Samurai 3: Der Weg des Drachen - Chris Bradford - E-Book

Samurai 3: Der Weg des Drachen E-Book

Chris Bradford

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Beschreibung

*** Band 3 der Bestseller-Reihe von Chris Bradford in neuem Look! *** Das Leben des jungen Engländers Jack wird immer gefährlicher. Denn Fürst Kamakura will nicht nur alle Europäer vertreiben, auf Jack ist sogar ein Auftragsmörder angesetzt! Jacks Freunde halten aber treu zu ihm. Selbst Schwertmeister Masamoto gewährt ihm seinen Schutz. Keiner ahnt, dass sich in Jacks nächster Nähe ein Verräter eingenistet hat … Ein junger Engländer. Gestrandet in Japan. Ausgebildet zum Samurai. Bereit für den Kampf seines Lebens. Entdecke alle Abenteuer der "Samurai"-Reihe: Band 1: Der Weg des Kämpfers Band 2: Der Weg des Schwertes Band 3: Der Weg des Drachen Band 4: Der Ring der Erde Band 5: Der Ring des Wassers Band 6: Der Ring des Feuers Band 7: Der Ring des Windes Band 8: Der Ring des Himmels Band 9: Die Rückkehr des Kriegers Die Kurzgeschichte "Der Weg des Feuers" ist als E-Book erhältlich und spielt zwischen den Ereignissen von Band 2 und Band 3.

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2020Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2010, 2020 Ravensburger Verlag GmbHPostfach 24 60, 88194 RavensburgDie Originalausgabe erschien 2010unter dem Titel »Young Samurai. The Way of the Dragon«bei Puffin Books/Penguin Books Ltd, 80 Strand,London WC2R 0RL, EnglandText Copyright © 2010 by Chris BradfordCovergestaltung: Paul YoungLandkarte: Gottfried MüllerÜbersetzung: Wolfram StröleAlle Rechte vorbehaltenISBN978-3-473-38421-1www.ravensburger.de

Für meine Frau Sarah

PrologDer Ninja

Japan, Juni 1613

Lautlos wie ein Schatten glitt der Ninja über die Dächer.

Im Schutz der Nacht überquerte er den Graben und kletterte die Umfassungsmauer des inneren Burghofs hinauf. Sein Ziel war der mächtige, achtstöckige Wehrturm im Herzen der Burg, die als unbezwingbar galt. An den Samuraiwachen der Außenbastionen vorbeizuschlüpfen war nicht schwer gewesen. Die schwüle, windstille Nacht machte sie träge und lustlos und sie waren mehr mit sich selbst beschäftigt als mit der Sicherheit ihres Daimyo. Die Überzeugung, die Burg sei unbezwinglich, trug nicht gerade zu ihrer Aufmerksamkeit bei. Schon der Versuch, in eine solche Festung einzudringen, erschien vermessen.

Der schwierigste Teil seiner Aufgabe stand dem Ninja allerdings noch bevor: Er musste sich Zugang zum Hauptturm verschaffen. Die Leibwache des Daimyo war bestimmt nicht so nachlässig. Bisher hatte der Ninja sich über die Dächer der Außengebäude genähert. Für den restlichen Weg zum steinernen Sockel des Turms musste er offenes Gelände überqueren.

Er ließ sich vom Dach fallen und huschte im Schatten der Pflaumen- und Kirschbäume am Rand des Hofes entlang. Geräuschlos durchquerte er einen Teegarten mit einem ovalen Teich und gelangte zum Brunnenhaus. Da sich gerade eine Samuraipatrouille näherte, verschwand er in dem Gebäude.

Dann war die Luft wieder rein. Blitzschnell rannte er zum Turm und kletterte mühelos wie ein schwarzhäutiger Gecko die gewaltige steinerne Mauer hinauf. Im nächsten Augenblick war er im vierten Stock angelangt und schlüpfte durch ein offenes Fenster.

Drinnen wusste er genau, in welche Richtung er gehen musste. Er eilte einen dämmrigen Korridor entlang und an verschiedenen Schiebetüren vorbei und bog nach rechts zu einer hölzernen Treppe ab. Gerade wollte er sie betreten, da erschien an ihrem oberen Ende ein Wächter.

Wie Rauch sank der Ninja in das Dunkel zurück. Sein pechschwarzes Gewand machte ihn praktisch unsichtbar. Mit einer raschen Bewegung zog er ein Kampfmesser, um dem Wächter die Kehle durchzuschneiden.

Der Mann kam die Treppe herunter und ging an dem Ninja vorbei, ohne die tödliche Gefahr zu ahnen. Der Ninja verschonte ihn, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sobald der Wächter um die Ecke verschwunden war, steckte er das Messer wieder ein und schlich die Treppe zum Stock darüber hinauf.

Durch eine dünne Papiertür sah er den Schein zweier brennender Kerzen. Er schob die Tür einen Spalt auf und spähte hindurch. Vor einem Altar kniete tief ins Gebet versunken ein Mann. Sonst befand sich niemand im Zimmer.

Der Ninja schlüpfte hinein.

Er näherte sich dem Mann, bis er dicht hinter ihm stand, fasste in einen Beutel an seinem Gürtel und holte einen in schwarzes Öltuch eingewickelten, rechteckigen Gegenstand heraus. Mit einer kurzen Verbeugung legte er ihn neben den betenden Mann auf den Boden.

»Endlich«, brummte der Mann.

Ohne sich umzudrehen, nahm er das Päckchen und öffnete es. Ein abgenutztes, in Leder gebundenes Buch kam zum Vorschein.

»Der Portolan!«, flüsterte der Mann und strich liebkosend über den Einband. Er schlug das Buch auf und blätterte durch Seekarten, Fahrtenberichte, Gezeitentabellen, Kompasspeilungen und Eintragungen zu Sternzeichen. »Damit besitzen wir, was rechtmäßig unser ist. Zu denken, dass die Geschicke der Welt in meinen Händen liegen! Mit dem Wissen um die Geheimnisse der Ozeane werden wir alle Handelswege und Meere beherrschen.«

Er legte das Logbuch auf den Altar. »Und der Junge?«, fragte er, ohne sich umzudrehen. »Ist er tot?«

»Nein.«

»Warum nicht? Meine Befehle waren eindeutig.«

»Wie Ihr wisst, unterrichtet der Samurai Masamoto den Jungen im Weg des Kriegers«, erklärte der Ninja. »Er hat sehr große Fortschritte gemacht und ist ein … hartnäckiger Gegner.«

»Hartnäckiger Gegner? Soll das heißen, ein kleiner Junge hat den großen Dokugan Ryu besiegt?«

In Drachenauges einziges, smaragdgrünes Auge trat ein böses Funkeln. Am liebsten hätte er dem Mann vor sich gleich das Genick gebrochen, doch er hatte den Lohn für die Beschaffung des Portolans noch nicht empfangen und musste sich in Geduld üben.

»Ich habe dich beauftragt, weil du der Beste warst, der Rücksichtsloseste«, fuhr der Mann mit mühsam unterdrücktem Zorn fort. »Habe ich mich geirrt, Drachenauge? Warum hast du ihn nicht getötet?«

»Weil Ihr ihn womöglich noch braucht.«

Der Mann drehte sich um. Sein Gesicht lag im Schatten.

»Warum sollte ich Jack Fletcher brauchen?«

»Der Portolan ist verschlüsselt. Nur der Junge kennt den Code.«

»Woher weißt du das?« Der Mann hatte alarmiert die Stimme erhoben. »Hast du versucht, das Buch zu lesen?«

Der Ninja nickte. »Ja. Nachdem ich beim ersten Mal versehentlich ein Portugiesischlexikon gebracht habe, erschien es mir ratsam, diesmal den Inhalt zu überprüfen.«

»Und konntest du etwas verstehen?«

»Nur wenig. Die Verbindung von Portugiesisch und Englisch macht den Code unerwartet kompliziert.«

»Egal, das spielt keine Rolle.« Der Mann schien erleichtert, dass der Ninja das Buch nicht hatte entschlüsseln können. »Im Kerker sitzt ein Franziskaner, der Mathematiker ist und beide Sprachen fließend spricht. Man braucht ihm nur die Freiheit zu versprechen und er wird uns zu Diensten stehen.«

»Und der Junge?«, fragte Drachenauge. »Der Gaijin?«

»Sobald der Code entschlüsselt ist, führst du deinen Auftrag zu Ende«, befahl der Mann und kniete sich wieder vor den Altar. »Töte ihn!«

1Die Krücke

Das Blut dröhnte Jack in den Ohren, sein Herz raste und er bekam keine Luft mehr. Doch er durfte jetzt nicht stehen bleiben.

Blindlings brach er durch den Bambuswald, ein Labyrinth dicker Stängel, die wie knochige Finger zu einem Dach olivgrüner Blätter aufragten.

»In welche Richtung ist er gelaufen?«, rief jemand hinter ihm.

Jack hielt nicht an. Obwohl seine Muskeln protestierten, wollte er die Verfolgung nicht aufgeben. Seit seiner schicksalhaften Ankunft in Japan war der Ninja Drachenauge zum Fluch seines Daseins geworden. Nach dem Schiffbruch der Alexandria hatte Drachenauge seinen Vater ermordet, anschließend ihn selbst verfolgt und ihm zuletzt den Portolan seines Vaters gestohlen.

Jack hatte verhindern sollen, dass das kostbare Logbuch in falsche Hände geriet. Die Informationen, die es enthielt, waren nicht nur für England, sondern auch für Englands Feinde von großem Wert. Ihm selbst konnte das Logbuch die Heimkehr ermöglichen und befähigte ihn, wie sein Vater als Steuermann zu arbeiten. Er musste den Ninja unbedingt aufspüren und das Buch zurückholen.

»Er hat uns abgehängt«, stellte eine zweite Stimme ungläubig fest.

Jack wurde langsamer und sah sich um. Seine Freunde hatten Recht. Der Mann, den sie jagten, war spurlos im Dickicht verschwunden.

Yamato und Akiko holten Jack ein. Akiko musste sich setzen, um zu verschnaufen. Sie hatte sich immer noch nicht ganz von ihrer Vergiftung erholt. Ihre Haut hatte den weißen Schimmer verloren und unter den halbmondförmigen Augen lagen dunkle Ringe. Schuldbewusst senkte Jack den Blick. Auch wenn Akiko ihm keine Vorwürfe machte, war er doch an ihrem Zustand schuld. Er hatte den Portolan in der Burg von Daimyo Takatomi, dem Fürsten der Provinz Kyoto, versteckt. Dort hatte er das Buch sicher gewähnt. Jetzt wusste er es besser. Drachenauge war in die Burg eingedrungen, Akiko war Jack zu Hilfe geeilt und dabei fast getötet worden, und Daimyo Takatomi hatte in Lebensgefahr geschwebt.

»Aber wie konnte er entkommen?«, fragte Yamato und stützte sich keuchend auf einen langen Stock, seinen bō. »Er ist doch nur ein Krüppel!«

»Er hat wahrscheinlich kehrtgemacht.« Jack drehte sich um die eigene Achse und suchte das Dickicht nach Spuren ab. Er wusste, dass sein Freund ebenso darauf brannte, den Flüchtigen zu finden, wie er selbst. Vor vier Jahren hatte Drachenauge Yamatos älteren Bruder Tenno ermordet.

»Ich kann nicht glauben, dass er Akikos Perle geklaut hat!«, rief Yamato und trat wütend gegen einen Bambusstamm. Der Stamm war steinhart und Yamato schrie vor Schmerzen auf.

Akiko verdrehte seufzend die Augen. Ihr Cousin war ein unverbesserlicher Hitzkopf. »Die Perle ist nicht so wichtig«, sagte sie und band sich die langen, schwarzen Haare zurück. »Wenn wir nach Toba kommen, tauche ich nach einer neuen.«

»Darum geht es nicht. Er hat die Perle genommen, ohne uns Informationen über Drachenauge zu geben.«

Jack stimmte Yamato zu. Nur deshalb waren sie überhaupt zum Fuß des Iga-Gebirges gereist. Nachdem sie von der Samuraischule verwiesen worden waren, weil sie Daimyo Takatomi in Lebensgefahr gebracht hatten, waren sie zu Akikos Mutter nach Toba geschickt worden. Dort sollten sie abwarten, bis über ihr weiteres Schicksal entschieden wurde. Unterwegs hatte sich ihr Samuraiführer Kuma-san bei einem Sturz vom Pferd die Schulter ausgerenkt. Bis er wieder reisefähig war, mussten sie in Kameyama Station machen. Während dieser Zwangspause hatten sie gehört, dass ein Krüppel namens Orochi sich brüstete, den berüchtigten Drachenauge zu kennen. Das Dorf Kabuto, in dem Orochi angeblich lebte, war nicht weit entfernt, und zu dritt waren sie aufgebrochen, um Orochi zu befragen. Jack wollte nicht nur den Portolan zurückholen, sondern auch Drachenauges Schlupfloch ausfindig machen und ihn Yamatos Vater Masamoto Takeshi ausliefern. Vielleicht, so hoffte er inständig, verzieh der legendäre Schwertkämpfer ihm und seinen Freunden dann und ließ sie die Samuraiausbildung an der Niten Ichi Ryū fortsetzen.

Kabuto bestand lediglich aus einer Straßenkreuzung mit einigen Bauernhäusern und einer baufälligen Herberge. Die wenigen Reisenden, die von der großen Tokaido-Straße zu dem Städtchen Ueno unterwegs waren, stiegen hier ab. Im Schankraum der Herberge fanden sie Orochi.

Als Jack und seine Freunde eintraten, verstummten die anderen Gäste. Jack fiel immer auf, besonders außerhalb von Kyoto, wo Ausländer ein seltener Anblick waren. Seine dicken, strohblonden Haare und himmelblauen Augen faszinierten die schwarzhaarigen, dunkeläugigen Japaner. Da-zu kam, dass er mit erst vierzehn Jahren größer und stärker war als viele japanische Männer und entsprechend auf Misstrauen und Angst stieß – vor allem seitdem er sich wie ein Samurai kleidete und benahm.

Jack sah sich rasch um. Die Schenke ähnelte mehr einer Spielhölle als einem Ort zum Ausruhen. An niedrigen Tischen, die von verschüttetem Sake klebrig waren, fanden verschiedene Würfel- und Kartenspiele statt. Händler, Samurai und Bauern musterten die Neuankömmlinge misstrauisch. Akiko begrüßten sie mit anerkennendem Gemurmel. Von der Bedienung abgesehen, die nervös in einer Ecke stand, waren keine Frauen anwesend.

Die drei Freunde traten zum Tresen. Die anderen Gäste folgten ihnen mit den Blicken.

»Entschuldigung«, sagte Yamato zum Wirt, einem stämmigen Mann mit Händen wie Schaufeln. »Können Sie uns sagen, wo wir Orochi-san finden?«

Der Mann brummte etwas und wies mit einem kurzen Nicken in den rückwärtigen Teil der Schenke. Dort saß in einer dunklen, von einer einzigen Kerze erleuchteten Nische vornübergebeugt ein Mann. An der Wand hinter ihm lehnte eine hölzerne Krücke.

Sie gingen zu ihm. »Dürfen wir uns kurz mit Ihnen unterhalten?«, fragte Yamato.

»Hängt davon ab, wer die Runde zahlt«, antwortete der Mann kurzatmig und musterte die drei. Er schien sich zu fragen, was ein junger Samurai mit stachelig vom Kopf abstehenden schwarzen Haaren, ein hübsches Mädchen und ein Ausländer in einer heruntergekommenen Schenke wie dieser zu suchen hatten.

»Das werden wohl wir sein«, sagte Yamato mit einer Verbeugung.

»Dann setzt euch zu mir. Der Gaijin kann auch kommen.«

Gaijin war ein Schimpfwort für Ausländer, aber Jack überhörte es. Der Mann war ihre einzige Spur und sie brauchten ihn auf ihrer Seite. Außerdem konnte es nur von Vorteil sein, wenn Orochi nicht wusste, dass Jack fließend Japanisch sprach.

Der Mann hob seine verkrüppelte linke Hand, deren Finger wie knorrige Wurzeln verdreht waren, und bestellte Sake. Er schien bereit, mit ihnen zu sprechen. Die anderen Gäste nahmen daraufhin ihre Gespräche und Spiele wieder auf.

Jack, Akiko und Yamato ließen sich mit gekreuzten Beinen dem Mann gegenüber an dem niedrigen Tisch nieder. Das Serviermädchen brachte eine große Flasche Sake und eine einzelne kleine Tasse. Yamato bezahlte und das Mädchen entfernte sich wieder.

»Bitte entschuldigt meine schrecklichen Tischmanieren«, sagte Orochi schnaufend und sah Akiko wohlwollend an. Er zeigte auf sein schmutziges rechtes Bein, das auf einem Kissen lag und dessen Fußsohle zu sehen war. »Ich will euch nicht kränken, aber ich bin von Geburt an gelähmt.«

»Keine Ursache«, erwiderte Akiko und schenkte ihm ein, wie es Brauch war, wenn eine Frau anwesend war.

Orochi nahm die Tasse mit seiner gesunden Hand und stürzte den Reiswein in einem Zug hinunter. Akiko schenkte ihm nach.

»Wir hätten gerne etwas gewusst«, begann sie leise. »Und zwar, wo Dokugan Ryu sich aufhält.«

Orochi hielt inne, als er den Namen hörte. Dann setzte er die Tasse an die Lippen und leerte sie.

»Dieser Sake schmeckt scheußlich!«, schimpfte er. Er hustete laut und schlug sich an die Brust. »Aber was ihr wollt, kostet noch viel mehr als Sake.«

Er sah Yamato vielsagend an, während Akiko ihm erneut nachschenkte. Yamato nickte Akiko zu und Akiko zog eine große, milchweiße Perle aus dem Ärmel ihres Kimonos und legte sie vor Orochi auf den Tisch.

»Das müsste mehr als reichen«, sagte Yamato.

In die schwarzen Augen des Mannes war ein Funkeln getreten. Er vergewisserte sich mit einem raschen Blick, dass niemand sie beobachtete, und verzog den Mund zu einem zufriedenen Grinsen.

Dann streckte er die Hand nach der Perle aus.

Yamato hielt ihn am Handgelenk fest.

»Zuerst die Auskunft«, sagte er.

»Natürlich.« Orochi nickte und zog die Hand zurück. »Ich an eurer Stelle«, flüsterte er leise, »würde ihn in einem Dorf namens …«

Eine Glocke schepperte. Die Eingangstür wurde aufgeschoben und zwei neue Kunden traten ein. Orochi verstummte und wartete, bis sie sich an den Tresen gesetzt hatten. Einer der beiden winkte dem Wirt. Jack bemerkte, dass an seiner Hand der kleine Finger fehlte.

»Was wollten Sie sagen?«, hakte Yamato nach.

Orochi wirkte einen Augenblick lang abwesend, doch kehrte seine Aufmerksamkeit rasch zu der Perle zurück.

»Äh … würdet ihr mich entschuldigen? Der Ruf der Natur.« Er griff nach seiner Krücke. »Ich brauche eine Weile, bis ich dort bin, deshalb muss ich gehen, sobald ich das Bedürfnis verspüre. Ihr habt dafür sicher Verständnis.«

Im Aufstehen stieß er gegen den Tisch. Die Sakeflasche fiel um und lief aus.

»Mein lahmes Bein ist wirklich eine Plage«, murmelte er entschuldigend. »Ich bin gleich wieder da.« An das Serviermädchen gewandt fügte er hinzu: »Wisch das auf!«

Vornübergebeugt humpelte er zur Hintertür. Die Bedienung trat eilends an den Tisch und begann den verschütteten Sake aufzuwischen. Plötzlich merkte Jack, dass etwas fehlte.

»Wo ist die Perle?«

Sie suchten auf dem Boden, starrten einander erschrocken an und eilten zur Hintertür und nach draußen.

Von Orochi keine Spur. Doch dann sah Akiko eine Gestalt im Bambuswald hinter dem Wirtshaus verschwinden. Als sie dort ankamen, war Orochi längst in das Dickicht eingetaucht. Sie stürzten ihm hinterher und nahmen die Verfolgung auf – doch er blieb spurlos verschwunden.

»Habt ihr das gehört?«, fragte Akiko.

Jack sah sie an. »Was denn?«

»Pst!«

Sie verstummten.

Das Blätterdach über ihnen rauschte sanft und gleichmäßig wie Wellen am Strand. Unterbrochen wurde das friedliche Geräusch nur durch das gelegentliche Knarren aneinanderreibender Bambusstängel.

»Hört ihr es nicht?«, flüsterte Akiko. »Luft anhalten!«

Mit geschlossenen Mündern starrten sie einander an.

Irgendwo atmete jemand.

Der Unterricht bei ihrem bōjutsu-Lehrer Sensei Kano hatte sich wieder einmal bezahlt gemacht. Mit seinen geschärften Sinnen konnte Jack die Richtung, aus der das Atemgeräusch kam, sofort bestimmen und schlich lautlos darauf zu.

Plötzlich brach Orochi keine fünf Schritte vor ihm aus dem Dickicht. Er hatte sich die ganze Zeit neben ihnen versteckt.

»Halt!«, schrie Jack. Hoch über ihm flog erschrocken ein Vogel auf.

»Verfolgt ihr ihn!«, rief Akiko. Sie selbst war dazu zu müde. »Ich passe auf die Taschen auf.«

Yamato ließ seinen Ranzen fallen und rannte Jack nach, der bereits Orochi folgte. Orochi verschwand wieder im Dickicht.

Diesmal wollte Jack sich nicht abschütteln lassen. Doch an der Stelle, an der Orochi verschwunden war, verlor er plötzlich das Gleichgewicht und fiel Hals über Kopf eine steile Böschung hinunter.

Unten angekommen, sprang er sofort wieder auf. Er stand auf einem schmalen Pfad. Wenig später erschien Yamato neben ihm. Von Jacks Schrei gewarnt, war er die Böschung hinuntergeklettert.

»Wohin ist er gerannt?«, fragte er.

»Keine Ahnung«, antwortete Jack gereizt. »Ich konnte nicht einmal oben und unten auseinanderhalten.« Er streifte sich welke Blätter aus den Haaren.

»Dann gehst du in diese Richtung und ich in die andere«, entschied Yamato. »Ruf mich, sobald du ihn hast.«

Er eilte los.

Jack wollte seinem Beispiel gerade folgen, da hörte er einen Bambusstängel knacken. Er wirbelte herum.

»Wusste ich doch, dass Sie noch da sind!«, rief er.

Orochi richtete sich mithilfe seiner Krücke unsicher auf und trat aus dem Dickicht.

»Aha, du sprichst Japanisch. Gut.« Er verbeugte sich ungeschickt vor Jack und humpelte auf ihn zu. »Du wirst doch einem Krüppel nichts zuleide tun?« Demütig streckte er seine missgestaltete rechte Hand aus.

Jack musterte ihn aufmerksam. »Sie sind gar nicht lahm!«, rief er. »Und war vorhin nicht Ihre linke Hand verkrüppelt?«

Orochi grinste wieder hämisch.

»Stimmt. Aber ihr habt mir geglaubt.« Er streckte das Bein, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und öffnete die Finger der angeblich verkrüppelten Hand.

Blitzschnell zog er den Schaft seiner hölzernen Krücke auseinander. Eine gezackte stählerne Spitze kam zum Vorschein, eine tödliche Waffe.

Orochi richtete sie auf Jacks Brust und stach zu.

2Der Giftpfeil

Dass Jack nicht durchbohrt wurde, verdankte er seiner Ausbildung zum Samurai.

Während er zur Seite auswich, fuhr der Stachel um Haaresbreite an ihm vorbei. Blitzschnell schlug Jack mit der Kante der rechten Hand gegen den Hals des Angreifers.

Orochi bekam keine Luft mehr und taumelte zurück. Jack folgte ihm, um ihn zu überwältigen, doch Orochi stach wieder mit seinem Stachel zu und trieb Jack in ein dichtes Bambusgehölz. Siegessicher zielte Orochi mit seiner Waffe auf die Stelle zwischen Jacks Augen.

Auf beiden Seiten eingezwängt, blieb Jack keine andere Wahl, als nach unten auszuweichen. Er fiel auf die Knie. Mit einem hässlichen Knirschen fuhr die Metallspitze dort, wo eben noch sein Kopf gewesen war, in einen Bambusstamm.

Orochi fluchte. Die Waffe steckte im Stamm fest. Jack schlug ihm die Faust in den Magen. Orochi grunzte, ließ aber nicht los. Jack packte ihn am Knöchel, stieß ihm die Schulter in den Bauch und riss ihn zu Boden.

Gerade wollte er Orochi mit einem Armhebel außer Gefecht setzen, doch Orochi hatte wider Erwarten seine Waffe aus dem Stamm gerissen. Jetzt richtete er sie auf Jacks Rippen. Jack drückte die Waffe zur Seite, wurde dabei aber von Orochi abgeworfen. Im nächsten Augenblick saß sein Gegner auf ihm.

»Diesmal entkommst du mir nicht, Gaijin!«, fauchte er und holte zum tödlichen Stoß aus.

Jack versuchte der Metallspitze auszuweichen. Dabei bekam er mit den Fingern ein loses Stück Bambus zu fassen. Er hielt es sich schützend vor das Gesicht.

Die Spitze durchbohrte den Stängel und kam unmittelbar vor seinem rechten Auge zum Stehen.

Orochi schrie wütend auf und drückte den Stachel nach unten. Jack stemmte ihn von sich weg. Seine Arme zitterten vor Anstrengung. Orochi lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen ihn, doch Jack war stärker. Er konnte sich seitlich unter der Waffe herauswinden und sie Orochi aus der Hand drehen. Orochi fiel mit dem Gesicht voraus auf den Boden.

Jack warf die Spitze in das Dickicht und stürzte sich auf Orochi, bevor dieser sich aufrappeln konnte. Er rammte ihm das Knie in die Schulter und bog ihm den Arm auf den Rücken. Orochi war auf dem Boden festgenagelt.

Er versuchte sich zu befreien, doch Jack drückte auf sein Ellbogengelenk. Orochi schrie vor Schmerzen auf und bewegte sich nicht mehr.

»Aufhören, bitte!«, flehte er. »Du brichst mir den Arm!« Er spuckte Erde aus.

»Dann hör auf, dich zu wehren!«, sagte Jack scharf. Er rief nach Yamato. Aus dem Blätterdach über ihm flog wieder ein unsichtbarer Vogel auf.

»Willst du mich umbringen?«, stöhnte Orochi.

»Nein«, sagte Jack, »ich will nur wissen, wo Drachenauge ist. Dann kannst du gehen.«

»Diese Information ist mehr wert als mein Leben.« Orochi sah ängstlich nach rechts und links, als erwarte er, dass der Ninja bei der bloßen Erwähnung seines Namens auftauchte.

»Soweit ich es beurteilen kann, ist dein Leben nicht viel wert«, entgegnete Jack. »Die Perle, die du gestohlen hast, wiegt deine Mühe sowieso auf. Am besten gibst du sie mir wieder, bis du mir sagst, was ich wissen muss.«

Er verstärkte seinen Hebelgriff. Orochi schrie auf und zu Jacks Überraschung fiel die kleine weiße Perle aus seinem Mund.

Jack steckte sie in seinen Obi. »Du bekommst sie wieder, wenn du mir verrätst, wo ich Drachenauge finde.«

»Und wenn nicht?«

»Dann töten wir dich.«

»Aber du hast doch gesagt …«

»Ich habe nur gesagt, dass ich dich nicht töten werde. Für meine japanischen Freunde kann ich das nicht versprechen. Als echte Samurai sehen sie es als ihre Pflicht an, die Welt von Gesindel wie dir zu befreien.«

Orochi schluckte. Er wusste, dass Samurai für Recht und Ordnung sorgten und dass er als überführter Dieb und Lügner nicht mit Gnade rechnen konnte.

»Also gut.« Er nickte zögernd. »Lass mich los und ich sage es dir. Aber du schaufelst dir dein eigenes Grab.«

Jack ließ ihn los. Gott sei Dank hatte seine Drohung gewirkt. In Wahrheit waren weder Yamato noch Akiko befugt, jemanden wegen eines so geringen Vergehens zu töten.

Orochi setzte sich auf und rieb sich den Arm. »Wo hast du kämpfen gelernt wie ein Samurai?«

»In der Niten Ichi Ryū in Kyoto.«

»Dann bist du ein Schüler von Masamoto Takeshi!«, rief Orochi erstaunt. »Ich habe Gerüchte gehört, dass er einen Gaijin adoptiert hat, aber ich hätte nie gedacht, dass der große Masamoto den Gaijin auch noch zum Samurai ausbilden würde.«

»Verschwende nicht meine Zeit! Wo ist Drachenauge?«

»Offenbar willst du unbedingt sterben, wenn du diesen Teufel suchst!«, flüsterte Orochi mit einem ungläubigen Kopfschütteln. »Als ich das letzte Mal von ihm hörte, hatte sich sein Ninja-Clan auf der Westseite des Iga-Gebirges in der Nähe des Dorfes Shindo niedergelassen. Suche dort den Drachentempel auf und frage nach …«

Orochi brach ab. Er öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber kein Ton kam heraus. Sein Blick ging ins Leere, seine Augen wurden glasig. Er fiel zur Seite, zuckte noch zweimal und blieb dann bewegungslos liegen.

»Ich warne dich, Orochi!«, sagte Jack und machte vorsichtig einen Schritt auf ihn zu. »Keine weiteren Tricks.«

Er hob ein Stück Bambus auf und stieß Orochi mit der Spitze an. Orochi rührte sich nicht. Da sah Jack den kleinen Pfeil in seinem Hals.

Ein in tödliches Gift getauchter Blaspfeil.

Das konnte nur bedeuten … Jack fuhr herum und hob den Bambusstock, um sich zu verteidigen.

Doch er sah keinen Ninja.

Was allerdings nicht hieß, dass auch keiner da war. Ninjas waren darin geübt, sich unsichtbar zu machen. In diesem Dickicht konnten sich hundert Ninjas verstecken.

Jack packte seinen Stock fester. Wie er sich wünschte, Masamoto hätte ihm seine Samuraischwerter gelassen, als er ihn von der Schule verwiesen hatte! Jetzt hätte er sie dringender gebraucht als jemals zuvor.

Angestrengt lauschte er auf das leiseste Geräusch näher kommender Schritte, doch er hörte nur das Rauschen der Blätter und das Knarren der Bambusstämme. Er zog sich tiefer in das Dickicht zurück. Da hörte er ein leises »Plop«. Im Stamm direkt vor seinem Gesicht steckte ein Pfeil.

Jack duckte sich noch tiefer und sah sich nach dem Schützen um. Doch der hatte sich gut versteckt.

Wieder flog über ihm ein Vogel auf. Er blickte nach oben. Diesmal sah er hoch über sich zwei Gestalten, Ninjas in grünen Gewändern, die mit ihrer Umgebung förmlich verschmolzen. Katzengleich schwangen sie sich von Stamm zu Stamm, auf der Suche nach einer Stelle, von der sie besser auf Jack zielen konnten.

Wieder umklammerten sie den Bambus mit den Beinen, hoben ihre Blasrohre und schossen.

3Der dritte Ninja

Fluchtartig verließ Jack sein Versteck.

Geduckt schlängelte er sich zwischen den Stämmen hindurch. Hinter sich hörte er immer wieder Pfeile in den Bambus einschlagen.

Doch er drehte sich nicht um.

Er gelangte zu dem schmalen Pfad und rannte um sein Leben.

Nach einer Weile wurde er langsamer und suchte das Blätterdach über sich ab. Ganz sicher war er sich nicht, aber es sah so aus, als hätte er die beiden Ninjas abgeschüttelt. Rasch machte er sich auf den Rückweg zum Dorf. Er hatte Angst, Akiko könnte ebenfalls in Gefahr sein.

In diesem Moment fiel wie aus dem Nichts ein Ninja herunter und blickte ihm lauernd wie ein Panther entgegen.

Jack hob sein improvisiertes Bambusschwert und machte sich zur Verteidigung bereit.

Der Ninja hob ganz ruhig die Hände.

Allerdings nicht, um sich zu ergeben. Beide Handteller waren mit eisernen Stacheln besetzt. Die shuko dienten dem Ninja als Kletterhilfe und waren zugleich tödliche Waffen. Mit den vier gekrümmten Stacheln konnte der Ninja seinen Gegnern schwere Fleischwunden zufügen.

Jack wartete nicht lange, sondern griff als Erster an.

Er schlug mit seinem Bambusschwert nach dem Kopf des Ninjas. Der Ninja zuckte nicht einmal mit der Wimper.

Mitten in der Bewegung wurde Jack auf unerklärliche Weise abrupt gestoppt. Er hob den Kopf und sah, dass sein Schwert gegen einen überhängenden Bambusstamm geprallt war. Eine lange Waffe war auf so engem Raum nutzlos.

Der Ninja fauchte und schlug mit seinen Krallen blitzschnell zu. Er erwischte Jack am ausgestreckten Oberarm. Jack zog eine Grimasse. Acht blutige Linien verliefen über seine Haut. Er musste den Bambusstock fallen lassen.

Jack verdrängte die Schmerzen und versetzte dem Ninja einen Vorwärtstritt gegen die Brust.

Der Ninja, der dem Jungen nicht so viel Kraft zugetraut hatte, fiel rückwärts in ein dichtes Gehölz. Jack ließ einen gesprungenen Seitentritt folgen, doch der Ninja setzte darüber hinweg und raste wie ein Affe einen Stamm hinauf.

Jack, der an Bord der Alexandria als Schiffsjunge gedient hatte, packte den Stamm wie einen Mast und kletterte dem Ninja hinterher. Er folgte ihm bis in die Blattkrone hinauf. Bestürzt über die unerwartete Gewandtheit des Jungen floh der Ninja.

Jack setzte ihm von Stamm zu Stamm nach.

So hoch oben war der Bambus grün und biegsam. Jack schwang sich zu seinem Gegner vor. Er erwischte ihn mit voller Wucht mit einem Vorwärtstritt im Bauch. Der Ninja verlor den Halt und fiel mit einem Schrei durch die Blätter zum Boden tief unter ihnen hinunter.

Dort blieb er bewegungslos liegen. Ein Bein war in einem unnatürlichen Winkel von seinem Leib abgespreizt. Jack seufzte erleichtert auf.

Er wollte gerade hinabklettern, da tauchte aus den Blättern unter ihm der zweite Ninja auf. Er trug ein Schwert in der Hand. Jack hörte ein scharfes Knacken. Der Ninja hatte den Stamm durchgehauen, an dem er hing.

Jack stürzte nach unten. Der Wind sauste in seinen Ohren. Blindlings griff er mit den Händen nach etwas, an dem er sich festhalten konnte. Er bekam einen anderen Stamm zu fassen, doch dieser Bambus war jung und biegsam. Jack fiel weiter und der Bambus gab schließlich nach und brach ab. Wie ein Stein stürzte Jack die letzten fünf Meter nach unten.

Der Aufprall presste ihm die Luft aus der Lunge.

Wie betäubt blieb er liegen. Mit einem dumpfen Laut landete etwas in seiner Nähe.

Er hob den Kopf und sah den grünen Ninja geduckt näher kommen. Der Ninja hatte die Hände erhoben, um Jack mit seinen Stacheln die Haut vom Rücken zu reißen. Verzweifelt kroch Jack auf allen vieren von ihm weg. Dann richtete er sich benommen auf und stolperte durch das Dickicht. Seine Überlebenschancen waren gering. Als ein dritter Ninja vor ihm landete und ihm den Fluchtweg abschnitt, schien sein Schicksal besiegelt.

Der dritte Ninja trug ein schwarzes Gewand.

Einen Moment lang bewegte sich niemand.

Dann versetzte der schwarze Ninja Jack einen Tritt in die Brust, dass er rückwärts flog. Dort, wo Jack eben noch gestanden hatte, bohrte sich ein Wurfstern in einen Stamm.

Bevor Jack noch begriff, was geschah, griff der schwarze Ninja ihn schon wieder an. Diesmal riss er ihm die Beine unter dem Leib weg. Jack landete unsanft auf dem Boden. Statt Jack den Rücken aufzureißen, fuhren die mit Krallen bewehrten Hände des grünen Ninjas knapp über ihm durch die Luft.

Der grüne Ninja fauchte erbost und wandte sich verblüfft und wütend dem schwarzen Ninja zu. Wieder schlug er mit seinen Krallen zu, doch der schwarze Ninja wehrte den Schlag ab und konterte blitzschnell mit einer Speerhand gegen den Hals des Gegners. Der grüne Ninja taumelte würgend rückwärts. Er griff wieder mit seinen shuko an, doch der schwarze Ninja wich nicht zurück, sondern zog seelenruhig ein Kampfmesser aus dem Gürtel und führte damit einen grausamen Schnitt über die Brust des grünen Ninjas. Entsetzt sah der grüne Ninja an seiner Brust hinunter, auf der sich ein Blutfleck ausbreitete, dann wich er zurück und floh durch das Dickicht.

Mit dem Messer in der Hand wandte sich der schwarze Ninja Jack zu.

Jack starrte entsetzt zu ihm hinauf.

»Jack!«, schrie eine Stimme.

Der schwarze Ninja reagierte sofort.

Mit einem Ruck schüttelte er das Blut von der Klinge seines Messers, dann kletterte er rasend schnell einen Stamm hinauf und verschwand zwischen den Blättern.

Im nächsten Augenblick brach Yamato durch das Dickicht. Jack lag mit blutigen Armen auf dem Boden und sah ihm mit einer seltsamen Mischung aus Angst und Unglauben entgegen.

»Bist du verletzt?«, rief Yamato mit kampfbereit erhobenem bō. »Ich habe Orochis Leiche gesehen. Was ist passiert?«

»Wir wurden von Ninjas angegriffen und sie haben ihn getötet«, antwortete Jack. Mit einer Grimasse untersuchte er seine Wunden. Sie waren nicht tief, dafür aber umso schmerzhafter. »Sie haben auch mich angegriffen, aber … ein anderer Ninja hat mich gerettet.«

»Gerettet? Fantasierst du?« Yamato half dem Freund auf die Beine.

»Nein. Der Ninja hat zweimal verhindert, dass der andere mich tötet.«

»Dass es Schutzninjas gibt, ist mir neu!« Yamato lachte. »Was immer der Grund dafür war, du kannst ihm dankbar sein.«

»Ja, aber was war der Grund?«

»Wer weiß. Aber wenn hier Ninjas unterwegs sind, sollten wir zu Akiko zurückkehren.«

»Zuerst will ich noch wissen, wer dieser Ninja ist.« Jack trat zu dem abgestürzten Ninja, der bewegungslos auf dem Boden lag.

»Und Akiko?«

»Ich brauche nicht lange. Außerdem kann sie selbst auf sich aufpassen.«

»Was willst du finden?«, fragte Yamato.

»Das weiß ich selber nicht.« Jack durchsuchte die Kleider des Mannes. »Irgendeinen Hinweis.«

Yamato sah sich unbehaglich um für den Fall, dass der dritte Ninja zurückkehrte. Jack winkte ihn zu sich.

»Sieh dir das an.« Er hielt die Hand des Mannes hoch. »Ein Finger fehlt.« Er schlug die Kapuze vom Gesicht des Ninjas zurück. Aus seinem Mundwinkel rann ein dünner Blutfaden.

»Und?«, fragte Yamato.

»Erkennst du ihn nicht? Er war einer der Gäste, die nach uns in die Schenke kamen. Kein Wunder, dass Orochi auf einmal fliehen wollte. Offenbar wusste er, dass sie hinter ihm her waren.«

Jack setzte die Suche fort. Er fand ein mit Haken besetztes Kletterseil, fünf Wurfsterne, einige Metalldorne in einem Beutel und einen Inro, einen kleinen Behälter, der einige Tabletten und ein unbekanntes Pulver enthielt. An der Hüfte des Mannes hing ein Kampfmesser.

Als Jack es aus der Scheide zog, schnitt er sich mit der Klinge in den Daumen. Er fluchte leise.

»Pass auf, Jack!«, rief Yamato. »Es könnte vergiftet sein.«

»Danke für die Warnung.« Grimmig saugte Jack das Blut aus der Wunde.

Die Klinge des Messers glitzerte tückisch im Dämmerlicht. In den Stahl waren einige Schriftzeichen eingraviert.

»Was bedeutet das?«, fragte Jack. Er konnte die japanische Schrift immer noch nicht fließend lesen.

»Kunitome!«, knurrte der Ninja, der wieder zu sich gekommen war, und packte Jack am Hals. »So heißt der Hersteller.«

Jack schnappte nach Luft, denn der Ninja drückte ihm mit seinem groben Griff die Luftröhre zusammen. Vor Schreck über die unerwartete Wiederbelebung des Mannes vergaß Jack alles, was er gelernt hatte, und zerrte vergeblich an der Hand.

Yamato eilte ihm zu Hilfe und trat den Ninja in die Rippen, doch der Ninja ließ nicht los. Jacks Gesicht färbte sich tiefrot und die Augen quollen ihm aus dem Kopf. Yamato hob seinen Stock und schlug damit auf das gebrochene Bein des Ninjas. Halb besinnungslos vor Schmerzen ließ der Ninja los und Yamato zog den Freund rasch aus seiner Reichweite.

»Ein Samurai, der stiehlt«, schnaubte der Ninja und stöhnte schmerzerfüllt. »Was für eine Schande!«

»Wir stehlen nicht«, protestierte Jack heiser und stand schwankend auf. »Wir suchen nach Hinweisen. Ich muss wissen, wer du bist und wo Drachenauge sich aufhält.«

Der Ninja lachte heiser und wieder lief ihm Blut aus dem Mund.

»Übergeben wir ihn doch den Behörden in Ueno«, schlug Yamato vor. Einen Ninja zu verhören war so gefährlich, wie einen verwundeten Löwen zu reizen. »Die kriegen die Wahrheit schon aus ihm heraus.«

Jack nickte. »Stimmt. Aber vielleicht verrät er uns ja, wo wir Drachenauge finden können, wenn wir ihn dafür am Leben lassen?«

»Kein Samurai kann mir etwas befehlen«, erwiderte der Ninja. Er nahm eine runde, schwarze Giftkapsel aus dem Inro an seinem Gürtel, steckte sie in den Mund und biss entschlossen darauf. Wenig später trat Schaum zwischen seinen Lippen hervor.

»Du wirst Dokugan Ryu nicht finden, kleiner Samurai«, krächzte er mit seinem letzten Atemzug. »Aber er dafür dich.«

4Ein teuflisches Messer

»Wir hätten nicht herkommen sollen!«, rief Yamato, ohne den Tee zu beachten, den Akiko ihm anbot. »Du wärst schon wieder fast getötet worden!«

»Aber wir wissen jetzt, wo Drachenauge sein Hauptquartier hat«, entgegnete Jack. »Shindo ist weniger als eine halbe Tagesreise von hier entfernt.«

Er sah Akiko Hilfe suchend an. Sie nahm einen Schluck Tee und wollte etwas sagen, doch Yamato ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Orochi hat dir nur die Namen eines Dorfes und eines Tempels verraten. Glaubst du, wir können Dokugan Ryu dort so einfach besuchen, während er mit seinem Ninja-Clan Tee trinkt? Außerdem war Orochi wahrscheinlich nicht nur ein Dieb, sondern auch ein Lügner.«

»Aber das ist vielleicht unsere einzige Chance«, beharrte Jack. »Dass die Ninjas uns angegriffen haben und Orochi getötet wurde, beweist doch, dass wir ihnen dicht auf der Spur sind.«

»Nein! Wir haben schon Schwierigkeiten genug. Mein Vater würde mir nicht verzeihen, wenn wir noch weitere Dummheiten machen. Dann lassen sie uns nie mehr an die Schule zurück!«

Yamato beendete das Gespräch, indem er Jack den Rücken zukehrte und zu den felsigen Höhen auf der anderen Seite der Schlucht hinüberstarrte. Das Teehaus von Kameyama, in dem sie saßen, stand auf einem Bergrücken neben dem Tokaido. Der spektakuläre Ausblick zog zahlreiche Besucher aus Kyoto an. Jetzt, am Ende eines herrlichen Sommertags, war das Teehaus voll besetzt mit Reisenden, die den Sonnenuntergang über dem zerklüfteten Gebirge beobachteten.

Jack spielte missmutig mit dem Messer des toten Ninjas. Der kleine getrocknete Blutfleck auf dem blitzenden Stahl bezeichnete die Stelle, an der er sich am Tag zuvor in den Daumen geschnitten hatte. Nachdem der Ninja mit der Giftkapsel Selbstmord begangen hatte, hatte Jack beschlossen, das Messer zu behalten. Seit seinem Rausschmiss aus der Schule besaß er keine Waffe mehr.

Er machte Masamoto keine Vorwürfe, dass er ihn vom Unterricht ausgeschlossen hatte. Inzwischen hatte er begriffen, dass es dumm gewesen war, den Portolan seines Vaters vor dem einzigen Menschen zu verstecken, bei dem er sicher aufgehoben war, auch wenn er sich eingeredet hatte, dass es für Masamoto besser war, nichts davon zu wissen. Er hatte seinem Vater schwören müssen, niemandem von der Existenz des Logbuchs zu erzählen, und sein Vater hatte ihm als Einzigem den Code anvertraut, der den Inhalt vor unbefugten Augen schützte.

Der Portolan war nicht nur Jacks letzte Verbindung mit seinem Vater, von ihm hing auch seine ganze Zukunft ab. Er musste ihn unbedingt zurückholen. Sollte er eines Tages in die Hafenstadt Nagasaki kommen, konnte er sich dank seiner Erfahrung als Mastaffe und seiner Kenntnisse als Steuermann vielleicht damit auf einem nach England fahrenden Schiff verdingen. In England aber wartete seine kleine Schwester Jess auf seine Rückkehr.

Oder wenigstens hoffte er das. Jess hatte keine Angehörigen mehr, ihre Zukunft war daher so ungewiss wie seine. Doch mit dem Portolan konnte er sie beide versorgen. Er konnte sich jederzeit als Steuermann auf einem Schiff verdingen, wie sein Vater es getan hatte, bis Drachenauge ihn kaltblütig ermordet hatte.

Beim Gedanken daran, wie Drachenauge seinen Vater erwürgt hatte, begann der tödliche Stahl des Messers in Jacks Hand gleichsam zu pochen. Jack verspürte Rachegelüste. Alles, was ihm etwas bedeutete, hatte der Ninja ihm gewaltsam genommen – seinen Vater, den Portolan und fast auch noch Akikos Leben.

Als Jack und sein Vater vor vier Jahren auf der Alexandria von England aufgebrochen waren, hatten sie davon geträumt, neue Länder zu entdecken, reich zu werden und als gefeierte Helden nach Hause zurückzukehren. Nicht im Entferntesten hätte Jack gedacht, dass es ihn ganz allein in ein gefährliches fremdes Land verschlagen würde, wo er von einem berühmten Schwertmeister zum Samurai ausgebildet werden würde.

Mit der Ausbildung zum Samurai war es allerdings jetzt vorbei.

»Wo hast du das Messer her?«, fragte der Wirt des Teehauses, als er ihren Tisch abräumte.

»Wir haben es … im Wald gefunden«, antwortete Jack, überrascht über die Frage.

Der Wirt musterte ihn mit seinen kleinen, schwarzen Augen so eingehend, dass Jack unbehaglich zumute wurde. Er spürte, dass der Wirt ihm nicht glaubte.

»Weißt du, was das ist?«, wollte der Wirt wissen. Er starrte Jack unverwandt an, als wollte er das Messer gar nicht sehen.

»Ein Kampfmesser …«

»Schon, aber nicht irgendeines.« Der Wirt trat näher und senkte die Stimme. »Dieses Messer stammt von dem Schwertschmied Kunitome-san.«

»Das wissen wir«, fiel Yamato ein. Offensichtlich ärgerte ihn die Neugier des Wirtes. »Der Name steht auf der Klinge.«

»Ihr wisst es! Und trotzdem behaltet ihr es?«

»Warum nicht?«, fragte Jack. Die seltsamen Fragen des Wirtes verwirrten ihn.

»Ihr habt doch bestimmt gehört, dass Kunitome-sans Schwertern ein böser Geist innewohnt. Sie gehören nicht in die Hand eines tugendhaften Samurai.« Er sah Yamato an. »Kunitome-sans Schwerter sind in dieser Gegend berüchtigt. Er wohnt nur zehn ri westlich von hier in dem Dorf Shindo.«

Als der Wirt das Dorf erwähnte, warf Jack Akiko und Yamato einen vielsagenden Blick zu. Auch die beiden sahen sich erstaunt an. Ein solches Zusammentreffen war mehr als Zufall.

»Kunitome-san ist ein gewalttätiger, jähzorniger Mensch«, sagte der Wirt leise. »Einige halten ihn sogar für verrückt. Und denselben Charakter besitzen auch seine Schwerter. Eine Waffe wie dein Messer lechzt nach Blut und treibt ihren Besitzer zum Mord!«

Jack starrte auf das Messer in seiner Hand. Es sah wie ein ganz gewöhnliches Messer aus, doch er erinnerte sich an die Rachegelüste, die er beim Gedanken an den Tod seines Vaters gespürt hatte.

»Vielen Dank für Ihre Besorgnis«, sagte Akiko mit einem ironischen Lächeln, »aber wir sind zu alt, um an Märchen zu glauben. Sie können uns keine Angst machen.«

»Das will ich auch gar nicht. Ich will euch warnen.«

Der Wirt stellte das Tablett ab. »Wenn ihr erlaubt, erzähle ich euch eine Geschichte. Vielleicht versteht ihr dann besser, was ich meine.«

Akiko gab seiner Bitte mit einem höflichen Nicken statt und der Alte kniete sich neben sie.

»Kunitome-san ist ein Schüler des größten Schwertschmieds aller Zeiten, Shizu-san von der Soshu-Schule der Schwertschmiede. Vor einigen Jahren forderte Kunitome-san seinen Lehrer heraus, wer von beiden das bessere Schwert fertigen könne. Beide arbeiteten Tag und Nacht daran. Kunitome-san schmiedete eine herrliche Waffe, die er Juuchi Yosamu nannte, ›zehntausend kalte Nächte‹. Shizu-san nannte sein Schwert Yawaraka-Te, ›zärtliche Hände‹. Beide kamen überein, die Schwerter in einem Wettkampf zu erproben.

Dafür wollten sie die Schneiden in die Strömung eines kleinen Bachs halten. Ein Mönch aus der Gegend sollte Schiedsrichter sein. Kunitome-san war zuerst an der Reihe. Sein Schwert teilte alles, was das Wasser antrieb – welke Blätter, eine Lotusblüte, Fische und sogar die Luft, die dagegenblies. Beeindruckt vom Werk seines Schülers senkte Shizu-san sein Schwert in den Bach und wartete geduldig.

Es zerschnitt überhaupt nichts. Kein einziges Blatt wurde geteilt. Blumen schmiegten sich an den Stahl und trieben weiter, Fische schwammen dagegen und die Luft strich singend darüber.«

»Also war das Schwert von Kunitome-san besser«, rief Yamato.

»Nein! Der Mönch erklärte Shizu-san zum Sieger. Kunitome-san protestierte. Das Schwert seines Lehrers habe nichts zerschnitten. Daraufhin begründete der Mönch seine Entscheidung. Das erste Schwert sei gewiss eine hervorragende Waffe, doch sei es blutdürstig und böse, denn es schneide unterschiedslos alles, egal ob einen Schmetterling oder den Kopf eines Menschen. Shizu-sans Schwert dagegen sei weitaus besser, denn es spalte nicht unnötig, was unschuldig sei und den Tod nicht verdiene. Es sei von einem Geist der Güte erfüllt und damit eines wahren Samurai würdig.

Deswegen sagt man, dass ein Schwert von Kunitome eine blutige Wunde schlagen muss, bevor man es wieder in die Scheide stecken kann, selbst wenn das bedeutet, dass sein Träger sich selbst verletzt oder Selbstmord begeht.«

Jack sah seinen schon fast verheilten Daumen an und dann das Messer, an dem immer noch sein Blut klebte. Vielleicht war die Warnung des Alten doch nicht ganz aus der Luft gegriffen.

»Hört auf meine Worte! Dieses Messer ist eine teuflische Waffe. Es ist verflucht und weckt in dem, der es trägt, die Blutgier.«

»He, Alter, bedienst du uns oder bist du nur zum Plaudern hier?«, rief ein Samurai ungeduldig von einem Tisch am andern Ende des Gastraums.

»Ich bitte um Verzeihung«, antwortete der Wirt mit einer Verbeugung. »Ich komme gleich zu Ihnen.«

Er stand auf und nahm sein Tablett.

»Ich rate euch, das Messer in dem Wald zu lassen, in dem ihr es gefunden habt.«

Er entfernte sich mit einer Verbeugung. Nachdenklich betrachteten die drei Freunde das Messer. Die blitzende Klinge zog ihre Blicke förmlich an und schien sie nicht mehr loslassen zu wollen.

Schließlich brach Jack den Bann. »Was habe ich euch gesagt?«, rief er. »Das Schicksal will, dass wir nach Shindo gehen. Das Messer kommt aus genau dem Dorf, von dem Orochi gesprochen hat. Das heißt, dass auch der Ninja von dort kam.«

Yamato starrte ihn ungläubig an. »Hast du dem Wirt denn nicht zugehört?«, fragte er. »Das Messer ist verflucht.«

»Das glaubst du doch selber nicht«, erwiderte Jack trotzig. Dabei war er sich gar nicht so sicher, wie er klang.

»Aber an das Schicksal glaubst du und dass wir nach Shinto gehen sollen.«

Jack nickte. »Das ist etwas anderes.« Er schob das Messer vorsichtig in die Scheide und steckte es in seinen Gürtel. »Das mit dem Messer ist Aberglauben. Aber sein Auftauchen ist ein klares Zeichen, dass wir dem Weg folgen sollen, den das Schicksal uns bestimmt hat. Wir müssen dem Weg des Drachen folgen – und das Versteck von Drachenauge finden. Du bist doch meiner Meinung, Akiko?«

Akiko war damit beschäftigt, die Falten ihres elfenbeinfarbenen Seidenkimonos zu glätten, und schien sorgfältig zu überlegen, was sie antworten sollte. Jack hatte die Worte wiederholt, die sie ihm zugeflüstert hatte, als sie nach ihrer Vergiftung aus der Bewusstlosigkeit aufgewacht war. Er hoffte, dass sie trotz der offensichtlichen Gefahren weiter auf seiner Seite stand.

»Ich finde auch, wir sollten gehen«, meinte sie schließlich. »Wir sollen Masamoto-sama doch alles sagen, was wir über Dokugan Ryu wissen. Dazu gehört auch alles, was wir über ihn in Erfahrung bringen. Stellt euch vor, wir könnten ihm sagen, wo der Ninja sein Hauptquartier hat. Vielleicht können wir ja sogar Jacks Buch zurückholen.«

Yamato wandte sich Akiko zu. »Warum willst du den Ninja auf einmal unbedingt verfolgen, Akiko? Die letzte Begegnung mit Drachenauge hätte dich beinahe das Leben gekostet.«

»Noch ein Grund mehr, warum ich den Ninja finden will. Außerdem warst du es doch, der ihn unbedingt in eine Falle locken wollte, um die Familienehre wiederherzustellen.«

»Ja, schon«, stotterte Yamato, »aber … damals hatte mein Vater uns noch nicht aus der Schule ausgeschlossen. Er würde mir nie verzeihen, wenn wir auf eigene Faust versuchten, Drachenauge zu fangen.«

»Wir wollen ihn ja gar nicht fangen«, beruhigte Akiko ihn. »Wir wollen nur wissen, wo er sich versteckt.«

»Ich bin trotzdem dagegen. Was ist mit dem geheimnisvollen schwarzen Ninja, der Jack gerettet hat? Das passt nicht zusammen.« Yamato sah die beiden anderen ernst an. »Habt ihr schon mal daran gedacht, dass Drachenauge diese Spuren eigens für uns gelegt haben könnte? Dass er uns in eine Falle locken will?«

Auf seine Worte folgte unbehagliches Schweigen. Dann machte Akiko eine abschätzige Handbewegung. »Ninjas kämpfen nicht nur gegen Samurai, sondern auch gegeneinander. Der schwarze Ninja stammte wahrscheinlich von einem rivalisierenden Clan und die beiden grünen Ninjas hatten ihr Stammesgebiet verlassen. Du bist gerade rechtzeitig gekommen, um Jack zu retten.«

Yamato sah sie zweifelnd an.

»Was sollen wir sonst den ganzen Tag lang tun?«, fragte Jack. »Kuma-san kann frühestens übermorgen nach Toba weiterreiten.«

»Jack hat Recht«, stimmte Akiko zu. »Wenn wir Pferde nehmen, können wir es an einem Tag nach Shindo und wieder zurück schaffen. Jack kann mit mir reiten. Kuma-san hat sicher nichts dagegen, wenn wir einen Tempel in der Nähe besuchen.«

Yamato schwieg und wandte seine Aufmerksamkeit dem prächtigen Sonnenuntergang zu. Im Gastraum war es still geworden. Die Sonne berührte die Spitze eines Gipfels und schickte goldene Strahlen über den tiefblauen Himmel, der wie ein seidener Kimono über den dunstigen Bergen und dunklen Tälern hing.

Es dämmerte schon. Jack machte einen letzten Versuch, Yamato zu überzeugen.

»Es wäre unsere einzige Chance, Drachenauge zu finden, bevor er uns wieder aufspürt.«

»Er verfolgt uns gar nicht mehr«, entgegnete Yamato. »Er hat das Buch doch schon.«

»Aber es ist verschlüsselt und ich kenne als Einziger den Code«, erwiderte Jack. »Wenn Drachenauge das merkt, kommt er zurück.«

Er wusste, dass der Ninja sich von einem chinesischen Kryptologen helfen ließ, doch bezweifelte er, dass der Kryptologe den in einer fremden Sprache geschriebenen Code so schnell entschlüsseln konnte. Er würde Zeit brauchen. Die Frage war nur: wie lange?

Vielleicht verlor Drachenauge die Geduld und beschloss, Jack zur Preisgabe des Codes zu zwingen.

5Mutterstolz

»Hier ist es mir nicht geheuer«, murmelte Yamato. Besorgt umklammerte er mit der rechten Hand den langen Schaft seines bō.

Verlassen lag die einzige Straße von Shindo vor ihnen. Staub wirbelte über den Boden und verschwand zwischen einigen heruntergekommenen Hütten. Das Dorf wirkte trotz der warmen Sonne kalt und dunkel und das Innere der Hütten wenig einladend.

»Ein Geisterdorf«, sagte Jack und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Sie banden ihre beiden Pferde an und betraten das menschenleere Dorf.

»Nicht ganz«, flüsterte Akiko. »Wir werden beobachtet.«

Jack und Yamato wechselten einen nervösen Blick.

»Von wem?«, fragte Yamato.

»Zum Beispiel von diesem kleinen Mädchen.« Akiko nickte in Richtung einer strohgedeckten Hütte zu ihrer rechten Seite.

Aus dem Dunkel starrte sie ein schmutziges Gesicht mit ängstlich aufgerissenen Augen an. Dann verschwand es. Akiko näherte sich der Hütte. Jack und Yamato blieben stehen und Akiko sah sich nach ihnen um. Die beiden fürchteten offenbar einen Hinterhalt der Ninjas.

»Kommt, ihr zwei. Ein kleines Mädchen tut euch doch nichts.«

Beschämt folgten sie ihr.

Akiko spähte in das Dunkel hinter der Tür. »Hallo?«, rief sie. »Entschuldigung?«

Aus der Hütte drang rasselndes Atmen wie von einem sterbenden Hund. Dann tauchte plötzlich das hohlwangige Gesicht eines Mannes auf.

»Verschwindet!«, sagte er barsch. »Wir haben nichts für euch.«

Das kleine Mädchen, das sie zuvor gesehen hatten, versteckte sich hinter seinen Beinen und blickte fasziniert auf Jacks blonde Haare. Jack lächelte sie an.

»Es tut uns leid, wenn wir Sie stören, aber wir haben nur einige Fragen«, erklärte Akiko.

»Wo sind die anderen Bewohner des Dorfes?«, fragte Yamato.

»Gegangen. Das solltet ihr auch.« Der Mann schickte sich an, die klapprige Tür seiner Hütte zu schließen.

»Wir suchen Kunitome-san«, sagte Jack.

Der Mann sah ihn an, als bemerke er ihn erst jetzt. Dann schnaubte er.

»Der Teufel! Er ist tot!«

»Seit wann?«, fragte Jack. »Wer hat ihn getötet?«

Der Mann seufzte. Das Gespräch kostete ihn offenbar seine letzte Kraft.

»Er hat Selbstmord begangen, mit seinem eigenen Schwert«, sagte er ungeduldig. »Deshalb ist das Dorf tot. Er war für Shindo ein Segen und zugleich ein Fluch. Seine Fähigkeiten als Schwertschmied zogen Leute von weit her an und wir Dorfbewohner freuten uns über das Geld, das sie mitbrachten. Aber der böse Geist seiner Schwerter hat auch schlimmes Gesindel angelockt. Jetzt ist er weg und niemand kommt mehr. Nur sein Geist ist geblieben und wirft einen dunklen Schatten über Shindo. Ihr solltet gehen. Dieser Ort hat ein schlechtes Karma.«

»Warum sind Sie dann nicht gegangen?«, fragte Yamato. Der Mann wollte die Tür schließen und Yamato drückte mit der Hand dagegen.

»Wir wollten ja, aber hört ihr das?« Der rasselnde Atem in der Hütte war weit und breit das einzige Geräusch. »Das ist meine kranke Mutter. Sie will nicht sterben. Und solange sie lebt, sitzen wir in dieser tödlichen Falle fest. Jetzt geht!«

Er schlug ihnen die Tür vor der Nase zu.

Bestürzt sahen sie einander an.

»Unsere Spur scheint hier zu enden«, sagte Yamato. Er klang erleichtert. »Lass uns zurückreiten, bevor Kuma-san unser Verschwinden bemerkt.«

»Nein«, erwiderte Jack und ging die Straße weiter. »Wir müssen noch den Drachentempel finden, von dem Orochi gesprochen hat. Seht mal! Das muss er sein.«

Die Dorfstraße endete vor einem großen Tempel auf einem Erdhügel. Seine rote und grüne Farbe war verblichen und blätterte bereits ab. Auf dem Dach fehlten Ziegel, und zwei geschnitzte Drachen waren heruntergefallen und lagen halb verrottet auf dem Boden. Der Haupteingang stand offen. Er wirkte so einladend wie die Tür zu einem Grab.

»Du willst da doch nicht rein, oder?«, fragte Yamato. »Der Tempel sieht aus, als könnte er jeden Augenblick einstürzen!«

Akiko lächelte entschuldigend und stieg hinter Jack die ausgetretenen steinernen Stufen hinauf.

Sie fanden sich in einem dämmrigen, höhlenartigen Raum wieder. Statt nach Weihrauch roch es nach Moder.

Jack trat über die Schwelle und spähte in die Dunkelheit.

Er hätte fast laut aufgeschrien, als er die beiden riesigen, muskelbepackten Krieger sah, die ihn mit verzerrten Gesichtern von rechts und links anstarrten. Der eine bleckte die Zähne und schwang eine mächtige Keule, der andere hatte die Kiefer zusammengebissen und holte mit einem gewaltigen Schwert aus.

Jack prallte rückwärts mit Akiko zusammen.

»Das sind doch nur niō«, lachte sie. »Tempelwächter.«

»Aber sie sehen schrecklich aus!«, rief Jack, der sich nur langsam von seinem Schrecken erholte.

Er folgte Akiko nach drinnen und zum Altar, auf dem sich ein verstaubter Buddha inmitten einer Reihe kleinerer Götterbilder befand. »Was bewachen die Tempelwächter denn?«

»Den Buddha natürlich. Der Wächter rechts heißt Agyō und ist ein Symbol für Gewalttätigkeit. Der links mit dem Schwert heißt Ungyō und steht für Kraft.« Akiko zeigte auf die Gesichter der beiden. »Siehst du, wie der eine die Zähne bleckt und der andere den Mund geschlossen hält? Sie bilden die Laute ›ah‹ und ›un‹, den ersten und den letzten Laut des japanischen Alphabets. Zusammen vereinen sie alles Wissen in sich.«

»Ende der Geschichtsstunde«, fiel Yamato ihr ins Wort. »Hier ist niemand. Wir verschwenden nur unsere Zeit. Kunitome-san hat Selbstmord begangen und wir kommen hier nicht weiter. Drachenauge finden wir sowieso nicht, lasst uns also gehen.«

Er drehte sich um. Im selben Augenblick hörten sie hinter dem Buddha ein schlurfendes Geräusch.

»Der Schwertschmied hat nicht Selbstmord begangen!«, krächzte eine im Dunkeln verborgene Gestalt.

Die drei fuhren herum, um sich zu verteidigen. Eine bucklige alte Frau in einem zerschlissenen Gewand humpelte auf sie zu.

»Verzeihung!«, rief Akiko erschrocken. »Wir wollten Sie nicht beim Beten stören.«

»Beten!«, krächzte sie. »Ich glaube schon lange nicht mehr an Buddha. Ich habe geschlafen und ihr habt mich geweckt.«

»Wir wollten gerade gehen«, erklärte Yamato und wich vor der verwahrlosten Alten zurück. Ihr Gesicht war von einer verlausten Kapuze verhüllt.

Doch Jack blieb stehen. »Was haben Sie gerade über Kunitome-san gesagt?«

»Du bist nicht von hier, Junge, nicht wahr?«, schnarrte die Alte. Sie schnüffelte und würgte. »Du bist ein Gaijin.«

Jack ging nicht auf die Beleidigung ein. »Sie sagten, der Schwertschmied habe nicht Selbstmord begangen?«

»Hat er nicht.«

»Was ist also passiert?«

Die Alte streckte eine knochige Hand aus, die aussah wie die Hand einer Leiche. Sie schwieg, aber die Aufforderung war unmissverständlich. Akiko griff in die Falten ihres Kimonos, holte eine Schnur mit Münzen heraus, machte eine davon ab und ließ sie in die wartende Hand fallen. Die Alte schloss hastig die Finger darum.

»Er hat nicht Selbstmord begangen, aber er wurde durch sein eigenes Schwert getötet.«

»Was soll das heißen?«, fragte Jack.

»Kunitome-san erhielt den Auftrag, ein ganz besonderes Schwert für einen ganz besonderen Kunden anzufertigen«, erklärte die Alte und strich mit den Fingern über die gesplitterte Klinge des Holzschwerts einer Götterfigur. »Das Schwert bekam den Namen Kuro Kumo, ›Schwarze Wolke‹, denn es wurde in der Nacht eines schweren Unwetters fertiggestellt. Es war das beste Schwert, das er je gefertigt hatte, schärfer und tödlicher als jedes andere. Aber es sollte auch das letzte Schwert sein, das er schmiedete.«

Die Alte trat dicht vor Jack.

»Als der Kunde kam, wollte er das Schwert einer Prüfung unterziehen. Kunitome-san ließ vier Verbrecher auf einen Sandhügel binden. Schwarze Wolke glitt so mühelos durch die vier Körper wie durch reife Pflaumen. Ihr hättet die Verbrecher schreien hören sollen.«

Die Alte streckte einen klauenähnlich gebogenen Finger aus und fuhr Jack damit über den Hals. Er erschauerte unter der Berührung.

»Der Kunde war so beeindruckt, dass er Kunitome-san auf der Stelle mit dem Schwert köpfte.«

»Aber warum?«, fragte Jack und unterdrückte mühsam seine Abscheu.

»Kunitome-san sollte nie ein Schwert schmieden, das noch besser war als Schwarze Wolke. Doch nach Kunitome-sans Tod drang ein Teil seiner besessenen Seele in das Schwert ein. Das Unwetter tobte die ganze Nacht wie wahnsinnig. Es verwüstete das Dorf und alle Felder und zerstörte den Tempel. Am nächsten Morgen stand kaum noch ein Stein auf dem anderen.«

»Wer war der Kunde?«, fragte Akiko.

Die Alte hob den Kopf. Jack konnte ihr Gesicht unter der Kapuze zwar nicht erkennen, aber er hätte schwören mögen, dass sie grinste.

»Dokugan Ryu natürlich. Der, den du suchst.« Sie beugte sich vor und flüsterte Jack ins Ohr: »Willst du wissen, wo er ist?«

»Ja«, antwortete Jack leise.

Die Alte streckte wieder ihre skelettartige Hand aus. Akiko ließ eine zweite Münze hineinfallen.

»Wo ist er?«, fragte Jack ungeduldig.

Die Alte winkte ihn noch näher zu sich: »Hinter dir!«

Die drei wirbelten herum. Ein großes, grünes Auge war auf sie gerichtet.

Die Alte lachte gackernd, während Jack und seine Freunde sich von ihrem Schrecken erholten.

Das Auge gehörte einem großen, holzgeschnitzten Drachen, der über dem Eingang hing. Er hatte den Kopf zur Seite gedreht und seine gespaltene Zunge fuhr aus dem rot angemalten Rachen.

»Sehr witzig«, schimpfte Yamato und senkte seinen Stock. »Da ist ja gar niemand.«

»Aber doch«, verbesserte ihn die Alte. »Dokugan Ryu wird immer hinter euch sein und sich an euch heranschleichen wie ein giftiger Schatten.«

»Lasst uns aufbrechen«, sagte Yamato entschlossen. »Die alte Hexe spinnt.«

Jack gab ihm Recht und wandte sich zum Gehen.

»Aber es würde euch doch helfen, wenn ihr wüsstet, wer Dokugan Ryu in Wirklichkeit ist, nicht wahr?«, flüsterte die Alte.

Jack blieb stehen.

»Wollt ihr es nicht wissen?«, fragte sie spöttisch. Sie hatte die Hand wieder ausgestreckt. Ihre Finger bewegten sich wie die Beine einer auf dem Rücken liegenden Krabbe.

Jack sah Akiko an und Akiko gab der Alten widerstrebend noch eine Münze. Yamato schüttelte verdrossen den Kopf.

»Ihr wollt vieles wissen, Kinder, und ich werde euch nicht enttäuschen.« Die Alte lachte meckernd und ließ die Münze in ihrem schmutzigen Kittel verschwinden. »Dokugan Ryu ist der verbannte Samuraifürst Hattori Tatsuo.«

»Dass ich nicht lache«, rief Yamato verächtlich. »Der Fürst ist in der Schlacht am Nakasendo gefallen.«

»Hör mir zu, du kleine Ratte!«, fauchte die Alte. »Du hast für eine Geschichte bezahlt und wirst sie jetzt auch anhören. Hattori Tatsuo wurde im Sommer des Jahres der Schlange in der Burg von Yamagata geboren. Eins seiner Augen erkrankte an den Blattern, als er noch ein Kind war. Er riss es sich eigenhändig heraus!«

Akiko fuhr zusammen.