gefühl ist so berauschend, dass ich es unmöglich unterdrücken kann. Linda-die-Frau hat ein zu langes Dasein voller Entbehrungen gefristet, als dass ich mich jetzt wieder bereit erklären könnte, sie brav in ihr Erdloch zurückziehen zu lassen. Nur, um auf das Stichwort eines Mannes zu warten, der sie vielleicht sogar schon längst vergessen hat!«

»Du meinst Dennis?«, fragte Nadine überflüssigerweise an ihrer bereits vollgespeichelten Haarlocke vorbei. Dennis war Lindas Ehemann. Nadine hatte ihn noch nicht oft gesehen, aber Linda erzählte häufig, dass er sie seit Luisas Geburt kaum noch berührte. Es war kein Geheimnis, dass die drei Frauen sich seit der Geburt ihrer Kinder schwer damit taten, ihre Beziehungen auf befriedigende Art und Weise vom Paar- in den Familienmodus umzustellen. Ihr Leben hatte sich seit der Ankunft ihrer kleinen Schätze ohnehin komplett verändert. Und mit komplett war KOMPLETT gemeint! Ihr Schlafrhythmus war völlig außer Kontrolle geraten, ihre Körper hatten sich einer ganzheitlichen Transformation unterzogen und ihr gewohnter Alltag war nicht einmal mehr im Ansatz wiederzuerkennen. Dass dies besondere Auswirkungen auf ihr Verhältnis zu ihren Männern hatte, war zwar vorherzusehen, traf sie jedoch alle heftiger als erwartet.

Das neue Leben der drei Frauen war anstrengend, fremd und in vielerlei Hinsicht zu viel, aber auch gleichzeitig wunderschön und auf simple Art und Weise fühlte es sich für Nadine durch und durch richtig an. Kurz gesagt: Es war das reinste Chaos!

Dass da Annäherungsversuche von irgendeinem dahergelaufenen Mark auf fruchtbaren Boden fielen, war für Nadine durchaus verständlich. Dennoch widerstrebte es ihr, diesen Umstand gutzuheißen.

»Also Münchner Nachtleben ist etwas übertrieben, findest du nicht?«, warf sie deshalb ein. »Eure Treffen finden auf einem Kinderspielplatz statt und sollen jetzt in seiner Wohnung ihr großes Finale finden. Das ist irgendwie … schäbig und nicht glamourös.« Nadine war selbst überrascht von sich und dieser gänzlich untypischen Art direkt und hart zu argumentieren, aber der Gedanke an Lindas kleine Tochter Luisa und welche möglichen Konsequenzen hinter Lindas Taten auf sie lauerten, wühlte sie derart auf, dass sie ein Ventil brauchte.

Der Hoffnungsschimmer, der Lindas Gesicht noch bis vor wenigen Augenblicken sanft benetzt hatte, zerbröselte vor Nadines Augen in winzige Einzelteile. Die schonungslosen Worte pusteten diese Hoffnung auf Verständnis über die Straße, um die Ecke und ließen sie von dort auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Linda blickte ihnen kurz hinterher und seufzte anschließend unbehaglich. Nadine hingegen wappnete sich innerlich für die Fortsetzung ihres Urteils (niemand verletzt gerne eine liebgewonnene Freundin) und legte los:

»Ich bleibe dabei: Du bist egoistisch. Und es wird nicht weniger egoistisch, nur weil du es gut verkaufen kannst. Wenn das jemand mit dir machen würde …« Sie ließ den Satz unvollendet über den Köpfen der drei Frauen hängen. Diese Art zu reden war für sie extrem anstrengend. Ihr ganzer Körper war zum Zerreißen angespannt. Sie war nicht der Typ, der viel redete. Schon gar nicht über sich oder irgendwelche Ansichten und Meinungen, die sie hatte. Wenn sie sich unter Menschen befand, beschränkte sie sich meistens darauf, zu beobachten und sich im Hintergrund zu halten. Deshalb konnte sie Linda bei ihrer Moralpredigt nicht einmal in die Augen sehen, aber es ging hier um die unschuldige Seele eines kleinen Mädchens. Eines Mädchens, so wie sie auch einmal eines gewesen war …

»Willst du mir vielleicht sagen, dass dir Nadine-die-Frau nicht fehlt?«, unterbrach Linda sie hastig. Ihre Stimme bebte verunsichert. Sie wirkte aufgeregt, was Nadine etwas den Wind aus den Segeln nahm.

»Ach, das ist doch nur eine Phase!« Nadine versuchte beschwichtigend zu klingen. »Die kommt schon wieder.«

»Und wenn nicht? Was ist, wenn die nächsten Jahre daraus bestehen, auf etwas zu warten, das einfach nicht mehr zurückkommt? Wenn du während du wartest, Stück für Stück einen Teil von dir selbst, von deiner Persönlichkeit einbüßt? Das, was ich erlebe, ist real und es ist kein fiktives Ziel in unerreichbarer Ferne. Es ist nicht der Zug, der niemals kommt.«

Da war es wieder. Das Wir-haben-zu-wenig-Sex-seit-das-Baby-da-ist-Thema. Es war bei den Zusammenkünften der drei so omnipräsent, dass es sich beinahe in jedes Gespräch einmischte und über kurz oder lang dominierte. Nadine entfuhr ein resignierter Seufzer, denn es war genau das Thema, bei dem sie nicht wirklich mitreden konnte. Sie hasste dieses Thema! Sie musste sich nämlich nicht nur im Dialog mit ihren Freundinnen auseinandersetzen, sondern auch zu Hause. Torsten sprach es ebenfalls immer wieder an. Ihr war Sex nicht halb so wichtig, wie den anderen beiden Mädels. Wahrscheinlich nicht mal ein Drittel so wichtig. Torsten und sie hatten bereits vor Fynns Geburt kaum noch miteinander geschlafen und das hatte sich auch nach der Geburt nicht geändert. Nadine schämte sich nicht, es zuzugeben. Es fehlte ihr überhaupt nicht. Fynn füllte ihre Seele bis zum Rand mit einer ungeahnten Zufriedenheit aus, dass sie problemlos ohne Sex auskam.

Fynn … Allein wenn sie an diesen zuckersüßen kleinen Engel, der ihr einfach alles bedeutete, dachte, schwoll ihr Herz auf die doppelte Größe an. Mit ihrem Blick suchte sie den Sandkasten nach ihm ab und der Wunsch, ihn vor allem Übel dieser Welt zu beschützen, war in diesem Moment schier übermächtig.

Wie aufs Stichwort fing Fynn Nadines Blick auf und kam mit freudigem Lächeln zu den Müttern herüber gekrabbelt. Nadine strahlte zurück, beugte sich mit weit aufgerissenen Armen zu ihm nach unten und schloss ihn fest in ihre Arme. Für eine Weile vergaß sie alles um sich herum, verlor sich ganz und gar in der Welle der Mutterliebe, die gerade mit voller Wucht über sie hereinbrach, und vergrub ihre Nase in seinem dünnen Wollmützchen. Sie schloss verträumt ihre Augen, um sich ganz auf ihn konzentrieren zu können, während sie ihn fest an ihre Brust gedrückt auf ihrem Schoß auf und ab wiegte.

Gut, auf Lindas letztes Argument hatte sie keine Erwiderung parat, aber da war noch diese eine entscheidende Frage, die ihr auf der Seele brannte, und sie wusste (auch wenn ihr allein der Gedanke daran kalten Angstschweiß auf die Handflächen trieb), dass sie heute Nacht nicht würde schlafen können, wenn sie Linda diese Frage jetzt nicht stellte.

»Was ist mit Luisa?« Diese Frage kam für Linda so unvermittelt, dass sie zusammenzuckte. Sie sah Nadine mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Verunsicherung an. »Wie meinst du das?«, wollte sie wissen und Nadine konnte die Unsicherheit in ihrer Stimme vibrieren hören.

»Na die Kleine bleibt bei uns, damit sie diesen Mark ungestört in seiner Wohnung bumsen kann. Ich schätze mal, der einzige Grund, warum sie uns das hier alles erzählt, ist der, dass wir babysitten sollen.«

Ellas Stimme klang so rau, dass sie wie Schmirgelpapier an Nadines Ohr kratzte.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Nadine zusammen mit Linda in Ellas Richtung. Dieser Einwand kam so unerwartet, dass Nadine glatt der Mund offen stehen blieb. Ella begegnete ihrem Blick mit unbeteiligter Miene. Ihr Gesicht sah beängstigend erschöpft aus. Und es war nicht das typische Mutti-Erschöpft, das alle drei Frauen täglich mit sich herumtrugen. Es war ein gequältes Erschöpft und hatte etwas Leidendes an sich. Ihre Schultern zuckten so müde nach oben, wie ihre Augen aussahen, als sie nachsetzte: »Ist doch so, oder täusch ich mich? Komm schon Nadine, sieh mich nicht so geschockt an, das ist das Leben! Oscar Wilde hat einmal geschrieben:

»Wenn man verliebt ist fängt man immer damit an, sich selbst zu betrügen und hört immer damit auf andere zu betrügen. Das nennt die Welt eine Liebesgeschichte.«

Und damit hat er verdammt recht, wie ich finde. Wer weiß, ob Dennis unsere Linda nicht auch schon längst betrogen hat.« Dann wandte sie ihren Blick wieder den beiden im Sand spielenden Mädchen zu. Sie zuckte erneut mit den Schultern. Nur diesmal hatte es etwas Resigniertes, Tieftrauriges. Ihre Stimme war unheimlich leise, als sie ihren nächsten Satz den beiden Freundinnen entgegenwisperte.

»Hat Ralf auch schon gemacht.«

Kapitel 2

Nadine lag vier Stunden später mit Fynn in ihrem Doppelbett und spielte »Fingerchen schnappen«. Mit weit aufgerissenem Mund und kehligen Urwaldgeräuschen folgte sie der Hand ihres Sohnes, um sie kurz darauf mit ihren Zähnen anzuknabbern. Der Kleine quietschte vor Vergnügen und wirkte entspannt und zufrieden. Immer wieder patschte er ihr mit seinen Händen ins Gesicht und forderte mit leuchtenden Augen eine Endlosschleife dieses Unterhaltungsprogramms. »Psssst!«, tadelte Nadine ihren Sohn halbherzig im Flüsterton. Papa schläft schon. Mit einem kurzen Kopfnicken deutete sie auf Torsten, der zusammengerollt auf seiner Seite des Bettes friedlich vor sich hin schnarchte.

Torsten arbeitete bei einer Werbeagentur als Artdirector und hatte nicht selten Projekte, die so viel Zeit in Anspruch nahmen, dass er ganze Nächte durcharbeiten musste, um termingerecht abliefern zu können. Wenn der Auftrag dann endlich abgeschlossen war, schlief er meistens einen ganzen Tag lang durch.

Nadine schnappte noch dreimal herzhaft zu, dann gähnte sie ausladend. Das Gespräch von heute Nachmittag hatte sie mehr Kraft gekostet als erwartet. Solche derart intensiven Gespräche waren ihr zuwider. Besonders die damit verbundenen aufwühlenden Gedanken an ihre Mutter. Auch wenn sie manchmal leicht wütend wurde, wenn sie an sie dachte, so hatte sie es nie ganz geschafft, sie zu hassen. Dafür fehlte ihr die entscheidende Portion Emotionalität und der Wille, sich mit ihrer Vergangenheit näher auseinanderzusetzen. Nadine hielt nicht viel vom Jammern. »Immer weiter« war ihre Devise. Sie wollte sich von nichts aufhalten oder vereinnahmen lassen. Schon gar nicht von der Frau, die ihre Kindheit auf dem Gewissen hatte. Wie oft schon hatte sie sich gewünscht, dass es anders wäre. So ein richtiger Ausraster. »Das ist bestimmt etwas Erlösendes«, dachte sie. Doch das Einzige, was im Moment in ihr hochkam, war Müdigkeit.

»Was ist das nur mit den Leuten und dieser Betrügerei?«, fragte sie sich, während sie Fynns Finger, die immer noch in ihrem Gesicht herumtasteten, mit ihrer Hand umschloss und gedankenverloren küsste. Fynn kommentierte diese unerwünschte Spielpause, indem er wild mit seinen Beinen strampelte und seine Mutter finster anstierte. Doch diese war zu sehr in Gedanken versunken. So sehr sie Lindas Ansage aufgewühlt hatte, so sehr war sie von Ellas Geständnis überrascht worden. Da hatte Ralf sie tatsächlich betrogen! Und das zu allem Überfluss auch noch, während sie schwanger war. Der gutmütige, herzliche Ralf, der mit Ella schon seit einer halben Ewigkeit zusammen war und der nach all den Jahren bei jedem Zusammentreffen durch seinen unverändert liebevollen Umgang mit seiner Frau auffiel. Nadine konnte es immer noch nicht so richtig fassen. Was in aller Welt hatte er sich dabei gedacht? Ella hatte so unendlich traurig ausgesehen, als sie ihre Leidensgeschichte in groben Stichpunkten vor den anderen beiden ausbreitete, dass weder Linda noch Nadine es gewagt hatten, genauer nachzuhaken.

Warum taten sich die Leute derartige Dinge an? Wenn man den Statistiken glauben darf, sind 45 % der »Gebundenen« in Deutschland untreu. Was war aus Wertvorstellungen wie Pflichtbewusstsein und Verantwortungsgefühl geworden? Sie schnaubte geräuschvoll, löste ihren Griff um Fynns Hand und streichelte ihm stattdessen sanft über Stirn und Nase.

Torstens Schwester Corinna hatte erst vor Kurzem ihrem Ehemann eröffnet, dass sie sich scheiden lassen will. Auch sie hatte einen anderen Mann kennen und lieben gelernt. Philip und sie haben zwei gemeinsame Kinder. Damals fühlte sich Nadine schon sehr vor den Kopf gestoßen, obwohl sie bei den letzten Treffen deutlich gespürt hatte, wie angespannt die Beziehung der beiden zueinander war. Allerdings hatte sie dies zu dieser Zeit als »schwierige Phase« abgetan. Jetzt erlebte sie die erste Scheidung innerhalb ihrer Familie bewusst und hautnah mit und fühlte sich sehr unwohl dabei. Sie machte sich in erster Linie Gedanken um ihre beiden Neffen und spürte, dass diese Situation noch mehr alte Wunden aufriss, als sie sich bereit war einzugestehen. Bereits nach der Geburt von Fynn schlichen sich immer wieder in Vergessenheit geratene Szenarien aus ihrer eigenen Kindheit vor ihr geistiges Auge. An die Scheidung ihrer Eltern konnte sie sich zwar nicht erinnern (Sie war zwei Jahre alt gewesen, als ihr Vater sie und ihre Mutter verlassen hatte.), dennoch machte sie genau diesen Umstand für den restlichen Verlauf ihrer Kindheit verantwortlich, weshalb sie auf dieses Thema sehr sensibel reagierte. Wer weiß, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie noch eine zweite Ansprechperson in ihrem Leben gehabt hätte … Immer, wenn sie in Fynns Augen blickte, erkannte sie die Unschuld und Schutzbedürftigkeit, die sich darin spiegelte, und sie schwor sich, ihm all das zu geben, was ihr als Kind auf so grausame Weise verwehrt geblieben war. Und ein präsenter Vater stand auf dieser imaginären Liste ganz weit oben.

Ein wirklich unglücklicher Umstand, dass ausgerechnet jetzt die Frauen, mit denen sie am meisten Zeit verbrachte, in Beziehungskrisen steckten, die mit höchster Wahrscheinlichkeit in einer Scheidung enden würden. Damit hatte sie nicht nur eine Trennung im Familien-, sondern auch noch zwei im Freundeskreis zu verbuchen.

Etwas gestresst von diesem Gedanken, stieß sie erneut geräuschvoll die Luft aus und blickte zu ihrem Sohn, der mit einem Mal so ruhig geworden war. Fynn war unter den zärtlichen Berührungen seiner Mutter eingeschlafen und lag nun mit geschlossenen Augen und halb offenem Mund friedlich auf dem Bett. Mit verklärtem Blick sah Nadine ihrem Sohn beim Schlafen zu. Sie spürte seine Wärme an ihrem Körper, sein Atem kitzelte ihren Unterarm. Dieses Kind löste bisher nie dagewesene Gefühle in ihr aus, deren Intensität sie stets aufs Neue überraschten und nicht selten völlig überrumpelten. Einem spontanen Impuls nachgebend, drückte sie ihre Lippen auf seine Stirn. Der Kleine zuckte leicht unter dieser Berührung zusammen, sodass Nadine schnell ihren Arm um den zierlichen Körper neben sich legte, um ihn zu beruhigen. Fynn kuschelte seine Wange an die Hand seiner Mutter und seufzte zufrieden. Ihr Blick wanderte von dem kleinen Lockenkopf neben sich zu dem großen Lockenkopf, der dicht gedrängt an der Hauswand, auf der anderen Seite des Bettes, ebenfalls friedlich schlief. Obwohl Fynns Haare noch deutlich heller waren als die seines Vaters, so war eine Ähnlichkeit zwischen den beiden doch unverkennbar. »Wie der Vater so der Sohn«, dachte Nadine voller Zuneigung und lächelte Torstens Hinterkopf an. Torsten war beinahe gänzlich unter seiner Decke begraben. »Zwischen ihm und mir hätten, was die Distanz angeht, noch einmal drei weitere Kinder Platz«, dachte Nadine und fragte sich unwillkürlich, wie der Anblick ihres Bettes wohl aus der Vogelperspektive wirken musste. Ja, auch zwischen ihr und Torsten lief es nicht perfekt. Nicht nur körperlich, auch emotional war da dieser Abstand zueinander. Nadine war nie ein geselliger Mensch gewesen. Sie neigte seit frühester Kindheit dazu, sich in eigens kreierte Welten zurückzuziehen, um fernab jeglicher Realität mit sich selbst Frieden zu schließen.

Als Kind hatte ihr ihre Mutter oft verboten das Zimmer zu verlassen. Besonders, wenn sie Männerbesuch hatte. Sie fand Kinder waren der reinste Lustkiller, und auch wenn Nadine zum damaligen Zeitpunkt nicht verstand, was das Wort überhaupt bedeutete, so verstand sie doch die Abwertung, die mit dieser Bemerkung bezüglich ihrer Person einherging. Am Anfang war das Gefühl der Einsamkeit nur schwer zu ertragen gewesen. Die fehlende Zuwendung und die ihr verwehrte Geborgenheit hatten sich wie Phantomschmerzen in ihr kleines Kinderherz gebohrt und ihr Stück um Stück das Vertrauen in die Menschheit an sich geraubt.

Sie war im Allgemeinen ein sehr schüchternes, kooperatives Kind gewesen. Still und genügsam. Und so hatte sie sich schnell an die drückende Stille des Zimmers und an das Schweigen der Wände gewöhnt. Sie hatte begonnen, sich mit Hilfe ihrer Gedanken in Tagträume zu flüchten, die ihre Situation erträglich machten. Sie arrangierte sich mit der Einsamkeit, der sie fast täglich ausgesetzt war, und ignorierte die soziale und emotionale Verwahrlosung, die ihr Wesen langsam aber sicher komplett zu vereinnahmen drohte. Sie war immer schweigsamer geworden und körperliche Nähe hatte angefangen unangenehm zu werden. Es fühlte sich für sie nunmehr stumpf und hohl an.

Dieser Umstand änderte sich auch nicht, als sie Torsten kennenlernte. Sie hatte es nie geschafft, die Lasten ihrer Kindheit abzulegen und Torsten wirklich nahe an sich heranzulassen

Mit Fynns Geburt war letztlich nicht nur die Möglichkeit verloren gegangen, sich ihrem Mann zu öffnen, sondern auch noch der Wille dazu. Denn Fynn riss alle errichteten Schutzmauern in ihr ein und förderte einen Berg an unterdrückten Gefühlen und einen ungeahnten Hunger nach Liebe zu Tage, dass sie Torsten innerhalb dieses vereinnahmenden Strudels an ungewohnten Gefühlen gar nicht mehr wahrnahm. Für sie gab es nur noch Fynn und ihre neu gewonnenen Muttergefühle, die nun jede Zelle ihres Körpers durchfluteten. Zwischen Torsten und ihr war es seither nie mehr so wie früher gewesen. Sie entsprachen also nicht dem klassischen Bild eines verliebten Pärchens, aber würde Nadine ihn deshalb gleich betrügen? Was würde denn dann aus ihrer kleinen Familie werden? Was hätte das für Auswirkungen auf den kleinen Fynn? Getrieben von diesem letzten Gedanken drückte sie ihren Sohn fest an sich und schwor sowohl ihm als auch sich selbst:

»Papa und ich, wir können uns zwar nicht scheiden lassen, weil wir nicht verheiratet sind, aber ich verspreche dir, sollten wir uns jemals trennen, werde ich alles dafür tun, dass sich so wenig für dich ändert, wie möglich.«

Kapitel 3

Drei Tage später war es dann soweit. Lindas großes Date stand vor der Tür und Nadines und Ellas Einsatz war gefragt. Pflichtschuldig die Rolle der loyalen Freundin erfüllend, saß Nadine genau um viertel vor drei nachmittags auf der Holzbank neben dem Spielplatz und wartete. Ella war ebenfalls kurze Zeit später erschienen. Sie schien sich nach ihrem demütigenden Outing als betrogene Ehefrau wieder gefasst zu haben und versorgte die Kinder gerade im Sandkasten mit Maiswaffeln, als Linda fünf Minuten später eintraf.

Ella und Linda begrüßten und umarmten einander, als wäre dies hier ein ganz gewöhnliches Treffen zu einem nachmittäglichen Plausch und kein geplantes Himmelfahrtskommando für eine relativ junge Ehe.

Nadine konnte nicht verstehen was sie sagten, dafür saß sie zu weit entfernt. Sie hatte allerdings auch nicht das Bedürfnis, sich an einer Unterhaltung unter derartigen Bedingungen zu beteiligen. Sie hatte keine Lust so zu tun, als wäre ihr die Gesamtsituation nicht total zuwider. So blieb sie, angefressen wie sie war, auf ihrem Hintern hocken und grollte gegen Linda, aufgrund des Umstandes in etwas derartig Unmoralisches mit hineingezogen worden zu sein. Trotzdem konnte sie nicht widerstehen, die beiden genau zu beobachten.

Linda sah hübsch aus mit ihrem braunen Rock, der weißen Bluse und den hohen Schuhen. »Wann habe ich das letzte Mal hohe Schuhe getragen?«, fragte sich Nadine und neigte den Kopf in einer nachdenklichen Geste zur Seite. Trotz der Entfernung, die zwischen Nadine und Linda bestand, konnte Nadine deutlich erkennen, wie angespannt Linda war. Dass sie nicht völlig kaltblütig an die Sache heranging, erleichterte Nadine ein wenig. Lindas Atmung war flach und ihr Gesicht hatte einen ungesunden Farbton. Sie zupfte permanent an ihrer Bluse herum, während sie mit Ella sprach, was Nadine alleine beim Zusehen nervös machte. Ella entschärfte die angespannte Situation mit ihrer zuvorkommenden Art Linda gegenüber merklich. Sie wirkte offen und zugewandt, tätschelte Linda sanft den Arm und brachte sie sogar einmal kurz zum Lachen. Nadine fand es bewundernswert, wie neutral Ella sich ihrer Freundin gegenüber verhielt. Besonders, wenn man ihre eigene familiäre Situation berücksichtigte, war es eine Glanzleistung, die Ella hier vollführte. Allerdings waren die beiden schon seit ihrer Schulzeit Freundinnen, soviel Nadine wusste. Ihre Beziehung zueinander war spürbar tiefer und gefestigter, als die zu Nadine. Diese registrierte unterdessen, wie sich Ella zu der im Kinderwagen sitzenden Luisa hinabbeugte und sie mit einem warmen Lächeln begrüßte. Mit routinierten Bewegungen fischte sie die Kleine aus dem Wagen und setzte sie sich auf die Hüfte, bevor sie Linda zum Abschied noch einmal fest an sich drückte.

Als Linda kurz darauf Nadines Blick suchte, um sich auch von ihr zu verabschieden, wandte sich diese hastig ab und schenkte ihre ganze Aufmerksamkeit der Handtasche, die auf ihrem Schoß kauerte. Nadine gab angestrengt vor, etwas zu suchen, um Zeit zu gewinnen. Ihr entging Lindas genervter Seufzer nicht, den sie ausstieß bevor sie ihr Vorhaben, sich erfolgreich zu verabschieden, aufgab und auf dem Absatz kehrt machte, um schnellen Schrittes davon zu stolzieren.

Nadine, die immer noch unmotiviert in ihrer Handtasche herumfingerte, beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Ella mit Luisa auf dem Arm an ihr vorbei zum Sandkasten ging. »Seht mal ihr Mäuse, wer noch gekommen ist«, verkündete sie betont locker, setzte Luisa neben Sophia und Fynn und drückte ihr eine freie Sandschaufel in die Hand. Sie kniete sich neben ihre Tochter, streichelte einmal kurz über deren rosa Schirmmütze, dann erhob sie sich wieder und setzte sich zu Nadine auf die Bank. Dort klopfte sie sich den Sand von der Hose und atmete geräuschvoll aus.

Nadine betrachtete ihre Freundin eingehend. Sie war fasziniert und erschrocken zugleich, wie effektiv Ella den Schmerz, der das letzte Mal so deutlich in ihren Augen zu lesen war, von ihrem äußeren Erscheinungsbild gekratzt und hinter einer Mauer aus Selbstbeherrschung und disziplinierter Heiterkeit verscharrt hatte.

Sie erkannte, dass sie und Ella sich in der Art, wie sie ihre Gefühlswelt vor der Außenwelt zu schützen pflegten, ähnlich waren und mochte Ella in diesem Moment noch ein Stück mehr als zuvor. Auch wenn Ella immer ehrlich ihre Meinung zu den unterschiedlichsten Sachverhalten äußerte, wenn man sie fragte, und sie ihren Standpunkt durchaus souverän zu vertreten verstand, so war sie dennoch sehr sparsam damit, wenn es darum ging, etwas von sich und ihren persönlichen Anliegen preiszugeben. Nadine hatte sowohl mit dem einen als auch mit dem anderen so ihre Probleme. Am liebsten beobachtete sie und redete so wenig wie möglich. Sie mochte die Aufmerksamkeit nicht, die einem zuteil wurde, sobald man sich aktiv an einer Diskussion beteiligte.

Als sie ein Kind war, wurde es nicht gerne gesehen, wenn sie ihre Meinung vertrat. Zu Hause galt es nur zu folgen und zu funktionieren. Diese Eigenschaften hatte sie bis heute nie ganz abgelegt.

Eine drückende Stille definierte die Holzbank neben dem kleinen Spielplatz mitten in München. Nadine schwieg, weil sie nicht wusste, wie sie mit dem Wissen um Ellas Familiensituation umgehen sollte, und Ella schwieg vermutlich genau aus demselben Grund. Sollte Nadine Ella darauf ansprechen? Das hatte sie sich ja bereits beim letzten Treffen schon nicht getraut. Auf keinen Fall wollte sie, dass Ella dachte, ihr wäre diese Angelegenheit egal. Allerdings wollte sie noch weniger, dass Ella sie für indiskret hielt oder – noch schlimmer – sich von etwaigen Fragen bedrängt fühlte. So schwiegen die beiden noch eine Weile und sahen den Kindern beim Spielen zu. Bis es Ella nicht mehr aushielt und fragte:

»Du hältst sie für ein Flittchen, nicht wahr?« Nadines Augen weiteten sich vor Schreck ob dieser direkten Ansprache. Sie entschied, dass es unangebracht wäre zu lügen, weshalb sie lediglich mit einer Gegenfrage auswich.

»Du etwa nicht?« Ella zuckte mit den Schultern. Da sie Nadines Blick nicht erwiderte, konnte diese nicht einschätzen, was in ihr vorging.

»Ich verstehe das nicht. Du müsstest doch am besten wissen, wie schlimm es ist …« An Ellas hochgezogenen Schultern erkannte Nadine, dass sie zu weit gegangen war und biss sich verärgert auf die Unterlippe. Ihre Freundin hatte schon genug gelitten, da musste sie nicht auch noch Salz in die Wunde streuen. Sie atmete geräuschvoll aus und ärgerte sich still über sich selbst.

»Weißt du, Nadine …«, begann Ella und sah ihrer Freundin nun direkt in die Augen. »Über all den Urteilen, die ich mir über Linda und ihr Verhalten gebildet habe – und das habe ich, ich bin schließlich kein Stein – thront meine Hochachtung und Anerkennung vor ihrer Ehrlichkeit. Wenn sie mir nicht sagen würde, was sie wirklich denkt, sondern einfach nur das, was am wenigsten Reibung erzeugt, dann wäre sie keine richtige Freundin. Ich begegne täglich Menschen, die irgendeinen Einheitsbrei wiederkäuen, der mich langweilt und der bewirkt, dass ich die Individualität der Person weder erkennen noch achten kann. Wie soll ich denn mit jemandem befreundet sein, der nicht zulassen will, dass ich ihn richtig kennenlerne? Ich freunde mich doch nicht mit einem Menschen an, nur weil er mir seine moralisch einwandfreie Maske vor die Nase hält. Linda ist eine der wenigen Menschen, die immer deutlich aussprechen, was sie gerade bewegt. Das imponiert mir.« Ellas Blick rutschte von Nadines Gesicht ab und schweifte gedankenverloren in die Ferne.

»Auch wenn sie einen damit manchmal vor den Kopf stößt, oder verletzt. Besser so, als nicht zu wissen, woran man ist.« Sie machte eine bedeutungsschwere Pause, schien ihre Gedanken erst wieder ordnen zu müssen. »Mich kostet es immer sehr viel Überwindung, wenn ich meinem Umfeld mitteilen muss, was mich wirklich bewegt und antreibt«, gesteht sie schließlich und für einen kurzen Moment ist da wieder dieser Schmerz in ihren Augen zu erkennen. Was war das für eine Erinnerung, die sie da gerade so mutig zugelassen hatte und die nun müde kleine Fältchen in ihr Gesicht zeichnete. War da etwas zwischen Linda und Ella, von dem sie nichts wusste? Oder war es noch die frisch ausgegrabene Enttäuschung, die Ralf zu verschulden hatte? Aber Ella fing sich schnell wieder. Ehe Nadine sich versah, hatte sie sich wieder im Griff und ihre Gefühle tief verschlossen.

Nadine dachte lange über Ellas Worte nach. Es stimmte. Seine Meinungen und Wünsche zu äußern erforderte Mut. Sie selbst wusste das am besten. War sie doch die Königin der Verschlossenheit. Allerdings fehlte ihr auch fast immer das Bedürfnis ihre Gedanken mit der Außenwelt zu teilen. Sie sah die Relevanz oft nicht. Es gab selten ein Thema, welches sie derart berührte, dass sie bereit war, dafür ihr gemütliches Schneckenhaus der Verschwiegenheit zu verlassen. So trat sie mit ihren Ansichten niemandem zu nahe und umgekehrt genauso.

Sie kannte es von zu Hause auch nicht anders. Ihrer Mutter waren Ruhe und Schlaf stets das Wichtigste gewesen. Es war nicht wirklich interessant für sie, was ihre Tochter bewegte oder brauchte. Nadine hatte sich insofern damit arrangiert, dass sie einfach damit aufhörte darüber nachzudenken, was sie bewegte oder brauchte. Etwas in ihrem Inneren schien mit der Zeit verloren gegangen zu sein. Das Bedürfnis, sich mitzuteilen, zu verhandeln und für ihre Belange zu kämpfen hatte sich still und heimlich in Luft aufgelöst.

Was nach außen hin oft teilnahmslos und ignorant wirkte, war im Grunde lediglich eine unbeabsichtigte und anerzogene Leere.

Nadine setzte in Sachen Freundschaft ganz andere Prioritäten.

Für Nadine waren das Recht zu sagen, was man dachte und das Recht zu tun, was man wollte zwei verschiedene Paar Schuhe. Sie hielt zwischenmenschliche Beziehungen für den Inbegriff von Verantwortlichkeit und Verbindlichkeit. Die Menschen nahmen das heutzutage viel zu sehr auf die leichte Schulter. Sie ignorierten nur allzu gerne ihre Pflichten und kümmerten sich stattdessen ausschließlich um ihre Rechte. Deutlich zu sagen, wer man war und was man dachte, gab einem noch lange nicht das Recht, ohne Rücksicht auf Verluste irgendwelche Launen durchzusetzen.

Doch Nadine sprach nichts dergleichen laut aus. Was sollte sie tun, sie war eben, wie sie war. Sie blickte stumm zu den Kindern hinüber und spielte wie so oft mit einer ihrer Haarlocken herum. Um ihre Freundin nicht völlig hängen zu lassen, entschied sie sich, stattdessen das Thema in eine andere Richtung zu lenken. »Meine Schwägerin lässt sich gerade scheiden«, verkündete sie mit gedämpfter Stimme. Ella nickte, um zu signalisieren, dass sie zuhörte. Sie hatte sich, wie beim letzten Mal auch schon, mit den Ellenbogen auf ihren Knien abgestützt und lauschte nun mit gebeugtem Oberkörper ihrer Freundin. »Sie hat ebenfalls einen neuen Mann kennengelernt und dann ist die gesamte Ehe innerhalb weniger Monate komplett auseinandergebrochen. Ich mache mir ein wenig Sorgen um die beiden Jungs …«, gab Nadine zu und untermauerte ihre Worte indem sie geräuschvoll die Luft ausstieß.

»Gibt es denn da Probleme?«, wollte Ella wissen und sah ihre Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Nadine schüttelte leicht den Kopf. »Noch nicht. Philip zeigt sich recht kooperativ und begnügt sich damit, die Jungs jedes zweite Wochenende zu sich zu nehmen. Aber ich kann mir vorstellen, wie krass sich Menschen verändern können, wenn ihre Lebensumstände so plötzlich über den Haufen geschmissen werden.« Dass sie ganz genau wusste, wie krass sich Menschen unter solchen Bedingungen verändern können, verschwieg sie. Verärgert runzelte sie die Stirn. Ihre Mutter war in ihrem Kopf in letzter Zeit eindeutig zu dominant vertreten. Das missfiel ihr außerordentlich. Hatte sie doch vor Fynns Geburt kaum einen Gedanken an sie verschwendet.

»Jedes zweite Wochenende«, sinnierte Ella unterdessen. »Heißt das, deine Schwägerin hat jedes zweite Wochenende frei?« Nadine warf ihr einen tadelnden Blick zu. »Na hör mal!«, verteidigte sich Ella. »Du musst schon zugeben, dass nach 10 Monaten Dauerbaby so ein Gedanke schon mal erlaubt sein darf!«

»Ich könnte mir kein Wochenende ohne meinen Fynn vorstellen«, beteuerte Nadine und sah hinüber zu ihrem Sohn. Beim Anblick dieses pausbäckigen, lebensfrohen Jungen, begannen ihre Augen sogleich zu leuchten. Ihr Herz schmerzte beinahe, wenn sie sich bewusst machte, wie sehr sie diesen kleinen Mann liebte.

»Du bist keine schlechte Mutter, nur weil du es nicht 24/7 sein willst«, sagte Ella sanft und es klang so, als wolle sie in erster Linie Nadine damit verteidigen und nicht ihre eigene Aussage.

Ich wüsste gar nicht, was ich ohne ihn mit mir anfangen sollte, dachte Nadine, senkte den Blick und versuchte die Tränen, die auf einmal in ihr hochstiegen, wegzublinzeln. Was war denn nun schon wieder? Es war doch zum Kotzen! Fynns Geburt hatte die verwirrendsten Emotionen in ihr freigesetzt. Es war extrem ungewohnt, sich diesen neuen Gefühlen zu stellen. Ungewohnt und auch beängstigend. Vor Fynns Existenz hatte sie kaum bis überhaupt nicht geweint und jetzt flossen die Tränen zu den unpassendsten Gelegenheiten. So viel in derart kurzen Abständen zu fühlen war wirklich, wirklich anstrengend.

Vielleicht war sie ja doch nicht mehr ganz so, wie sie zu sein glaubte.

Kapitel 4

Torsten saß bereits im Wohnzimmer auf der Couch und spielte auf seiner Playstation »God of War«, als Nadine nach Hause kam. Er begrüßte sie mit einem knappen »Hi«, blieb aber mit dem größten Teil seiner Aufmerksamkeit bei seinem Spiel hängen. Aus den Augenwinkeln nahm er ihren Schatten war, der an ihm vorbeihuschte und sich in der Wohnküche am Tiefkühlfach zu schaffen machte. Jetzt gibt es wieder selbstgekochten, wohl portionierten und auf Vorrat eingefrorenen Babybrei, schlussfolgerte er stumm und spürte, wie er schlechte Laune bekam. Ob er frisches Gemüse aß, warm angezogen war oder überhaupt noch atmete, das interessierte wahrscheinlich die Kakteen auf dem Fensterbrett mehr, als seine Freundin es tat. Aber für den Sohn war keine Gläschennahrung dieser Welt gut genug. Da wurden sogar Orangen fein säuberlich filetiert und wie kleine Kunstwerke auf dem Teller angerichtet. Die Wände waren mit Schnappschüssen des kleinen Prinzen nahezu noch einmal neu tapeziert worden (sogar von der Toilettentür aus grinste ihm ein Bild seines Sohnes entgegen) und im Wohnzimmer nahm das Spielzeug mehr Platz ein, als es die Möbel taten. Ja, er musste zugeben, er war mit der Gesamtsituation mehr als unzufrieden.

In all den Jahren, die er mit Nadine zusammen war, hatte er es nicht geschafft ihr so nahe zu kommen oder ihr Gesicht so zum Strahlen zu bringen, wie dieser kleine Mann auf ihrem Arm das innerhalb weniger Minuten gleich nach seiner Geburt fertig gebracht hatte. Torsten war immer der Überzeugung gewesen, dass Nadine einfach ein eher kühlerer Typ war, der seine Gefühle nicht so erfolgreich zeigen konnte wie andere. Aber seit es Fynn gab, wusste er, dass es einzig und allein an seiner Person lag. Und das machte ihn sauer. Und traurig. Und bockig. Luft machte er seinen Gefühlen, indem er abwechselnd genervt und abweisend auf Nadine reagierte oder sich eben zugewandt und bemüht ihr gegenüber zeigte. Er schwamm in einem Wechselbad aus Resignation und Aufbegehren und fühlte sich durch dieses ständige emotionale Hin und Her vor allem hilflos. Denn egal, in welche Richtung er sich auch abstrampelte, es zeigte keinerlei Wirkung bei Nadine. Heute war wieder ein Ich-bin-bockig-Tag, weshalb er stur vor seiner Playstation hocken blieb und in den Bildschirm starrte.

»Hast du es geschafft, die Wäsche abzuhängen?«, erkundigte sich Nadine bei ihm, während sie mit ihrer freien Hand noch immer am Tiefkühlfach herumfummelte. »Nein«, murmelte er in ihre Richtung und fixierte weiterhin den Flimmerkasten. Er wusste, dass er ein schlechtes Gewissen haben müsste, weil er zu Hause kaum einen Finger rührte und die Rolle des Alleinverdieners provokant raushängen ließ, aber Nadine forderte ein derartiges Verhalten ja geradezu heraus. Es war völlig gleichgültig, ob er ihr unter die Arme griff oder nicht. Sie beschwerte sich nicht, wenn er es nicht tat und sie war auch nicht recht viel netter zu ihm, wenn er es tat. Sie hatte ihn noch nie um Hilfe gebeten oder von ihm ein gewisses Maß an Einsatzbereitschaft gefordert. Sie ließ ihn grausam in der Luft hängen, sodass er sich gleichsam orientierungs- und nutzlos fühlte. Ob er da war oder nicht, es schien keine Rolle zu spielen. Es war so, als wäre er seit Fynns Geburt komplett unsichtbar geworden. Sie zog ihr Ding durch und er hatte alle Freiheit seines durchzuziehen. Aber das wollte er überhaupt nicht.

Nadine war eine solch fürsorgliche und liebevolle Mutter, dass er sich eigentlich glücklich hätte schätzen können. Schließlich wollte auch er für seinen Sohn nur das Beste. Allerdings wäre er auch allzu gerne ein präsenterer Teil in dessen Leben gewesen.

Anfangs war er noch froh, dass sich für ihn mit Fynns Geburt kaum etwas veränderte und er sich nicht so viel um ihn kümmern musste. Fynn war so klein, so zerbrechlich und er so ahnungslos und eingeschüchtert von diesem kleinen Wunder gewesen. Nur zu gerne ließ er sich die Pflege und die damit verbundene Verantwortung für den Jungen von Nadine abnehmen.

Seine Freunde hatten ihn immer darum beneidet, dass er sich nicht mit schlaflosen Nächten und zusätzlicher Hausarbeit herumschlagen musste, aber nach und nach war Torsten in seine Rolle hineingewachsen und das Gefühl, sie jetzt nicht erfüllen zu dürfen, nagte an ihm.

Er fühlte sich ein wenig so, als würde er Nadine und seinen Sohn von außen durch eine Glasscheibe hindurch beobachten. Als wäre zwischen ihnen und ihm ein elektrisch geladener, vier Meter hoher Stacheldrahtzaun. Die beiden hatten sich gemeinsam weiterentwickelt, während er den Einzelkämpfer spielte.

»Torsten?« Nadines Stimme riss Torsten aus seinen Gedanken. Wehmut erfasste ihn, als er seine Freundin dort vor sich stehen sah. Sie war zum Greifen nah (er roch sogar das Betty Barclay Parfüm, das er ihr letztes Weihnachten geschenkt hatte) und doch war sie so unerreichbar für ihn. Fynn, der wie eine Brosche an seiner Mutter klebte, lutschte geräuschvoll an einem Stück Banane und starrte interessiert zu ihm hinüber.

»Wir gehen dann mal ins Schlafzimmer, damit du ein bisschen deine Ruhe hast.«

Torsten legte sofort seinen Controller auf der Couch neben sich ab und wandte sich seiner Freundin nun ganz zu. »Bleib … bleib doch noch ein bisschen.« Seine Stimme schien auf halbem Wege verloren gegangen. Er räusperte sich angestrengt und wiederholte noch einmal: »Bleibt doch bei mir.«

Sie zögerte eine kurzen Moment und wich unsicher seinem Blick aus. Ein Blick, in dem Torsten erkennen konnte, dass es nicht darum ging, dass ER seine Ruhe hatte, sondern dass SIE ihre Ruhe hatte. Mit einem zaghaften Lächeln winkte sie ab und versicherte ihm: »Nein ist schon okay. Wir wollen gar nicht stören. Spiel du nur dein Spiel. Das ist eh zu blutig für Fynnis Augen … und wir kommen ja sowieso nochmal, wenn sein Essen warm ist.«

Er wollte noch etwas erwidern, aber sie hatte ihm bereits den Rücken zugewandt und war hinter der Wohnzimmertür verschwunden. »Doch, stört mich«, dachte Torsten verzweifelt, machte mit einer schnellen Handbewegung den Fernseher aus, pfefferte die Fernbedienung auf den Sessel und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.

Ab jetzt würde es so wie jeden Abend laufen. Er würde die beiden für den Rest des Abends nicht mehr zu Gesicht bekommen. Beide wären im großen Bett irgendwann eingeschlafen, während sich das Kinderbett daneben einsam und unberührt jeglicher Daseinsberechtigung beraubt sah. Er selbst müsste sich aus Platzgründen entweder in die Ecke quetschen oder gar auf die Couch zurückziehen …

Nein, das konnte so nicht weitergehen. Er war ein Mann, er war Vater, Teil einer Familie. Verdammt, er war kein Kinderbett, das man ignorieren konnte, er hatte Gefühle und Bedürfnisse!

Umständlich erhob er sich aus seinem Sitzplatz und dackelte in Richtung Schlafzimmer. Zaghaft öffnete er die Tür und blieb etwas unsicher im Türrahmen stehen.

Nadine saß im Bett mit Fynn auf den Knien und einer Fingerpuppe in der rechten Hand. Er beobachtete sie eine Weile, rieb sich seinen linken Arm und überlegte angestrengt, was er eigentlich sagen wollte.

»Ist alles okay?«, fragte sie schließlich, ohne ihr Spiel zu unterbrechen. Sofort beschlich ihn die Ahnung, dass er störte. Er fühlte sich wie ein Eindringling und das nicht zum ersten Mal. Anfangs war er überzeugt davon gewesen, dass er sich das nur einbildete, dass es an seinem mangelnden Selbstbewusstsein liegen musste (Wieso sollte Nadine ihn schließlich nicht um sich haben wollen? Er war der Vater ihres Kindes. Das ergab doch keinen Sinn …) aber die Zeit verging und das Gefühl blieb. Und etwas, das sich so hartnäckig in einem festsetzte wie es Rotwein bei Teppichböden machte – das konnte keine Einbildung sein.

Er räusperte sich nochmals geräuschvoll, um seiner Stimme mehr Sicherheit zu verleihen. Dann wagte er einen kleinen Vorstoß. »Ich finde, wir sollten mal wieder nach größeren Wohnungen suchen.«

»Mhm …«

»Ich finde wirklich, Fynn ist jetzt groß genug und sollte langsam mal sein eigenes Zimmer bekommen«, beharrte Torsten.

»Hm.« Das war eher ein Schnauben als eine Antwort. Nadines ganze Aufmerksamkeit war und blieb bei Fynn.

Etwas mutlos ließ Torsten die Schultern hängen. Dann fasste er sich ein Herz und setzte sich zu den beiden auf die Bettkante.

Endlich wandte sich Nadine ihm zu. Der Blick, den sie ihm schenkte, war eine Mischung aus Verunsicherung und Unwillen. Auch Fynn hatte sein Spiel jetzt unterbrochen und sah zu ihm hinüber. Beide starrten ihn an, während er nicht die geringste Ahnung hatte, was er sagen sollte, und warteten. Warteten darauf, dass er wieder ging.

Er versuchte den aufsteigenden Kummer, der sich erneut Bahn brechen wollte, einfach hinunterzuschlucken. Sanft strich er Fynn über die Wange und stupste ihn neckisch auf die Nase. Dann sah er Nadine tief in die Augen. Er wollte ihre Hand ergreifen, traute sich aber nicht. »Ich hab dich lieb«, sagte er geradeheraus und musste sich ernsthaft zusammenreißen, dass er nicht anfing zu heulen. Nadine strich ihm unbeholfen über den Arm. Sie hatte sich bereits wieder abgewandt, als sie erwiderte: »Ich dich auch.«

»Mhm«, »Ich dich auch.«, »Ist alles okay?«. Diese abgehackten Unterhaltungen machten ihn wahnsinnig. Sie sagte »Ich dich auch.« und dennoch fühlte er sich so abgewiesen, als hätte sie nichts gesagt. Die Tatsache, dass die Worte die unausgesprochen blieben, mehr Raum einnahmen, als die die ihrer beider Lippen verließen, brachte ihn dazu, sich wieder aus ihrem Umfeld zurückzuziehen und ihr die Ruhe zu gönnen, die sie zuvor ihm angeboten hatte.

Kapitel 5

Als sich die drei Frauen am darauffolgenden Wochenende mit ihren Männern zusammen bei Ella und Ralf zu Hause trafen, um die letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres zu nutzen, war Nadine etwas mulmig zumute.

Das, was sie über Ralf und Linda wusste, machte sie befangener als sie es ohnehin schon bei solchen Veranstaltungen war. Sie waren wie der klassische rosa Elefant, an den man nicht denken sollte. Sie wusste jetzt schon, dass sie sich den gesamten Abend lang unwohl fühlen würde. Nervös trommelte sie mit den Fingern auf ihrem Knie herum, während Torsten sie zu dem Sechsfamilienhaus fuhr, in dem die Steinbecks wohnten.

Ella und Ralf Steinbeck besaßen eine Erdgeschosswohnung am Rande von München mit einem schönen Garten, in dem man gemütlich sitzen und grillen konnte.

Der Wind fuhr Nadine durch ihre lockige Mähne, als sie das Auto verließ, was sie sogleich dazu veranlasste zu prüfen, ob Fynns Mütze auch seine Ohren ausreichend schützte. Die Sonne geizte nicht mit Anwesenheit, jedoch hatte ihre Kraft in den letzten Tagen spürbar nachgelassen, weshalb sich der Wind auf der Haut unangenehm kalt anfühlte. Mit Fynn in der einen und einer Schüssel selbst gemachten Nudelsalats in der anderen Hand machte sie sich auf den Weg durch den Garten direkt auf die Terrasse ihrer Freundin. Torsten folgte ihr in einigem Abstand und betrachtete eingehend die fremde Umgebung. Die Terrasse war bereits vorbildlich eingedeckt. Der Grill stand bereit. Geschnittenes Gemüse, Fleisch, Würste und sogar Grillkäse stapelte sich auf einem großen Pizzateller neben dem Grill. Ein Fernseher in der Nähe der Terrassentür machte Nadine etwas stutzig. Sie legte den Kopf schief und betrachtete etwas verwirrt den schwarzen Kasten, der so gar nicht zu ihren Erwartungen an diesen Grillabend passen wollte.

»Ralf will das Bundesliga-Spiel später sehen. Dortmund gegen den FC Bayern München. Ist wohl wichtig«, erklärte Ella mit rollenden Augen und zuckenden Schultern, als sie durch die Tür schritt, um ihre Gäste zu begrüßen. Nadine wollte gerade etwas erwidern, als sie Lindas Stimme hinter sich vernahm.

»Hallo meine Lieben, da sind wir. Tut mir leid, wir sind etwas spät, aber wir mussten noch einen kleinen Umweg zum Bäcker machen. Ich hatte ja versprochen, mich um das Baguette zu kümmern.«

»Wir sind nur zu spät, weil du wieder deine scheiß Nägel nicht rechtzeitig fertig lackiert hast«, widersprach Dennis und ein leiser Groll schwang in dieser Aussage mit. Linda zuckte unter den Worten ihres Mannes verhalten zusammen, entschloss sich allerdings binnen weniger Sekunden dazu, diese einfach wegzulächeln und begrüßte ihre Freunde. Nadines Körper versteifte sich unter Lindas Umarmung. Ihr Blick blieb an Dennis hängen, der einige Meter entfernt, mit mürrischem Gesichtsausdruck und den Händen in den Hosentaschen, auf die Hecke starrte. Ob er wohl bereits ahnte, was seine Frau so trieb?

Nachdem Linda der Reihe nach alle geherzt und begrüßt hatte, drückte sie Ella das Baguette in die Hand und Ralf eine Flasche BBQ-Soße. Nadine, die ihren Sohn sanft auf ihrer Hüfte hin und herschaukelte fragte: »Wo ist Luisa?«

»Die ist heute bei den Großeltern«, antwortete Linda. »Heute ist Oma/Opa-Tag.«

»Oma/Opa…?«

»Hey, ihr habt ja den Fernseher rausgestellt!« Das war Dennis, der nach seiner Entdeckung mit zwei großen Schritten den Weg runter vom Rasen und zu den anderen auf die Terrasse gefunden hatte.

»Bist du auch ein Bayern-Fan?«, erkundigte sich Ralf erwartungsvoll.

»Ja Mann, ich hab ganz lange selber im Verein gespielt.«

Dennis und Ralf, die glücklich über ein so schnell gefundenes Gesprächsthema waren, schnappten sich Torsten und verschwanden mit ihm zusammen in der Wohnung.

»Mag Torsten auch Fußball?«, wollte Linda wissen und betrachtete Nadine dabei eingehend. Der Wunsch, in Nadines Augen lesen zu können, wie diese nach den letzten Ereignissen zu ihr stand, war beinahe greifbar. Auch wenn sich Nadine immer noch unwohl mit der ganzen Sache fühlte, so hatte sie nicht vor, eine große Sache daraus zu machen, weshalb sie bereitwillig auf das Gespräch einging. »Denke schon«, beantwortete sie Lindas Frage mit einem Achselzucken und wiegte nach wie vor den kleinen Fynn auf ihrem Arm hin und her. »Willst du Fynn zu Sophia auf die Decke im Wohnzimmer setzen?«, fragte Ella und machte bereits Anstalten, in Richtung Wohnzimmer zu verschwinden. Doch Nadine lehnte schnell dankend ab. Sie mochte es nicht, wenn Fynn irgendwo spielte, wo sie ihn nicht immer sehen konnte. Die anderen beiden Frauen äußerten sich nicht laut, aber Nadine entging der vielsagende Blick, den sie untereinander wechselten, nicht.

Sie konnte den Drang, auf ihrer Haarlocke herumzukauen, nur schwer unterdrücken. Sie fühlte sich nicht wohl. Sie fühlte sich ganz und gar nicht wohl. Sie wusste Dinge, die sie nicht wissen wollte, wurde von ihren Freundinnen kritisch beäugt und machte sich obendrein immer noch Gedanken um den Wind, der so ruppig an ihrem Sohn herumzerrte.

Es dauerte nicht lange und die Männer gesellten sich wieder zu ihren Frauen und vor allem dem Fernseher. Mit Becksflaschen in der Hand stießen sie aufeinander an und schienen sich bereits prächtig zu amüsieren. Torsten wirkte inmitten der anderen beiden Männer beinahe bubihaft mit seiner Cap (unter der er einen fehlenden Haarschnitt verbarg), seinem Packman T-Shirt und seinem spärlichen Bartwuchs, den man eher als Flaum bezeichnen konnte. In dieser Hinsicht passten er und Nadine prima zusammen. Er war genauso sehnig und hoch gewachsen wie sie und schien nicht älter zu werden. Seine zurückhaltende Art und sein schüchternes Lächeln verstärkten diesen Eindruck nur.

Ralf hatte mit seinen gütigen Augen und seinen vollen Lippen nicht nur das sympathischste Aussehen, er hatte auch die positivste Ausstrahlung von allen. Er drückte seiner Frau ein Glas mit Wasser in die Hand und einen Kuss auf die Stirn, bevor er sich wie ein vorbildlicher Gastgeber dem Grill widmete. Kleine Fältchen zierten seine Stirn wenn er lachte und verliehen ihm zusätzlich Charisma. Er gehörte zu der Sorte Mann, die gut aussahen, aber keine Ahnung davon hatten. Nadine beobachtete ihn eine Weile, wie er so dastand, fröhlich vor sich hin pfeifend und unbeschwert die marinierten Steaks wendete und fragte sich, ob ihn seine Tat noch beschäftigte, so wie es Ella immer noch mitnahm, oder ob für ihn die Sache geklärt war. Ihre Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen, als ihr bewusst wurde, dass sie sich wegen seiner Tat unwohler fühlte, als er selbst es zu tun schien. Gereizt wandte sie sich an Torsten. »Hast du Fynn und mir auch etwas zu trinken mitgebracht? Du weißt doch, es ist so wichtig, dass er viel trinkt!« Torsten sah schuldbewusst an sich herab. Außer seiner Bierflasche hatte er nichts vorzuweisen. Mit ausgebreiteten Armen, die in ihrer Leere für sich sprachen beschränkte, er sich auf ein einfaches: »Sorry.«