Samurai, Band 9: Die Rückkehr des Kriegers - Chris Bradford - E-Book

Samurai, Band 9: Die Rückkehr des Kriegers E-Book

Chris Bradford

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Beschreibung

*** Das langersehnte Finale der Bestseller-Reihe von Chris Bradford! *** Jack hat es geschafft: Er ist den Samurai des Shoguns entkommen und segelt auf einem Schiff Richtung Heimat. In seiner Begleitung: die tapfere Samurai-Kämpferin Akiko und der schlaue Mönch Yori. Doch als die Freunde London erreichen, werden sie alles andere als freundlich empfangen. Und nicht nur das: Ein dunkler Schatten ist ihnen aus Japan gefolgt … Ein junger Engländer. Gestrandet in Japan. Ausgebildet zum Samurai. Bereit für den Kampf seines Lebens. Entdecke alle Abenteuer der "Samurai"-Reihe: Band 1: Der Weg des Kämpfers Band 2: Der Weg des Schwertes Band 3: Der Weg des Drachen Band 4: Der Ring der Erde Band 5: Der Ring des Wassers Band 6: Der Ring des Feuers Band 7: Der Ring des Windes Band 8: Der Ring des Himmels Band 9: Die Rückkehr des Kriegers Die Kurzgeschichte "Der Weg des Feuers" ist als E-Book erhältlich und spielt zwischen den Ereignissen von Band 2 und Band 3.

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2020Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2020 Ravensburger VerlagDie Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Young Samurai. The Return of the Warrior« bei Puffin Books/Penguin Random House UK, 80 Strand, London WC2R 0RL, EnglandText Copyright © 2019 by Chris Bradford.

Covergestaltung: Paul YoungKarte von London: David AtkinsonÜbersetzung: Wolfram StröleLektorat: Gabriele DietzAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-51080-1www.ravensburger.de

Gewidmet Jan, Órla und Cíara Murphyund allen Fans von Samurai, die für dieses letzte Kapitel gekämpft haben!

PrologDas Geisterschiff

Hole Haven, England, Herbst 1616

Einer geisterhaften Erscheinung gleich glitt die Galeone durch den Seenebel, die Segel gewellt wie Leichentücher. Lautlos hielt sie auf die Themsemündung zu. Vom Ufer folgten ihr neugierige Blicke.

»Schmuggler?«, brummte der Nachtwächter, ein Bursche mit ausgemergeltem Gesicht und spitzer Nase, unterstrichen von einem bleistiftdünnen Schnurrbart. Er zog seinen Mantel gegen die nächtliche Kälte fester um die mageren Schultern.

Der Zollbeamte, ein beleibter Herr mit geröteten Wangen, senkte sein Fernglas. »Ich sehe nirgends andere Schiffe warten. Scheint ein Handelsschiff zu sein, laut dem Namen am Bug die Salamander. Aber sie fährt viel zu nah am Ufer, offenbar will sie nicht nach London.«

Ein bärtiger, vierschrötiger Wachtmeister stand neben ihnen auf der Sandbank und klopfte mit seinem Knüppel leicht an sein Bein. Ein wenig verwirrt blickte er dem Dreimaster entgegen, der vor ihnen aus dem Nebel aufgetaucht war. »Na, na, na! Wenn der Kapitän nicht bald den Kurs wechselt, läuft er auf Grund!«

Gespenstisch und Unheil verkündend wie ein Ungeheuer aus den Tiefen des Meeres glitt die Galeone an den drei Männern vorbei. Ein wenig weiter flussaufwärts pflügte der Kiel durch den weichen Schlick der Flussmündung, wie der Wachtmeister es vorhergesagt hatte, und das Schiff kam erzitternd zum Halt. Die Männer wechselten einen unbehaglichen Blick, dann machten sie sich auf den Weg am Ufer entlang. Ihre Füße schmatzten im mit Wasser vollgesogenen Sand, als sie sich der Galeone näherten. Bewegungslos und aufgebläht wie ein gestrandeter Wal lag das Schiff vor ihnen.

»Ist da jemand?«, rief der Zollbeamte und blickte mit gestrecktem Hals zum Oberdeck hinauf.

Doch er bekam keine Antwort. Zu hören war nur das Knarren der Planken, das Schlagen eines losen Segels und das Plätschern des Wassers gegen den Rumpf.

Der Nachtwächter schluckte unbehaglich. »Sollten wir nicht die Miliz rufen?«

Der Zollbeamte lachte verächtlich. »Und den Zorn von Sir Francis auf uns ziehen, dass wir ihn um diese unchristliche Zeit wecken? Nein, bevor wir den Lordleutnant aus dem Bett holen, machen wir uns selbst ein Bild.« Er zeigte auf ein über die Bordwand hängendes Tau der Takelage. »Geht nachsehen, Wachtmeister.«

Der Wachtmeister hakte seinen Knüppel am Gürtel ein, watete durch das Wasser, zog sich an dem mit Seepocken überwachsenen Rumpf nach oben und stieg über die Bordwand. Alles blieb gespenstisch still. Der Nachtwächter zog den Kragen seines Mantels noch fester um seinen Hals. Nicht nur der Nebel, auch die Ankunft der unheimlichen Galeone ließ ihn frösteln. Während sie darauf warteten, dass der Wachtmeister zurückkehrte, sanken die Füße des Zollbeamten immer tiefer in den Schlick ein.

»Was braucht er denn so lange?«, brummte er, zog einen ledernen Stiefel heraus und schüttelte gereizt den Schlick ab.

Eine weitere Minute verging, dann tauchte das bärtige Gesicht des Wachtmeisters über ihnen auf. »Alles klar«, rief er und ließ eine Strickleiter zu ihnen hinunterfallen.

Sie wateten durch das eisige Wasser, packten die Leiter und kletterten an Bord. Das Deck lag verlassen da. Keine einzige Laterne brannte, keine Menschenseele war zu sehen.

Der Zollbeamte warf dem Wachtmeister einen Blick zu. »Wo ist die Besatzung?«

Der Wachtmeister zuckte mit den Schultern. »Vielleicht unter Deck.«

Vorsichtig näherten sie sich der Hauptluke. Der Zöllner bedeutete dem Wachtmeister stumm, sie zu öffnen. Mit quietschenden Scharnieren klappte sie auf. Eine Holztreppe führte in den dunklen Schiffsbauch hinunter.

»Licht«, befahl der Zollbeamte.

Der Nachtwächter zündete eine Laterne an und reichte sie ihm. Ihr Schein vertrieb das Dunkel und das Unterdeck wurde sichtbar. Erschrocken hielt der Zollbeamte die Luft an. Ein Matrose lehnte zusammengesunken an einer Wand. Sein Kopf war nach vorn gefallen, als schlafe er. Doch es war der Schlaf eines Toten. Eine große schwarze Ratte, die an seinen Fingern genagt hatte, huschte weg, als das Licht der Laterne sie traf.

Das Gesicht des Nachtwächters wirkte auf einmal noch hohlwangiger. »Ist das womöglich ein Pestschiff?«

Der Zollbeamte zog ein Schnupftuch aus der Tasche, bedeckte damit seinen Mund und stieg die Treppe vollends hinunter, um die Leiche genauer zu betrachten. Die Laterne stellte er neben sich auf den Boden. Ihr orangefarbener Schein verzerrte das wächserne Gesicht des Matrosen.

»Ich kann keine schwarzen Flecken erkennen.« Der Zollbeamte zog sein Messer aus der Scheide und stieß die Leiche mit der Spitze der Klinge an. Der Kopf des Matrosen rollte unnatürlich schlaff auf die Seite.

»Sieht aus, als hätte er sich das Genick gebrochen«, sagte der Wachtmeister und packte seinen Knüppel fester.

»Vielleicht ist er ja die Treppe hinuntergefallen«, meinte der Nachtwächter hoffnungsvoll.

»Vielleicht«, murmelte der Zollbeamte. Er steckte das Messer wieder ein und nahm die Laterne auf. »Lasst uns sehen, ob wir auch noch den Rest der Mannschaft finden.«

Widerstrebend folgte der Nachtwächter dem Wachtmeister die Treppe hinunter. Er achtete darauf, sich nicht zu weit vom Schein der Laterne zu entfernen, während seine Augen unablässig jeden kleinsten Winkel des Unterdecks absuchten. Gegenstände nahmen Gestalt an und verschmolzen wieder mit dem Dunkel: Holzfässer, fünffach aufeinandergestapelt … Stapel von Baumwollstoffen … zusammengerollte kostbare Seidenstoffe … Getreidesäcke … ein Paar schwarz glänzende Augen …

Der Nachtwächter schrie erschrocken auf und der Zollbeamte fuhr zu ihm herum. »Was ist denn?«, fragte er barsch.

»Da war jemand!«, flüsterte der Nachtwächter und zeigte mit einem zitternden Finger in das tintenschwarze Dunkel.

Der Zollbeamte hob seine Laterne an eine Lücke zwischen zwei Fässern. »Ich sehe niemanden.«

»Aber ich sage Euch, ein Augenpaar hat uns beobachtet.«

Der Wachtmeister trat mit erhobenem Knüppel vor, um der Sache auf den Grund zu gehen. Als er sich den Fässern näherte, ertönte ein Fauchen und ein schwarzes Etwas kam aus dem Dunkel gerannt. Der Wachtmeister wollte zuschlagen, hielt aber inne, als ein pelziges Tier zwischen seinen Beinen hindurchraste.

»Das ist doch nur die Schiffskatze!«, schnaubte er und senkte seinen Knüppel.

Der Zollbeamte sah den Nachtwächter verärgert an, wandte sich kopfschüttelnd ab und setzte seine Suche fort.

»Aber das vorhin war nicht die Schiffskatze«, beharrte der Nachtwächter. »Es waren die Augen eines Menschen … oder eines Dämons!«

»Nehmt Euch zusammen, Mann«, brummte der Wachtmeister und drängte unsanft an ihm vorbei.

Ohne auf die Proteste des Nachtwächters zu achten, stiegen sie noch tiefer hinunter und entdeckten, dass die Galeone exotische Gewürze aus dem Fernen Osten geladen hatte: Gewürznelken und Muskatnüsse und -blüten. Eine unermesslich wertvolle Fracht, bestimmt für den Londoner Hafen. Doch von der Besatzung nach wie vor keine Spur. Der Rumpf des Schiffs schwankte und ächzte in der auflaufenden Flut.

»Merkwürdig«, bemerkte der Zollbeamte, als sie auch das unterste Deck durchsucht hatten. »Irgendwo muss die Besatzung doch sein.«

»Lasst uns im Kielraum nachsehen«, schlug der Wachtmeister vor.

Die drei Männer gingen gerade zu der Leiter, die in den Bauch des Schiffs hinunterführte, da sah der Nachtwächter aus den Augenwinkeln eine Bewegung. »Da drüben!«

Der Zollbeamte drehte sich um und das gelbe Licht der Laterne durchflutete das Dunkel. Doch wieder war niemand zu sehen.

»Ihr seid mir ein Nachtwächter«, spottete er. »Ihr lasst Euch von jedem Schatten ins Bockshorn jagen.«

»A-aber glaubt mir, ich habe eine Bewegung gesehen«, erwiderte der Nachtwächter. Er atmete vor lauter Panik ganz flach. »Das ist ein Geisterschiff. Lasst uns sofort gehen!«

Der Zollbeamte hob die buschigen Augenbrauen. »Ein Geisterschiff? Ich habe Euch nicht für so abergläubisch gehalten. Reißt Euch zusammen! Es gibt keinen …«

Seine Antwort wurde von einem lauten Klappern unterbrochen: Der Knüppel des Wachtmeisters rollte über die Planken und blieb vor den Füßen des Zollbeamten liegen. Die beiden Männer starrten darauf und spähten dann auf der Suche nach seinem Besitzer nervös in das Dunkel.

Die Augen des Nachtwächters waren rund wie Vollmonde. »Wo kann er sein?«

Der Zollbeamte hob die Laterne und drehte sich langsam. Immer noch mehr Fässer, Getreidesäcke und Stoffballen kamen zum Vorschein … aber kein Wachtmeister. »Samuel?«, rief er. »Wollt Ihr Euren Schabernack mit uns treiben?«

Das Licht der Laterne fiel auf eine offene Luke. Durch sie hindurch sah der Zollbeamte, dass sich im Frachtraum Leiche auf Leiche stapelte wie Ballast. Blicklos starrten die kalten, toten Augen zu ihm herauf. Die verschwundene Besatzung!

Erschrocken wich er zurück und drehte sich mit klopfendem Herzen zu dem Nachtwächter um – nur um zu sehen, wie ein schwarzer Arm sich nach seinem Gefährten ausstreckte und ihn in das Dunkel zog, das ihn förmlich zu verschlucken schien. Nicht einmal ein Schrei war zu hören. Entsetzt ließ der Zollbeamte die Laterne fallen und wollte nach seinem Messer greifen. Aber die Scheide war leer. Im nächsten Moment spürte er das Messer an seinem Hals. Die rasiermesserscharfe Klinge schnitt in seine Haut und ein Blutstropfen quoll heraus. Vor ihm nahm ein Schatten Gestalt an, der sich schwarz vor dem flackernden Schein der herabgefallenen Laterne abhob. Aus dem Schatten blickten ihn zwei noch schwärzere Augen an.

»Ist das hier England?«, zischte der Schatten mit einem fremdartigen Akzent, der ihm einen Schauer über den Rücken jagte.

Er nickte. Vor Entsetzen brachte er keinen Ton heraus. Der Schatten hielt ihm ein Blatt Papier vor das Gesicht. Darauf war das von Hand gezeichnete Bild eines jungen Mannes mit einem ungebärdigen Schopf strohblonder Haare und meerblauen Augen zu sehen.

»Kennst du ihn?«, fragte der Schatten.

Der Zollbeamte schüttelte den Kopf. »W-w-wer soll das sein?«

»Jack Fletcher, der Gaijin-Samurai.«

Der Zollbeamte runzelte die Stirn. »Von dem habe ich nie gehört.«

»Schade.«

Das Messer schnitt durch seine Kehle und der Zollbeamte sackte gurgelnd zusammen. Während sein Blut sich auf den Planken ausbreitete und in den Frachtraum tropfte, tauchten drei weitere Schatten aus der Dunkelheit auf. Ninjas. Auf Befehl ihres Anführers stiegen sie rasch und lautlos zum oberen Deck der Galeone hinauf. Dort sprangen sie über die Bordwand und kletterten die Strickleiter hinunter. Dann verschwanden sie in der Nacht.

1Ein englisches Willkommen

London, England, Herbst 1616

»Willkommen in England!«, sagte Jack und breitete stolz die Arme aus.

Er stand am Bug der Hosiander, des niederländischen Handelsschiffs, mit dem er von Japan zurückgekehrt war. Vor ihm lag in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit die große Stadt London, ein atemberaubendes Panorama steiler Dächer, spitzer Kirchtürme und prächtiger Paläste. Darunter erstreckte sich ein Meer von Häusern, Herbergen, Märkten und Läden, soweit das Auge reichte – weiter noch als in Jacks Erinnerung. Und aus seiner Mitte ragte wie ein gewaltiger, alles beherrschender Steinblock der gewaltige gotische Turm der St.-Pauls-Kathedrale.

Doch am meisten staunte Jack über die Brücke über den breiten Strom. Er hatte ganz vergessen, um was für ein imposantes Bauwerk es sich handelte. Aufgesetzt auf gewaltigen Wellenbrechern – niedrigen, wie Boote geformten und mit Steinen verfüllten Pfeilern –, überspannten zwanzig Bögen die mächtige Themse, vom Großen Steintor am Südufer bis zum Neuen Steintor am Nordufer. Zweihundertfünfzig Meter lang, achtzehn Meter hoch und neun Meter breit hing die London Bridge über der Wasserstraße. Und auf ihr zog sich wie Zuckerguss auf einer Torte eine spektakuläre Gebäudezeile entlang, bestehend aus Läden und noblen Wohnhäusern, einige davon sechs oder sogar sieben Stockwerke hoch.

Die Brücke war weit mehr als nur eine Brücke: Sie war ein Symbol der Stärke und Macht Londons.

Jack drehte sich zu Akiko und Yori um, die hinter ihm auf dem Deck standen. »Na, was sagt ihr dazu?«, fragte er sie auf Englisch.

Seine beiden Freunde sahen sich mit großen Augen und offenen Mündern um. Der Anblick machte sie sprachlos, und das freute Jack. Nachdem er ihnen so viele Jahre von England und seiner Pracht vorgeschwärmt hatte, konnten sie es endlich mit eigenen Augen sehen. Während seines unfreiwilligen Aufenthalts in Japan hatte Akiko ihm die vielen Schätze ihres Landes gezeigt, von alten buddhistischen Tempeln und goldenen Palästen bis zu paradiesischen Gärten und schneebedeckten Bergen und von der Kirschblüte im Frühling bis zu den Ahornblättern im Herbst. Jetzt war sein Land an der Reihe.

Die Hosiander wendete und näherte sich durch den lebhaften Verkehr auf dem Fluss vorsichtig dem Hafen. Ohrenbetäubender Lärm empfing sie, das Knarren der Schiffe, das Gebrüll der Matrosen und das Kreischen der Möwen über ihren Köpfen. Auf dem Wasser wimmelte es von vielen Hundert Fähren, Booten, Handelsschiffen und Galeonen. Alle schienen in der aufblühenden Stadt ihr Glück machen zu wollen, und allein einen Anlegeplatz zu finden, war eine Herausforderung. Am nördlichen Ufer gab es davon zwar jede Menge, aber an den Kais lagen bereits ganze Flotten von Schiffen, die das Ufer in einen dichten Wald aus Masten und Segeln verwandelten.

»Seht mal die vielen Schwäne!«, rief Akiko und betrachtete staunend die Schwärme der majestätischen weißen Vögel, die wie Schneeflocken das Wasser bedeckten.

Jack sah Akiko mit einem liebevollen Lächeln an. Ihre Liebe zur Natur war nur eine der vielen Eigenschaften und Fähigkeiten, die er an ihr bewunderte, wie ihre Herzensgüte, ihre eiserne Entschlossenheit oder ihr Geschick im Umgang mit einem Bogen. Sie war so schlank und elegant wie ein in Seide gewickeltes Langschwert und ihr Verstand war messerscharf.

»Was ist das?«, fragte Yori, der auf Zehenspitzen stehend über die Bordwand blickte, und zeigte auf eine gewaltige Burg mit dicken Türmen, die das nördliche Flussufer beherrschte.

»Der Tower von London«, sagte Jack.

»Den müssen wir uns unbedingt ansehen!«, rief Yori begeistert.

Jack sah den Freund mit einem verlegenen Lächeln an. »Ich glaube nicht, dass wir den freiwillig besuchen wollen. Er ist ein Gefängnis für Verräter.«

»Oh …« Yoris Begeisterung fiel in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. »Dann vielleicht eine andere Burg.«

Die Hosiander legte am Somers-Kai an und der Blick der drei fiel auf ein schauriges Bild: vier an einem Galgen aufgeknüpfte Männer. Ihre Füße hingen im Wasser, die Augen hatten die Krähen ausgepickt.

Akiko und Yori wechselten einen besorgten Blick, aber Jack versuchte sie mit einem Lächeln zu beruhigen. »Das waren wahrscheinlich Piraten. Keine Sorge – uns wird man freundlich empfangen.«

Die Planke zum Ufer wurde hinuntergelassen und Jack ging mit seinen Freunden hinüber und betrat zum ersten Mal seit sieben Jahren englischen Boden. »Endlich zu Hause!«, rief er, überglücklich, wieder in seiner Heimat zu sein.

Yori kam schwankend hinter ihm die Planke herunter. Er musste sich mit seinem Priesterstock im Gleichgewicht halten, denn noch hatte er sich nicht daran gewöhnt, dass der Boden unter seinen Füßen sich plötzlich nicht mehr bewegte. Akiko, die ihm gefolgt war, rümpfte sofort die Nase. »Was stinkt hier so?«

Jack holte tief Luft … und hätte sich fast übergeben. Verglichen mit der frischen Brise, die über das offene Meer wehte, roch die Luft am Kai faulig und abgestanden. Von den Werften in Wapping ging ein beißender Geruch nach Pech aus, der sich mit dem Gestank der Müllberge und menschlichen Fäkalien auf den Straßen vermischte. Verschlimmert wurde alles noch durch den üblen Geruch der Bottiche kochenden Urins, in denen Alaun hergestellt wurde, und der sich mit den faulen Dämpfen der Ledergerbereien zu einem so ekelerregenden Gemisch verband, dass es ihnen allen fast den Magen umdrehte. Jack hatte in den vielen Jahren seiner Abwesenheit völlig vergessen, wie unerträglich es auf den Straßen Londons stank.

»Ich glaube, das, worin Jack steht«, sagte Yori und zeigte mit seinem Stock auf den unappetitlichen Haufen um Jacks Füße.

Akiko machte eine Grimasse. »Ah, Pferdeschei…«

»Ja«, fiel Jack ihr ins Wort, »ganz genau.« Während der zwölfmonatigen Rückfahrt nach England hatten Akiko und Yori Gelegenheit gehabt, Englisch zu lernen, und beide beherrschten es inzwischen fließend – allerdings fand Jack, dass einige Wörter, die die Matrosen Akiko beigebracht hatten, sich für eine Dame nicht gehörten.

»Ich denke einfach … je fruchtbarer der Boden, desto röter die Rosen«, sagte Yori fröhlich, während Jack den Dreck von seinen Sandalen kratzte und sich über seine würdelose Ankunft an den Gestaden Englands ärgerte.

»He du, dein Rock gefällt mir!«

Jack blickte auf. Vor ihm stand ein stämmiger Hafenarbeiter, flankiert von zwei weiteren grobschlächtigen jungen Burschen. Sie trugen Hemden und Kniehosen und hatten das grobe, ungepflegte Aussehen von Arbeitern, die schon ihr ganzes Leben Lasten schleppten.

»Das ist kein Rock, sondern ein hakama«, verbesserte Jack. Er richtete sich auf, sodass seine schwarze, breit gefältelte Hose in ganzer Länge zu sehen war.

Der Hafenarbeiter grinste. »Sieht für mich wie ein Rock aus.«

Jack sah ihn gereizt an und legte die Hand an sein Samuraischwert. Der Hafenarbeiter beäugte inzwischen vollkommen unverfroren Yori in seinem safrangelben Gewand und mit dem übergroßen Strohhut. »Und was willst du darstellen?«

Yori runzelte die Stirn. »Ich stelle nichts dar. Ich bin ein Mönch.«

»Du siehst aus wie ein Pilz!«, schnaubte der Hafenarbeiter.

Seine beiden Freunde lachten heiser. Der Blick des Mannes fiel auf Akiko in ihrem schimmernden Seidenkimono und ihre langen schwarzen Haare, die ihr gerade wie ein Pfeil den Rücken hinunterfielen. »Moment mal, wen haben wir denn hier?« Breitbeinig kam er einen Schritt näher. »Du bist mir ja ein leckeres Früchtchen.«

»Wage es nicht, sie anzufassen!«, sagte Jack warnend.

Der Hafenarbeiter warf ihm einen kurzen Blick zu, dann nahm er Akiko an der Hand und zog sie zu sich. »Warum nicht? Was willst du dann tun?«

»Nichts«, erwiderte Jack ruhig. »Akiko wird etwas tun.«

Der Hafenarbeiter riss erschrocken die Augen auf. Akiko hatte ihm mit einem nikyo-Hebel den Arm verdreht. Keuchend vor Schmerzen, sank er auf die Knie.

»So helft mir doch!«, rief er den anderen zu.

Die beiden eilten ihm mit geballten Fäusten zu Hilfe. Yori trat zur Seite, um sie vorbeizulassen, streckte seelenruhig seinen Stock mit den Ringen aus und bekam einen von ihnen am Knöchel zu fassen.

»Hoppla!«, sagte er und sah zu, wie sein Opfer über den Rand des Kais taumelte und ins Wasser fiel. Auf ihn folgte unmittelbar sein Kumpan. Jack hatte ihn am Hemdkragen gepackt und einen seoi-nage ausgeführt, einen Schulterwurf. Der Kerl flog in einem Bogen durch die Luft und landete in der Themse.

Der Hafenarbeiter verharrte auf den Knien, immer noch fassungslos über Akikos scheinbar wundersame Kräfte. Jack dagegen wusste, dass es nur eine Frage der Technik gewesen war. Er trat vor ihn und packte ihn am Arm wie vorher Akiko.

»Zeige etwas mehr Respekt vor unseren Gästen«, sagte er. »In Japan gilt es als höflich, sich zu verbeugen.«

Er verstärkte den Druck auf den Arm und der Hafenarbeiter senkte mit schmerzverzerrter Miene den Kopf, bis sein Gesicht in den Haufen Pferdemist eintauchte. Akiko sah Jack mit erhobenen Augenbrauen an. »Ich glaube, er hat jetzt gelernt, sich zu benehmen.«

Jack ließ den Mann widerstrebend los und er verschwand spuckend und würgend. Yori warf ein Tau zu den beiden Burschen hinunter, die noch im Wasser zappelten, dann trat er mit einem schiefen Lächeln zu Jack.

»Was für ein herzliches Willkommen in England!«

2Cheapside

»Wie ich sehe, habt ihr bereits Freunde gefunden«, sagte Captain Spilbergen, der in diesem Augenblick die Planke zum Kai herunterkam. Groß und aufrecht wie ein Mast, war der niederländische Kapitän in seiner braunen Lederjacke, den schwarzen Kniehosen und dem weißen Leinenhemd mit der steifen Spitzenkrause eine stattliche Erscheinung. Wie der berühmte Seefahrer Sir Walter Raleigh hatte er einen sorgfältig gestutzten hellbraunen Bart und einen schmalen Schnurrbart.

»Hier«, fuhr er fort und hielt Jack eine schwere Börse hin. »Dein Anteil am Ertrag der Fracht.«

Jack hob abwehrend die Hand. »Ihr habt mehr als genug getan, indem Ihr mich nach Hause gebracht habt.«

Captain Spilbergen lachte. »Unsinn! Du hast mir mit deinem Portolan ein ganzes Jahr Fahrtzeit erspart und damit ein Vermögen an Proviant und Löhnen.« Er drückte Jack die Börse in die Hand.

Jack nahm sie dankbar an und steckte sie in sein Bündel zu einem in ein Öltuch eingeschlagenen Buch. Dabei handelte es sich um den wertvollen Portolan, den er während der langen Jahre in Japan mit solcher Mühe gegen die Übergriffe Fremder verteidigt hatte. Das Logbuch seines Vaters enthielt als eines von ganz wenigen vergleichbaren Büchern genaue Angaben zur Navigation der Weltmeere und mit seiner Hilfe hatte Jack Captain Spilbergens kleine Flotte durch die Nordostpassage gelenkt – die sagenumwobene Abkürzung zwischen Europa und dem Fernen Osten. Allein diese Informationen machten den Portolan unschätzbar wertvoll. Sein Wert ging für Jack allerdings noch über sicheres Navigieren und geheime Handelswege hinaus. Für ihn war er die letzte Verbindung zu seinem Vater.

»Bist du sicher, dass du nicht als ständiges Mitglied meiner Besatzung an Bord bleiben willst?«, fragte der Kapitän. »Einen tüchtigen Steuermann wie dich könnte ich gut gebrauchen.« Er ließ den Blick über die anderen Schiffe im Hafen wandern. »Captain Kroeger könnte dich übrigens auch sehr gut gebrauchen. Wo ist überhaupt die Salamander geblieben?«

»Danke für das Angebot, Captain«, sagte Jack, »aber ich muss meine Schwester finden. Ich war sieben Jahre weg. Jess glaubt bestimmt, ich sei tot!« Wie unser Vater,dachte er mit einem plötzlichen Anflug von Trauer. So sehr er sich danach sehnte, seine Schwester wiederzusehen, so sehr fürchtete er, ihr sagen zu müssen, dass ihr Vater von einem Ninja getötet worden war – dem grausamen und skrupellosen Mörder Drachenauge. Zum Trost konnte er ihr lediglich versichern, dass auch Drachenauge tot war. Der Gerechtigkeit war Genüge getan worden, als Jacks Freund Yamato sich geopfert hatte, um Jack und Akiko im Kampf um die Burg von Osaka vor den Ninjas zu retten.

»Es war mir jedenfalls eine Freude, mit dir zu fahren«, sagte der Captain und legte seine schwielige Hand auf Jacks Schulter. »Ich wünsche dir viel Glück bei deiner Suche. Und denk dran, du hast immer einen Platz an Bord meines Schiffs.« Er wandte sich an Akiko und Yori. »Dasselbe gilt für euch. Ich nehme doch an, ihr werdet irgendwann nach Japan zurückkehren wollen?«

Akiko verbeugte sich. »Das ist sehr freundlich von Euch, Captain, aber mein Schicksal ist mit dem von Jack verknüpft.«

Jack wurde es warm ums Herz. Er wusste, dass es viel von ihr – und von Yori – verlangt gewesen war, ihm um die halbe bekannte Welt nach England zu folgen. Yori hatte bereitwillig zugestimmt, weil er seinen Horizont erweitern wollte, Akiko war aus Liebe und Treue mitgekommen, wie sie es einander gelobt hatten: Auf ewig miteinander verbunden. Doch nach der Begegnung mit den Hafenarbeitern war der Eindruck, den die beiden von seinen Landsleuten hatten, vermutlich nicht besonders gut. Er betrachtete es deshalb als seine Pflicht, ihnen in seiner Heimat beiseitezustehen und sie zu beschützen, wie sie es in Japan für ihn getan hatten. Obwohl – nicht, dass Akiko seinen Schutz gebraucht hätte!

»Und du, Yori?«, fragte der Captain.

»Man sollte eine Reise lieber in Freunden messen statt in Meilen, Captain«, sagte Yori. Er blickte zu den beiden Hafenarbeitern, die gerade in einiger Entfernung tropfend und wütend aus dem Wasser stiegen. »Da wir hier erst noch Freunde finden müssen, werden wir wahrscheinlich eine Weile bleiben!«

Captain Spilbergen lachte. »Also, wenn ihr nach einer Unterkunft sucht, kann ich euch die Herberge Zur Meerjungfrau in der Cheapside empfehlen.« Damit verabschiedete er sich von ihnen und kehrte an Bord seines Schiffs zurück.

Jack bemerkte, dass sich am Ende des Kais eine Gruppe von Hafenarbeitern versammelte. Die Wange von einem von ihnen war noch sichtbar mit Pferdemist verschmiert. Jack wandte sich an seine Freunde und klatschte in die Hände. »Kommt, machen wir uns auf die Suche nach meiner Schwester!«, drängte er. Er hob Akikos Bündel auf und reichte es ihr, zusammen mit ihrem Bambusbogen und dem Köcher mit Pfeilen, die mit Falkenfedern besetzt waren.

»Können wir uns davor noch etwas erfrischen?«, fragte Akiko, während Jack sie rasch den Kai entlang- und an der aufgebrachten Gruppe von Schauermännern vorbeiführte. »Ich würde wirklich gerne baden, bevor du mich ihr vorstellst.«

»Natürlich«, sagte Jack, ohne langsamer zu werden, bis sie den Somers-Kai hinter sich gelassen hatten. Er kannte die japanischen Bräuche und wusste, wie wichtig Reinlichkeit für Akiko war. Und nach einem Jahr auf See konnte auch er ein ausgiebiges Bad, eine herzhafte Mahlzeit und eine ruhige Nacht gebrauchen. So sehr er sich auf Jess freute, wollte er bei ihrem Wiedersehen doch auch einen möglichst guten Eindruck machen. Und nach sieben Jahren machte ein weiterer Tag keinen großen Unterschied. »Also auf zur Cheapside.«

Sie ließen den Hafen hinter sich, betraten die Stadt und bahnten sich ihren Weg durch das Gewimmel auf den Gassen. Jack führte sie aus dem Gedächtnis. Doch London hatte nicht mehr viel mit seiner Erinnerung gemein. In seiner Vorstellung war die Stadt ein funkelnder Edelstein gewesen – was er dagegen jetzt sah, war trostlos und abstoßend. Hoch aufragende Häuser drängten sich in engen Gassen und tauchten sie in ewiges Dunkel. Der Gestank, der sie bei ihrer Ankunft empfangen hatte, steigerte sich in der von keinem Lüftchen bewegten Luft, bis ihnen Tränen in die Augen traten. Und auf den meisten größeren Straßen stand der Morast knietief, denn nur die Hauptstraßen waren mit Schotter belegt. Passanten drängten rücksichtslos an ihnen vorbei, der Lärm war ohrenbetäubend und das allgemeine Chaos überwältigend. Straßenhändler, die ihre Waren anpriesen, schrien gegen das Gebrüll der Stadtausrufer an, die Nachrichten und öffentliche Ankündigungen bekannt gaben. Hungernde Bettler in schmutzigen Lumpen bevölkerten die Straßenecken und in dunklen Gassen lungerten Gruppen jugendlicher Herumtreiber wie Rudel wilder Hunde. Vom Schiff aus hatte London gewirkt wie der paradiesische Traum, an den Jack sich so viele Jahre geklammert hatte. Von Nahem entpuppte es sich als schrecklicher Albtraum.

»Leben hier wirklich Menschen?«, fragte Akiko und sah sich fassungslos um.

Jack nickte. »Alle wollen nach London!«, sagte er munter, um sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Entweder hatte sich die Stadt in seiner Abwesenheit dramatisch verändert oder er hatte sie in der Erinnerung im Lauf der Jahre verklärt.

Über ihnen ging ein Fensterflügel auf und jemand rief: »Achtung da unten!«

Passanten wichen hastig zur Seite aus, ein Nachttopf wurde ausgeleert und auf dem Boden vor ihren Füßen landeten klatschend menschliche Fäkalien. Nur dank ihrer schnellen Reaktion wurde Akiko nicht getroffen. Entsetzt sah sie Jack an. »Du hast doch gesagt, London sei eine zivilisierte Stadt!«

»Ist es ja auch«, versicherte er, während ihm zugleich schmerzhaft bewusst wurde, dass seine Heimatstadt im Vergleich mit den reinlichen und aufgeräumten Straßen Kyotos schlecht abschnitt. »Wir sind hier nur in einem ärmeren Viertel, das ist alles.«

Wie als Bestätigung dessen gelangten sie in diesem Moment von der Gasse auf eine breite, gepflasterte Straße, gesäumt von prächtigen fünfstöckigen Gebäuden mit bunt bemalten Balken und funkelnden Glasscheiben in allen Fenstern. Vornehm gekleidete Damen und Herren spazierten die Straße auf und ab, sahen sich in den Läden der Goldschmiede um und betrachteten die neuesten Kreationen der Hutmacher, die neuesten Titel der Buchhändler und die schimmernden Pokale und Schalen in den Geschäften der Glashändler. Eine Zeile von besonders schönen Häusern war sogar mit echtem Blattgold verziert.

»Seht ihr?«, sagte Jack, erleichtert, endlich das London seiner Träume gefunden zu haben.

Akiko nickte anerkennend. »Ja, das ist schon viel zivilisierter.«

Und Yori fügte mit einem schiefen Lächeln hinzu: »Offenbar ist London wie eine Pfauenfeder, von vorn viel schöner als von hinten.«

In der Cheapside, der breitesten Straße der Stadt, ging es zu wie in einem Bienenstock. Von Pferden gezogene Kutschen ratterten über das Pflaster. Frauen mit Körben auf dem Kopf boten warme Pasteten feil, andere mit Körben voller Kräuter riefen: »Rosmarin und Lorbeerblätter!« Wasserträger und Bedienstete standen an einem großen steinernen, an einen unterirdischen Kanal angeschlossenen Brunnen Schlange, um ihre Eimer zu füllen. Am westlichen Ende der Straße umlagerten Hausfrauen, Dienstmädchen und Reisende holzgedeckte Marktstände. Die Straße schien förmlich überzulaufen wie ein brodelndes Fass.

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Akiko ein wenig verdattert. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Jack straffte sich stolz. »Ich habe doch gesagt, London ist der Mittelpunkt der Welt!«

Die drei überquerten den belebten Markt und die Menschen machten ihnen Platz. Sie selbst boten einen ungewöhnlichen Anblick, dachte Jack. Zwar waren viele Londoner an Ausländer gewöhnt, aber die wenigsten waren schon Menschen aus Japan begegnet – oder ihren fremdartigen Kleidern. Akiko in ihrem rot-goldenen Kimono und mit dem auf den Rücken geschnallten Bogen zog viele Blicke auf sich. Und auch Yori mit seiner schlichten gelben Mönchskutte und dem übergroßen Strohhut war sehenswert. Sein buddhistischer Pilgerstock mit den Ringen klimperte bei jedem Schritt.

Doch war das nichts im Vergleich zu Jack in seiner schwarzen Kimono-Überjacke, dem plissierten Hosenrock und dem daishō an der Hüfte, den beiden Samuraischwertern, bestehend aus Lang- und Kurzschwert.

Er wusste, dass er als Engländer mit seinen japanischen Kleidern unnötig Aufmerksamkeit weckte, und sagte deshalb: »Ich denke, ich werde mir ein paar neue Kleider zulegen.« An einem Marktstand, der lange, bis zu den Schenkeln reichende Hemden verkaufte, blieb er stehen.

»Guten Tag, Sir!«, begrüßte ihn der Händler, ein kleiner, feister Mann mit Wangen rot wie Äpfel. »Ihr seid hier genau richtig. Meine Hemden sind aus dem feinsten Batist gefertigt, den Ihr auf diesem Markt findet!«

Jack fiel ein, dass sein Vater einmal gesagt hatte, der Stoff der Kleider sei entscheidend für den äußeren Eindruck. Also beschloss er angesichts der vollen Börse in seinem Bündel, sich die besten Kleider zu gönnen, die man für Geld kaufen konnte. Er wählte zwei Hemden in der passenden Größe aus und ging dann weiter zu einem Stand, an dem Hosen und Westen verkauft wurden. Eine halbe Stunde später war er mit Einkäufen beladen: zwei Batisthemden, Weste und Jacke aus Samt, Baumwollstrümpfen und einem Paar kniehohe schwarze Lederstiefel.

»Das willst du alles tragen?«, fragte Yori und betrachtete die Kleidungsstücke neugierig.

»Die Mode in England hat sich seit meinem letzten Aufenthalt verändert«, sagte Jack und verstaute die Kleider sorgfältig in seinem Bündel. »Habt ihr etwas gesehen, das ihr braucht?« Er hielt ihnen die Börse hin.

Yori lehnte höflich ab. »Mir reichen meine Kutte und die Sandalen«, sagte er fröhlich.

Akiko, die gerade einen Stapel steifer Mieder und schwerer Röcke betrachtete, sagte: »Mir genügen meine Kimonos vollauf, danke, Jack.« Sie sah sich zwischen den endlos vielen Marktständen um. »Ich hätte nie gedacht, dass man überhaupt so viele Sachen kaufen kann. Es ist unglaublich.«

»Hier in London kann man alles kaufen, was es auf der Welt gibt«, sagte Jack stolz und schulterte sein inzwischen schweres Bündel. »Aber jetzt ist es Zeit für ein Bad und eine ordentliche Mahlzeit.« Er blickte die Straße suchend auf und ab.

Ein Mädchen in einem schlichten braunen Kittel und mit langen, offenen strohblonden Haaren, das an einem Brunnen in der Mitte des Marktes lehnte, betrachtete sie neugierig. »Habt ihr euch verlaufen?«, fragte sie.

»Weißt du vielleicht, wo die Herberge Zur Meerjungfrau liegt?«, fragte Jack.

Das Mädchen lächelte freundlich. »Folgt mir!«

Sie gingen hinter ihr her. Akiko fasste Jack am Arm. »Die Londoner sind wirklich nette Menschen.«

»Freut mich, dass du das findest«, sagte Jack, gleichermaßen getröstet durch ihre Worte wie durch die Berührung ihrer Hand. »Ich hatte schon Sorge, die Hafenarbeiter könnten dir England endgültig verleidet haben.«

»Überhaupt nicht«, erwiderte Akiko lächelnd. »Wie Sensei Yamada gesagt hätte: Ein fauler Apfel verdirbt noch nicht den ganzen Baum.«

Das Mädchen führte sie über die Straße und in eine Gasse. Sie ließen den Markt und das Gedränge hinter sich. Das Mädchen überzeugte sich mit einem Blick, dass sie ihm noch folgten, winkte sie durch ein Tor und ging voraus in eine feuchtkalte, schmutzige Gasse. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Jack.

»Absolut!«, krächzte eine tiefe, unangenehm schnarrende Stimme aus dem Dunkel.

3Landstreicher

Aus einem dunklen Eingang trat ein Mann mit boshaft funkelnden, trübbraunen Augen, einem struppigen Bart und einem Grinsen, das schwarze Zähne zeigte. Auf seinem Kopf saß schief ein zerknautschter Federhut, in seinem rechten Ohr klaffte, in den Knorpel der Ohrmuschel gebrannt, ein großes Loch – das Zeichen des Landstreichers.

»Mein Spatz hier«, sagte er mit einem Nicken zu dem Mädchen hin, dessen unschuldiges Lächeln einem verschlagenen Gesichtsausdruck gewichen war, »meint, ihr hättet euch verlaufen.«

Jack blickte über die Schulter, aber in das Tor hinter ihnen war ein Mann von hünenhafter Gestalt, mit verfilzten Haaren und mächtigen Muskeln getreten. Der Weg aus der Gasse war blockiert. »Hier sind wir jedenfalls nicht richtig«, sagte Jack.

Aus einer Nebengasse trat ein hagerer Bursche mit einem Gesicht wie eine Ratte. »Zum ersten Mal in London?«, fragte er und schwang nachlässig einen mit Nägeln besetzten Stock.

Sie saßen in der Falle.

»Das stimmt tatsächlich«, antwortete Yori freundlich. Er verbeugte sich tief. »Und es ist uns eine Ehre, so vornehme Menschen wie Euch kennenzulernen.«

Seine Höflichkeit brachte den Landstreicher und seine Kumpane für einen Moment aus dem Konzept. Verwirrt starrten sie den kleinen Mönch an, dann lachte der Landstreicher schnaubend. »Vornehm? Das hat mich noch niemand genannt.«

»Nein«, stimmte das Mädchen zu und grinste hämisch. »Aber dafür hat man dich schon einen …«

Der Landstreicher sah sie böse an. »Klappe!«

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Ich mein ja nur. Diese Reisenden machen auf mich jedenfalls einen sehr vornehmen Eindruck.« Sie streckte die Hand aus und strich über die weiche Seide von Akikos Kimono. »Das ist ein schönes Festtagsgewand. Hätte nichts dagegen, es selber mal anzuprobieren. Lass uns tauschen!«

Akiko zog ihren Kimono weg und betrachtete den einfachen braunen Kittel des Mädchens. »Ich glaube nicht, dass mir die Farbe deines Kleids so gut stehen würde wie dir«, antwortete sie mit einem höflichen Lächeln.

»Das war keine Frage«, erwiderte das Mädchen barsch, »sondern eine Aufforderung!« Sie wollte Akiko am Ärmel packen, aber die wich ihr geschickt aus. Das Mädchen verlor das Gleichgewicht, Akiko gab ihr noch einen leichten Schubs und sie landete unsanft auf dem Boden. Sofort sprang sie wieder auf, verzerrte den Mund zu einer höhnischen Grimasse und fauchte Akiko an wie eine streunende Katze.

»Ganz ruhig, Tabby!«, mahnte der Landstreicher. »Sieht aus, als hätten wir die Herrschaften verärgert.« Er verbeugte sich und schwenkte seinen Hut. »Porter mein Name. Es ist mir eine große Freude, euch kennenzulernen … vor allem diese nette Dame.«

Er nahm Akikos Hand sanft in die seine, hob sie an die Lippen, als wollte er sie küssen … und leckte mit seiner rauen Zunge über die glatte Haut. Mit einer Grimasse machte Akiko sich los.

»Was soll das!« Jack wollte sein Schwert ziehen, aber da umklammerte ihn der Hüne von hinten mit seinen mächtigen Armen.

Porter schnalzte spöttisch mit der Zunge. »Ganz der Kavalier, ja?« Er grinste, dann fiel sein Blick auf das Langschwert. »Oh, was für ein schönes Schwert. Kostet sicher eine Stange Geld. Was hast du noch?«

Jack versuchte verzweifelt, sich aus dem Griff des Hünen zu winden, aber er war ihm so hilflos ausgeliefert wie ein zusammengeschnürtes Huhn. Akiko wollte ihm zu Hilfe eilen, aber das Mädchen zog ein Fleischermesser und hielt es ihr an die Kehle. Zur gleichen Zeit drückte der Bursche mit dem Rattengesicht Yori mit seinem Nagelstock an die Mauer.

»Genug geplaudert«, sagte Porter. »Gib mir die Börse.«

»Was für eine Börse?«, fragte Jack. Er wollte Zeit gewinnen, während er fieberhaft überlegte, wie sie aus dieser Falle entkommen konnten.

Porter verdrehte die Augen. »Die, die mein Spatz gesehen hat, als du dich auf dem Markt damit gebrüstet hast.«

»Sie steckt in seinem Bündel«, sagte das Mädchen.

Porter packte Jacks Bündel und riss es von seiner Schulter. »Ganz schön schwer!«, rief er. In seine Augen war ein gieriges Funkeln getreten. »Vielleicht können wir dir deine Last erleichtern.« Er durchwühlte die Tasche, zog den in das Öltuch gewickelten Portolan heraus und stöhnte enttäuscht. »Ah … nur ein Buch.«

Er ließ den Portolan in den Schmutz fallen. In Jack stieg Wut auf und er musste die Zähne zusammenbeißen. Wenn der Landstreicher gewusst hätte, wie kostbar der Portolan war, hätte er ihn nicht so achtlos weggeworfen. Andere Menschen waren bereit gewesen zu töten, um in seinen Besitz zu gelangen.

»Jetzt sind wir aber auf Gold gestoßen!«, rief Porter und zerrte Jacks Börse heraus, in der die schweren Münzen klirrten.

Es reicht, dachte Jack. Er wechselte einen Blick mit Akiko und Yori und lächelte.

»Was gibt es da zu lachen?«, wollte Porter wissen.

»Ist das nicht wie in diesem Vers aus Shakespeares Othello? ›Zum Raube lächeln heißt den Dieb bestehlen‹?«

»Ich habe nie eins von seinen blöden Stücken gesehen. Was soll das überhaupt bedeuten?«

»Vielleicht kann ich das erklären«, meldete sich Yori zu Wort. Er sah den Jungen an, der ihn an die Wand drückte, holte tief Luft und schrie. Ohrenbetäubend laut hallte der Schrei durch die Gasse.

»Es hat keinen Zweck, um Hilfe zu rufen, Kleiner«, lachte Porter. »Das hört hier in London niemand und es interessiert auch niemanden.«

Doch der Bursche mit dem Stock sackte plötzlich auf die Knie, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube verpasst.

»Steh auf, du Waschlappen!«, schimpfte das Mädchen.

»Ich kann nicht …«, röchelte der Junge und hielt sich den Bauch. Er war vor Schmerzen und Schreck ganz blass geworden. Jack wusste genau, was passiert war. Yori war ein Meister des kiaijutsu, der Kunst des kiai. Mit den Schwingungen seines Schreis hatte er den Jungen vorübergehend gelähmt. Der Schrei hatte ihn gleichsam mit der Gewalt eines Faustschlags in den Magen getroffen.

»Um Himmels willen!«, sagte das Mädchen und gab ihm einen Tritt in den Hintern. »Steh auf!«

In dem kurzen Moment, in dem sie abgelenkt war, packte Akiko rasch ihre Hand und bog das Fleischermesser von ihrem Hals weg. Dann überdrehte sie das Gelenk, bis die Knochen zu brechen drohten. Das Mädchen kreischte, musste das Messer wohl oder übel fallen lassen und ging zu Boden.

Jetzt nutzte Jack die eiserne Umklammerung des Hünen zu seinem Vorteil aus. Er hob die Beine, trat Porter mit beiden Füßen ins Gesicht und brach ihm die Nase. Porter taumelte rückwärts und fiel in den Dreck.

Der Hüne dagegen ließ sich nicht so leicht abfertigen. Er begann, Jacks Brustkorb zusammenzudrücken wie eine Walnuss. Mühsam rang Jack um Luft und versuchte verzweifelt, sich zu befreien, indem er den Kopf nach hinten warf, um den Koloss am Kinn zu treffen. Doch richtete er damit nicht mehr aus als mit einem leichten Klaps an die Wange. Der Hüne knurrte verärgert, spannte die Muskeln noch mehr an und drückte noch fester zu. Jack hatte das Gefühl, als würde seine Brust implodieren. Der Kopf dröhnte ihm und es drohte ihm schwarz vor Augen zu werden …

Da ließ der Druck plötzlich nach und er spürte, wie wieder Luft in seine Lungen strömte. Akiko hatte auf einen kyusho-Punkt am Oberarm des Mannes geschlagen. Sengende Schmerzen durchfuhren seinen Speichennerv und sein Griff lockerte sich. Zur gleichen Zeit stieß Yori die Spitze seines Stocks auf einen Nervendruckpunkt am Fuß des Mannes. Der Hüne heulte vor Schmerzen auf, ließ Jack fallen und begann, wie ein rasendes Kaninchen umherzuhüpfen.

»Ich … wäre … schon selbst …«, protestierte Jack, als Yori ihm auf die Beine half.

»Natürlich«, sagte Yori mit einem schiefen Grinsen. »Irgendwann hätte er keine Kraft mehr gehabt, dich zusammenzudrücken!«

Jack hob den Portolan auf, wischte ihn ab und steckte ihn in sein Bündel. Dann drehte er sich zu Porter um, der mit blutiger Nase am Boden lag, und riss ihm die Börse aus der Hand. »Die will ich auch zurück«, sagte er. Und damit verließen er und seine Freunde die Gasse.

Porter schnippte mit einer ungeduldigen Kopfbewegung wütend das Blut von seiner gebrochenen Nase. Dann zog er ein Messer. »Aufstehen, Leute«, knurrte er. »Los, bewegt euch! Ihnen nach!« Die Bande machte sich an die Verfolgung.

Jack, Akiko und Yori rannten durch das Tor und in das Gassenlabyrinth, durch das sie schließlich wieder zum Markt von Cheapside gelangten.

»Im Trubel schütteln wir sie ab«, sagte Jack.

Doch mit ihren japanischen Kleidern waren sie alles andere als unauffällig und ihre Verfolger waren ihnen schon bald wieder auf den Fersen.

»Niemand hält mich zum Narren!«, schnaubte Porter und ging mit seinem Messer auf Jack los.

Jack hatte Mühe, im Gedränge der Marktbesucher der rostigen Klinge auszuweichen. Mit einer raschen Bewegung zog er sein Langschwert. Der blitzende Stahl machte die Leute aufmerksam und sie stoben in Panik auseinander. Porter zögerte, nachdem er sich mit einem Blick davon überzeugt hatte, dass sein Messer viel kürzer war als Jacks Schwert – der Bursche mit dem Nagelstock dagegen zögerte nicht. Er schlug mit dem Stock nach Yori, der im letzten Augenblick zur Seite ausweichen konnte. Der Stock fuhr stattdessen in einen Obststand hinter ihm und Äpfel, Orangen und Zitronen flogen in alle Richtungen. Das Mädchen griff unterdessen mit dem Fleischermesser Akiko an und auch der Hüne wollte Fäuste schwingend in den Kampf eingreifen.

Da begann scheppernd eine Glocke zu läuten und einige Männer mit breitkrempigen Hüten und Spießen in den Händen näherten sich im Laufschritt, um der Gewalt ein Ende zu bereiten.

»Gendarmen!«, schrie das Mädchen und nahm Reißaus wie eine Katze, die sich verbrüht hat. Auch der Junge floh. Porter dagegen war zu langsam und wurde von zwei Wachtmeistern gepackt. Zwei weitere Männer versuchten, mit ihren Spießen den Hünen in Schach zu halten, was Jack, Akiko und Yori Gelegenheit verschaffte, in der Menge unterzutauchen. Während sie sich durch das Gedränge schoben, sah Jack zwar die eisernen Spieße weiterer Gendarmen auf sie zukommen, doch konnten er und seine Freunde ihnen geduckt ausweichen. Sie gelangten zur Ecke der Bread Street und blieben unter einem bunt bemalten Holzschild stehen, um zu verschnaufen. Das Schild zeigte eine Frau mit einem Fischschwanz.

»Da rein!«, rief Jack und sie verschwanden in der Herberge Zur Meerjungfrau.

4Der Lüge bezichtigt

Jack drückte sich neben Yori und Akiko an die holzgetäfelte Wand und spähte durch das Bleiglasfenster nach draußen. Auf dem Marktplatz vor der Herberge herrschte Aufruhr. Gendarmen liefen aufgeregt durch die Menge und suchten nach den flüchtigen Missetätern. Eine Waschfrau mit einer Schürze zeigte in die Richtung der Herberge und Jack stockte der Atem. Saßen sie in der Falle?

»Warum stellen wir uns nicht einfach?«, schlug Yori vor. »Schließlich wurden wir zuerst angegriffen.«

»Es gibt keine Garantie, dass die Polizei das auch so sieht«, erwiderte Jack, während drei mit Spießen bewaffnete Männer zielstrebig auf die Herberge zumarschierten. »Porters Wort würde gegen das unsere stehen und wir sind Fremde.«

»Du nicht«, wandte Akiko ein.

Jack blickte an seinen japanischen Kleidern hinunter. »Ich fühle mich aber wie ein Fremder«, sagte er. Ihr bisheriger Empfang war schließlich nicht besonders herzlich ausgefallen.

Die Gendarmen waren schon fast an der Tür angelangt und Jack legte instinktiv die Hand an sein Langschwert. Doch statt einzutreten, gingen die Männer an der Tür vorbei und verschwanden in der Bread Street. Jack tat einen tiefen Seufzer der Erleichterung und lehnte den Kopf an die Fensterscheibe.

»Seid ihr hier, um was zu trinken, oder wollt ihr nur aus meinem Fenster sehen?«, fragte die Stimme einer Frau barsch.

Jack drehte sich um. Die Gaststube war dämmrig, nur von flackernden Kerzen erleuchtet. Es stank nach Tabak und Rauchschwaden hingen wie Nebel unter den Deckenbalken. Gruppen von Männern und Frauen, die einen wohlhabend, die anderen nicht, saßen an schweren, mit Bierkrügen beladenen Holztischen. Hinter dem Tresen stand eine kräftige Schankwirtin mit ausladendem Busen und Armen wie ein Hafenarbeiter und musterte sie mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen.

»Wir sind auf der Suche nach einer Unterkunft«, sagte Jack mit seinem gewinnendsten Lächeln. »Euer Haus wurde uns wärmstens empfohlen.«

Die Miene der Frau blieb unverändert streng. »Könnt ihr zahlen?«

»Natürlich«, sagte Jack und ging mit neuem Selbstvertrauen zum Schanktisch. »Euer schönstes Zimmer bitte und Essen für drei.«

»Und ein heißes Bad«, fügte Akiko hinzu.

Die Wirtin sah sie entgeistert an. »Ein Bad?«

»Ja«, sagte Akiko eifrig. »Ein heißes Bad.«

Die Wirtin beäugte sie misstrauisch. »Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist? Du willst dir doch nichts holen.«

Akiko runzelte die Stirn. »Was sollte ich mir holen? Das Waschen reinigt den Körper.«

Die Schankwirtin schüttelte nur den Kopf und schnaubte. »Nein! Ausländer!« Dann wandte sie sich wieder an Jack. »Das macht Sixpence für Zimmer und Essen. Und noch einmal drei Penny für das Bad.«

Der Preis ließ Jack zwar zögern, aber dann holte er die Münzen aus der Börse und zahlte. Ihr Anblick schien die Frau ein wenig milder zu stimmen, allerdings nur kurz. »Bursche!«, rief sie und ein schmächtiger Junge tauchte hinter ihr auf. »Bring das Gepäck unserer jungen Gäste nach oben auf ihr Zimmer, bezieh die Betten neu und schüre das Feuer und mach Wasser warm.«

Der Junge runzelte die Stirn. »Wozu?«

»Für ein Bad«, sagte die Wirtin und verdrehte die Augen.

»Wie bitte?«, rief der Junge und ließ die Schultern sinken. »Da bin ich ja den ganzen Nachmittag mit Wasserholen beschäftigt!«

»Dann fang am besten gleich damit an!«, sagte die Wirtin barsch.

Mit einem theatralischen Seufzer wollte der Junge Jacks und Akikos Bündel nehmen, aber Jack zögerte. Er gab seine kostbare Habe, vor allem den Portolan, ungern in fremde Hände. Die Wirtin bemerkte es. »Keine Sorge«, sagte sie, »in meiner Herberge wird nicht gestohlen. Darauf gebe ich dir mein Wort.«

Beruhigt durch ihre Körperfülle und ihre schroffe Art, beschloss Jack, ihr zu glauben. Er gab dem Jungen sein Bündel, wenngleich immer noch ein wenig widerstrebend, dann sagte er: »Wir nehmen noch drei Becher Dünnbier, während wir auf das Essen warten.«

Die Wirtin stellte geräuschvoll drei Krüge auf den Schanktisch und verschwand dann im hinteren Teil des Wirtshauses. Jack, Akiko und Yori setzten sich an einen Ecktisch.

»Ist hier das Wasser knapp?«, fragte Akiko. »Die Wirtin schien über meine Bitte um ein Bad nicht erfreut zu sein.«

»Nein«, erwiderte Jack, der wusste, dass Engländer keineswegs so regelmäßig badeten wie Japaner – ein Bad pro Jahr galt als vollkommen ausreichend. »Aber koste es lieber nicht. Es würde dir nicht bekommen.« Er hob seinen Krug. »Lasst uns auf unsere wohlbehaltene Ankunft zu Hause trinken!« Sie stießen an.

Jack nahm einen langen Zug und genoss den malzigen Geschmack, der ihm seit seiner frühen Kindheit vertraut war. Dünnbier war das gewohnte Getränk aller Engländer, egal ob jung oder alt. Akiko nippte an ihrem Krug, Yori wagte einen ganzen Schluck. Im nächsten Augenblick begann er zu würgen, biss sich auf die Finger und wurde grün im Gesicht.

»Alles in Ordnung?«, fragte Jack.

»J-ja«, stotterte Yori und stellte den Krug ab. »Man muss sich an das englische Bier wohl erst … gewöhnen.«

Jack lachte. »Das wirst du schon! Auf jeden Fall ist es sicherer, als Wasser zu trinken. Und keine Sorge – es enthält kaum Alkohol.« Er dachte an die vielen seltsamen Speisen und Getränke, die er in Japan kennengelernt hatte – Dünnbier war harmlos im Vergleich zu rohem Fisch, fermentierten Bohnen, in Salz eingelegten Pflaumen, Reiswein und grünem Tee!

Die Wirtin kam zu ihnen gewatschelt, stellte drei dampfende Teller auf den Tisch und legte eine Handvoll Messer und Löffel daneben. »Rindfleisch-Nieren-Pastete«, sagte sie schnaufend.

Akiko betrachtete das Besteck. »Habt Ihr auch hashi?«, fragte sie.

Die Wirtin schürzte die Lippen. »Ich hoffe doch nicht«, sagte sie. »Das klingt schmerzhaft!« Und mit einem unterdrückten Lachen, das ihren Busen wogen ließ, entfernte sie sich.

Jack sah Akiko grinsend an. »Stäbchen gibt es hier leider nicht. Jetzt bist du dran, die Sitten und Gewohnheiten meines Landes kennenzulernen.« Er nahm ein Messer, schnitt die Pastete auf und löffelte die dicke Bratensoße und das Fleisch heraus.

Yori folgte seinem Beispiel, Akiko schnitt vorsichtig in den Teig, schnupperte ein wenig daran, nahm einen Mundvoll und kaute langsam.

»Na, wie findest du es?«, fragte Jack. Heißhungrig schlang er die Pastete hinunter.

Akiko brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Es schmeckt … sehr gut.«

Aber Jack merkte an ihrem gezwungenen Schlucken, dass man sich an das englische Essen wie an das englische Bier offenbar erst gewöhnen musste.

Sie beendeten gerade ihr Mahl, als von einem Tisch in der Nähe dröhnendes Gelächter herüberdrang. Drei Herren blickten, vom Bier beschwipst, in ihre Richtung. Ihre Bemerkungen waren so laut, dass auch die anderen Gäste sie hören konnten. In diesem Augenblick sagte einer der drei, ein Mann mit kurz geschnittenen kupferroten Haaren, gezwirbeltem Schnurrbart und einer Spitzenhalskrause, die so breit und steif war, dass es aussah, als throne sein Kopf auf einem Teller: »Ich dachte, das Globe Theatre liege auf der anderen Seite des Flusses. Offenbar haben diese Schauspieler den Rückweg zur Bühne nicht gefunden!«

Er kicherte über seinen eigenen Witz und seine Gefährten fielen ein.

»Mit Eurem Witz solltet eigentlich Ihr auf der Bühne stehen«, sagte sein beleibter Freund, dessen Wangen fast so pflaumenrot waren wie seine aufwendig aus Samt geschneiderte Weste.

»Vollkommen richtig«, stimmte der Dritte zu, lachte schnaubend und nahm einen Schluck aus einem Humpen. Er war groß und dünn und seine Haare waren lang und glatt wie gekämmter Flachs. Über seine Hakennase betrachtete er seinen Freund. »Ihr könntet der Mercutio aus Romeo und Julia sein.«

Der Mund des Rothaarigen unter seinem Schnurrbart mit den aufwärts gebogenen Enden verzog sich zu einem Grinsen. »Und die drei da drüben könnten die Narren im Sommernachtstraum spielen. Der Junge könnte Zettel sein und der Mönch Flaut, der Blasebalgflicker. Er hat keinen Bart und trägt schon ein Kostüm! Und die Chinesin, die könnte …«

»Akiko ist Japanerin«, fiel Jack, dessen Geduld erschöpft war, ihm scharf ins Wort. »Und Samurai. Erweist ihr etwas mehr Respekt.«

»Ein was?«, fragte der schnurrbärtige Herr grinsend.

Jack kniff die Augen zusammen. »Ein Samurai. Ein Mitglied des Kriegerstandes in Japan, vergleichbar unseren englischen Rittern.«

Der Mann würdigte Akikos schmächtige Gestalt nur eines kurzen Blickes, hob ungläubig die Augenbrauen und wandte sich an seine Gefährten. »Ein Mädchen als Ritter? Erzähl das jemand anders.«

Die drei brachen wieder in Gelächter aus.

»Die sind nicht vom Theater, so viel ist sicher«, sagte der beleibte rotgesichtige Mann kichernd. »Die sind verrückt! Wahrscheinlich aus der Irrenanstalt ausgebüchst.«

»Oder sie hatten ein Bier zu viel!«, sagte der Mann mit der Hakennase wiehernd und hob seinen Humpen wieder an die Lippen.

Die anderen Gäste der Schenke waren inzwischen verstummt und blickten in ihre Richtung. Erzürnt, dass er und seine Freunde in aller Öffentlichkeit lächerlich gemacht wurden, stand Jack auf. Doch Akiko legte ihm die Hand auf den Arm. »Beachte sie einfach nicht«, sagte sie. »Wir hatten heute schon genug Ärger.«

Jack schäumte vor Wut. Das Benehmen dieser Herren war nicht hinnehmbar. Schon wieder fielen ihm seine Landsleute in den Rücken. Akiko und Yori sollten nicht einen solchen Eindruck von England bekommen. Trotzdem setzte er sich wieder, doch da hatte der schnurrbärtige Mann schon die beiden Schwerter an seiner Hüfte bemerkt.

»Was trägst du da eigentlich?«, wollte er wissen.

»Mein daishō«, sagte Jack kurz angebunden.

Der Mann runzelte argwöhnisch die Stirn. »Sieht für mich aus wie zwei Schwerter. Und in London darf niemand ein Schwert tragen, es sei denn, er wurde zum Ritter geschlagen.« Er drehte sich ein wenig auf seinem Stuhl und ein langer, schmaler Degen an seinem Gürtel wurde sichtbar.

»Wer seid Ihr überhaupt?«, fragte Jack unbeeindruckt.

»Sir Toby Nashe. Und du?«

»Jack Fletcher.«

»Kein ›Sir‹«? Der Mann musterte Jack verächtlich. »Dann bist du auch kein Ritter und musst die Schwerter abgeben.«

Jack erstarrte. »Das werde ich auf keinen Fall.«

Sir Toby stand auf und stützte die Hände in die Hüften. »Du hast keine andere Wahl. Das ist in diesem Land Gesetz.«

Jack schüttelte den Kopf. »Mir wurde vom Regenten Japans der Rang eines hatamoto verliehen. Ich bin ein Samurai. Damit habe ich das Recht, ein Schwert zu tragen. Sogar zwei.« Er war wieder aufgestanden und die beiden Schwerter waren in voller Länge zu sehen. Die schwarz lackierten Scheiden schimmerten im weichen Licht der Kerzen.

»Dieser Titel hat in England keine Geltung«, sagte Sir Toby. »Gib mir deine Schwerter.«

»Nein«, erwiderte Jack trotzig. Um nichts auf der Welt würde er seine Schwerter einem Fremden geben!

Angespanntes Schweigen breitete sich in der Gaststube aus. Alle beobachteten die beiden, einige noch mit halb erhobenen Bierkrügen.

»Jack …«, meldete Yori sich zaghaft zu Wort. »Vielleicht ist unser Zimmer jetzt fertig.«

Den Blick unverwandt auf Sir Toby gerichtet, nickte Jack langsam. »Ja, ich habe auch wirklich genug von der schlechten Gesellschaft in dieser Schenke. Gehen wir auf unser Zimmer.«

»Hiergeblieben! Wir sind noch nicht miteinander fertig«, rief Sir Toby und stampfte mit dem Fuß auf wie ein ungeduldiges Kind.

Jack schickte sich an, Akiko und Yori zur Treppe zu folgen, doch Sir Toby trat ihm in den Weg. »Gib mir sofort deine Schwerter!«

»Auf wessen Geheiß?«

»Auf Geheiß des Königs.«

Jetzt war es an Jack, zu lachen. »Ihr sprecht nicht für den König.«

Sir Tobys Gesicht lief dunkelrot an. »Du wagst es, dich über mich lustig zu machen? Für den Fall, dass du es nicht weißt: Ich habe Verbindungen zu Seiner Majestät!«

»Ach ja? Gut, ich kenne den Kaiser von Japan«, sagte Jack und drängte an ihm vorbei.

In der Gaststube wurde unterdrücktes Lachen laut. Sir Toby war so empört, dass der Schnurrbart auf seiner Oberlippe zitterte. »Du bezichtigst mich der Lüge?«

Jack blickte über die Schulter auf den aufgeblasenen Wicht und zuckte mit den Schultern. »Wenn Ihr sagt, Ihr kennt den König, dann kennt Ihr ihn eben.« Damit wandte er sich ab und ging zur Treppe.

Er hatte gerade den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, da hörte er Sir Toby rufen: »Du hast meine Ehre verletzt, Bürschchen! Ich fordere dich zum Duell!«

5Eine Frage der Ehre

»Werden deine Landsleute alle so schnell wütend?«, fragte Akiko, als sie, gefolgt von einem Haufen neugieriger Schaulustiger, durch das Stadttor zu einem Platz namens Moorfields geführt wurden. »Alle, denen wir bisher begegnet sind, wollten uns entweder beleidigen, ausrauben oder töten!«

»Jetzt weißt du, wie ich mich in Japan gefühlt habe!«, sagte Jack leise.

Akiko zuckte zusammen und verstummte und Jack hatte sofort Gewissensbisse. Er wusste, dass seine Antwort verletzend gewesen war und sein Ton schroff. Aber das bevorstehende Duell, das sein Wiedersehen mit Jess weiter hinauszögern würde, und dazu seine Bestürzung über den feindseligen Empfang, der ihnen bisher in England zuteilwurde, machten ihn reizbar. »Entschuldige, Akiko …«, murmelte er. »Ich bin im Moment ein wenig angespannt.«

Ihr fein geschwungener Kiefer entspannte sich und sie sah ihn wieder an. »Ich wollte dich nicht kränken, Jack. Aber wir sind hier, um deine Schwester zu finden, nicht den Tod durch das Schwert! Und es kommt mir sinnlos vor, wegen einer solchen Kleinigkeit zu kämpfen.«

»Na ja, gewisse Samuraifürsten schlagen dir den Kopf ab, wenn du dich nicht tief genug verbeugst!«, gab Jack zurück. Er dachte an den blinden Teehändler, dem ein solches Schicksal auf Befehl von Daimyo Kamakura zuteil geworden war – Kamakura war Shogun von Japan gewesen und hatte alle Christen und Ausländer aus seinem Herrschaftsbereich vertrieben.