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Enkel Benny lauscht aufmerksam den alten Geschichten von Opa Manuel, als der in seinem Alter war. Er hört von den Streichen in der Schule, den Spielen am Nachmittag mit der gleichaltrigen Clique und den bereitgestellten Eintopf zu Hause. So erfährt Benny auch wie Opa Manuel den jüdischen Jungen Samuel 1932 kennenlernt. Die beiden werden dicke Freunde. Durch das gegenseitige Einladen zu Festen lernt Manuel die jüdische und Samuel die christliche Welt kennen und verstehen. Die verschiedenen Lebensweisen der beiden sind kein Hinderungsgrund für ihre Freundschaft. Das soziale Umfeld allerdings verändert sich dramatisch als Hitler an die Macht kommt. Intoleranz und Hass gegenüber Juden werden immer bedrohlicher. Die Gruppe "Samuel, Manuel und Co" wird auf eine harte Probe gestellt.
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2020
Für meine Lumpes-Oma
Opa Manuels Erzählung wird durch Vorhänge gegliedert.
Der Vorhang ist geöffnet...
...wenn Opa Manuel von seiner Kindheit erzählt.Also ein Blick in die Vergangenheit.
Der Vorhang ist geschlossen...
...wenn die Geschichte wieder in der Gegenwart spielt.
Der Abgabetermin ist Montag. Aber Benny hat keine zündende Idee. Dennoch muss er sich mit dem Aufsatz dranhalten. Heute ist Samstag. Benny kritzelt auf immer neue Blätter. Kurz darauf zerknüllt er sie. Die Papierkugeln pfeffert er in einem hohen Bogen in den Mülleimer. Schon liegen die ersten Kugeln daneben. Der Eimer ist längst voll. Sein Füller hat schon ziemlich viele Bissstellen vom langen Nachdenken. Nach langer Zeit endlich eine Erleuchtung: Über Fußball könne man ja etwas schreiben. Plötzlich wird es Benny siedend heiß.
„Mensch, das Spiel hätte ich fast vergessen“, sagt der Junge laut zu sich selbst. Daraufhin verlässt er fluchtartig sein Zimmer.
„Morgen ist ja auch noch ein Tag für den Aufsatz“, denkt er.
Der Junge poltert ins Wohnzimmer. Opa Manuel sitzt bereits vor dem Fernseher.
„Na, wie steht`s?“, will Benny wissen.
Erschrocken wendet sich der alte Herr seinem Enkel zu.
„Hast du mich aber jetzt erschreckt!“
Der Junge lässt sich aufs Sofa plumpsen und Opa schimpft los:
„Ein Trauerspiel ist das! Zur Zeit steht es 2:0.“
Benny begreift nicht. Das Ergebnis ist doch okay.
„Eben nicht! Die andere Mannschaft hat die Tore geschossen“,
meint Opa verärgert.
„Bist du wenigsten mit dem Aufsatz fertig?“
„Leider nein“, muss der Junge gestehen.
„Und warum nicht? Was hast du bloß die ganze Zeit gemacht?“, bohrt Opa weiter.
„Mir fällt im Moment nichts ein“, verteidigt sich Benny.
„Als ich in deinem Alter war, musste ich so lange vor den Aufgaben sitzen, bis sie fertig waren.“
„Morgen mache ich ganz bestimmt meine Hausaufgaben“,
schwört Benny.
„Na schön, aber morgen gibt es kein Verschieben mehr. Hast du das verstanden?", fragt Opa.
Benny nickt.
„Dabei fällt mir ein“, schmunzelt Opa, „in der ersten Klasse saß ich verdammt lange an den Aufgaben. Nicht weil ich besonders langsam war, sondern weil ich alles zweimal machen musste.“
„Wieso das?“
„Immer, wenn wir Streit hatten, und das war oft, wischte mir meine Schwester Johanna die ganze Schiefertafel aus.“
„Und, was hast du dann gemacht?“
„Ich? Ich habe alle ihre Puppenkleider versteckt.“
„Cool, Opa. Und weiter?“
„Ab der zweiten Klasse konnte sie mich damit nicht mehr ärgern. Wir bekamen Hefte. Jetzt lass mich aber das Spiel sehen.“ Der Blick des alten Mannes wendet sich wieder dem Bildschirm zu. „Ja! Los! Lauf! Lass dir nicht den Ball abnehmen! Und Schuss!“, brüllt Opa.
Es steht 4:0. Opa haut mit der flachen Hand auf den Tisch und schaltet wortlos den Fernseher aus.
„Opa“, bittet der Junge, „erzähl doch weiter. Wie war das denn früher?“
Opa Manuel strahlt übers ganze Gesicht. Liebevoll sieht er seinen Enkel an.
„Das hast du mich ja noch nie gefragt. Das sind doch alte Geschichten. Interessiert dich das wirklich?“
„Ja, und wie!“
„Na, wenn das so ist.“ Opa Manuel beginnt mit seiner Geschichte.
„Damals, ich war ungefähr so alt wie du jetzt, also zehn als ich diesen .merkwürdigen Traum hatte."
Heiß brennt die Sonne vom Himmel. Zwei Cowboys durchqueren den gefürchteten Landstrich mit den Pferden. Schlimme Dinge, sagt man, sind hier schon geschehen. Durch eine undurchdringliche Nebelwand, wie aus dem Nichts entstanden, verschwanden schon einige Menschen. Die zwei Cowboys haben keine andere Wahl. Hier, nur hier, soll eine Wildpferdherde aufzuspüren sein.
Die Hitze ist unerträglich. Kein Strauch, kein Baum. Schroffe, zerklüftete Felsen ragen in weiter Entfernung steil empor. Stundenlang reiten sie durch den staubigen Sand. Nichts geschieht. Da bemerkt der vordere Reiter erfreut:
„Manuel, sieh nur da vorne!“
„Wo?“
„Na, direkt vor deiner Nase“, meint der Wegbegleiter.
Er deutet mit dem Zeigefinger die Richtung an.
„Wahrhaftig“, sagt Manuel verblüfft, „wir sind am Ziel.“
Die Wildpferde!
Ein wunderbares Tal breitet sich vor ihnen aus. Trotz großer Hitze wachsen dort Sträucher. Einige Pferde kauen genüsslich deren Blätter. Andere dösen in der Mittagshitze. Alles geht friedlich zu. Das ändert sich schlagartig. Die Cowboys galoppieren ins Tal. Die aufgeschreckte Herde galoppiert wie wild nach Süden. Sand wirbelt. Einen Höllenlärm machen die abertausend Pferdehufe. Die Jagd hat begonnen. Vor Manuel galoppiert ein prachtvoller Hengst. Der Cowboy wirbelt mit dem Lasso. Da lässt ein fürchterlicher Knall das ganze Tal erzittern! Die Herde zerstreut in alle Himmelsrichtungen. Auch Manuels Pferd ist erschrocken. Er packt es kräftig bei den Zügeln. Mit wachsamen Augen sucht Manuel die umliegenden Felsen ab. Kein Rauch. Kein Feuerschein. Nichts ist zu entdecken.
„Könnten das Sprengungen gewesen sein?“, wendet er sich fragend seinem Begleiter zu.
Eine Antwort bekommt Manuel nicht. Der Begleiter ist verschwunden.
„Das gibt es nicht. Er kann doch nicht einfach weg sein“, schießt es ihm durch den Kopf.
Weit entfernt, in der flimmernden Hitze entdeckt er ihn wieder. Schnell galoppiert der Cowboy davon, um den großen Vorsprung seines Begleiters und einen Teil der Wildpferde aufzuholen. Sein Begleiter bleibt jedoch unerreichbar, so sehr Manuel sich auch bemüht. Er ruft ihm hinterher. Sein Begleiter reagiert nicht.
Endlich sieht der Cowboy eine Chance ihn doch noch einzuholen. Wenige Meter noch! Da taucht sie vor Manuel auf: die undurchdringliche Nebelwand. Trotzdem reitet Manuel mutig hinein. Sein Begleiter, direkt vor ihm, umhüllt von weißem Nebel. Auf einmal sieht Manuel ihn überhaupt nicht mehr. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.
„Wo kann er nur sein“, denkt der Cowboy.
Immer dichter wird der kalte, nasse Nebel. Inzwischen ist Manuel vom Pferd abgestiegen und führt es bei den Zügeln. Er brüllt in die weiße Wand: „Wo bist du? Melde dich doch!“
Kerzengerade sitzt Manuel im Bett. Im Zimmer, das er mit seiner Schwester Johanna teilt, ist es stockfinster. Leise schlägt der Junge die Decke zurück, schlüpft aus dem Bett und schleicht auf Zehenspitzen zum Fenster. Dort zieht er den Vorhang zur Seite um hinauszuschauen. Draußen liegt die Stadt noch im Dunkeln. Die Straße unten ist menschenleer. Selbst die Häuser scheinen zu schlafen. Der Junge blickt zum Himmel empor. Einzelne Sterne funkeln hell und klar am pechschwarzen Nachthimmel.
„Wie spät mag es sein?“
Da geht in der Bäckerei an der Ecke das Licht an. Die Arbeitszeit des Bäckers und der Gesellen beginnt. Manuel weiß: es ist genau vier Uhr. In der Backstube wird jetzt der Ofen angeheizt, allerlei Brote, Brötchen, und sicher auch Streuselschnecken gebacken. Manuel läuft bei dem Gedanken an frisch gebackene Schnecken das Wasser im Mund zusammen. Am liebsten würde er jeden Tag eine Schnecke verdrücken.
„Opa Manuel“, unterbricht Benny, „isst du heute auch noch gerne Streuselschnecken?“
„Ja schon, aber früher hatten sie mir besser geschmeckt. Damals war das auch was Besonderes, wenn ich mal eine bekam. Ach, das weiß ich noch so gut wie heute. Oft stand ich nach der Schule vorm Bäcker und warf einen sehnsüchtigen Blick in die Auslage dieses Geschäftes“, sagt er etwas schwermütig.
„Heute könnte ich mir jeden Tag eine Streuselschnecke kaufen, damals nicht.“
„Warum nicht?“, fragt Benny.
„Weißt du, meine Eltern hatten sehr wenig Geld und konnten sich so was kaum leisten“, sagt Opa.
„Okay, ich habe es verstanden, aber erzähl weiter“, bettelt Benny. Opa grinst: „Ich stand also am Fenster und bekam allmählich kalte Füße.“
Husch husch ins warme Federbett zurück. Erleichtert stellt Manuel fest, dass seine Schwester noch tief und fest schläft. Also hat Johanna von dem nächtlichen Spaziergang nichts mitbekommen. Um ganz sicher zu sein, wirft Manuel noch mal einen Blick auf ihr Bett. Danach legt er sich zufrieden auf seine Schlafseite. Bis er allerdings wieder einschlafen kann, dauert es eine ganze Weile. Ständig erscheint ihm bei geschlossenen Augen das gleiche Bild. Ganz alleine steht er inmitten der nassen, eiskalten Nebelwand.
Um 6.30 Uhr werden die Geschwister von der Mutter geweckt: „Johanna! Manuel! Aufstehen, es ist Zeit!“, ruft sie.
Unliebsam wird der Junge aus dem Tiefschlaf gerissen. Jetzt öffnet die Mutter auch noch das Fenster. Frische Morgenluft strömt ins Zimmer. Maulend zieht der Junge die Decke über den Kopf. Ein Windhauch hat ihn an der Nasenspitze berührt. Endlich beschließt der Morgenmuffel aufzustehen und klettert müde aus den Federn. Barfüßig watschelt Manuel ins Schlafzimmer seiner Eltern. Jedoch seine Schwester hat die Waschschüssel bereits in Beschlag.
„Oh nein, die braucht immer so lange“, motzt der Junge.
Nicht dass die Schwester trödeln würde, Johanna schrubbt sich nur gründlich von oben bis unten. Ihr Bruder hingegen bevorzugt Katzenwäsche. Das Gezeter der beiden ist bis in die Küche zu hören.
„Wenigstens bin ich sauber, im Gegensatz zu dir“, prahlt Johanna. „Na und! Dafür bin ich schneller fertig“, kontert Manuel. Die Mutter, die den Frühstückstisch richtet, verdreht die Augen.
„Was ist nun wieder los?“, seufzt sie und geht ins gegenüberliegende Zimmer.
„Jetzt ist aber Schluss, ihr alten Streithähne!“, befiehlt Mutter den beiden, „nicht für Sekunden kann man euch alleine lassen. Johanna, jetzt lege mal einen Zahn zu. Schließlich muss Manuel sich ja auch noch waschen.“
„Ach, das muss heute nicht sein. Sie kann ruhig noch....“
„Nichts da“, unterbricht ihn die Mutter barsch.
Endlich ist Johanna fertig und geht frühstücken. Mutter begleitet sie mit der schweren Emailschüssel und schüttet den Inhalt in der Küche in den Ausguss. Als sie zurückkehrt, gießt sie das restliche heiße Wasser aus dem Krug wieder in die Schüssel. Manuel hält dabei seine Hände unter den fließenden Strahl. - Herrlich!
„So, jetzt beeile dich und mache keine Dummheiten. Wasche dich auch hinter den Ohren.“
Die Frau lässt Manuel alleine. Den Waschlappen, vollgetränkt mit Wasser, in die Schüssel platschen zu lassen macht viel Spaß. Auch noch beim zwanzigsten Male. Auf einmal spitzelt Mutter herein:
„Wie weit bist du?“
„Gleich fertig“, meint Manuel und drückt sich den Waschlappen ins Gesicht, so als würde er sich waschen.
Mutter macht zufrieden die Türe wieder zu. Flink schlüpft der Bengel in die kurze Hose und den grobgestrickten Pullover. Die Wollstrümpfe zieht Manuel hoch bis zum Knie.
„Mist, die Ohren“, fällt Manuel plötzlich ein.
Er versucht, sie mit den Haaren zuzudecken. Vergeblich, auch mit dem Kamm klappt es nicht. Die blonden Haare sind einfach zu kurz. Zum Frühstück erscheint Manuel als letzter. Gegenüber vom Vater lässt er sich auf der Eckbank nieder.
„Guten Morgen, Langschläfer, gut geschlafen?“, wird er begrüßt. „Schon“, druckst Manuel, „aber ich hatte einen merkwürdigen Traum.“ „Wirklich? Erzähl mal!“, fordert ihn seine Schwester auf.
„Später Johanna, jetzt lass ihn doch erst mal frühstücken“, ermahnt sie die Mutter.
„Kaffee?“, fragt sie weiter. Manuel nickt.
Das Brot ist ziemlich hart, deshalb tunkt es der Junge in den Malzkaffee. Das schmeckt. Mit dem Löffel werden die Brotbrocken, die zum Schluss noch im Becher schwimmen, herausgefischt. Johanna verzieht das Gesicht, kaffeedurchweichtes Brot findet sie ekelhaft. Lieber schmiert sie sich dick Butter auf die Scheibe. Kauend erzählt Manuel nun doch seinen Traum der vergangenen Nacht.
Vater allerdings muss sich auf den Weg zum Arbeitsamt machen. Schade. Wie fast jeden Tag versucht er dort Arbeit zu bekommen.
Die Hoffnung hat er allerdings schon längst aufgegeben. Die Menschenschlange vorm Arbeitsamt wird täglich länger. Andere marschieren mit Pappschildern um den Hals durch die Straßen, um auf diese Weise Arbeit zu finden. Auf den meisten Schildern steht:
Suche Arbeit jeder Art!
Kaum ist Vater weg, läutet es an der Tür.
„Max ist gekommen!“, ruft Mutter durch den Flur.
In der Küche angekommen, begrüßen sich die beiden Freunde gleichzeitig mit „Servus“
„Bei Manuel dauert es noch ein bisschen. Setz dich doch solange und frühstücke mit uns“, bietet die Mutter dem Gast an.
Das lässt Max sich nicht zweimal sagen. Er greift ordentlich zu. Johanna staunt nicht schlecht was Max so alles verdrückt. Ihrem Bruder gibt sie einen leichten Seitenhieb, um ihn darauf aufmerksam zu machen. In der Küche ist es sehr gemütlich. Friedlich bullert und knackt das Feuer im Herd. Keiner der Vier achtet auf die Küchenuhr, die unaufhaltsam weiter läuft. Als Manuels Mutter zufällig auf die Uhr blickt, trifft sie fast der Schlag.
„Ach du meine Güte! Manuel! Max! Ihr müsst in die Schule“, ruft sie erregt.
Vor Schreck hätte Max beinahe einen riesigen Brotbrocken verschluckt. Und Manuel stellt fest:
„Au backe, in einer halben Stunde beginnt der Unterricht.“
In Windeseile springen die beiden auf. Der Frühstückstisch wackelt mächtig. Grinsend schaut Johanna auf die verfleckte Tischdecke.
„Die kann gut lachen. Sie hat ja erst zur zweiten Stunde Unterricht“, denkt Max.
Wortlos flitzt er zu seinem Freund in den Flur. Dort steht Manuel bereits fix und fertig am Abschluss.
„Max, jetzt mach!“, meint er ungeduldig.
„Ja, ja, ich komme ja schon“, sagt Max genervt.
Schnell reißt er sich noch seine Strickjacke vom Garderobenständer.
Mutter gibt Manuel einen Abschiedskuss. Wie peinlich, und das vor Max! Nun müssen die Kinder los.
„Bis heute Mittag“, verabschieden sie sich.
Mutter ahnt es bereits und schimpft los. Zu spät. Manuel haut die Abschlusstür hinter sich zu. Polternd rennen die beiden Jungs die Stufen im Treppenhaus hinab. Plötzlich öffnet sich die Tür der alten Frau Bach. Eine krächzende Stimme hallt zu den Kindern hinunter:
„Ihr Lausebengels, könnt ihr nicht leiser sein?
Ich habe einen leichten Schlaf!“
Die Frau wird überhaupt nicht beachtet. Krachend fällt als Antwort die Haustür ins Schloss. Auf der Straße nehmen Manuel und Max die Beine in die Hand. Wie verrückt rennen sie die Chaussee entlang. Am Ende biegen sie in die Straße mit den vielen großen Wohnhäusern ein. Nun folgen noch zwei Straßen und eine Brücke. Vor dem schmiedeeisernen Schultor treffen sie auf den barfüßigen Josef. Sein Schulzeug hat er unter den Arm geklemmt.
„Was ist denn mit euch passiert? Ihr seid ja so außer Atem.
Verschlafen, wie?“, fragt der Junge.
„Nicht direkt. Eher verfrühstückt“, meint Manuel.
„Und überhaupt, Max was hast du bloß mit deiner Jacke gemacht? Die ist ja total verdreht“, stellt er fest, „an deiner Stelle würde ich sie richtig anziehen.“
Da hat Josef recht. Max will nicht ausgelacht werden. Manuel öffnet das quietschende Tor. Dahinter liegt das rote Bubenschulhaus, ein dreistöckiges Backsteingebäude. Die Kinder eilen hinein. Der Schulhof ist leer.
„Los, sonst bekommen wir eine Strafarbeit“, schnauft Max.
„Und eine mit dem Rohrstock“, ergänzt Josef.
Im Gebäude hetzen sie bis zum zweiten Stock hinauf. Dort befindet sich ihr Klassenzimmer. Lautes Gebrüll hallt durch den Flur. Josef verdreht die Augen:
„Tobias und Harry streiten sich mal wieder.“
Der „Stock“ ist auf jeden Fall noch nicht da. Die Drei sind erleichtert. Direkt vor dem Lehrerpult hat sich ein großer Kreis um Tobias und Harry gebildet. Die Klassenkameraden feuern die Prügler an.
„Tobias, Tobias! Harry, Harry!“
Ein kleiner Teil der Klasse jedoch ist auf den Holzbänken sitzen geblieben. Plötzlich stürmt ein Junge ins Klassenzimmer. Er hat draußen den Lehrer abgepasst.
„Der Stock kommt!“, brüllt er.
Ein origineller Spitzname für diesen strengen Lehrer.
Schnell löst sich der Kreis der Anfeurer auf. Sie gehen auf ihre Plätze. Max und Manuel rutschen in der zweiten Reihe in die Bank. Auf der gegenüber liegenden Seite lässt sich Josef in die Bank plumpsen. Er sitzt leider alleine. Übrig bleiben Harry und Tobias, die sich immer noch am Boden wälzen. Als beide merken, dass niemand mehr zusieht, rappeln sie sich hoch.
„Der Stock“, zischt Manuel.
Puh, das war knapp. Harry und Tobias schaffen es gerade noch, sich rechtzeitig vor Manuel und Max in die Bank zu setzen. Der Lehrer, mit Brille und gestutztem Bart, betritt den Saal. Die Schüler stehen auf.
„Guten Morgen, Herr Lehrer“, begrüßen ihn die Schüler in strammer Haltung.
„Setzen“, sagt der Lehrer knapp.
Daraufhin rutschen die Schüler leise in die Bänke zurück. Der Streit von Tobias und Harry geht unter der Bank weiter. Gegenseitig treten sie sich mit den Füßen. Manuel sieht es genau. Nachdem der Lehrer seine Tasche auf dem Katheder abgelegt hat, dreht er seine allmorgendliche Runde. Im Mittelgang wandert er mit dem Rohrstock hinter dem Rücken auf und ab. Die neunundzwanzig Schüler werden mucksmäuschenstill. Kerzengerade sitzen sie in den Bänken. Max hingegen schaut verträumt aus dem hohen Fenster.
„Was gibt es denn draußen zu sehen?“, will der „Stock“ plötzlich wissen.
Max wird rot: „Nichts.“
„Und wo sind deine Hände?“
Erschrocken legt Max sie akkurat auf seine Bank. Der Lehrer überprüft die Fingernägel seiner Schüler. Sind sie rein? Die er begutachtet - ja. Manuel hat mal wieder Glück. Die Ohren sind heute nicht dran. Plötzlich klopft der Lehrer leicht mit dem Rohrstock auf Josefs Bank:
„Wisch die Drehtafel.“
Josef ist nicht sehr begeistert. „Immer muss ich sie sauber machen“.
Laut sagt er es allerdings nicht. Das könnte schon eine Runde Rohrstock bedeuten. Er hat keine andere Wahl und nimmt sich den Schwamm von der Tafel.
Im Flur hält ihn Josef unter den Wasserhahn. Eiskaltes Wasser, das auf den Händen brennt, fließt aus der Leitung. Der Junge fängt an zu frieren. Fröstelnd kehrt Josef zurück. Der Bullerofen im Saal, gegenüber dem Eingang, wird aber nur in den Wintermonaten beheizt. Mittlerweile ist der Lehrer die zwei Stufen zu seinem Katheder hochgestiegen, der sich auf einem Holzpodest befindet. Er beobachtet Josef beim Tafelwischen. Endlich ist der Lehrer zufrieden. Der Junge wird auf den Platz zurück geschickt.
Der „Stock“ geht zum Tagesplan über. „Hefte raus!“
Ein Raunen geht durch die Klasse. Die Schüler öffnen die schräge Schreibplatte der Schulbank, um ihre Schulsachen hervor zu holen. Die Scharniere an Harrys Bankhälfte müssten dringend geölt werden. Sie quietschen wie eine alte Kommode. Herrlich! Er schließt die Klappe ganz langsam.
Manuel wühlt wild in seinem Ranzen. Das Heft hat er bereits gefunden. Aber wo zum Kuckuck ist die Schreibfeder? Auf viele Dinge, die eigentlich nicht in einen Ranzen gehören, stößt er. Endlich, ganz unten hat sich die Schreibfeder verkrochen. Allmählich kehrt wieder Ruhe ein. Der dicke Gedichtband wird aufgeschlagen.
Der „Stock“ kann diktieren:
„Der Früh-ling
Die Bäu-me ste-hen schon in vol-ler Blü-te....“
Bla-bla, Bla-bla....
Ein sehr langes Gedicht. Manuel kann seine Schrift kaum lesen. Da fordert der Lehrer den Jungen auf, den Text vorzutragen. Manuel tritt aus der Bank.
„De-r Frü-h-linn-g Diie Bäu-me ste-hen sch-on in vo-ller Bl-üte.“
„Gütiger!“, der Lehrer ist empört. „Du kannst dich wieder setzen.“
Der „Stock“ macht eine kleine Notiz in sein Büchlein. Auch bei den Vorträgen seiner anderen Schüler sträuben sich ihm sämtliche Nackenhaare.
„Großer Gott. Hausaufgabe ist, das Gedicht zu lernen, mit richtiger Betonung bitte schön.“
Es schrillt zur Fünf-Minuten-Pause. Der „Stock“ verlässt den Saal. Jetzt können die Jungs endlich den heutigen Nachmittag planen. Treffpunkt ist wie immer der Kiosk.
Einen schulfreien Nachmittag muss man schließlich ausnutzen. Da muss Harry dringend aufs Klo. Er eilt in den Korridor hinaus. Auf dem Rückweg begegnet er bereits dem Lehrer. Schade, zu spät. Nun fiebern die Schüler dem Schulschluss entgegen.
Endlich, nach zwei vollen Stunden ist die Schule aus. Klassentüren werden aufgestoßen. Die Schüler stürmen heraus. Aus dem zweiten Stock kommen die Kinder lautstark die Treppe herunter gerannt.
Keiner möchte länger bleiben als nötig. Dadurch gibt es in der großen Eingangshalle ein Gedränge. Alle möchten auf einmal hinaus. Geschubse und Geschiebe. Der brüllende Schülerhaufen wälzt sich nach draußen. Ein paar Minuten später ist der laute Spuk vorbei. Jetzt befinden sich nur noch Max, Manuel und Josef auf dem Gelände. Gemeinsam treten sie den Heimweg an. Josef verabschiedet sich als erster. Nachdem ein Pferdefuhrwerk vorbeigeholpert ist, rennt er über die Straße.Nach einer Weile verabschieden sich auch Manuel und Max. Manuel hat es nicht mehr weit.