Samurai 2: Der Weg des Schwertes - Chris Bradford - E-Book
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Samurai 2: Der Weg des Schwertes E-Book

Chris Bradford

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Beschreibung

*** Band 2 der Bestseller-Reihe von Chris Bradford in neuem Look! *** Jack erlernt auf der Schule des berühmten Masamoto Takeshi die Kunst des Schwertkampfs. Aber selbst hier findet Jack keine sichere Zuflucht. Der gefährliche Ninja Drachenauge verfolgt ihn gnadenlos. Kann Jack sich und die wertvollen Seekarten seines Vaters gegen den skrupellosen Krieger verteidigen? Ein junger Engländer. Gestrandet in Japan. Ausgebildet zum Samurai. Bereit für den Kampf seines Lebens. Entdecke alle Abenteuer der "Samurai"-Reihe: Band 1: Der Weg des Kämpfers Band 2: Der Weg des Schwertes Band 3: Der Weg des Drachen Band 4: Der Ring der Erde Band 5: Der Ring des Wassers Band 6: Der Ring des Feuers Band 7: Der Ring des Windes Band 8: Der Ring des Himmels Band 9: Die Rückkehr des Kriegers Die Kurzgeschichte "Der Weg des Feuers" ist als E-Book erhältlich und spielt zwischen den Ereignissen von Band 2 und Band 3.

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2020Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2010, 2020 Ravensburger Verlag GmbHPostfach 24 60, 88194 RavensburgDie Originalausgabe erschien 2009unter dem Titel »Young Samurai. The Way of the Sword«bei Puffin Books/Penguin Books Ltd, 80 Strand,London WC2R 0RL, EnglandText Copyright © 2009 by Chris Bradford

Covergestaltung: Paul YoungLandkarte: Gottfried MüllerÜbersetzung: Wolfram StröleAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-473-47443-1www.ravensburger.de

Für meine Mutter

PrologDokujutsu

Japan, August 1612

»Dieser Skorpion ist von allen dem Menschen bekannten Skorpionen der giftigste«, erklärte der Ninja. Er nahm ein großes, schwarzes Exemplar aus einem Holzkasten und setzte es auf die bebende Hand der Schülerin. »Er ist der ideale Auftragsmörder: bewaffnet, lautlos und tödlich.«

Das achtbeinige Tier kroch über ihre Hand. Sein Stachel glänzte im Halbdunkel. Vergeblich versuchte die Schülerin, ihr Zittern zu unterdrücken.

Sie kniete in einem kleinen, von Kerzen erleuchteten Zimmer vor dem Ninja. Überall standen Krüge, Kisten und kleine Käfige, die mit giftigen Tränken, Pulvern, Pflanzen und Tieren gefüllt waren. Der Ninja hatte ihr bereits blutrote Beeren, dicke Kugelfische, knallbunte Frösche, langbeinige Spinnen und zusammengerollte, schwarzköpfige Schlangen gezeigt – alle mit einem für den Menschen tödlichen Gift.

»Ein einziger Stich verursacht dem Opfer unerträgliche Schmerzen«, fuhr er fort und blickte unverwandt in die angstvoll geweiteten Augen der Schülerin. »Auf Krämpfe folgen Lähmung, Bewusstlosigkeit und zuletzt der Tod.«

Die Schülerin erstarrte und blickte wie versteinert auf den Skorpion, der ihren Arm hinaufkroch. Der Ninja setzte seinen Vortrag fort. Die Gefahr, in der seine Schülerin sich befand, schien ihn nicht weiter zu kümmern.

»Als Teil deiner Ausbildung zum Ninja wirst du dokujutsu erlernen, die Kunst des Giftes. Wenn du dein Opfer mit einem Dolch erstichst, gehst du ein hohes Risiko ein und hinterlässt viele Spuren. Der Tod durch Gift ist lautlos, schwer nachzuweisen und bei richtiger Anwendung sicher.«

Der Skorpion hatte den Hals der Schülerin erreicht und war in das einladende Dunkel ihrer langen, schwarzen Haare gekrochen. Die Schülerin drehte den Kopf weg und atmete schnell und flach. Der Ninja nahm keine Notiz davon.

»Ich werde dir zeigen, wie man aus verschiedenen Pflanzen und Tieren Gifte gewinnt, welches Gift man für Waffen benützt und welches man in das Essen oder Trinken des Opfers mischt.« Er strich mit den Fingern über einen Käfig, in dem eine Schlange gefangen war. Sogleich schnellte das Tier gegen die Stäbe, um ihn zu beißen.

»Außerdem musst du dich gegen die Gifte abhärten, sonst bringst du dich versehentlich noch selbst um, und damit wäre nichts gewonnen.«

Die Schülerin hob den Arm, um den in ihrer Halsbeuge sitzenden Skorpion abzustreifen. Der Ninja schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Für viele Gifte gibt es ein Gegengift. Ich werde dir zeigen, wie man sie mischt. Gegen andere Gifte kann man sich schützen, indem man über einen längeren Zeitraum jeweils winzige Mengen davon zu sich nimmt, bis der Körper natürliche Abwehrkräfte entwickelt. Gegen einige Gifte gibt es allerdings keine Hilfe.«

Er zeigte auf einen kleinen, blaugeringelten Kraken von der Größe einer Säuglingsfaust, der in einer mit Wasser gefüllten Wanne schwamm. »So schön dieses Tier aussieht, sein Gift ist so stark, dass es einen erwachsenen Menschen in wenigen Minuten tötet. Da es geschmacklos ist, empfehle ich seine Verwendung in Getränken wie Reiswein oder grünem Tee.«

Die Schülerin konnte den Skorpion an ihrem Hals nicht länger ertragen und schlug mit der Hand danach. Der Skorpion fiel aus ihren Haaren und bohrte ihr seinen Stachel in die Hand. Die Schülerin schrie. Das Fleisch um die Wunde schwoll sofort an.

Stechende Schmerzen fuhren durch ihren Arm. »Hilfe …«, stöhnte sie und krümmte sich.

Der Ninja betrachtete sie mitleidslos.

»An dem stirbst du nicht«, murmelte er schließlich. Er packte den Skorpion am Schwanz und ließ ihn in den Kasten fallen. »Der ist alt und groß. In Acht nehmen muss man sich nur vor den kleinen Weibchen.«

Die Schülerin brach bewusstlos zusammen.

1Astragaloi

»Du betrügst!«, rief das Mädchen.

»Tu ich nicht!«, protestierte Jack. Er und seine Schwester knieten im Hintergarten des Hauses ihrer Eltern.

»Tust du doch! Du musst klatschen, bevor du die Knochen nimmst.«

Jack schwieg, denn Jess fiel offenbar keinen Moment auf seine Unschuldsmiene herein. Sosehr er seine Schwester liebte, was die Spielregeln betraf, verstand sie keinen Spaß. Jess war ein schmächtiges, siebenjähriges Mädchen mit hellblauen Augen und fahlblonden Haaren und normalerweise sehr umgänglich. Wenn sie aber Astragaloi spielten, war sie so streng und unnachgiebig wie ihre Mutter bei den Haushaltspflichten.

Jack las die fünf weißen Schafknöchelchen vom Boden auf, um noch einmal von vorn anzufangen. Die Knöchelchen waren so groß wie Kieselsteine und vom vielen Spielen in diesem Sommer ganz abgegriffen. Trotz der drückenden Hitze lagen sie merkwürdig kühl in der Hand.

»Meinen Zweier schlägst du bestimmt nicht!«, sagte Jess herausfordernd.

Jack ließ vier Knöchelchen auf den Boden fallen, warf das fünfte in die Luft, klatschte in die Hände, las schnell ein Knöchelchen aus dem Gras und fing das herunterfallende Knöchelchen auf. Mit geübten ruhigen Bewegungen wiederholte er die Prozedur, bis er wieder alle fünf in der Hand hielt.

»Einser«, sagte er.

Jess pflückte betont gelangweilt ein Gänseblümchen aus dem Gras.

Jack warf erneut und hatte wenige Würfe später die zweite Runde abgeschlossen.

»Zweier!«, verkündete er und streute die Knöchelchen wieder ins Gras. Dann warf er eines in die Luft, klatschte, nahm drei auf und fing anschließend noch das erste Knöchelchen, bevor es auf dem Boden aufkam.

»Dreier!«, rief Jess, unfähig, ihre Überraschung zu verbergen.

Grinsend ließ Jack vier der Knöchelchen fallen.

Am Himmel ballten sich schwarze Wolken und in der Ferne donnerte es dumpf. Die drückende Schwüle war noch unerträglicher geworden. Doch Jack achtete nicht auf das aufziehende Gewitter. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der schwierigen Aufgabe, alle vier Knöchelchen aus dem Gras zu lesen.

Er warf das fünfte Knöchelchen hoch und klatschte. Im selben Moment ertönte ein ohrenbetäubender Schlag. Ein gezackter weißer Blitz fuhr über den Himmel, schlug in einiger Entfernung in einen Hügel ein und setzte einen Baum in Brand. Blutrot hoben sich die Flammen vor dem schwarzen Himmel ab. Doch nicht einmal dadurch ließ Jack sich in seiner Konzentration stören. Er nahm die vier Knöchelchen auf und fing das fünfte, als es nur noch eine Handbreit vom Boden entfernt war.

»Geschafft!«, jubelte er. »Geschafft! Alle vier auf einmal!«

Er hob triumphierend den Kopf. Jess war verschwunden.

Auch die Sonne war nicht mehr zu sehen. Pechschwarze Gewitterwolken jagten über den brodelnden Himmel.

Verwirrt starrte Jack zu dem Tumult über ihm hinauf. Dann spürte er ein Kribbeln in seiner geschlossenen Hand. Die Knöchelchen fühlten sich an, als bewegten sie sich.

Zögernd öffnete er die Hand.

Er erstarrte. Über seinen Handteller liefen vier sehr kleine, schwarze Skorpione.

Sie umringten das fünfte Knöchelchen und versuchten es mit ihren Schwänzen zu stechen. Tödliches Gift tropfte auf seine Hand.

Ein Skorpion drehte sich um und krabbelte seinen Unterarm hinauf. Jack schüttelte ihn in Panik ab, warf auch die anderen Skorpione ins Gras und rannte Hals über Kopf auf das Haus zu.

»Mutter!«, schrie er. »Mutter!«

Jess fiel ihm ein. Wo war sie bloß?

Dicke Regentropfen klatschten herab und es wurde noch dunkler. Die fünf im Gras verstreuten Knöchelchen waren kaum noch zu erkennen. Von den Skorpionen oder Jess war nichts zu sehen.

»Jess?«, brüllte er, so laut er konnte. »Mutter?«

Niemand antwortete.

Da hörte er seine Mutter leise in der Küche singen.

Ein Mann der Worte ohne Taten

Ist wie ein ungepflegter Garten

Und schießt das Unkraut in die Höh’,

Ist’s wie ein Garten voller Schnee …

Jack rannte durch den engen Flur zur Küche.

Im Haus war es dunkel und feucht wie in einer Gruft. Durch einen schmalen Spalt der Küchentür drang Licht. Von drinnen erklang die Stimme seiner Mutter abwechselnd lauter und leiser wie das Seufzen des Windes.

Und schwebt der Schnee von oben nieder,

Ist’s wie ein Vogel mit Gefieder,

Und hebt der Vogel ab vom Boden,

Gleicht er dem stolzen Falken droben …

Jack spähte durch den Türspalt und sah seine Mutter. Sie hatte eine Schürze umgebunden, den Rücken zu ihm gewandt und schälte mit einem großen, krummen Messer Kartoffeln. Nur eine Kerze erhellte das Zimmer. Der Schatten des Messers an der Wand war so groß wie das Schwert eines Samurai.

Und spuckt der Himmel Donner aus,

Klingt’s wie ein Löwe vor dem Haus …

Jack stieß die Küchentür auf. Sie kratzte über die steinernen Fliesen, doch seine Mutter drehte sich nicht um.

»Mutter?«, fragte er. »Hast du mich nicht gehört?«

Und wenn die Tür nachgibt dem Drücken,

Spürst du den Stock auf deinem Rücken …

»Mutter! Warum antwortest du nicht?«

Draußen regnete es jetzt so heftig, dass es klang wie ein in der Pfanne brutzelnder Fisch. Jack trat über die Schwelle und näherte sich seiner Mutter. Sie kehrte ihm weiter den Rücken zu und schälte mit hektischen Bewegungen eine Kartoffel nach der anderen.

Und wenn dein Rücken heftig schmerzt,

Ist’s wie ein Messer tief im Herz’ …

Jack zerrte an ihrer Schürze. »Mutter? Was ist denn?«

Aus dem anderen Zimmer hörte er einen erstickten Schrei. Im selben Augenblick drehte seine Mutter sich zu ihm um. Sie klang scharf und ärgerlich.

Und wenn dein Herz dann blutet rot,

Dann bist du mause-, mause-, mausetot.1

Jack starrte in die eingesunkenen Augenhöhlen eines alten Weibes. In ihren Haaren wimmelte es nur so von Läusen. Die Alte, die er für seine Mutter gehalten hatte, hob das Messer und drückte es ihm an die Kehle. An der Klinge hing wie ein frisch abgezogenes Stück Haut eine Kartoffelschale.

»Du bist mausetot, Gaijin!«, krächzte sie. Ihr fauler Atem schlug ihm ins Gesicht. Er musste würgen.

Schreiend rannte er zur Tür. Die Alte lachte hämisch.

Aus den Tiefen des Hauses hörte Jack Jess’ verzweifelte Schreie. Er stürzte ins Wohnzimmer.

Der große Armsessel, in dem sein Vater immer saß, stand mit der Vorderseite zum Kaminfeuer. In ihm saß eine verhüllte Gestalt. Ihre Silhouette zeichnete sich schwarz vor den flackernden Flammen ab.

»Vater?«, fragte Jack zögernd.

»Nein, Gaijin, dein Vater ist tot.«

Der krumme Finger einer schwarz behandschuhten Hand streckte sich und zeigte auf Jacks Vater, der in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers schrecklich zugerichtet und blutend auf den Dielen lag. Jack fuhr entsetzt zurück. Der Boden unter ihm begann sich zu heben und zu senken wie ein Schiffsdeck.

Mit einem Satz stürzte die verhüllte Gestalt vom Sessel zum vergitterten Kellerfenster. Sie hielt Jess in den Armen.

Jack stockte der Atem.

Er kannte das jadegrüne Auge, das ihn durch den Schlitz der Kapuze hasserfüllt anstarrte. Der von Kopf bis Fuß in das schwarze Gewand eines Ninja gehüllte Eindringling war Dokugan Ryu. Drachenauge – der Ninja, der Jacks Vater getötet hatte, der Jack verfolgte und der jetzt im Begriff war, seine kleine Schwester zu entführen.

»Nein!«, schrie Jack und wollte sich auf ihn stürzen und Jess befreien.

Doch da traten weitere gesichtslose Ninja aus den Wänden wie Schwarze Witwen. Jack kämpfte mit seiner ganzen Kraft gegen sie, aber sobald er einen Ninja besiegt hatte, trat der nächste an seine Stelle.

»Ein anderes Mal, Gaijin!«, zischte Dokugan Ryu, wandte sich ab und verschwand in dem tobenden Unwetter. »Der Portolan ist nicht vergessen.«

1 »Ein Mann der Worte ohne Taten …« Dieser alte Kindervers geht wahrscheinlich auf ein Stück des Dramatikers John Fletcher (1579–1625, Zeitgenosse Shakespeares) mit dem Titel The Lover’s Progress (»Statt Worten: Taten«, 3. Akt, 6. Aufzug) zurück.

2Der Portolan

Der bleiche Schein der Morgendämmerung fiel durch das kleine Fensterchen und der Regen tropfte schwer auf den Sims.

Ein einzelnes Auge starrte Jack aus dem Halbdunkel an.

Doch es gehörte nicht Dokugan Ryu, sondern dem Daruma, der Puppe, die sein Zen-Lehrer Sensei Yamada ihm in der ersten Woche seiner Ausbildung zum Samurai an der Niten Ichi Ryū, der »Schule der beiden Himmel« in Kyoto, geschenkt hatte.

Über ein Jahr war seit Jacks schicksalhafter Ankunft in Japan vergangen. Ninja hatten das Handelsschiff, auf dem sein Vater als Steuermann gedient hatte, überfallen. Jack hatte den Überfall als Einziger überlebt. Der legendäre Krieger Masamoto Takeshi, der Gründer der »Schule der beiden Himmel«, hatte ihn aus dem Meer gefischt.

Verletzt, der fremden Sprache nicht mächtig und ohne Freunde oder Verwandte, die sich um ihn gekümmert hätten, hatte Jack wohl oder übel tun müssen, was von ihm verlangt wurde. Masamoto, der Jack als Sohn angenommen hatte, duldete nicht, dass man seine Anweisungen infrage stellte.

Natürlich träumte Jack manchmal davon, nach Hause und zu seiner Schwester Jess zurückzukehren. Sie war schließlich die einzige Angehörige, die er noch hatte. Doch seine Träume verwandelten sich oft in Albträume, in denen plötzlich sein größter Feind Drachenauge auftauchte. Der Ninja wollte den Portolan, das geheime Logbuch seines Vaters, in seinen Besitz bringen – und zwar um jeden Preis, selbst wenn er dafür einen Jungen wie Jack töten musste.

Unverwandt starrte der kleine hölzerne Daruma ihn mit seinem runden, bemalten Gesicht und dem einen Auge an, als machte er sich über sein Schicksal lustig. Sensei Yamada hatte gesagt, sie sollten das rechte Auge der Puppe ausmalen und sich dabei etwas wünschen. Das andere Auge sollte erst dann ausgemalt werden, wenn der Wunsch in Erfüllung gegangen war. Aber, dachte Jack bitter, sein Wunsch war seiner Erfüllung seit Anfang des Jahres, als er das erste Auge ausgefüllt hatte, noch kein bisschen näher gekommen.

Unglücklich drehte er sich auf die andere Seite und vergrub den Kopf in seinem Futon. Bestimmt hatten die anderen Samuraischüler ihn durch die papierdünnen Wände seines winzigen Zimmerchens in der Halle der Löwen schreien gehört.

»Alles in Ordnung, Jack?«, flüsterte auf der anderen Seite der Schiebetür eine Stimme auf Japanisch.

Die Tür ging auf und Jack sah aus den Augenwinkeln die Umrisse seiner besten Freundin Akiko und ihres Cousins Yamato. Yamato war Masamoto Takeshis zweitgeborener Sohn. Lautlos schlüpften die beiden ins Zimmer. Akiko trug einen Nachtkimono aus cremefarbener Seide und hatte die langen schwarzen Haare zurückgebunden. Sie kniete sich an Jacks Bett.

»Wir haben einen Schrei gehört«, fuhr sie fort und musterte Jack besorgt mit ihren halbmondförmigen Augen.

»Und wir dachten, dass du vielleicht Hilfe brauchst«, fügte Yamato hinzu, ein sehniger Junge in Jacks Alter mit kastanienbraunen Augen und schwarzen Haaren, die in einer Stachelfrisur vom Kopf abstanden. »Du siehst aus, als sei dir ein Gespenst begegnet.«

Jack fuhr sich mit der Hand über die Stirn und versuchte sich zu beruhigen. Der Traum war so lebendig und wirklich gewesen, dass er immer noch zitterte und das Bild der entführten Jess vor Augen hatte.

»Ich habe von Drachenauge geträumt … Er ist ins Haus meiner Eltern eingebrochen und … hat meine kleine Schwester entführt …« Jack schluckte hart.

Akiko sah aus, als hätte sie am liebsten die Hand ausgestreckt, um ihn zu trösten. Jack wusste jedoch, dass die japanische Etikette solche Zärtlichkeiten nicht zuließ. Stattdessen lächelte Akiko traurig.

»Du hast nur geträumt, Jack«, sagte sie.

Yamato nickte. »Drachenauge kann doch gar nicht in England sein.«

»Ich weiß.« Jack holte tief Luft. »Ich bin ja auch nicht dort. Aber wenn die Alexandria nicht überfallen worden wäre, wäre ich jetzt schon bald zu Hause. Stattdessen sitze ich auf der anderen Seite der Welt fest. Wer weiß, was Jess inzwischen alles zugestoßen ist. Ich stehe hier wenigstens unter dem Schutz deines Vaters, aber Jess hat niemanden.«

Tränen stiegen ihm in die Augen und er sah nur noch verschwommen.

»Aber kümmert sich nicht eine Nachbarin um deine Schwester?«, fragte Akiko.

Jack schüttelte den Kopf. »Mrs Winter ist schon alt. Sie kann nicht arbeiten und hat das Geld, das mein Vater ihr gegeben hat, bestimmt bald aufgebraucht. Oder sie ist krank geworden und gestorben … wie meine Mutter! Und wenn Jess niemanden mehr hat, der für sie sorgt, kommt sie ins Arbeitshaus.«

»Was ist das?«, fragte Yamato.

»Eine Art Gefängnis für Bettler und Waisen. Dort muss sie Steine klopfen, alte Seile aufdröseln oder sogar Knochen mahlen, aus denen dann Dünger hergestellt wird. Zu essen gibt es wenig, deshalb kommt es über jeden fauligen Bissen zum Streit. Wie soll sie das überleben?«

Jack vergrub das Gesicht in den Händen. Er konnte seiner Schwester nicht helfen. Genauso wenig hatte er seinem Vater im Kampf gegen die Ninja beistehen können, die ihr Schiff überfallen hatten. In hilfloser Wut schlug er auf sein Kissen ein. Akiko und Yamato sahen ihm stumm zu.

»Warum musste die Alexandria auch in dieses Unwetter geraten? Wenn der Rumpf nicht beschädigt worden wäre, hätten wir die Reise nicht unterbrechen müssen und wären nicht überfallen worden. Und mein Vater wäre jetzt noch am Leben!«

Jack hatte noch die Drahtschlinge vor Augen, die rot vom Blut seines Vaters gewesen war. John Fletcher hatte sich verzweifelt gewehrt, aber Drachenauge hatte die Schlinge immer fester zugezogen. Jack hatte nur dagestanden, am ganzen Körper wie gelähmt vor Angst, und das Messer unnütz in der erstarrten Hand. Sein Vater hatte keuchend nach Luft geschnappt. Die Adern an seinem Hals waren hervorgetreten und er hatte verzweifelt die Hand nach ihm ausgestreckt …

Doch Jack hatte sich nicht rühren können. Wütend schleuderte er das Kissen durch das Zimmer.

»Beruhige dich doch, Jack«, rief Akiko leise. »Jetzt bist du bei uns und alles ist gut.« Sie wechselte einen besorgten Blick mit Yamato. So hatten sie ihren Freund noch nie erlebt.

»Nein, nichts ist gut«, erwiderte Jack. Er schüttelte langsam den Kopf und rieb sich die Augen, um sich von den albtraumhaften Bildern zu befreien.

»Kein Wunder, dass du so schlecht schläfst, Jack«, rief Yamato. »Unter deinem Futon liegt ein Buch!« Er bückte sich nach dem in Leder gebundenen Buch, das er unter dem Bett entdeckt hatte.

Jack riss es ihm aus den Händen.

Das war der Portolan seines Vaters, den er in seinem kahlen Zimmerchen unter dem Futon verborgen hatte, weil er kein besseres Versteck gewusst hatte. Das Buch war seine einzige Verbindung zu seinem Vater und jede Seite, jedes Wort, das sein Vater geschrieben hatte, war ihm lieb und teuer. Es enthielt außerdem unschätzbar wertvolle Informationen und Jack hatte seinem Vater versprochen, niemandem davon zu erzählen.

»Ganz ruhig, Jack, das ist doch nur ein Lexikon«, sagte Yamato, erschrocken über Jacks unerwartet heftige Reaktion.

Jack starrte ihn verwirrt an. Offenbar hielt sein Freund den Portolan für das portugiesisch-japanische Lexikon, das der verstorbene Pater Lucius ihm im vergangenen Jahr gegeben hatte. Jack sollte es bei Gelegenheit Pater Lucius’ Vorgesetzten Pater Bobadilla in Osaka bringen. Beide Bücher hatten einen ähnlichen Ledereinband, doch dieses hier war der Portolan seines Vaters.

Jack hatte Yamato nie davon erzählt und sogar bestritten, dass es ein solches Buch überhaupt gab. Aus gutem Grund. Bis zu ihrem Sieg beim Taryu-Jiai im Sommer, einem Wettkampf zwischen zwei Kampfschulen, und ihrer anschließenden Versöhnung hatte er Yamato nicht trauen können.

Als Masamoto Jack als Sohn angenommen hatte, hatte Yamato ihn zuerst nicht leiden können. Yamatos älterer Bruder Tenno war von einem Ninja ermordet worden und Yamato hatte das Gefühl, dass sein Vater Tenno durch Jack ersetzen wollte und Jack ihm den Vater wegnahm. Doch dann hatte Jack Yamato vor dem Ertrinken gerettet und ihn davon überzeugt, dass seine Befürchtungen nicht stimmten. Seitdem waren sie Freunde.

Jack wusste, dass es riskant war, Yamato von dem kostbaren Portolan zu erzählen. Wie würde er darauf reagieren? Aber vielleicht war jetzt der Moment gekommen, den Freund in das Geheimnis einzuweihen.

»Das ist nicht das Lexikon von Pater Lucius«, sagte er.

»Was dann?« Yamato sah ihn erstaunt an.

»Der Portolan meines Vaters. Eine Art Tagebuch.«

3Der Wunsch an den Daruma

»Tagebuch!«, rief Yamato. Aus seiner Verwunderung wurde Unglauben. »Aber als Drachenauge Akiko in ihrem Zimmer überfiel, sagtest du, du wüsstest nichts von einem solchen Buch!«

»Ich habe gelogen. Ich hatte damals keine andere Wahl.«

Jack wich Yamatos Blick aus. Bestimmt fühlte sein Freund sich hintergangen.

Yamato wandte sich an Akiko. »Wusstest du davon?«

Akiko nickte schamrot im Gesicht.

»Unglaublich«, rief Yamato empört. »Verfolgt Drachenauge uns deshalb? Wegen eines dummen Buches?«

»Ich hätte es dir ja gesagt, Yamato«, fiel Akiko ihm beschwichtigend ins Wort, »aber ich habe Jack versprochen, es nicht weiterzuerzählen.«

»Kann ein Buch so wertvoll sein, dass Chiro dafür mit dem Leben bezahlen musste?« Yamato war aufgesprungen. »Sie war vielleicht nur ein Dienstmädchen, aber sie hat uns treu gedient. Jack hat uns wegen dieses Portolans alle in Gefahr gebracht.«

Er starrte Jack stumm an und aus seinen Augen sprühte der alte Hass. Dann wandte er sich zum Gehen. Jack erschrak.

»Das sage ich meinem Vater.«

»Bitte nicht.« Jack hielt ihn am Ärmel seines Kimonos fest. »Der Portolan ist kein gewöhnliches Buch. Niemand darf davon wissen.«

»Warum nicht?« Angewidert sah Yamato auf Jacks Hand.

Jack ließ ihn los und Yamato blieb stehen.

Stumm reichte Jack ihm das Buch. Yamato blätterte darin und überflog Meereskarten, Sternbilder und handschriftliche Anmerkungen. Fragend hob er den Kopf.

Mit gedämpfter Stimme erklärte Jack ihm die Bedeutung des Buches. »Ein Portolan ist ein Logbuch, das sichere Schifffahrtswege beschreibt. Die Informationen, die es enthält, sind unschätzbar kostbar. Es hat schon einige Menschen das Leben gekostet, die es in ihren Besitz bringen wollten. Ich habe meinem Vater versprochen, niemandem davon zu erzählen.«

»Aber was ist daran so wertvoll? Wenn es doch nur Wegbeschreibungen enthält?«

»Es geht um viel mehr. Mein Vater sagte, es verleihe politische Macht. Wer es besitzt, kontrolliert die Handelswege zwischen den Ländern. Ein Land, das einen Portolan hat, der so genau ist wie dieser, beherrscht die Meere. Deshalb streiten sich England, Spanien und Portugal darum.«

»Aber was hat das mit Japan zu tun?«, fragte Yamato und gab ihm das Buch zurück. »Japan ist nicht England. Ich glaube, wir haben nicht mal eine Flotte.«

»Das weiß ich nicht. Politik interessiert mich nicht. Ich will nur eines Tages nach England und zu Jess zurück.« Jack strich liebevoll mit den Fingern über den ledernen Einband des Logbuchs. »Mein Vater hat mir erklärt, wie man den Portolan verwendet, und ich könnte wie er Steuermann werden. Deshalb ist der Portolan meine Fahrkarte nach Hause, wenn ich Japan verlasse. Und meine Zukunft. Ohne ihn kann ich nichts werden. Ich bin gerne Samuraischüler, aber in England braucht man keine Samurai.«

»Was hält dich denn dann noch hier?«, fragte Yamato mit herausfordernd zusammengekniffenen Augen.

»Jack kann nicht einfach gehen«, verteidigte Akiko ihren Freund. »Dein Vater hat ihn als seinen Sohn angenommen, bis er sechzehn und volljährig ist. Er bräuchte Masamotos Erlaubnis. Außerdem: Wohin sollte er gehen?«

Yamato zuckte die Schultern.

»Nach Nagasaki«, sagte Jack.

Akiko und Yamato sahen ihn an.

»Dorthin waren wir unterwegs, bevor der Sturm uns vom Kurs abgebracht hat. Im Hafen von Nagasaki liegt vielleicht ein Schiff nach Europa oder sogar England.«

»Weißt du denn überhaupt, wo Nagasaki liegt, Jack?«, fragte Akiko.

»So ungefähr … hier ist irgendwo eine Übersichtskarte.«

Jack begann in dem Portolan zu blättern.

»Im äußersten Süden Japans auf Kyūshū«, sagte Yamato ungeduldig.

Akiko legte die Hand auf das Logbuch und Jack hörte auf zu suchen. »Wie willst du ohne Essen und Geld dorthin kommen? Zu Fuß wärst du von Kyoto aus über einen Monat unterwegs.«

»Am besten läufst du gleich los«, bemerkte Yamato spöttisch.

»Hör auf, Yamato!«, rief Akiko. »Ihr beide seid doch Freunde, schon vergessen? Jack kann nicht einfach nach Nagasaki laufen. Drachenauge sucht ihn. In der Schule steht er unter dem Schutz deines Vaters und Masamoto-sama scheint der einzige Mensch zu sein, den der Ninja fürchtet. Wenn Jack sich allein auf den Weg macht, erwischt Drachenauge ihn vielleicht … oder tötet ihn sogar!«

Sie schwiegen.

Jack schob den Portolan wieder unter den Futon und strich die Matratze glatt. Der Futon war kein gutes Versteck. Er musste unbedingt ein besseres finden, bevor Drachenauge zurückkehrte.

Yamato schob die Tür auf, um zu gehen. Er warf Jack einen Blick über die Schulter zu. »Dann erzählst du meinem Vater von dem Buch?«

Sie starrten einander an. Die Spannung zwischen ihnen war zum Greifen.

Jack schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat alles getan, um die Existenz des Buches geheim zu halten. Auf dem Schiff hat er es in einem Geheimfach versteckt. Nicht einmal der Kapitän wusste, wo er es aufbewahrte. Deshalb habe auch ich als sein Sohn die Pflicht, es zu schützen.« Er sah Yamato eindringlich an. Yamato sollte ihn verstehen. »Als Samurai weißt du, was Pflicht ist. Mein Vater hat mir ein Versprechen abgenommen und ich bin daran gebunden.«

Yamato nickte kaum merklich, schloss die Tür und drehte sich wieder um.

»Ich verstehe jetzt, warum du mit niemandem darüber gesprochen hast.« Sein Zorn war verraucht und er öffnete die geballten Fäuste. »Ich war nur wütend, weil du mir nichts gesagt hast. Du hast mir nicht vertraut. Das kannst du aber.«

»Danke, Yamato«, sagte Jack mit einem Seufzer der Erleichterung.

Yamato setzte sich neben ihn. »Aber ich verstehe nicht, warum du meinen Vater nicht einweihst. Er könnte das Buch bewachen.«

»Nein, das dürfen wir nicht«, widersprach Jack sofort. »Pater Lucius hat mir kurz vor seinem Tod gestanden, dass jemand, den er kannte, hinter dem Portolan her ist und mich notfalls auch töten würde.«

»Natürlich Dokugan Ryu«, warf Yamato ein.

Jack nickte. »Ja, Drachenauge will ihn haben, aber du hast selbst gesagt, dass Ninja im Auftrag von anderen arbeiten. Jemand hat Drachenauge befohlen, den Portolan zu stehlen. Vielleicht kennt Masamoto-sama diese Person, schließlich gehörte Pater Lucius zu seinem Gefolge. Ich darf also niemandem trauen. Je weniger von dem Buch wissen, desto besser.«

»Soll das heißen, du traust nicht einmal meinem Vater?«, fragte Yamato gekränkt. »Glaubst du etwa, dass er hinter dem Portolan her ist?«

»Nein!«, erwiderte Jack rasch. »Ich sage nur, dass Masamoto-sama wie mein Vater wegen des Buchs ermordet werden könnte, wenn er es hätte. Und das darf ich nicht riskieren. Ich will ihn schützen, Yamato. Solange Drachenauge glaubt, dass ich es habe, ist er wenigstens nur hinter mir her. Deshalb dürfen wir niemandem davon erzählen.«

Jack sah, wie sein Freund hin und her überlegte, und befürchtete einen schrecklichen Moment lang schon, er würde seinen Vater trotzdem von dem Buch in Kenntnis setzen.

»Also gut«, nickte Yamato schließlich. »Ich verspreche, dass ich nichts sage. Aber warum glaubst du eigentlich, dass Drachenauge noch einmal versuchen wird, an das Buch zu kommen? Wir haben ihn nicht mehr gesehen, seit er auf dem Gion-Fest versucht hat, Daimyo Takatomi zu ermorden. Vielleicht ist er tot. Akiko hat ihn ziemlich schwer verletzt.«

Jack erinnerte sich noch, wie Akiko ihm in jener Nacht das Leben gerettet hatte. Sie hatten den Ninja dabei beobachtet, wie er in die Burg Nijo eindrang, den Wohnsitz von Fürst Takatomi, und waren ihm gefolgt. Der Ninja hatte Jack die Waffe aus der Hand geschlagen und wollte ihm gerade den Arm abhauen, als Akiko ihr Kurzschwert nach ihm geworfen hatte. Das Schwert hatte sich in die Seite des Ninja gebohrt, doch der war lediglich zusammengezuckt. Er hatte nur deshalb nicht zurückgeschlagen, weil Masamoto und seine Samurai gerade noch rechtzeitig eingetroffen waren. Drachenauge war über die Burgmauer geflohen, hatte aber zuvor gedroht, er werde wiederkommen und das Buch holen.

Die Drohung verfolgte Jack immer noch und er zweifelte keinen Moment daran, dass Drachenauge sie wahr machen würde. Irgendwo da draußen wartete der Ninja auf ihn.

Akiko hatte Recht. In der Schule stand Jack unter Masamotos Schutz und war sicher. Außerhalb der Schulmauern dagegen drohte ihm Gefahr. Wenn er allein reiste, konnte er schon von Glück sagen, wenn er überhaupt lebend aus der Stadt herauskam.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als in Kyoto zu bleiben und weiter an der Samuraischule zu lernen. Wenn er die Reise nach Hause überleben wollte, musste er den Weg des Schwertes beherrschen.

Solange er keine andere Wahl hatte, konnte er sich durchaus dafür begeistern, seine Fähigkeiten als Samurai zu schulen. Die Disziplin und die Tugenden des Bushido und die Vorstellung, mit einem echten Schwert zu kämpfen, faszinierten ihn.

»Drachenauge ist irgendwo da draußen unterwegs«, sagte er. »Er wird kommen.«

Er streckte den Arm aus, nahm den Daruma in die Hand, sah ihm fest ins Auge und erneuerte feierlich seinen Wunsch.

»Aber wenn er das nächste Mal kommt, bin ich bereit.«

4Ein Reiskorn

»Warum bringst du dein Schwert mit?«, fragte Sensei Hosokawa barsch. Er war ein streng aussehender Samurai mit einem einschüchternden Blick und einem Bart, der wie ein Stachel geformt war.

Jack sah auf das Langschwert in seiner Hand hinunter. Die lackierte schwarze Scheide, in der die messerscharfe Klinge steckte, blitzte im Morgenlicht. Durch die unerwartet feindseligen Worte des Schwertlehrers aus der Fassung gebracht, strich er nervös mit dem Daumen über das goldene Phönix-Wappen, das in der Nähe des Griffs eingearbeitet war.

»Weil … weil wir jetzt Unterricht in kenjutsu haben, Sensei«, antwortete er schulterzuckend, weil ihm keine bessere Antwort einfiel.

»Haben die anderen Schüler ihre Schwerter dabei?«

Jack warf einen Blick auf die anderen Schüler, die entlang einer Wand des Butokuden knieten. Die Halle der Kriegstugenden, in der sie im Schwertkampf und im waffenlosen Kampf unterrichtet wurden, ähnelte einer riesigen Höhle. Hoch über den Köpfen der Samuraischüler schwebte die holzgetäfelte Decke, die auf gewaltigen Pfeilern aus dunkelbraunem Zypressenholz ruhte.

Jack fühlte sich wieder einmal daran erinnert, wie sehr er sich von den anderen Schülern unterschied. Obwohl noch keine vierzehn wie die meisten, war er trotzdem der Größte. Außerdem hatte er himmelblaue Augen und einen blonden Haarschopf, der wie eine Goldmünze aus dem einheitlichen Schwarz seiner Mitschüler herausstach. Für die Japaner mit ihrer olivenfarbenen Haut und den mandelförmigen Augen mochte er ein Samuraischüler sein, aber er blieb doch immer ein Fremder – ein Gaijin, wie seine Feinde ihn verächtlich nannten.

Er sah sich um. Kein einziger Schüler hatte ein richtiges Schwert dabei. Sie hielten alle nur den bokken, das hölzerne Übungsschwert.

»Nein, Sensei«, antwortete er verlegen.

Am Ende der Reihe grinste ein gut aussehender, doch herrisch wirkender Junge mit kahl rasiertem Schädel und schweren Augenlidern hämisch. Jack schenkte Kazuki keine Beachtung. Er wusste, dass sein Rivale sich über seine Demütigung vor der ganzen Klasse freute.

Er kam inzwischen mit den meisten japanischen Bräuchen zurecht, trug statt Hemd und Hose einen Kimono, verbeugte sich, sobald er jemandem begegnete, und entschuldigte sich bei jeder Gelegenheit. Trotzdem hatte er mit der strengen Disziplin des japanischen Lebens nach wie vor seine Schwierigkeiten.

Wegen seiner Albträume hatte er schlecht geschlafen und war am Morgen zu spät zum Frühstück gekommen. Er hatte deshalb bereits zwei Lehrer um Verzeihung bitten müssen. Wahrscheinlich musste er sich als Nächstes bei Sensei Hosokawa entschuldigen.

Er kannte ihn als gerechten, aber strengen Lehrer, der hohe Anforderungen stellte. Sensei Hosokawa erwartete von seinen Schülern, dass sie pünktlich kamen, ordentlich gekleidet waren und hart übten. Fehler ließ er ihnen nicht durchgehen.

Jetzt stand er in der Mitte der Übungsfläche der Halle, einem breiten, mit honigfarbenem Holz gepflasterten Rechteck, und sah Jack böse an. »Warum glaubst du dann, dass du im Unterschied zu den anderen ein Langschwert tragen solltest?«

Jack wusste, dass er diese Frage nur falsch beantworten konnte, egal was er sagte. Ein japanisches Sprichwort lautete: »Der vorstehende Nagel wird eingehämmert.« Jack begriff allmählich, dass in Japan zu leben bedeutete, sich den Regeln zu fügen. Kein anderer Schüler trug ein Schwert, Jack stand deshalb vor und musste eingehämmert werden.

Yamato, der neben ihm kniete, holte Luft, als wollte er ihn verteidigen, doch auf Sensei Hosokawas warnenden Blick hin überlegte er es sich anders.

Stille kehrte in der Halle ein und legte sich schwer auf die Schüler. Jack hörte das Blut in seinen Ohren sausen, während er angestrengt nach einer angemessenen Antwort suchte.

Die einzige Erklärung, die ihm einfiel, entsprach der Wahrheit. Masamoto hatte ihm eines seiner Schwertpaare geschenkt, um damit Jacks Beitrag zum Sieg der Schule im Taryu-Jiai zu belohnen und weil Jack Drachenauge mutig daran gehindert hatte, Daimyo Takatomi zu ermorden. Die beiden Schwerter symbolisierten die Macht des Samurai und Jack fand, er habe sich auch das Recht verdient, sie zu tragen. Deshalb hatte er sie in Sensei Hosokawas Unterricht mitgebracht.

Er holte tief Luft. »Ich dachte, weil ich im Taryu-Jiai gewonnen habe, hätte ich auch das Recht, die Schwerter zu tragen.«

»Das Recht? Der Schwertkampf ist kein Spiel, Jack-kun. Der Sieg in einem kleinen Wettkampf macht noch keinen fertigen Schwertkämpfer aus dir.«

Jack schwieg unter Sensei Hosokawas zornigem Blick.

»Ich sage es dir, wenn du dein Schwert in den Unterricht mitbringen kannst. Bis dahin wirst du nur das Übungsschwert benützen, verstanden, Jack-kun?«

Jack nickte gehorsam. »Hai, Sensei. Ich hatte nur gehofft, ich könnte einmal mit einem richtigen Schwert kämpfen.«

»Mit einem richtigen?« Der Sensei schnaubte. »Glaubst du wirklich, dass du schon so weit bist?«

Jack zuckte unsicher mit den Schultern. »Schon. Masamoto-sama hat mir seine Schwerter geschenkt, er glaubt es also.«

»Noch bist du kein Schüler von Masamoto-sama«, sagte Sensei Hosokawa und umklammerte den Griff seines Schwertes, bis die Knöchel seiner Hand weiß hervortraten. »Du hältst die Macht über Leben und Tod in den Händen, Jack-kun. Kannst du damit verantwortlich umgehen?«

Bevor Jack antworten konnte, winkte der Sensei ihn zu sich.

»Komm her! Du auch, Yamato-kun.«

Jack trat aus der Reihe und stellte sich vor Sensei Hosokawa, Yamato folgte ihm erschrocken.

»Seiza«, befahl der Sensei. Die beiden knieten sich hin. »Du nicht, Jack-kun. Du wirst jetzt lernen, was es heißt, ein Schwert zu tragen. Zieh dein Schwert.«

Jack zog sein Schwert aus der Scheide. Die Klinge schimmerte. Sie war so scharf, dass sie sogar Luft zu zerschneiden schien.

Da er nicht wusste, worauf Sensei Hosokawa hinauswollte, ging er in die Grundstellung. Er hielt das Schwert mit beiden Händen und ausgestreckten Armen vor sich. Die Füße hatte er weit auseinander gestellt, die Schwertspitze befand sich auf der Höhe der Kehle des gedachten Gegners.

Das Schwert lag ungewohnt schwer in seinen Händen. In dem Jahr, in dem sie den Schwertkampf schon übten, war das Übungsschwert zu einer Verlängerung seines Arms geworden. Er wusste genau, wie viel es wog, wie es in der Hand lag und wie es durch die Luft schnitt.

Dieses Schwert dagegen fühlte sich anders an, gewichtiger und weniger harmlos. Es hatte Menschen getötet, sie in zwei Teile geschnitten. Jack spürte seine blutige Geschichte an den Händen.

Allmählich bereute er, dass er es mitgebracht hatte. Er hatte voreilig gehandelt.

Das Schwert in seinen Händen zitterte sichtlich. Der Sensei bemerkte es mit grimmiger Befriedigung. Er nahm ein einzelnes Reiskorn aus seinem inro, dem kleinen hölzernen Kästchen, das er an seinem obi trug, und legte es Yamato auf den Kopf.

»Spalte das in zwei Hälften«, befahl er.

»Wa…was?«, stammelte Yamato mit entsetzt aufgerissenen Augen.

»Doch nicht auf Yamatos Kopf«, protestierte Jack.

»Los!«, befahl Hosokawa und zeigte auf das winzige Korn.

»Aber … aber … ich kann doch nicht …«

»Du glaubst, du könntest verantwortlich mit einem Schwert umgehen – jetzt hast du die Gelegenheit, es zu beweisen.«

»Und wenn ich Yamato verletze?«, rief Jack.

»Genau das heißt es, ein Schwert zu tragen. Ein Schwert verletzt. Und tötet. Spalte das Korn.«

»Ich kann nicht.« Jack senkte das Schwert.

»Du kannst das nicht?«, rief Hosokawa. »Ich als dein Sensei befehle dir, das Reiskorn auf Yamatos Kopf mit einem Schwerthieb zu spalten.«

Er packte Jack an den Händen und zog das Schwert über Yamatos ungeschützten Kopf. Dort lag das winzige Reiskorn, ein kleiner weißer Fleck inmitten des schwarzen Haarschopfs.

Jack wusste, dass die Klinge durch Yamatos Kopf schneiden würde wie durch eine Wassermelone. Seine Arme zitterten unbeherrscht. Yamato sah ihn verzweifelt und kreidebleich im Gesicht an.

»Los!«, befahl Hosokawa. Er hob Jacks Arme, um ihn zum Zuschlagen zu zwingen.

Die anderen Schüler verfolgten das Geschehen schreckensstarr und zugleich fasziniert.

Akiko war die Angst deutlich anzumerken und ihre beste Freundin, Kiku, ein zierliches Mädchen mit schwarzen, schulterlangen Haaren und haselnussbraunen Augen, schien den Tränen nahe.

Kazuki dagegen konnte seine Schadenfreude nicht verbergen. Er stieß seinen Freund Nobu an, einen Jungen mit der Leibesfülle eines kleinen Sumoringers, und flüsterte ihm etwas ins Ohr, aber so laut, dass Jack es hören konnte.

»Ich wette, der Gaijin haut Yamato das Ohr ab!«

»Oder vielleicht die Nase!«, kicherte Nobu. Auf seinem feisten Gesicht breitete sich ein hämisches Grinsen aus.

Zitternd hing das Schwert in der Luft. Jack konnte es kaum noch halten.

»Ich … ich … ich kann nicht«, stotterte er. »Ich würde ihn töten.« Er gab auf und senkte das Schwert.

»Dann tue ich es für dich«, sagte Sensei Hosokawa.

Yamato, der schon aufgeatmet hatte, erschrak.

Blitzschnell zog der Sensei sein Schwert und ließ es auf Yamatos Kopf niederfahren. Die Klinge verschwand in den Haaren und Kiku schrie auf. Ihr Schrei hallte durch den Butokuden.

Yamato fiel nach vorn und schlug mit dem Kopf auf.

Das Reiskorn löste sich aus seinen Haaren und fiel in zwei Hälften auf den Boden.

Yamato verharrte in seiner vornübergebeugten Haltung. Er zitterte unkontrolliert und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Ansonsten war er vollkommen unverletzt. Das Schwert hatte seine Kopfhaut nicht einmal geritzt.

Jack stand bewegungslos da, überwältigt von Sensei Hosokawas Geschick. Was für ein Narr war er gewesen, das Urteil des Lehrers infrage zu stellen! Jetzt wusste er, was für eine Verantwortung der Umgang mit einem Schwert mit sich brachte. Die Entscheidung über Leben und Tod lag buchstäblich in seinen Händen. Ein Schwert war kein Spielzeug.

Sensei Hosokawa musterte ihn streng. »Solange du das Schwert nicht vollkommen beherrschst«, sagte er und steckte sein Schwert wieder ein, »bist du nicht befähigt, ein richtiges Schwert zu tragen. Für den Weg des Schwertes bist du noch nicht bereit.«

5Der Kreis der Drei

»Samuraischüler!«, rief Masamoto laut durch die Halle der Schmetterlinge. Der offizielle Speisesaal war mit Holz getäfelt und trug seinen Namen zu Recht: Die Wandverkleidung war mit prachtvoll gemalten Schmetterlingen geschmückt.

Die Schüler, die in langen, schnurgeraden Reihen vor dem Schwertmeister knieten, richteten sich stocksteif auf, um seiner Eröffnungsansprache zu lauschen. Jack, dessen Beine vom Knien schon taub wurden, reckte den Kopf, um das Geschehen besser verfolgen zu können. Masamoto saß auf seinem gewohnten erhöhten Platz an einem niedrigen Tisch aus schwarz lackiertem Zedernholz. Auf dem Tisch standen Tassen mit dampfendem sencha, dem bitteren Grüntee, den die Samurai so gerne tranken.

Masamoto nahm einen kleinen Schluck und ließ die Stille wirken.

Er trug einen feuerroten Kimono, der mit seinem Wappen, einem goldenen Phönix, verziert war, und strahlte absolute Autorität aus. Sowohl die Schüler als auch die anderen Samurai begegneten ihm stets mit tiefster Achtung. Seine Persönlichkeit war so einnehmend, dass Jack die tiefrot vernarbte, entstellte linke Gesichtshälfte, die wie eine Maske aus geschmolzenem Kerzenwachs wirkte, gar nicht mehr wahrnahm. Er sah nur den unbesiegbaren Krieger.

Rechts und links von Masamoto saßen die Lehrer der Niten Ichi Ryū und zwei weitere Samurai, die Jack nicht kannte.

»Dieses Essen findet zu Ehren unseres Daimyo Takatomi Hideaki statt, des Fürsten der Provinz Kyoto«, fuhr Masamoto schließlich fort und verneigte sich ehrerbietig vor dem Mann links neben ihm.

Auch die Schüler und Lehrer verbeugten sich.

Jack sah den Daimyo, dem er das Leben gerettet hatte, zum ersten Mal. Er hatte ein freundliches Gesicht mit großen, feuchten Augen und einem Zweifingerbart, außerdem einen stattlich gerundeten Bauch und trug einen prunkvollen Kimono, der mit weißen Kranichen, seinen Wappentieren, bestickt war. Zwei Kraniche prangten auf den Ärmeln, zwei auf der Brust und einer auf dem Rücken. Er antwortete auf Masamotos Verbeugung mit einem kurzen, respektvollen Nicken.

Masamoto richtete sich wieder auf. Lehrer, Schüler und zuletzt die neuen Schüler folgten seinem Beispiel.

»Takatomi-sama beehrt uns in Anerkennung unseres Sieges beim Taryu-Jiai gegen Yagyu Ryū mit seiner Anwesenheit.«

Applaus brach los.

»Außerdem hat er, nachdem wir einen Anschlag auf sein Leben verhindern konnten, seine finanzielle Förderung unserer Schule großzügig erweitert und damit die Zukunft der Schule für alle Zeit gesichert.«

Die Schüler riefen dreimal den Namen des Daimyo und klatschten dazu.

Der Daimyo lächelte erfreut und deutete eine kurze Verbeugung an.

»Außerdem stiftet er der Schule eine neue Übungshalle – die Halle des Falken!«

Die Schüler applaudierten begeistert und begannen aufgeregt durcheinanderzureden. Eine neue Halle bedeutete, dass womöglich noch eine andere Kriegskunst unterrichtet wurde.

Masamoto gebot mit erhobener Hand Schweigen. Sofort verstummten die Schüler und er fuhr fort. »Bevor wir essen, möchte ich euch noch unseren zweiten Gast vorstellen.«

Er wandte sich einem Koloss von Mann zu, dessen runder Schädel von kurzem, schwarzem Haarflaum bedeckt wurde und der einen ähnlich flauschigen Bart trug.

»Sensei Kano ist ein Meister des bōjutsu an unserer Schwesterschule Mugan Ryū in Osaka und weilt als Gastlehrer bei uns. Unter seiner Anleitung werdet ihr lernen, den bō, den Langstock, als Waffe für Angriff und Verteidigung einzusetzen. Sensei Kano hat ein großes Herz und noch größere Fähigkeiten. Ihr könntet euch keinen besseren Lehrer des bōjutsu wünschen.«

Der neue Lehrer war einen Kopf größer als die anderen Lehrer am Tisch, doch er schien unter Masamotos Lob zu schrumpfen. Er verbeugte sich bescheiden zum Saal hin und starrte mit seinen rauchgrauen Augen ins Leere, als wollte er den Blicken der Schüler ausweichen.

Die Schüler verneigten sich ihrerseits ehrerbietig.

»Ein Letztes: Wie einige von euch wissen werden, sind seit dem letzten Kreis der Drei drei Jahre vergangen …«

Atemlose Spannung senkte sich über die Halle. Die knienden Schüler hatten sich kerzengerade aufgerichtet und hingen an Masamotos Lippen. Nur Jack sah sich ratlos um. Er hatte keine Ahnung, wovon Masamoto sprach. Er blickte fragend zu Akiko hinüber, doch auch sie hatte die Augen unverwandt auf Masamoto gerichtet.

»Alle Schüler, die den Mut und die entsprechenden Fähigkeiten haben, können jetzt zeigen, dass sie es verdienen, Samurai der Niten Ichi Ryū genannt zu werden. Wer sich beweist, der kann zur Technik der beiden Himmel fortschreiten.«

Jack hatte nur eine vage Vorstellung davon, was die Technik der beiden Himmel war – angeblich eine geheime Kampftechnik Masamotos, die nur die allerbesten Schüler unter Anleitung des großen Samurai persönlich erlernen durften. Worin die Technik bestand, war ein Geheimnis.

»Der Kreis der Drei beginnt, wie es die Tradition vorschreibt, wenn der Wind die Kirschblüten von den Ästen weht«, fuhr Masamoto fort. »Wer von euch glaubt, den drei Prüfungen des Kreises an Geist, Körper und Seele gewachsen zu sein, trägt sich heute Abend bei Sensei Kyuzo in eine Liste ein. Beim ersten Schneefall werden in vier Auswahlprüfungen eure Stärke und Geschicklichkeit, euer Verstand und euer Mut beurteilt. Die fünf Schüler, die dabei am besten abschneiden, werden zum Kreis zugelassen.«

Masamoto breitete die Arme aus und die Ärmel seines feuerroten Kimonos schienen ihn in den feurigen Phönix seines Wappens zu verwandeln.

»Doch seid gewarnt! Der Kreis der Drei darf nicht leichtfertig betreten werden. Wer seine Herausforderungen bestehen will, muss die sieben Tugenden des Bushido kennen.« Schweigend ließ er den Blick über die Schüler wandern. »Sagt mir, welche Tugenden das sind!«

»Gerechtigkeit, Mut, Güte, Höflichkeit, Wahrhaftigkeit, Ehre und Treue!«, riefen die Schüler im Sprechchor.

Masamoto nickte zufrieden. »Und die Tugend des Mutes werdet ihr am meisten brauchen«, sagte er warnend. »Vergesst also in den kommenden Monaten eurer Ausbildung nicht: Lernt heute, auf dass ihr morgen lebt!«

Mit diesem Leitspruch der Schule beendete Masamoto seine Ansprache.

»Masamoto! Masamoto! Masamoto!«, skandierten die Schüler donnernd.

Der Sprechchor verstummte und Diener trugen lange, lackierte Tische herein. Die Tische wurden in zwei Reihen entlang der Längsseite der Schmetterlingshalle aufgestellt.

Jack kniete zwischen Akiko und Yamato. Befriedigt bemerkte er, dass sie nicht mehr direkt am Eingang saßen. Sie waren keine Neulinge mehr, sondern waren einige symbolträchtige Plätze zum Kopfende des Saals aufgerückt.

Er nahm gern an solchen offiziellen Essen teil. Zu Ehren des Gastes gehörte es sich, dass viele Speisen aufgetragen wurden. Diesmal waren es vor allem Sushis, aber auch Tofu, Nudeln, frittierter Fisch und frittiertes Gemüse, Schalen mit Misosuppe, eingelegter gelber japanischer Rettich und violette Auberginen. Außerdem gab es Kannen mit dampfendem Grüntee und Schüsseln mit Bergen von Reis. Prunkstück der Tafel war eine Platte mit gegrillten Aalstücken in einer süßen, rotbraunen Soße.

»Itadakimasu!«, rief Masamoto.

»Itadakimasu!«, antworteten die Schüler, nahmen ihre Stäbchen auf und begannen hungrig zu essen.

Trotz der vielen Köstlichkeiten war Jack nur mit halber Aufmerksamkeit bei der Sache. Er wollte unbedingt mehr über den Kreis der Drei wissen. Doch die anderen konzentrierten sich auf das Essen.

»Du musst unbedingt den Aal probieren, Jack«, sagte Saburo, ein rundlicher, ein wenig naiv aussehender Junge. Sein pausbäckiges Gesicht wirkte beim Essen noch praller.

Jack sah den Freund über den Tisch hinweg unentschlossen an. Saburo kaute hingebungsvoll auf einem grauen, zähen Klumpen Aalleber. Seine dicken, schwarzen Augenbrauen hoben und senkten sich im Takt der Bewegungen seines Mundes.

Besonders appetitlich sah der Aal nicht aus, dachte Jack, aber er erinnerte sich noch an seine erste Begegnung mit Sushi. Bei dem Gedanken an rohen Fisch war ihm fast übel geworden, doch inzwischen schmeckte ihm das weiche, saftige Fleisch von Thunfisch, Makrele und Lachs. Aalleber war freilich eine andere Sache.

»Aal ist gut für die Gesundheit«, versicherte Akiko ihm. Sie füllte sich Reis in die Schale, nahm aber keinen Aal.

Jack packte mit den Stäbchen zögernd ein graues Stück Aal und schob es in den Mund. Als er in die Leber biss, bekam er schier keine Luft mehr, so intensiv war der Geschmack. Ihm war, als seien auf seiner Zunge tausend zappelnde Aale explodiert.

Er zwang sich um Akikos willen zu einem Lächeln und kaute weiter. Hoffentlich ist die Leber wenigstens wirklich gesund, dachte er.

»Wer will denn am Kreis der Drei teilnehmen?«, fragte Saburo zwischen zwei Bissen und sprach damit an, was alle beschäftigte.

»Also ich nicht!«, sagte Kiku energisch. »Wie ich gehört habe, ist das letzte Mal ein Schüler gestorben.«

Ihr Nachbar Yori, ein kleiner, verschüchtert wirkender Junge, riss auf Saburos Frage lediglich die Augen auf und schüttelte heftig den Kopf.

»Das ist nur ein Gerücht, das die Lehrer ausstreuen, um uns Angst zu machen«, erwiderte Akiko und lächelte Yori ermutigend an.

»Stimmt nicht«, widersprach Kiku. »Mein Vater hat mir die Teilnahme ausdrücklich verboten. Er meint, die Aufgaben seien unnötig gefährlich.«

»Worum genau handelt es sich denn?«, fragte Jack.

»Mit ›Kreis der Drei‹ sind die drei höchsten Gipfel des Iga-Gebirges gemeint«, erklärte Akiko und legte ihre Stäbchen weg. »Dort müssen die Samuraischüler die drei Prüfungen von Geist, Körper und Seele bestehen.«

»Was für Prüfungen denn?«

Akiko schüttelte entschuldigend den Kopf. »Ich hab keine Ahnung. Sie werden geheim gehalten.«

»Wie auch immer«, sagte Yamato, »mein Vater erwartet bestimmt, dass ich teilnehme, ich werde es also bald wissen. Machst du auch mit, Saburo?«

»Vielleicht.« Saburo schluckte ein Stück Aal hinunter.