Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Konzepte, Praktiken, Poetizität -  - E-Book

Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Konzepte, Praktiken, Poetizität E-Book

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Beschreibung

Die im Band vereinten Beiträge untersuchen das Phänomen des Sammelns als grundlegende Voraussetzung sozialer und kultureller Entwicklung in literarischen Textzeugnissen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Dabei gerät ein breites Spektrum an Texten, Gattungen, Diskursen und kulturellen Umfeldern in den Blick. Schwerpunkte bilden die in mittelalterlichen Handschriften erkennbaren Sammelpraktiken, das Aufzählen und Anhäufen als literarische Themen sowie das Sammeln literarischer Texte als kulturelle Praxis.

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Seitenzahl: 1124

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Mark Chinca / Manfred Eikelmann / Michael Stolz / Christopher Young (Hrsg.)

Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

Konzepte, Praktiken, PoetizitätXXVI. Anglo-German Colloquium, Ascona 2019

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung und der Burgergemeinde Bern.

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783772057489

 

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

ISBN 978-3-7720-8748-6 (Print)

ISBN 978-3-7720-0179-6 (ePub)

Inhalt

Monte Verità, Ascona (Ticino), Tagungsort des XXVI. Anglo-German Colloquium 2019.

Vorwort

Vom 26. bis 30. August 2019 fand im Zentrum Congressi Stefano Franscini, Monte Verità, Ascona, das XXVI. Anglo-German Colloquium statt. Die Fachtagung, deren Beiträge in diesem Band vorgelegt werden, hatte sich zum Ziel gesetzt, die Rezeption, Produktion und selbstbezügliche Reflexion von Literatur im Kontext kultureller Sammelpraktiken zu betrachten. Und so stellte sich die Aufgabe, das literarische Sammeln nicht nur als rezeptive, sondern als kreative Tätigkeit in den Blick zu nehmen. Wie die Beiträge zeigen, schließt diese Zielsetzung nicht zuletzt auch die Arbeit an literaturwissenschaftlichen Grundfragen ein.

Zwischen Entstehung und Vollendung kann der Kontrast kaum krasser sein. Als sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Anglo-German Colloquiums in der letzten Augustwoche 2019 in der Schweiz versammelten, strahlte die Sonne noch – metaphorisch so wie aus heiterem Himmel. Der auf den Hügeln über Ascona und dem Lago Maggiore wunderschön gelegene Monte Verità bot traumhafte, in der mehr als fünfzigjährigen Geschichte der Veranstaltung sicherlich unübertroffene Rahmenbedingungen für mehrere Tage regen Austausches und geselligen Beisammenseins. Thema dieses XXVI. Treffens des Kreises war ‚Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit‘, und alles ging seinen gewohnten harmonischen Gang. Die Welt, in der die Ergebnisse der Tagung für den Druck vorbereitet werden sollten, sah allerdings weniger freundlich aus. Knapp sechs Monate nach der Konferenz und wenige Wochen, bevor die überarbeiteten Beiträge in den Händen der Herausgeber liegen sollten, wandelte sich mit dem Anfang der Corona-Pandemie unsere vertraute Welt schlagartig in eine drastisch andere, vorher nicht erahnbare. Dass auch der wissenschaftliche Alltag von dem global zirkulierenden Virus tief betroffen wurde, dürfte kaum überraschen. Die für September 2021 in Cambridge anberaumte Folgetagung musste abgestimmt mit anderen mediävistischen Gesellschaften zunächst einmal um ein Jahr verschoben und dann wegen der ständig wechselnden Reiseregelungen vorsichtshalber nach Münster verlegt werden. Wegen der Schließung der Bibliotheken und des zeitraubenden Umstiegs auf die digitale Lehre verspätete sich die Fertigstellung dieses Bandes ebenfalls um ein Jahr. Dass er trotz allem, dem Anspruch unseres Kreises gemäß, rechtzeitig bis zur Folgetagung erscheinen kann, verdankt sich der Beflissenheit aller Teilnehmenden: In der Tat fehlt kein einziger Aufsatz, so dass der Band das volle Spektrum der in der Schweiz gehaltenen und wie immer intensiv diskutierten Referate lückenlos wiedergibt. Mögen künftige Leser dieses Bandes darin nicht nur die Erträge des XXVI. Anglo-German Colloquiums finden, sondern auch an die unermüdliche Bereitschaft der altgermanistischen Gemeinschaft in Großbritannien und den deutschsprachigen Ländern erinnert werden, trotz der ungünstigsten Umstände, die zwischen dem XXVI. und XXVII. Colloquium herrschten, mit ihrer Forschung pflichtbewusst und hoffnungsvoll weiterzumachen.

In Ascona sahen wir eine andere zwar nicht tödliche, aber immerhin schwere Wolke über uns drohen. Der 2016 entschiedene, 2019 kurz bevorstehende und inzwischen endgültig vollzogene Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union überschattete viele Gespräche. Diese jedem britischen Mitglied des Kreises schmerzvolle und von jedem deutschen ebenso bereute Situation steht in eklatantem Widerspruch zu der langjährigen konstruktiven Zusammenarbeit der Mediävisten beider Länder, die bis ins Jahr 1966 zurückreicht. Dass die Arbeit am Band und die Planung der nächsten Tagung während der Corona-Pandemie beständig fortgeführt worden sind, legt unverkennbares Zeugnis von den Banden ab, die uns in Freundschaft und gemeinsamen Forschungsinteressen verbinden und über politische Entscheidungen hinweg noch lange verbinden werden. Denn der Brexit bedeutet keinen Bruch. Die in letzter Zeit entstandenen Partnerschaften – u. a. zwischen Oxford und Berlin, Cambridge und der LMU München, dem Imperial College London und der TU München, Cardiff und Bremen, Oxford und den Westschweizer Universitäten – zeigen, dass Kooperation und Austausch für wissenschaftliche Innovation unerlässlich sind und trotz Brexit erfolgreich und reibungslos weitergeführt werden können. In diesem Kontext ist die Rolle des Anglo-German Colloquiums als internationaler Fachtagung wertvoller denn je, und als Herausgeber danken wir im Namen aller vergangenen und künftigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Colloquiums allen Institutionen und Geldgebern, die die Fortführung unserer Treffen unterstützen.

Für die Tagung 2019 und den daraus hervorgegangenen Band gilt unser aufrichtiger Dank: Elena Brandazza (Bern) für tatkräftige Mithilfe bei der Organisation und den Erstkorrekturen; Helen Hunter (Cambridge), die sich an den Erstkorrekturen engagiert beteiligt hat; Simon Aschemeier (Bochum) und Leila Gäumann (Bern) für die Mitarbeit an der Erstellung des Registers. Gerne danken wir auch dem Arbeitskreis ‚Poetiken des Sammelns‘ (Bochum), der wertvolle Anregungen zur inhaltlichen Konzeption beigesteuert hat. Die Herausgeber danken last not least den Congressi Stefano Franscini (ETH Zürich), dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, der Fondation Johanna Dürmüller-Bol und der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige Unterstützung der Tagung sowie der Burgergemeinde Bern und der Fritz Thyssen Stiftung für die gewährte Druckbeihilfe.

 

Mark Chinca, Manfred Eikelmann,

Michael Stolz, Christopher Young

Einleitung: Konzepte, Praktiken und Poetizität des Wort- und Textsammelns in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

Mark Chinca, Manfred Eikelmann, Michael Stolz und Christopher Young

Nach den Praktiken des Sammelns und der Sammlung als ihrem Ertrag zu fragen, ist nicht neu. Die Frage wird seit den 1990er Jahren gerade in kulturwissenschaftlichen Diskussionen gestellt und unterschiedlich beantwortet. Zu erinnern ist dafür aber an Überlegungen, die Walter Benjamin schon in den 1930er Jahren für sein Passagen-Projekt notiert hat:

Es ist beim Sammeln das Entscheidende, daß der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen herausgelöst wird um in die denkbar engste Beziehung zu seinesgleichen zu treten. Diese ist der diametrale Gegensatz zum Nutzen und steht unter der merkwürdigen Kategorie der ‚Vollständigkeit‘.1

Man mag davon ausgehen, daß der wahre Sammler den Gegenstand aus seinen Funktionszusammenhängen heraushebt. Aber das ist kein erschöpfender Blick auf diese merkwürdige Verhaltungsweise. […] Man muß nämlich wissen: dem Sammler ist in jedem seiner Gegenstände die Welt präsent und zwar geordnet.2

Benjamins Aufzeichnungen geben bis heute den Anstoß, das Sammeln von Dingen wie von Worten und Texten als Handeln und Prozess zu betrachten, so dass es sich „als eigenständige Produktionsweise“3 begreifen lässt. Dazu gehört der leitende Gedanke, dass planvolles Sammeln die gesammelten Dinge aus ihrem geläufigen funktionalen Kontext herauslöst und in neue Nachbarschaften rückt.4 Eng verbunden mit diesem Aspekt der Dekontextualisierung ist die weitere These von der das Sammeln kennzeichnenden Zurichtung des Gesammelten, die konzeptionell so weit reicht, dass Sammlungen das Ganze der Welt repräsentieren,5 doch ebenso das soziale Prestige des Sammlers und seinen ästhetischen Anspruch zum Ausdruck bringen können. Benjamin ist besonders an der Figur des Sammlers interessiert und fragt danach, wie sich das Sammeln und der Sammelnde wechselseitig beeinflussen und sogar hervorbringen. In seinem Verständnis vereint der Sammler zwar, was als Gleiches zusammengehörig scheint, doch ist seine Sammlung niemals vollständig. Die Sammlung ist insofern als ein offenes, prinzipiell unabschließbares Projekt konzeptualisiert, in dem Ähnliches ausgewählt und zusammengestellt wird. Wie die Beiträge des vorliegenden Tagungsbandes zeigen, kommt dem Spannungsverhältnis von Vollständigkeit und Offenheit der Sammlung für die Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bis hin zur Frage einer Poetik des Sammelns einige Bedeutung zu.6 Dabei verfolgt der Band neben der systematischen insbesondere eine historische Perspektive, die den Blick auf das Sammeln als genuine literarische Praxis richtet.

Drei Grundannahmen bestimmen den auf diese Weise anvisierten Forschungsansatz: Erstens, dass literarisches Sammeln wesentlich auf Worte und Texte bezogen ist, die als Fund- und Sammelstücke immer schon mit eigener sprachlicher Bedeutung aufgeladen sind;7 zweitens, dass kulturelles und literarisches Sammeln wechselseitig aufeinander Einfluss nehmen, insofern politisch-kulturelle Einrichtungen wie die Schatz- und Wunderkammer als Modelle für literarische Sammlungen dienen oder auch eine Kontrastfolie für Spezifika der Literatur bieten; schließlich drittens, dass literarische Sammlungskonzepte in hohem Maße durch Verfahren und Strategien poetischer Wort- und Textgestaltung geleitet sind, und dies auch insofern, als das Sammeln häufig zum Bezugspunkt für poetologische Reflexionen wird.

Unter diesen Vorzeichen lässt sich unter ‚Sammeln‘ das produktive Auswählen, Gestalten und Aneinanderfügen von Worten, größeren Texteinheiten und Texten verstehen, eine Tätigkeit, die auf je spezifischen Konzepten der thematischen Kohärenzbildung, der Gattung und der Autorschaft basiert. Entsprechend ist auch die ‚Sammlung‘ nicht eine nur anhäufende Zusammenstellung disparater Fundstücke, sondern Ergebnis eines planvollen Handelns, das einen „distinkte[n] Ordnungszusammenhang“8 und „neue Sinnhorizonte, Funktionsbezüge, definierte Zwecke“9 hervorbringt. Wie man dabei allerdings präzisieren muss, greift die grundsätzliche Unterscheidung zwischen funktionsbestimmter und ästhetisch freigesetzter Kontextualisierung des Gesammelten10 bei sprachlich konstituierten Gegenständen wie Worten und Texten zu kurz, weil sich hier zweckgebundenes Bevorraten, auf Nützlichkeit bedachtes Anhäufen und ästhetisch-poetisches Sammeln als Momente der Sammlung überlagern können. Dies gilt nicht zuletzt auch für die materielle Erscheinungsform der gesammelten Worte und Texte, die durch die mise en page und die Gestaltung des Buchkörpers so eindrücklich hervortreten kann, dass statt der Vermittlung von Wissensinhalten die ästhetische und sinnliche Wirkung überwiegt.11 Fragt man, was das Wort- und Textsammeln spezifisch ausmacht, gilt es darüber hinaus die Verfahren und Strategien der Kohärenzbildung in den Blick zu nehmen. Es geht hierbei um die textlichen Mittel der Verknüpfung des Gesammelten, wie sie durch paratextuelle Rahmung, die katalog- und listenartige Bildung von Wortclustern und Textreihen, das Herstellen intratextueller Bezüge in Form von Pro- und Analepsen oder die Beigabe von Bildern und Kommentaren geleistet wird. Für die Analyse der Konzepte und der inhärenten Poetik des Sammelns ist daher insbesondere das syntagmatische Arrangieren des Gesammelten als zentraler Gesichtspunkt in Anschlag zu bringen.

Obwohl Praktiken und Poetik des Sammelns die Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit vielfältig prägen,12 fehlt es in der germanistischen Mediävistik an einer Diskussion, die eine Verständigung über den Gegenstand selbst, doch auch über grundlegende Begrifflichkeiten und Fragestellungen ermöglichen würde. Das literarische Sammeln als eigenständiges Forschungsfeld der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu etablieren, erscheint jedoch schon deswegen geboten, weil Analysen von Sammelhandschriften und Textsammlungen ohne Zweifel zum disziplinären Kern der germanistischen Mediävistik gehören. Dies schließt die Frage danach ein, ob und wie das Sammeln als literarische Praxis adäquat zu vermessen ist.

Um das literarische Sammeln als Forschungsfeld erschließen zu können, muss man bereits auf der Gegenstandsebene differenzieren. Formen und Praktiken des Sammelns begegnen nämlich einerseits als Teilelemente literarischer Texte, wie es bei Aufzählungen, Katalogen und Listen der Fall ist;13 andererseits treten sie als selbstständige Formen wie Anthologien, Kompilationen oder Mosaik-Traktate auf, die ganze Texte zur Sammlung machen. Beste Beispiele für Praktiken des Sammelns, die als Teilelement in einen Text inseriert sind, bieten die Namen-, Ding- und Personenlisten in den höfischen Epen.14 Als exemplarisch können zugleich auch die textlich eingebundenen Apostrophen-Reihen mit Lobpreisungen der Gottesmutter gelten, wobei sie fließend in Mariendichtungen übergehen.15 Selbstständige Formen manifestieren sich dagegen bevorzugt als schriftliche Sammlungen,16 an deren Fülle und Vielfalt ablesbar ist, wie stark bei aller Konstanz der gesammelten Texte die Prinzipien des Sammelns fast von Einzelfall zu Einzelfall variieren. Abhängig vom jeweiligen Konzept und Kontext tun sich hier nur wenig begrenzte Gestaltungs- und Funktionsspielräume auf. Welche Perspektiven, doch auch Probleme sich aus dieser Sammelpraxis speziell im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit ergeben, hat namentlich die Forschung zu den Klein- und Kleinstformen der Literatur zeigen können:

Sehr wichtig für die große Kontinuität vieler Texte und Typen waren zweifellos auch die schriftlichen Sammlungen. Sie stellen tradiertes Material in immer neuer Auswahl, in immer neuen Arrangements und mit immer neuen Zielsetzungen zusammen, stabilisierten aber auch immer neue Rückgriffe auf ältere Sammlungen, die ja oft lange präsent blieben, die Tradition. Eine Literaturgeschichte der Sammlungen ist im Prinzip möglich. Bezieht man aber die lateinische Tradition mit ein, wie es wegen der Schichtenproblematik unerläßlich ist, so ist die Masse des Überlieferten so unermeßlich, daß eine Realisierung in absehbarer Zeit nicht erreichbar ist.17

Kleine Formen wie Sprichwort, Exempel, Fabel und Märe gibt es also als traditionsfähige Literatur nur deshalb, weil sie als Texte gesammelt und durch Sammlungen in Schrift und Buch verfügbar gehalten und autorisiert werden.18 Dass sich aber seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wiederholt Konstellationen formieren, in denen Texte auf verschiedenen kulturellen Niveaus gesammelt und tradiert werden, fordert eine „Literaturgeschichte der Sammlungen“19 geradezu heraus, auch wenn dafür die sachlichen Voraussetzungen noch erst geschaffen werden müssen. Das Textsammeln erweist sich hier als Möglichkeitsbedingung für das Entstehen und den Status von Literatur im philologischen Verständnis. Nicht zufällig sammeln humanistische Autoren Texte nun professionell im Zeichen ihrer philologischen, kulturpädagogischen und theologisch-philosophischen Interessen.20 Gegenüber mittelalterlichen Sammlungen, die der Vermittlung der auctoritates dienstbar waren, rückt die Figur der Sammlerin oder des Sammlers jetzt in die Position einer Autorinstanz, die aus eigener Kompetenz eine neue Textgrundlage schafft: Sammlungen sind damit einem Textverständnis verpflichtet, bei dem „der Leser als potentieller Schreiber“21 gilt und exzerpierendes Wort- und Textsammeln fließend in eigenes literarisches Schreiben übergeht. Daher wird es den Sammlungen nicht gerecht, tut man sie als bloße ‚Hilfsmittel‘ ab. In ihrer Text- und in der Buchgestaltung zeigen sie vielmehr, wie die ästhetisch-poetische Qualität der Sammelstücke freigesetzt und ausgestaltet wird.22 Und so eröffnet sich eine epochale Perspektive, unter der Sammlungen als Literatur spezifisches Eigenprofil gewinnen.

Vor diesem Hintergrund schicken sich jüngste Forschungen an, am Beispiel der Kunst- und Wunderkammer des 16. und 17. Jahrhunderts die vielfältigen „konkreten Relationen zwischen Sammlungspraxis und Literatur in der Frühen Neuzeit“23 im Schnittpunkt kultur-, kunst- und literaturgeschichtlicher Ansätze herauszuarbeiten. Denn obwohl die Geschichte der Wunderkammer bereits gut untersucht ist,24 kann gerade deren mittelalterliche Vorgeschichte in naturkundlichen Sammelhandschriften und Mirabilien-Sammlungen des Mittelalters25 auch das Sammeln als literarische Praxis um neue Perspektiven bereichern.

In den fächerübergreifenden Kulturwissenschaftlichen finden Sammelpraktiken und Sammlungen schon seit den 1990er Jahren breite Aufmerksamkeit. Fragt man angesichts der stark diversifizierten Diskussion nach Anschluss- und Berührungspunkten zu Analysen des literarischen Sammelns in Mittelalter und Früher Neuzeit, so sind drei Forschungsrichtungen besonders relevant:

Ansätze zu Konzepten, Modellen und Typologien des Sammelns in Ethnologie, Kultursoziologie und Philosophie;26

kultur- und wissenshistorische Analysen zu historischen Sammelpraktiken und Sammlungstypen wie Schatz- und Wunderkammern, zu realen und imaginären Bibliotheken und Museen;27

kulturgeschichtliche Untersuchungen zum Zusammenhang von Sammeln und Gedächtniskunst sowie Praktiken des kulturellen Gedächtnisses.28

Mit Blick auf diese Richtungen lässt sich der Theorierahmen unseres Tagungsbandes näher beschreiben. So sind in jüngerer Zeit die Praktiken des Sammelns und Sammlungen aus philosophischer, kultur- und wissensgeschichtlicher Sicht so eingehend erörtert worden, dass sich für die Literaturwissenschaft generell, doch spezifisch auch für die Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wichtige Ansatzpunkte ergeben. Auszumachen sind sie insbesondere dort, wo das Sammeln als produktive Tätigkeit und mehr noch als „Welterschaffungs- und Weltordnungskompetenz“29 verstanden wird. Doch auch dort, wo neben Nützlichkeits- und Zweckbeziehungen der Eigenwert der gesammelten Stücke als Bedeutungsträger mit ästhetischer Wirkung zur Diskussion steht, erweisen sich Theorien über das Sammeln für Analysen der literarischen Praxis als besonders aufschlussreich.

Bei näherer Betrachtung korrespondiert das Wort- und Textsammeln in der Literatur mit kulturellen Praktiken in mehrfacher Hinsicht: Enge Zusammenhänge bestehen mit den Anfängen und der Entwicklung des Museums als zivilisatorischem Konzept, da in musealen Sammlungen die einzelnen Sammelstücke den Status ausstellungswerter Bedeutungsträger (‚Semiophoren‘)30 erhalten und sich im Vergleich die Frage stellt, wie die Valenz gesammelter Worte und Texte innerhalb spezifischer Traditionen, Gattungen und Diskurse verändert wird. Dabei erlaubt es dieses Verständnis, einerseits die wissensgenerierende Funktion des Sammelns, andererseits die Relevanz von Sammelpraktiken für das kulturelle Gedächtnis zu akzentuieren – dies insofern, als die Betrachtung gesammelter Objekte die Erinnerung an Vergangenes hervorruft und damit einer elementaren Leistung von Literatur zuarbeitet. Berührt sind damit auch die Bezüge des Sammelns zur Dimension von Zeit und Zeitlichkeit. Denn grundsätzlich schließt die Sammeltätigkeit stets die Potenziale einer vergangenheitsbezogenen ‚Aura‘ und einer zukunftsgerichteten ‚Latenz‘ ein: Sammelstücke einer vergangenen Welt rufen die Aura eines entfernten Ursprungs hervor, bergen zugleich aber die Latenz künftiger Nutzung, deren Bedeutung den Sammlern selbst entzogen bleibt.31 Darüber hinaus verweisen literarische Texte auf den Prozess des Sammelns, der zeitlich strukturiert ist, und sie unterliegen selbst der Zeitlichkeit, insofern sie dem temporalem Wandel, doch auch dem Verfall und der Zerstörung ausgesetzt sind. Sammlungen sind zudem nicht nur durch archivierende und bewahrende Funktionen bestimmt, da sie in der Überlieferung verloren oder vergessen, erweitert oder ergänzt werden können.32 Aus einer übergeordneten Perspektive erweisen sich die Konzepte, Praktiken und Poetiken des Sammelns damit als aussagekräftige Indikatoren kultureller Veränderungen und sogar epochaler Umbrüche.

Eine Standortbestimmung zum ‚Sammeln als literarische Praxis‘ ist eine Aufgabe, die aus Sicht der germanistischen Mediävistik und Frühneuzeitforschung erst noch zu leisten ist. Diesem Desiderat haben sich das 2019 auf dem Monte Verità durchgeführte Anglo-German Colloquium33 und der daraus resultierende Tagungsband in ersten Schritten gestellt. Die darin vereinten Beiträge verfolgen das Ziel, die Bedeutung des Sammelns in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur in Fallstudien exemplarisch zu erkunden. Sie konzentrieren sich auf die Relevanz des Sammelns als kultureller Praxis für die Literatur im genannten Zeitraum. Sammeln wird dabei als produktives Aneinanderfügen von Worten und Texten betrachtet, während die Sammlung als Ergebnis des Sammelns auf Konzepte des Speicherns, Bewahrens und ästhetisch-poetischen Gestaltens verweist, auf Funktionsweisen, die in Zusammenhang mit dem individuellen und kulturellen Gedächtnis stehen.

Der Band ist systematisch in sechs Sektionen unterteilt, die das Thema ‚Sammeln und Sammlung‘ als Forschungsfeld der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wie folgt strukturieren:

Literarische Sammlungen in Handschriften und Frühdrucken

Texte in literarischen Sammlungen

Literarische Texte als ‚Sammlungen‘

Sammeln als literarisches Thema

Aufzählen als poetisches Prinzip

Das Sammeln literarischer Texte als kulturelle Praxis

Die erste Sektion rückt die hand- und druckschriftliche Überlieferung von Sammlungen unter wechselnden Gesichtspunkten ins Zentrum. Zunächst zeigen die materialreichen Studien von Julia Frick und Sarah Bowden, wie das am Murbacher Bibliothekskatalog und an der Vorauer Handschrift Cod. 276 fassbare Buch- und Textsammeln in übergeordnete Diskurskontexte führt. An geistlichen Liederhandschriften arbeitet sodann der Beitrag von Almut Suerbaum heraus, was es heißt, dass für Entstehung und Verbreitung schriftlicher Sammlungen Kollektive und soziale Netzwerke verantwortlich zeichnen. Wie dagegen das Interesse einzelner Sammler kreative Sammelprojekte ermöglicht, führen detailliert die Analysen von Klaus Kipf und Pia Rudolph zur illustrierten Handschrift Cim. 102 der Münchener Universitätsbibliothek (3. Viertel 15. Jh.) sowie von Linus Möllenbrink zu der handschriftlich erhaltenen Schwanksammlung des Roldmarsch Kasten von Dietrich Marold (1608) vor. Die Reihe dieser Beiträge wird von Jürgen Wolfs systematischen Überlegungen abgeschlossen, die den Begriff der ‚Sammelhandschrift‘ im Kontext grundlegender literaturwissenschaftliche Kategorien – Autor, Werk, Gattung – zur Debatte stellen.

Den Ausgangspunkt zur zweiten Sektion ‚Texte in literarischen Sammlungen‘ bilden Fallstudien zu spätmittelalterlichen Legendaren: Cornelia Herberichs weist am Beispiel des Legendars Der Heiligen Leben schlüssig nach, wie die gesammelten Einzeltexte durch den Sammlungskontext spezifischen Mehrwert erhalten. Julia Weitbrecht vermag für die im Bůch der heilgen megde und frowen (um 1460) enthaltenen Legenden ein überlegtes Verweissystem nachzuzeichnen, das mit seinem intertextuellen Sinngeflecht für die klösterliche Gemeinschaft identitätsstiftend wirken konnte. Aus der Perspektive der Wissens- und Bildungsgeschichte untersucht dagegen Nikolaus Henkel die Marginalien in Sebastian Brants Stultifera navis (1497); dabei ermittelt er nicht nur die reichen Quellen des Werkes, sondern es gelingt auch, die im Hintergrund mitgeführte Büchersammlung zu erschließen. Alternativ setzt Rabea Kohnen bei der Multimodalität gedruckter Textsammlungen mit der Frage nach dem Bildinventar des Druckerverlegers Sigmund Feyerabend an, um in ihrer Analyse der Heldenbuch-Ausgabe von 1560 einerseits die kohärenzstiftende Wirkung der Buchillustration, andererseits aber deren Leistung für die intertextuelle Vernetzung der bei Feyerabend gedruckten und verlegten Werke herauszuarbeiten.

Dass literarische Texte als selbständige Sammlungen angelegt sein können, steht sodann als leitender systematischer Aspekt im Zentrum der dritten Sektion. Stephen Mossman nimmt eine Neubewertung der deutschen Mosaik-Traktate des 14. Jahrhunderts vor, indem er die Traktate mit Blick auf die Gattung des Cento als Produkte einer spezifischen kompilatorischen Kunstpraxis analysiert und das Entstehen der mosaikartig komponierten Textsammlungen der avancierten deutschen Scholastik zuweist. Gattungspoetische und literaturgeschichtliche Perspektiven öffnen auch die weiteren Beiträge dieser Sektion: Mathias Herweg skizziert ein Analysekonzept, das den Roman – vom späten 13. Jahrhundert bis ins 16. und 17. Jahrhundert – als genus colligens anvisiert, als gleichsam enzyklopädisches Genre, dessen Offenheit sich in Wissenseinlagerungen und Inszenierungen von Sammler-Figuren zeigt. Unter dezidiert narratologischer Perspektive erörtert Silvia Reuvekamp die Produktivität der Sprichwort-Inserate der Historia von D. Johann Fausten (1587), wobei ihre Analyse insofern neue Wege geht, als der Diskursbezug des Textes zu Luthers Rechtfertigungstheologie ins Zentrum rückt und die Historia als Reflexionsmedium der Theologie wie des Umgangs mit literarischen Texten erscheint. Abschließend stellt Gerhard Wolf die Hauschronik der Grafen von Zimmern (Zimmersche Chronik, Mitte 16. Jh.) neu zur Diskussion, indem er die Chronik in die Tradition der Kunst- und Wunderkammer verortet, die Bezüge zwischen Sammlungspraxis und literarischem Werk aufdeckt und das Ausstellen der gesammelten Dinge thematisiert.

Die Beiträge der vierten Sektion behandeln das ‚Sammeln als literarisches Thema‘ und gehen auf Beschreibungen von Sammlern, sowie auf die literarische Inszenierung von Sammelpraktiken und Sammlungen ein. Elke Brüggen richtet den Blick auf die wiederholend erzählten Dinge in Wolframs Parzival (1203–1210) und fundiert umsichtig die These, dass Wolframs Erzählen eine den Text übergreifende ‚Dingsammlung‘ konstituiert. Wie vom Artushof als Ort des Sammelns erzählt und das Sammeln zum literarischen Thema wird, zeigt Stefan Abel in differenzierten Textanalysen, die am Beispiel des Rappoltsteiner Parzifal (1331–1336) das Zusammenspiel von Dichten und Sammeln aus Freude erkennen lassen. Gestützt auf reiches Text-Bild-Material demonstriert Robert Schöller die Vielfalt der Minneopfer-Sammlungen des deutschsprachigen Mittelalters und legt dabei besonderes Augenmerk auf die breite Rezeption des Frauenlob zugeschriebenen Spruchstrophe Adam, den ersten menschen, den betrog ein wib, die, wie er sagt, „ein Panoptikum des universalen Minneverhängnisses“ entwirft. In den Schwellenbereich von realer und imaginierter Hofwelt führt schließlich der Beitrag von Annette Volfing: Am Beispiel der Bücherliste im Ehrenbrief des Püterich von Reichertshausen (1462) arbeitet sie ein als Self-fashioning konzipiertes Sammlungsszenario heraus, in dem Püterich und Hermann von Sachsenheim als begeisterte Literatur- und Büchersammler auftreten und Mechthild von der Pfalz als literarische Figur einer vergangenen höfischen Erzählwelt agiert.

In der fünften Sektion ‚Aufzählen als poetisches Prinzip‘ rücken mit Listen, Katalogen und Reihungen die literarischen Praktiken enumerativen Sammelns ins Zentrum. Den Aufschlusswert dieser Praktiken zeigt zuerst Christoph Pretzers Studie zur Heerschau in epischen Dichtungen des 12. und 13. Jahrhunderts, da die narrativ eingebundenen Listen mit ihren Namenreihen und Zahlenangaben einerseits zwar Vollständigkeit und Ordnung suggerieren, andererseits aber auch die Grenzen des Darstellbaren und der Weltrepräsentanz wirkungsvoll vor Augen führen. Wie das Aufzählen als poetisches Prinzip ganzer Texte und Textgruppen wirkt, macht sodann Franz-Josef Holznagel an den in Reimpaarversen gedichteten Registerreden deutlich, insofern Listen und Reihen analoger Einzelelemente deren makrostrukturelle Bauformen bestimmen und damit einen eigenständigen Texttyp konstituieren. Beate Kellner weist darüber hinaus das Aufzählen als durchgehendes, doch auch unterschiedlich umgesetztes Prinzip der poetischen Textgestaltung in François Rabelaisʼ Gargantua (1534/1535) und Johann Fischarts Geschichtklitterung (1575, 1582, 1590) nach. Bei Fischart parodieren die Listen und Kataloge zeitgenössische Wissensordnungen so nachhaltig, dass die Textkohärenz verloren geht und sich eine neue Poetik der Liste formiert.

Die letzte Sektion gilt dem ‚Sammeln literarischer Texte als kulturelle Praxis‘ und bündelt noch einmal Ansätze und Perspektiven der Tagung. Freimut Löser erörtert in seinem Beitrag, systematisch wie historisch ansetzend, die für mittelalterliches Textsammeln charakteristischen Formen und Funktionen in ihren spezifischen Rahmenbedingungen. Seine Beispiele sind die Entstehung des Codex Manesse und das Manesse-Lied des Johannes Hadlaub sowie die Überlieferung der Werke Meister Eckharts. Mit klösterlichen Praktiken des Buch- und Textsammelns befasst sich Simone Kügeler-Race, wobei sich im kontrastiven Vergleich der Privatbibliothek der Katharina Tucher und der Bibliothek des Nürnberger Katharinenklosters das breit gefächerte Sammlungsinteresse der Schwestern an verschiedenen Typen religiöser Literatur besonders deutlich zeigt. Im Schlussbeitrag stellt Caroline Emmelius zwei bisher kaum beachtete Wunderzeichen- und Exempelsammlungen der Frühen Neuzeit vor: das Phänomen der ‚Sammelwut‘ des 16. Jahrhunderts verbindet sie dabei treffend mit einer konfessionellen, hier lutherischen Programmatik des Sammelns. Den Band beschließt das ausführliche, an den auf dem Monte Verità gehaltenen Vorträgen orientierte Tagungsfazit, das Kathrin Chlench-Priber und Sandra Linden besorgt haben.

Als literarische Praxis, so zeigen es die Fallstudien dieses Bandes insgesamt, haben das Sammeln und die Sammlung erhebliche Bedeutung für die Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Jüngere ethnologische, kultursoziologische und philosophische Forschungen geben dabei den Anstoß, die Rezeption, Produktion und Reflexion von Literatur im Kontext kultureller Sammelpraktiken zu betrachten. Für künftige historische Analysen stellt sich daher die Aufgabe, das literarische Sammeln als kreative Tätigkeit, nicht jedoch als etwas bloß Rezeptives zu verstehen. Wie sich immer wieder zeigt, schließt dies die Diskussion zentraler Begriffskategorien wie Autor, Werk und Gattung ein, so dass literaturwissenschaftliche Grundlagenarbeit zu leisten ist.

Literarische Sammlungen in Handschriften und Frühdrucken

Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung

Pragmatik und epistemische Logik des Sammelns am Beispiel des Murbacher Bibliothekskatalogs*

Julia Frick

IDynamik und Statik der Sammlung

Reliquos eius libros adhuc quaerimus […] Alios plures invenire desideramus. ‚Seine übrigen Bücher suchen wir noch […] Mehrere andere wünschen wir zu finden.‘ Bemerkungen wie diese, die in z.T. variierendem Wortlaut den Murbacher Bibliothekskatalog systematisch durchziehen,1 dokumentieren die besondere Relevanz von Büchern als Objekten des Sammelns im kulturellen Kontinuum.2 Sie spiegeln, zumal als Medien der Wissenssicherung und Wissensvermittlung, institutionelle Praktiken, die durch den in einer Bibliothek repräsentierten ‚Lektürekanon‘ auf je spezifisch geprägte Wertevorstellungen und die darin eingeschriebenen epistemischen Dimensionen rekurrieren.3 Innerhalb des in einem Bibliothekskatalog ausgewiesenen Symbolsystems, das eine thematische Markiertheit der Bestände und damit eine hierarchisch gegliederte Ordnung des gesammelten Materials anzeigt,4 generieren sie einen „Wissensraum“,5 der als Referenzgröße für die kollektive Identitätsbildung dient.6 Sammeln erweist sich in dieser Hinsicht, das zeigen die frühesten erhaltenen Bibliothekskataloge der Karolingerzeit,7 als kulturelle Konstante im Umgang mit der Tradierung gelehrter Bildungsinhalte. Mittelalterliche Bibliothekskataloge erschließen nicht nur den konkreten Raum (d.h. die Aufstellungsorte der Bücher) in einem ordnenden, heilsgeschichtlich perspektivierten Zugriff, sondern konservieren die in ihnen fixierten Wissensstrukturen über die Zeit: als Sammlungen, die die Erinnerung einer Institution maßgeblich prägen und insofern zu „materialisierte[n] Gedächtnisse[n]“8 transzendieren. Als Funktionstyp für die Speicherung des gesammelten Wissens unterliegen sie einem markanten Spannungsverhältnis, das auf einer synchronen und diachronen Ebene historisch beobachtbar wird: Zur Zeit ihrer Anlage als erweiterbare, offene Verzeichnisse verweisen Büchersammlungen auf bewegliche Prozesse strukturierter Wissensklassifizierung, in denen sich ein diffiziles Geflecht dynamischer ‚Netzwerke‘ konstituiert; in zeitlicher Retrospektive hingegen gerinnen die schriftlich fixierten Verzeichnisse im Akt der Rezeption aufgrund des ihnen inhärenten Prinzips „der Bewahrung und Rekonstruktion von [kollektiver] Geschichte“9 zu Objekten von ‚monumentalem‘ Charakter, deren Sinnzentrum in der Funktion eines „Zeitspeicher[s]“10 liegt: einer statischen Dokumentation (vergangener) intellektueller Formationen.

Für diese dem Funktionstyp des Bibliothekskatalogs eigene Ambivalenz des Sammelns kann das Murbacher Bücherverzeichnis als exzeptioneller Vertreter der Gattung gelten: Einerseits, weil seine Überlieferungsgeschichte einen für die Frühe Neuzeit zeittypischen Umgang mit dem ins 9. Jahrhundert datierten Bücherverzeichnis indiziert, an dem sich Spezifika seiner ‚Reaktivierung‘ ablesen lassen;11 andererseits weil das Sammeln im Katalog als Medium seiner Repräsentation selbst thematisch wird. Die Sammlung reflektiert nämlich ihre eigene Entstehung von entschiedener Intentionalität:12 Die oben zitierte Formulierung invenire desideramus bezeichnet eine zielgerichtete Suche zur Ergänzung des Bücherbestandes, die zugleich die charakteristische Dialektik von momenthafter Dokumentation und konzeptioneller Offenheit eindrücklich einfängt.13 Die damit beschriebene Prozessualität des Sammelns wird durch das temporale Adverb adhuc intensiviert, das die gegenwärtig vorliegende Sammlung als ein ‚Noch-nicht‘ und insofern gewissermaßen als fragmentarisch (im Sinne einer auf Vollständigkeit zielenden ‚epistemischen Totalität‘14) erweist. Die Tendenz zur Unabschließbarkeit der Sammlung zeigt sich denn auch in einer symptomatischen Latenz,15 die zwischen sichtbar registrierter Inventarisierung des ‚zu Findenden‘ und dessen tatsächlichem Status als ‚fehlend‘ (non habemus) changiert. Diese paradoxe Simultaneität von „Fülle und Mangel“,16 die zugleich eine von Unabgeschlossenheit des Materials und Endlichkeit des Mediums ist, gereicht selbst „zum Motor des Sammelns“:17 Indem die Sammlung zu vervollständigende Werkreihen bestimmter Autoren entwirft, setzt sie eine „Progressionslogik“ frei, die eine potentielle Unendlichkeit der intellektuellen „Ordnungsnetze“ evoziert.18

Der vorliegende Beitrag fragt – ausgehend von einer knappen Skizzierung des Gegenstandsbereichs – nach der Pragmatik und epistemischen Logik des Sammelns im Murbacher Bibliothekskatalog: zwei Parameter, in denen sich systematische Strukturphänomene, mediale und temporale Aspekte, mentale Konzepte, aber auch historische (Wissens-)Diskurse verdichten. Jenseits einer besonders im Zeitalter des Humanismus zu beobachtenden Fokussierung auf imaginierte Bibliotheken, die die kaum zu beherrschende raum-zeitliche Verbreitung von Wissen im Modus fiktiv-utopischer Entwürfe teilweise destruktiv-parodierend reflektieren,19 öffnet der karolingerzeitliche Bibliothekskatalog den Blick auf einen als ideal konzipierten Wissensfundus von institutionell-kollektiver Relevanz. Ziel des Beitrags ist es, die synchronen wie diachronen Konstellationen des Sammelns mit ihren Spielräumen divergierender Bedeutungskonstitution exemplarisch zu erfassen.

IIDiachrone Ebene: Restitution und Archivierung

Der Murbacher Bibliothekskatalog repräsentiert einen Bücherbestand, der mit rund 340 verzeichneten Werken – darunter einer umfangreichen Abteilung der christlichen Patristik, aber auch antiker Klassiker – die im Jahr 727 gegründete Benediktinerabtei als geistiges und kulturelles Zentrum des 9. Jahrhunderts ausweist.1 Unter den zeitgenössischen Bibliothekskatalogen der weiteren Klöster im deutschen Südwesten (z.B. St. Gallen, Reichenau, Lorsch)2 zeichnet er sich aufgrund seiner außergewöhnlich umfangreichen Liste an ‚gesuchten‘ Büchern durch ein einzigartiges Profil aus: Zwar enthalten die Bibliothekskataloge anderer karolingischer Klöster (z.B. Freising, Lorsch),3 durchaus auch Hinweise auf fehlende, gleichwohl freilich: nicht gesuchte, Bücher,4 doch bleiben diese Angaben weit hinter der Zahl von insgesamt 76 spezifischen Desiderata und 15 allgemeinen Suchhinweisen im Murbacher Katalog zurück.5 Er spiegelt damit als Denkmal des geistigen Lebens des Klosters eine Sammelpraxis, die eine Erweiterung des Bücherbestandes nach einem thematisch orientierten Prinzip intendiert.

Der Katalog ist in einer Abschrift von 1464 überliefert, die der aus Augsburg stammende Benediktiner und Humanist Sigismund Meisterlin6 bei seinem Aufenthalt in Murbach in den Jahren 1463/64 im Auftrag des Abtes Bartholomäus von Andlau (um 1400–1476) angefertigt hatte.7 Sie ist im Kontext der Sichtung und Dokumentation der historischen Zeugnisse des Klosters zu verorten, die der literatur- und kulturbeflissene Abt zum Zwecke institutioneller Selbstvergewisserung vor allem in der Zeit zwischen 1452 und 1464 betrieb.8 Dazu zählt einerseits die Meisterlin zugeschriebene Abfassung der Murbacher Annalen, die die „grosse[] Vergangenheit“ des Konvents in einer bis zur Lebenszeit des Bartholomäus von Andlau reichenden ‚Ursprungshistorie‘ überliefern, der die Liste der Äbtereihe beschließt.9 Dazu zählt andererseits die Anlage eines Kartulars (Colmar, Archives Départementales du Haut-Rhin, Cartulaire Abbaye Murbach Nr. 1),10 in dem der rechtskräftige Charakter der Klosterprivilegien mittels einer Sammlung von kaiserlichen Diplomen und päpstlichen Urkunden festgehalten wird.11 Diese systematisch strukturierte, auf Bewahrung des Erinnernswerten für die Nachwelt zielende Zusammenstellung bietet neben zentralen Quellen zur Klostergeschichte (z.B. Gründungs- und Schenkungsurkunden) einen schriftlichen Reflex materieller Artefakte des Klosters von hohem Symbolcharakter. So enthält das Kartular ein Schreiben Meisterlins an Bartholomäus von Andlau (Epistola de Tapecijs antiquis),12 das eigentlich die Beschreibung zweier Wandteppiche aus dem 13./14. Jahrhundert zum Inhalt hat, die Darstellungen der Klosterprivilegien visualisieren, aber zugleich wertvolle Einblicke liefert in die Bemühungen des Murbaches Abtes um den Erhalt der von seinen Vorgängern überkommenen ‚Denkmäler‘ (omnia predecessorum tuorum monimenta, S. 626, Z. 5). Darunter fällt auch der klösterliche Buchbestand: Denn dieser befand sich offensichtlich zur Abfassungszeit des Textes (die Epistola ist auf den 7. März 1464 datiert) infolge von Feuchtigkeitsschäden und anderen äußeren Einflüssen in einem solch desolaten Zustand, dass er einen Wunsch des Verfassers nach ‚Errettung’ der Bände provozierte: Et o vtinam et illa [i.e. opera]que de tot supersunt tuas ad manus deuenissent integra ac aluuione minime attrita (S. 626, Z. 13–15; ‚Ach, wären doch auch jene [Werke], die von so vielen übrig geblieben sind, unversehrt und von der Nässe möglichst wenig abgenutzt in deine Hände gelangt!‘).13 Der Verweis auf die ehemals so zahlreich in der Murbacher Bibliothek verwahrten Werke (tot[i.e. opera]) etabliert eine Opposition zwischen glorreicher Vergangenheit und dem als defizitär empfundenen gegenwärtigen Status des Klosters, den die Absenz eines gewichtigen Teils des ehemals reichen Bücherfundus als intellektuellen ‚Kapitals‘ impliziert.

Das hier artikulierte „Medienproblem“14 geht auf eine Entdeckung zurück: Denn die von Bartholomäus von Andlau und Sigismund Meisterlin betriebene Revision der Klosterbibliothek brachte einen Rotulus zutage, der ein Verzeichnis der ehemals in Murbach verwahrten Bücher umfasste. Davon berichtet der Humanist in dem bereits zitierten Schreiben:

Profecto verum experti sumus quod vetustas omnia consummit, ac tinea antiquitatis conficit vniuersa, idque licuit videre in tot codicibus magna cura et ingenio partum in loco illo sanctissimo ac vetustissimo tibi commisso repositis, prout hesternum quod reuoluebamus ostendit rotulum, quod tot describit iam proch deperdita opera, ut numerum repertorum excedant. (S. 626, Z. 8–13)

Denn wir haben tatsächlich erfahren, dass die lange Zeit alles vernichtet und der Wurm des Alters das Ganze aufgezehrt hat; dies ließ sich an zahlreichen Codices beobachten, die mit großer Sorgfalt und Sachverstand der Vorfahren an jenem überaus heiligen und alten, dir überantworteten Ort aufbewahrt worden sind, wie der gestrige Rotulus, den wir entrollten, zeigte, der leider schon so viele verlorene Werke verzeichnet, dass sie die Zahl der aufgefundenen übersteigen.

Die Forschung hat plausibel machen können, dass der von Meisterlin beschriebene Rotulus zwei Verzeichnisse enthalten hat:15 1. den vermutlich um 840 angelegten umfangreichen Bibliothekskatalog des Klosters Murbach; 2. ein im 3. Viertel des 9. Jahrhunderts unter dem Murbacher Abt Iskar entstandenes kürzeres Bücherverzeichnis (Breviarium librorum Isghteri abbatis),16 vermutlich eine „Zuwachsliste der Murbacher Bibliothek“;17 3. einen von Meisterlin angelegten Index auctorum: eine Liste der in den beiden Verzeichnissen enthaltenen Autorennamen (Auctorum librorum qui in isto rotulo continentur hec sunt nomina).18 Die Aufnahme der Murbacher Kataloge in das Kartular belegt einen durchaus funktionalen Charakter der Dokumente, der für Bartholomäus von Andlau offenbar von Bedeutung gewesen ist: Indem sie die Reihe der Klosterprivilegien gewissermaßen ‚komplettieren‘, werden die Bücherverzeichnisse pragmatisch als Inventare der materiellen Besitztümer des Klosters semantisiert, die durch die schriftliche Fixierung in der Urkundensammlung für die Nachwelt gesichert werden sollen. Die folgenden Überlegungen zur Pragmatik und epistemischen Logik des Sammelns stellen den unter 1. angeführten älteren Murbacher Bibliothekskatalog ins Zentrum.

Der Intention, die monimenta der Vorgänger durch den Akt rechtskräftiger Dokumentation zu restituieren, dienten aber auch konkrete Ordnungsarbeiten an der Murbacher Klosterbibliothek: Sie zeichnen sich an einigen Codices ab, in denen Bartholomäus von Andlau zwischen 1452 und 1464 eigenhändige Eintragungen vorgenommen hat, die auf die Tätigkeit des Abtes (v. a. die Besserung unlesbar gewordener Stellen) Bezug nehmen.19 Ebenso lassen sich handschriftliche Notate Meisterlins für die Jahre 1463/64 in einigen ehemals in Murbach verwahrten Manuskripten nachweisen: Zum Beispiel findet sich in einem Codex, der das Bellum civile des kaiserzeitlichen Epikers Lucan enthält,20 der Vermerk: vidi legi ego frater Sigismundus anno MCCCCLXIII ac sequenti istum et alios orate pro me (Bl. 102v; ‚Ich, Bruder Sigismundus, habe im Jahr 1463 und im folgenden diesen [i.e. Codex] und andere durchgesehen und gelesen; betet für mich‘).21

 

Die von der älteren Forschung in Anschlag gebrachte Position, die im Kartular enthaltene Abschrift des Murbacher Bibliothekskatalogs bilde einen Bücherbestand aus deren Entstehungszeit 1464 ab,22 hat sich durch eine Reihe begründeter Argumente als unhaltbar erwiesen. So ist erstens evident, dass nicht ein einziges der als vorhanden oder gesucht markierten Werke des Katalogs der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts oder einer späteren Zeit angehört; Alcuin,23 Hrabanus Maurus24 und Smaragdus von St. Mihiel25 sind die ‚jüngsten‘ Autoren, die Werke Alcuins sind gar mit der Rubrik versehen: Libri […]moderni magistri (Milde [Anm. 1], vor Nr. 243), d.h. Bücher eines ‚Gelehrten unserer Zeit‘.26 Gerade im Hinblick auf die zahlreichen Kommentare des Hrabanus Maurus zur Hl. Schrift27 verzeichnet der Katalog einen Großteil von Hrabans vor 840 verfassten Werken, jedoch keine einzige seiner später entstandenen Arbeiten.28 Hierzu passt zweitens, dass alle Schriften nachkarolingischer Gelehrter wie des Ivo von Chartres, Vincenz von Beauvais, Thomas von Aquin u. a. fehlen, die in einem 1738 angelegten Verzeichnis der Murbacher Bibliothek zugeordnet werden und die wohl zumindest teilweise schon zum Bestand des 15. Jahrhunderts gezählt haben dürften.29 Drittens lassen sich sachliche Mängel an den Katalogeinträgen im Kartular nachweisen, die auf eine inkorrekte Übernahme einiger Titel bei der Abschrift zurückzuführen sind – von solcher Art, dass sie eine Unkenntnis des Abschreibers bezüglich der Spezifika mancher Werke bzw. deren Bezeichnungen offenlegen. Besonders signifikant in diesem Zusammenhang ist der sog. „Beda-Irrtum“.30 Wie zumal der briefliche Verweis auf das hohe Alter des im rotulus aufgefundenen Verzeichnisses nahelegt, repräsentiert der Murbacher Bibliothekskatalog daher keinen frühneuzeitlichen Bücherbestand des Klosters, sondern einen, der in die karolingische Periode, um oder nicht lange nach 840, zu datieren ist.

 

Der Katalog bzw. dessen im 15. Jahrhundert angefertigte Abschrift steht also im Schnittpunkt unterschiedlicher temporal ausdifferenzierter Funktionalisierungstendenzen und Interessen. Während sich der Bibliothekskatalog zur Zeit von dessen Anlage im 9. Jahrhundert als Speichermedium von dezidierter Offenheit versteht, dessen intendierte Erweiterung sowohl in den Desiderata-Listen als auch dem Bestand des Iskar-Katalogs greifbar wird, eignet der Eingliederung der Abschrift in das Kartular durch Bartholomäus von Andlau eine archivalische Dimension,31 die das institutionelle Gedächtnis in einem Akt rechtsverbindlicher Dokumentation festschreibt und „als authentische[s] Zeugnis[] der Vergangenheit“ für die Nachwelt konserviert.32

IIISynchrone Ebene: Ordnungs- und Strukturmuster

Der Grundbestand der im Murbacher Bibliothekskatalog verzeichneten Literatur entspricht im Wesentlichen, was elementare Komponenten wie die Sachordnung betrifft, anderen karolingerzeitlichen Bibliothekskatalogen (z.B. Lorsch, Reichenau, St. Gallen),1 bildet jedoch eine markante eigene ,Physiognomie‘ aus. Die nach ,klassischen‘ Ordnungskategorien hierarchisch organisierten Wissensbestände (Patristik, weitere Theologica, Rechtssammlungen, Legendare, Homilien, Kern der Artes liberales) spiegeln ein systematisches Interesse an den Werken der Kirchenväter:2 Etwa zwei Drittel aller Titel entfallen auf die patristische Literatur, die das Verzeichnis eröffnet (in der Reihenfolge: Cyprian, Ambrosius, Hieronymus, Augustinus u.w.m.).3 Dabei fehlt die in anderen zeitgenössischen Bibliothekskatalogen in der Regel vorangestellte Abteilung der Bibeln, Bibelkommentare und z.T. der Liturgica sowie generell die Gruppe pragmatischer Schriftlichkeit (z.B. Recht, Verwaltung, Regeln) – möglicherweise wurden diese Sachgruppen an anderen Orten als der Bibliothek verwahrt (etwa in der Sakristei, Abtsstube, Infirmarie etc.), wie dies vielfach aus anderen Klöstern bezeugt ist.4 Darauf ist später zurückzukommen. Im zeitgenössischen Vergleich herausragend ist der Bestand an Werken paganer Autoren, darunter überlieferungsgeschichtlich bedeutsame Texte wie das Geschichtswerk des Livius,5 mehrere rhetorische Schriften Ciceros (unter dem Sammelbegriff Rhetorica) sowie dessen philosophische Abhandlung De officiis,6 ferner das naturphilosophische Werk des Lukrez (De rerum natura)7 sowie ein Vergil-Codex, der die drei Hauptwerke des Dichters (Bucolica, Georgica, Aeneis) sowie eine für diese Zeit ungewöhnlich umfangreiche Sammlung der Vergil zugeschriebenen kleineren Dichtungen, die sog. Appendix Vergiliana, enthielt.8

Seinen exzeptionellen Status verdankt der Katalog gleichwohl der gewichtigen Abteilung der Patres, denen sich der Großteil der Desiderata-Vermerke zuordnen lässt: Gesucht werden Bücher des Cyprian, Ambrosius, Hieronymus, Augustinus, Origenes, daneben des Beda Venerabilis und, in geringerem Umfang: Isidor, Prosper, Primasius – ein Hinweis darauf, dass das Vermittlungspotential dieser Werke zum Verständnis des göttlichen Wortes in der Hl. Schrift für die Ausrichtung des intellektuellen Profils des Klosters zentralen Stellenwert besaß. Die Suchhinweise lassen sich, wie Wolfgang Milde gezeigt hat, formal folgendermaßen gruppieren:9 1) Allgemeine Suchhinweise ohne genaue Titelangaben, z.B. der Eintrag Reliquos eius libros / adhuc quaerimus (‚seine übrigen Bücher suchen wir noch‘) am Ende der 14 Titel zählenden Liste zu den Libri Beati Cecilij Cipriani.10 2) Listen zur vollständigen Erfassung ganzer Autorencorpora, eingeleitet mit einer Suchformel (z.B. Adhuc quaerimus quae secuntur ‚wir suchen noch die [i.e. Werke], die folgen‘).11 3) Angaben zu vorhandenen, aber unvollständigen Werken12 – ein Phänomen, das der Murbacher mit anderen zeitgenössischen Bibliothekskatalogen gemeinsam hat (z.B. Freising).13

Die Desiderata-Listen des Murbacher Bibliothekskatalogs entwerfen (zu ergänzende) Serien von Werkprofilen, die geradezu als Verzeichnis der ‚gesammelten Schriften‘ eines Autors fungieren.14 Die sprachlich-syntaktisch aufeinander rekurrierenden Suchhinweise bilden kombinatorische Korrelationen, die das einzelne gesuchte Werk sowohl im Ganzen der Serie als auch in der Gesamtheit des Katalogs sinnvoll aufgehen lassen. „Die serielle Ordnung exponiert eine Spannung zwischen Teil und Ganzem“,15 die auf eine konzeptionelle Offenheit der (Bücher-)Sammlung im Sinne einer im Wachsen begriffenen Bibliothek verweist.16 Ihre kulturhistorische Bedeutung gründet vor allem auf der Beobachtung, dass die Desiderata nicht unmittelbar aus pragmatischen Konstellationen, z.B. als Ergebnis von Austauschprozessen, hervorgehen.17 Vielmehr reflektieren sie eine spezifische Wissensorganisation, die nachweislich schriftliterarischen Quellen entnommen ist. Dieses Faktum sei knapp am Beispiel der Werkverzeichnisse des Augustinus und Beda Venerabilis umrissen, denen sich insgesamt 62 der 76 Desiderata zuordnen lassen.

Die zweiteilige Gliederung des Eintrags zu Augustinus orientiert sich im Hinblick auf Wortlaut und Abfolge der Titel an der von ihm selbst vorgenommenen Aufteilung seiner Werke in zwei Bücher, die als Capitula in einer Liste den Retractationum libri duo in der zeitgenössischen Überlieferung in der Regel vorangestellt sind.18 Diese Quelle liegt der Strukturierung des Katalogeintrags sowohl für die vorhandenen als auch für die insgesamt 39 gesuchten Bücher zugrunde: Zunächst werden Angaben nach dem ersten Buch der Retractationes gemacht,19 danach der Bestand sowie Desiderata nach dem zweiten Buch erfasst.20

Auch die 23 Desiderata-Vermerke für Beda Venerabilis sind einer Werkliste entnommen, die er selbst 735, „etwa 3 oder 4 Jahre vor seinem Tode […] zusammengestellt hat“21 und die am Ende von seinem Geschichtswerk Historia ecclesiastica gentis Anglorum überliefert ist.22 Ein Spezifikum dieses Verzeichnisses sind Kommentare in der ersten Person Singular zu einzelnen Texten (z.B. Konstruktionen mit den Verben inveni, curavi, correxi), welche die Angaben aufgrund ihrer Länge zu teilweise unübersichtlichem Format anschwellen lassen und sich daher eigentlich nur eingeschränkt für die Übernahme in einen Bibliothekskatalog eignen.23 Sie dokumentieren nachdrücklich, dass nicht nur die Anlage der Desideratenlisten, sondern auch das Verzeichnis der vorhandenen Schriften auf der Grundlage von Bedas eigenem Werkverzeichnis gearbeitet sind.24

Für die übrigen 14 Desiderata spielen die zwischen 551 und 562 verfassten Institutiones divinarum et saecularium litterarum des Cassiodor eine herausragende Rolle.25 Beinahe sämtliche der gesuchten Werke des Ambrosius, Hieronymus, Origenes, Prosper und Primasius sind dem ersten Buch von Cassiodors ‚Einführung in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften‘ entnommen,26 die „als Katalog seiner Bibliothek zu Vivarium“27 gilt und die auch im Murbacher Katalog inventarisiert ist (Nr. 201). Cassiodor bestimmt die programmatische Funktion seines Werkes als umfassende Ausbildung seiner Mönche, die sowohl die Einsicht in das Erlangen des Seelenheils (salus animae, S. 3, Z. 24) als auch eine profunde weltliche Bildung vermitteln soll (saecularis eruditio, ebd.).28 Da es an öffentlichen Lehrern für die geistlichen Schriften mangele (ut Scripturis divinis magistri publici deessent, S. 3, Z. 5), sollen die Institutiones geradezu an deren Stelle treten (ad vicem magistri, ebd., Z. 17). Ziel ist die Sicherung des Verständnisses der Hl. Schrift, der Basis allen Wissens (S. 6, Z. 18–22). Im Sinne eines gelehrten Cursus entwickelt das erste Buch eine „empfehlende Bibliographie christlicher Autoren“,29 während das zweite Buch die litterae saeculares nach den septem artes liberales behandelt und damit als „Voraussetzung für einen informierten Umgang mit der Heiligen Schrift“ dient.30 Aber auch das Ordnungssystem innerhalb der Abteilung der Patres im Murbacher Katalog, das sich markant von den Gliederungstypen zeitgenössischer Bibliothekskataloge unterscheidet (z.B. St. Gallen, Reichenau),31 ist wohl von Cassiodors Schrift beeinflusst: Die Hierarchisierung der patristischen Literatur nimmt die Strukturprinzipien der Institutiones nahezu unverändert auf.32 Diese enthalten darüber hinaus wie der Murbacher Bibliothekskatalog Angaben zu gesuchten Büchern, die nicht zuletzt in ihrer sprachlichen Form (z.B. der Verwendung der Verben quaerere, desiderare) als Muster für die Anlage der umfangreichen Desideratenlisten gewirkt zu haben scheinen33 und die sich von einer reinen Klassifizierung der Bücher als fehlend deutlich absetzen.34 Die Fokussierung auf Werke der Kirchenväter als essentiellen Leittexten zum korrekten Verständnis der Hl. Schrift verweist auf ein „Kulturprogramm“ von „prononciert intellektuelle[r] Ausrichtung“,35 wie es in Cassiodors Institutiones divinarum et saecularium litterarum entworfen wird. Der Murbacher Katalog ist damit auch ein bemerkenswertes Zeugnis für die kulturgeschichtliche Bedeutung dieser Schrift im Hinblick auf die Etablierung einer Wissensordnung, die umfassende Kenntnisse in den divinae litterae und deren Auslegung vermitteln will.36

Die Desiderata-Listen stellen, basierend auf einem systematischen Rückgriff und einer akkuraten Auswertung der vorliegenden schriftliterarischen Quellen, die an einer thematischen Kohärenz orientierte Prozesshaftigkeit des Sammelns von Literatur vor Augen, die für das kulturelle Selbstverständnis der Institution und der sie konstituierenden Ordnungszusammenhänge von substantieller Bedeutung ist. Neben einer räumlichen Ordnung der Bibliothek als realem Wissensraum wird eine epistemische Ordnung erfahrbar,37 deren ‚innere‘ Struktur das Einzelne im Ganzen aufgehen lässt und die Konstanten ihrer Selbstreferentialität zugleich mitreflektiert. Insofern eignet dieser bewusst als offen markierten ‚Sammlung‘ in synchroner Perspektive eine eigentümliche ‚Bipolarität‘, indem die inventarisierten Objekte über sich selbst hinaus abstraktere Deutungsdimensionen abbilden, für die eine immanente Spannung von Präsenz und Absenz konstitutiv ist. So entfaltet sich im Vorgang ‚abschreitender‘ Lektüre ein nach den zeitgenössischen Prinzipien organisiertes Kontinuum ‚totalen‘ Wissens, das auf ein spezifisches Bildungskonzept ausgerichtet ist.

IVSemantiken des Sammelns: Suchen und Finden

Ein Blick auf die Objekt- und Beobachtungsebene offenbart signifikante Differenzen. Während die analytische Begriffsbildung den systematischen Status des Funktionstyps Sammlung und deren Prozeduren in distinkten Nuancierungen fokussiert (Archiv, Inventar, Katalog, Liste etc.),1 bildet die historische Semantik gewissermaßen qualitative Aspekte des Sammelns als Vorgänge von je spezifischer Modalität ab. Das einschlägige Lexem für die Tätigkeit des ‚Sammelns‘ ist – in latinistischer Perspektive gewissermaßen als locus classicus – das Verb legere mit seinen Derivaten,2 die die Vorstellung eines prozesshaften Zusammenstellens evozieren, der Prinzipien der Distinktion und Selektionierung, der Dislozierung und (Neu-)Ordnung des jeweils ‚Gesammelten‘ inhärent sind. „Im Prinzip des legere“3 manifestiert sich ein Konzept kultureller Praktiken des Sammelns, das auf einer dichotomischen Struktur von Produktion (‚Sammeln‘ als Tätigkeit) und Rezeption (‚Wahrnehmung des Gesammelten‘ als kognitiver Prozess) basiert.4

Diese Aspekte liegen den lat. Komposita zugrunde wie colligere (‚zusammenziehend sammeln, verdichten‘), eligere (‚auswählen‘ [aus einer größeren Menge herausnehmen]), diligere (‚auserwählen‘ [herausheben]) und anderen mehr. Auch räumliche und zeitliche Evokationen können dabei zum Tragen kommen: So verweist das Verb relegere auf den iterativen Charakter des Sammelns, der sowohl lokal (‚an einen Ort zurücklegen‘) als auch temporal (‚von Neuem lesen‘) zu denken ist; die Verben perlegere (‚genau betrachten, lesen‘) und mehr noch lectitare (‚mit Eifer sammeln‘) fungieren als Intensiva, die mit den Kategorien der Konzentration und (Aus-)Dauer eine repetitiv-kontinuierliche Prozesshaftigkeit implizieren. Dass mit dem semantischen Feld von legere Dimensionen kognitiver Strukturierung, Hierarchisierung und qualitativer Bewertung des mental ‚gesammelten‘ Materials unmittelbar verbunden sind, dokumentiert sich signifikant in den Abstrakta intellegere bzw. intellectus: Die Grundbedeutung verweist auf die charakteristische Unterscheidungsfähigkeit, die das kognitive Modell des ‚Sammelns‘ im Sinne eines ordnenden Zugriffs auf die vielfältigen Sinneswahrnehmungen und deren Bewältigung bestimmt (wörtlich: intellegere, ‚dazwischen wählen‘).5 Enger auf die Buchproduktion bezogen erscheinen die Substantive collectio (‚das Zusammenlesen‘) und florilegium (‚Blütenlese‘), die zur Bezeichnung von jeweils nach bestimmten Parametern geordneten Sammlungen verwendet werden. Darin konstituiert sich ein kompilatorisches Konzept von Vorfinden, Dislozieren und Einordnen in alternativ strukturierte (literarische) Arrangements. Die hier freilich nur skizzenhaft angedeutete Semantik des Sammelns lässt eine spezifische Metaphorik sichtbar werden, die die Prozesse des Suchens und Findens, der Ordnung und Strukturierung, der Selektion und Archivierung mit kognitiven Konstanten kombiniert. Die semantischen Konturen des Sammelns erweisen sich insofern in ihrer jeweils historischen Ausprägung als Reflexionsmedien kultureller Praktiken, die einen zeitgebundenen Umgang mit den vorhandenen Wissensbeständen repräsentieren. Deren Realisierung im Murbacher Bibliothekskatalog gelten die folgenden Beobachtungen.

Auch wenn in den Desiderata-Vermerken keine der beschriebenen Lexeme enthalten sind, sondern sich die sprachliche Form in erster Linie auf Vorgänge des Suchens und insofern auf kompilatorische Konzepte des Zusammenstellens, der Auswahl und Rekombination konzentriert, partizipieren diese ganz grundlegend an den kulturellen Sinnbildungsprozessen, die sich um das semantische Feld des ‚Sammelns‘ gruppieren. Milde konstatiert einen „erstaunlich großen Reichtum von Ausdrücken für das im Grunde nur formale Anmerken von fehlenden Büchern“, die der Verfasser des Murbacher Katalogs „in seiner Klosterbibliothek haben wollte.“6 Damit sind zwei Aspekte benannt, die die Semantik des Sammelns im exemplarischen Fall des Funktionstypus Katalog kennzeichnen: die auf Bestandsergänzung gerichtete Intentionalität, die sich schriftlich-formal in differierenden sprachlichen Konstruktionen manifestiert. Gleichwohl scheint sich hinter der vordergründig inhaltskonformen, nur ‚äußerlich‘ variantenreich ausgeführten Formalisierung7 eine Bedeutungsebene abzuzeichnen, die Einblicke in das zugrundeliegende Konzept des Sammelns erlaubt. Denn gerade die Ausdrucksfülle lässt sich als Hinweis auf mentale Sinnhorizonte verstehen, in denen sich semantische ‚Netze‘ des Sammelns formieren.

Die wohl am häufigsten im Murbacher Bibliothekskatalog anzutreffende Suchformel stellen Konstruktionen mit dem Verb quaerere dar – ein Lexem, in dem der aktive Akt der Suche mit dem Ziel des Erwerbs thematisch wird8 –, die in der Regel das folgende Muster z.T. minimal variieren: reliquos bzw. ceteros eius libros (adhuc) quaerimus.9 Daneben erscheint bisweilen in der gleichen Satzkonstruktion das Verb desiderare, das von seiner Grundbedeutung her einen Moment intensiven ‚Sich-Umsehens‘ nach etwas Absentem markiert und insofern eine gewisse Polarität des Sammelns zwischen Vorhandenem und Abwesendem sprachlich konturiert. Solche Suchhinweise sind also nur vermeintlich „gleichen Inhalt[s]“;10 vielmehr drückt sich darin eine Tendenz zu subtiler semantischer Nuancierung aus, die sich mit Blick auf die weiteren Wendungen bestätigt. Als Ausdruck eines zielgerichteten Interesses fungiert neben der Junktur summo studio (‚mit höchstem Eifer‘, z.B. summo studio quaerimus)11 das Verb cupere: Istis plures addere cupimus, si inveniuntur.12 Dieses Beispiel dokumentiert den potentialen Charakter des auf Wissensakkumulation ausgerichteten Sammelns (addere cupimus), an den das Ergebnis des Suchvorgangs: das Auffinden, relational gebunden ist (si inveniuntur). Über diese Einträge hinaus lässt sich im Murbacher Katalog die Verwendung von Verben des Fehlens nachweisen: z.B. Sequentes libros adhuc non habemus13 bzw. anteriores vero XIII nobis adhuc desunt.14 Sie indizieren im Gegensatz zu den ausdrücklich auf eine prozesshafte Suche weisenden Desiderata-Vermerken einen unvollständigen Status der Sammlung, der wiederum zum Movens für deren Komplettierung gereicht.

Die unterschiedlichen sprachlichen Formen der Desiderata-Vermerke unterliegen keiner regelhaften Verteilung auf die den Autoren zugeordneten Suchlisten. Sie sind Ausweis dafür, „daß dem Murbacher Katalogverfasser ein gewandter schriftlicher Ausdruck zu Gebote stand“15 – aber mehr noch: Gerade aus dem kompetenten Verfügen über das mit der Semantik des Sammelns korrelierende Formenspektrum des Suchens lassen sich Rückschlüsse auf kulturell bzw. institutionell geprägte Sammelkontexte erkennen: Die sprachlich modellierte ‚Suche‘ nach dem Medium Buch bildet eine Unabgeschlossenheit und intendierte Erweiterbarkeit der Sammlung ab, deren zeitlicher Horizont sich insbesondere in dem Adverb adhuc konkretisiert, das zahlreichen Suchhinweisen beigegeben ist (vgl. das obige Beispiel: reliquos eius libros adhuc quaerimus). Damit steht der Vorgang des Sammelns in einem charakteristischen Spannungsverhältnis zwischen dem Status quo und einem in die Zukunft weisenden idealen Konstrukt, dem ‚Bis-Jetzt‘ und einem ‚Noch-nicht‘, das die an spezifische Konditionen gebundene Abschließbarkeit der Sammlung in eine unspezifische temporale Dimension prozessiert.

VPragmatik und epistemische Logik des Sammelns: ‚Innen‘ und ‚Außen‘, Fragment und Idealität

In der Sammlung, die der Murbacher Bibliothekskatalog enthält, ist eine eigentümliche Interferenz zwischen einer prinzipiell materialitätsbasierten Funktionsorientierung nach Außen und einem ‚inneren‘ Konzept zu beobachten, das ein mentales Modell von Wissen evoziert. Betrachtet man die pragmatische ‚Außenperspektive‘ der Wissensakkumulation durch Bücher, scheint die Sammelintention, so die zunächst naheliegende Vermutung, auf eine Bestandsergänzung ausgerichtet, die im Rahmen der klösterlichen Netzwerke des deutschen Südwestens verortet werden könnte und eine Art interbibliothekarischer Sammelkontexte voraussetzt.

Hinweise auf eine intensive institutionelle wie personelle Vernetzung im 9. Jahrhundert sind insbesondere für Murbach und die Reichenau zahlreich belegt.1 Sie werden ablesbar an der Gebetsverbrüderung als „grundlegende[m] Instrument[ ] der identitätsstiftenden Verbindungspflege und damit auch der Selbstvergewisserung als Gruppe“.2 Dokumente solchen Gebetsgedächtnisses sind die sog. Libri vitae bzw. confraternitatis:3 „Mit der Einschreibung des Namens in den Liber vitae einer religiösen Gemeinschaft verband sich für den Gläubigen die Hoffnung, durch Gebet und Fürbitte Aufnahme in jenes Buch des Lebens zu finden, das der Herr am Jüngsten Tag öffnen würde.“4 Das zwischen 823 und 825 angelegte Reichenauer Gedenkbuch (Zürich, Zentralbibl., Ms. Rh. Hist. 27)5 enthält innerhalb der Verzeichnisse von 56 Kommunitäten eine Doppelseite mit Einträgen zum Murbacher Konvent (p. 44/45); die dort gelisteten Namen indizieren eine bis ins 8. Jahrhundert zurückreichende Gebetsverbrüderung der beiden Klöster.6 Personelle Netzwerke sind über den Reichenauer Liber vitae hinaus in der brieflichen Kommunikation zwischen Walahfrid Strabo (808/09–849) und dem Murbacher Abt Sigimar nachweisbar, der dem Konvent zwischen 829 und 840 vorstand;7 ihm soll Walahfrid eigene Dichtungen übersandt haben.8 Die Forschung hat sogar vermutet, „dass dieser [i.e. Walahfrid] während seines Aufenthaltes in Speyer (840–842), als er durch Ludwig den Deutschen kurzzeitig aus dem Kloster Reichenau vertrieben worden war, das Kloster Murbach besucht und dort die Katalogisierung angeregt haben könnte.“9 Diese Hypothese basiert auf dem Faktum, dass sich zahlreiche Buch- und Textimporte im Bestand des älteren Murbacher Katalogs nachweisen lassen, die auf einen regen Austausch mit der Reichenau hindeuten.10 Ferner gibt es Indizien dafür, dass Murbach Vorlagen für einige weitere im Iskar-Katalog des rotulus verzeichnete Bücher von der Reichenau erhielt.11

Aufgrund dieser Anhaltspunkte ist die Existenz von Austauschbeziehungen zwischen Murbach und der Reichenau innerhalb eines auf personell grundierten, institutionellen Verbindungen basierenden interbibliothekarischen ‚Fernleihsystems‘ anzunehmen, das im 9. Jahrhundert Bestand hatte. Dass solche Netzwerke auch zwischen anderen Klöstern zum Usus innerhalb der Verbindungspflege gehörten, bezeugen „konkrete[ ] Indizien im Reichenauer Bestand“, die auf eine „zumindest zeitweilig ziemlich regelmäßige Ausleihpraxis“12 zwischen dem Bodenseekloster und der fränkischen Königsabtei Saint-Denis hindeuten. Einen schriftlichen Reflex der interbibliothekarischen Kontakte zwischen der Reichenau und St. Gallen bietet – aus etwas späterer Zeit – z.B. Notkers III. Übersetzung der Consolatio Philosophiae des Boethius.13 Ähnliches lässt sich – über den Raum des deutschen Südwestens hinaus – auch im Hinblick auf den „Leihverkehr“ des Klosters Fulda mit den Klöstern Montecassino oder Lorsch nachweisen.14

In dieser Hinsicht ließe sich die Funktion der Murbacher Desiderata-Listen als pragmatisches Instrument im Dienste einer systematischen Bestandsergänzung bestimmen, die vor dem Hintergrund der Vernetzung südwestdeutscher Klöster ihre historische Relevanz gewinnt. Sammeln erschiene insofern als kommunikative Praxis der Wissensakkumulation, die sich insbesondere an Büchern als Transfermedien von Wissen und „Übermittlungsträger[n] kultureller Impulse“ vollzieht.15 Dieser Befund dokumentiert den in der Forschung diskutierten eminenten Status des Buches im Kontext der Austauschprozesse „zwischen den wichtigen Skriptorien“ des Frühmittelalters.16

Doch vermag dieser Aspekt die Ausrichtung der Desiderata an einem prononciert kulturellen Bildungsprogramm, wie es sich an der Orientierung an Cassiodors Institutionesdivinarum et saecularium litterarum abzeichnet, nur vordergründig zu erklären. Denn neben einer funktionalen Dimension wird im Murbacher Bibliothekskatalog ein ideeller Sinnhorizont etabliert, demzufolge der Katalog als Medium der Strukturierung von Wissen über den darin fixierten Bestand hinaus auf eine Sammelpraxis verweist, deren Implikationen jenseits eines zweckgebundenen Prinzips von Suchen und Finden liegen. Damit ist ein ideengeschichtlicher Aspekt benannt, der sich in den Einträgen als einer ‚inneren‘ Matrix konstituiert: Die Auflistung von vorhandenem Material und Desiderata konstruiert eine literarische ‚Topographie‘, die ein ‚Wissensnetzwerk‘ sichtbar werden lässt.

Vergleicht man den Murbacher Bibliothekskatalog als Funktionstyp nämlich mit den erhaltenen zeitgenössischen Bücherverzeichnissen, so spiegelt er eine grundsätzlich andere, im 9. Jahrhundert singuläre Konzeption, die das Prinzip einer systematischen Auswertung schriftliterarischer Quellen für die Desideratenlisten erkennen lässt. Als Suchmittel von konkret funktionaler Qualität im Kontext interbibliothekarischer Netzwerke erscheint er insofern – trotz aller Hinweise auf die Existenz einer solchen Praxis – doch einigermaßen ineffizient: Nicht nur fehlen sachbezogene Angaben etwa zur Anzahl der Bände, zu den Ausleihen etc., wie sie in der Regel zu erwarten wären,17 sowie Texte mit einer dezidiert pragmatischen Funktion (z.B. leges, Verwaltungsliteratur, consuetudines