Samurai 5: Der Ring des Wassers - Chris Bradford - E-Book

Samurai 5: Der Ring des Wassers E-Book

Chris Bradford

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Beschreibung

*** Band 5 der Bestseller-Reihe von Chris Bradford in neuem Look! *** Jack versucht, Japan unerkannt zu verlassen. Aber auf dem Weg in die Hafenstadt Nagasaki wird er überfallen und betäubt. Als er wieder zu sich kommt, sind seine kostbaren Schwerter verschwunden. Verzweifelt folgt er der Spur der Räuber nach Kyoto. Doch die wollen sich nicht kampflos ergeben … Ein junger Engländer. Gestrandet in Japan. Ausgebildet zum Samurai. Bereit für den Kampf seines Lebens. Entdecke alle Abenteuer der "Samurai"-Reihe: Band 1: Der Weg des Kämpfers Band 2: Der Weg des Schwertes Band 3: Der Weg des Drachen Band 4: Der Ring der Erde Band 5: Der Ring des Wassers Band 6: Der Ring des Feuers Band 7: Der Ring des Windes Band 8: Der Ring des Himmels Band 9: Die Rückkehr des Kriegers Die Kurzgeschichte "Der Weg des Feuers" ist als E-Book erhältlich und spielt zwischen den Ereignissen von Band 2 und Band 3.

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2020Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2012, 2020 Ravensburger Verlag GmbHPostfach 24 60, 88194 RavensburgDie Originalausgabe erschien 2011unter dem Titel »Young Samurai. The Ring of Water«bei Puffin Books/Penguin Books Ltd, 80 Strand,London WC2R 0RL, EnglandText Copyright © 2010 by Chris Bradford

Covergestaltung: Paul YoungLandkarte: Gottfried MüllerÜbersetzung: Wolfram StröleAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-473-38477-8www.ravensburger.de

Im Gedenken an meine Großeltern,die immer über mich wachen

PrologDer Brief

Japan, 1614

Liebste Jess,ich hoffe, dieser Brief erreicht dich irgendwann. Bestimmt glaubst du, ich sei schon vor Jahren auf dem Meer umgekommen. Du wirst dich freuen zu hören, dass ich lebe und wohlauf bin. Vater und ich sind im August 1611 in Japan angekommen. Leider muss ich dir mitteilen, dass Vater bei einem Überfall auf unser Schiff, die Alexandria, getötet wurde. Ich habe als Einziger überlebt.Die vergangenen drei Jahre habe ich in einer Samuraischule in Kyoto zugebracht. Ihr Leiter, ein japanischer Krieger namens Masamoto Takeshi, nahm mich in seine Obhut. Aber ich hatte es trotzdem nicht leicht.Ein Auftragsmörder, ein Ninja, der sich Drachenauge nennt, sollte den Portolan unseres Vaters stehlen. Du erinnerst dich bestimmt an dieses Logbuch, es war für Vater sehr wichtig. Dem Ninja gelang es zwar, seinen Auftrag auszuführen, doch konnte ich das Buch mithilfe meiner Freunde, die ebenfalls Samurai sind, zurückholen.Eben dieser Ninja hat auch unseren Vater ermordet. Ich kann dir versichern, dass der Schurke jetzt tot ist, auch wenn dich das kaum trösten wird. Er hat seine gerechte Strafe erhalten. Nur leider erweckt sein Tod Vater nicht wieder zum Leben. Ich vermisse ihn unendlich und könnte seinen Rat und seinen Schutz zurzeit gut gebrauchen.Japan wird gegenwärtig von einem Bürgerkrieg gespalten. Ausländer wie ich sind nicht mehr willkommen. Als Flüchtling muss ich jeden Tag um mein Leben fürchten. Jetzt wandere ich in Richtung Süden, durch dieses merkwürdige, fremdartige Land. Ich versuche die Hafenstadt Nagasaki zu erreichen, in der Hoffnung, dort ein Schiff zu finden, das mich zurück nach England bringt.Auf dem Tokaido, der Straße, auf der ich unterwegs bin, lauern allerdings zahlreiche Gefahren und viele Feinde trachten mir nach dem Leben. Hab aber keine Angst um mich. Masamoto hat mich zum Samurai ausgebildet und ich werde kämpfen, bis ich zu dir nach Hause zurückgekehrt bin.Eines Tages kann ich dir hoffentlich persönlich von meinen Abenteuern berichten.Möge Gott dich bis dahin schützen, geliebte Schwester.

Dein Bruder Jack

PS:Nachdem ich diesen Brief am Ende des Frühjahrs geschrieben hatte, wurde ich von Ninja entführt. Aber ich fand heraus, dass sie gar nicht meine Feinde waren, wie ich geglaubt hatte. Sie haben mir sogar das Leben gerettet und mich in der Lehre der fünf Ringe unterwiesen, der fünf großen Elemente des Universums – Erde, Wasser, Feuer, Wind und Himmel. Die Fertigkeiten im Ninjutsu, die ich mir erworben habe, übertreffen alles, was ich als Samurai gelernt habe. Aber weil unser Vater von Ninja getötet wurde, fällt es mir immer noch schwer, den Weg des Ninja in voller Überzeugung zu gehen.

1Das Amulett

Japan im Herbst 1614 Einen schrecklichen Moment lang erinnerte sich Jack an gar nichts.

Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand, was geschehen war und was er tun sollte. Nicht einmal, wer er war, wusste er. Mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden klammerte er sich an jede Erinnerung, die ihm einfiel.

Ich heiße Jack Fletcher … und komme aus London in England … Ich bin fünfzehn … Ich habe eine kleine Schwester, Jess … Ich bin Matrose an Bord des Handelsschiffes Alexandria … Nein! Ich bin ein Samurai. Ich habe eine Kampfschule in Kyoto besucht … die Niten Ichi Ryu … Aber ich bin auch ein Ninja … Das kann nicht sein – der Ninja Drachenauge hat doch meinen Vater umgebracht!

Der Kopf dröhnte ihm und er spürte, wie die Ohnmacht ihn erneut überwältigte. Er kämpfte dagegen an, hatte aber nicht genügend Kraft. Die bruchstückhaften Erinnerungen lösten sich wieder auf und verschwanden in der Leere der Bewusstlosigkeit.

Das pausenlose Rauschen von Wasser weckte ihn erneut. Er hörte es durch den dicken Nebel in seinem Kopf hindurch und begriff, dass es regnete. Ein Wolkenbruch ging prasselnd nieder und übertönte alle anderen Geräusche. Jack zwang sich, die Augen zu öffnen. Er lag auf einem Lager aus Stroh. Durch das mit Reet gedeckte Dach über ihm sickerte Wasser und fiel ihm ins Gesicht.

Das ständige Tropfen war zum Verzweifeln. Jack versuchte ihm auszuweichen, aber er konnte sich nicht bewegen, alles tat ihm weh. Stöhnend vor Schmerzen drehte er den Kopf zur Seite und blickte in das Gesicht einer Kuh. Die Kuh erwiderte seinen Blick mürrisch wiederkäuend und sichtlich verärgert darüber, dass sie ihren kleinen Stall mit ihm teilen musste. Soweit Jack es beurteilen konnte, war er mit dem Tier allein.

Unter Schmerzen stützte er sich auf den Ellenbogen auf. Der Raum verschwamm vor seinen Augen und eine Welle der Übelkeit stieg in ihm hoch. Er beugte sich über den mit Stroh bedeckten Boden und spuckte grüne Galle. Die Kuh war über dieses unwürdige Benehmen noch weniger erfreut und wandte sich ab.

Neben das provisorische Strohlager hatte jemand einen Krug mit Wasser gestellt. Jack setzte sich auf und trank. Zuerst spülte er sich den Mund aus, dann nahm er einen großen Schluck. Das Schlucken fiel ihm schwer. Sein Hals war wund vom sauren Inhalt seines Magens, den er erbrochen hatte. Er nahm einen zweiten Schluck, diesmal vorsichtiger, und die Schmerzen ließen ein wenig nach.

Sein Zustand war beklagenswert. Seine Unterlippe war aufgeplatzt, das linke Auge geschwollen. Blutergüsse bedeckten Arme und Beine und seine Rippen schmerzten, schienen aber bei genauerer Prüfung wenigstens nicht gebrochen.

Was war passiert?

Er trug einen schmutzigen, zerlumpten Kimono, der gewiss nicht ihm gehörte. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er zuletzt das blaue Gewand eines komuso getragen, eines Mönchs der Leere, da er mit dieser Verkleidung ungehindert durch Japan reisen konnte. Er war zur Hafenstadt Nagasaki im Süden unterwegs gewesen. Dort hoffte er ein Schiff zu finden, das ihn nach Hause, nach England, und zu seiner kleinen Schwester Jess bringen würde.

Panik stieg in ihm auf. Wo waren seine ganzen Habseligkeiten? Suchend sah er sich nach seinen Schwertern und der Tasche um. Doch abgesehen von der Kuh, einem Haufen Stroh und einigen verrosteten Geräten für die Feldarbeit war der Stall leer.

Ganz ruhig, ermahnte er sich. Jemand war so freundlich, mir Wasser hinzustellen. Vielleicht hat er meine Sachen, überlegte er.

Mit zitternder Hand nahm er noch einen Schluck aus dem Krug, um einen klaren Kopf zu bekommen. Doch so angestrengt er auch überlegte, er konnte sich nicht an die vergangenen Tage erinnern. Er wusste noch, dass er vom Dorf der Ninja im Gebirge aufgebrochen war und ungehindert die Grenze der Provinz Iga erreicht hatte. Dann brach die Erinnerung ab.

Durch die offene Tür sah er, dass draußen der Regen nachließ. Er nahm einfach an, dass es Morgen war, obwohl es wegen der dunklen Regenwolken am Himmel genauso gut hätte Abend sein können. Er hatte die Wahl – entweder er wartete, bis derjenige, der ihm das Wasser hingestellt hatte, auftauchte, oder er ergriff die Initiative und suchte selber nach seinen Sachen.

Während er noch Kraft zum Aufstehen sammelte, merkte er plötzlich, dass er etwas in der linken Hand hielt. Er öffnete die Finger und sah einen Beutel aus grüner Seide, auf den mit Goldfaden ein symbolischer Kranz und drei Schriftzeichen aufgestickt waren: . In dem Beutel spürte er ein rechteckiges Stück Holz. Er wusste, um was es sich handelte, er musste nur kurz überlegen, wie es hieß …

Ein omamori, genau! Ein buddhistisches Amulett.

Sensei Yamada, der ihn an der Niten Ichi Ryu in der Philosophie des Zen unterrichtet hatte, hatte ihm eins geschenkt, als er zu seiner Reise aufgebrochen war. Es sollte ihn beschützen.

Doch handelte es sich nicht um sein omamori. Sein Amulett hatte in einem Säckchen aus roter Seide gesteckt.

Wem gehörte es also?

2Die Verhaftung

Unsicher schwankte Jack aus dem Stall. Draußen gaben seine Beine unter ihm nach und er fiel in den Morast. Eine Weile ließ er nur das kalte Regenwasser über sein Gesicht rinnen und wartete, bis er genügend Kraft hatte, es noch mal zu versuchen.

Der Stall grenzte an die Rückseite eines einfachen, einstöckigen Holzhauses mit einem Reetdach und Wänden aus Bambus. Das Haus hatte hinten eine Schiebetür. Jack fasste sie ins Auge, stand mühsam wieder auf, stolperte und fiel mehr oder weniger auf die Tür zu. Mit einem letzten Stolperschritt erreichte er sie und hielt sich erleichtert am Rahmen fest.

Warum bin ich so schwach?, überlegte er, während er verschnaufte.

Er schob die Tür auf und trat in die winzige Küche. Über einem Feuer kochte ein Topf mit Fisch-Nudelsuppe vor sich hin. Unmittelbar vor ihm befand sich eine zweite Tür mit einem in der Mitte geteilten Vorhang aus weißer Baumwolle. Er lugte durch den Spalt. Offenbar befand er sich in einem Teehaus am Rand der Straße. Der Boden war mit Strohmatten belegt und vor ihm stand ein Tresen mit grünem Tee und Reiswein. Dahinter kamen einige niedrige Holztischchen, ansonsten war der Raum unmöbliert. Nach einer Seite war er offen und nur durch einen großen Vorhang vor Wind und Wetter geschützt.

Am anderen Ende des Raums sah Jack einen mit einer Schürze bekleideten älteren Mann stehen. Offenbar war das der Besitzer und Wirt. Er war klein, hatte dürre Beine und schütteres Haar und redete erregt auf einen Gast ein, der einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck machte. Er trug einen einfachen schwarzen Kimono, verziert mit einem Familienwappen in Form einer weißen Kamelienblüte, hatte einen struppigen Bart, wirre schwarze Haare und blutunterlaufene Augen. Auf dem Boden neben ihm lagen ein breitkrempiger Strohhut und zwei schartige Schwerter – eines davon lang, das andere kürzer. Zwar handelte es sich nicht um Jacks Schwerter, aber er kannte die Bedeutung eines solchen Schwertpaares: Ihr Besitzer bekleidete den Rang eines Samurai.

»Ihr müsst jetzt zahlen und gehen!«, sagte der Wirt entschieden zu dem Gast. Doch der Art nach zu schließen, wie er die Hände knetete, hatte er Angst vor dem Samurai. Zu Recht. Die Samurai waren die herrschende Klasse Japans und es konnte den Alten leicht den Kopf kosten, wenn er einem ihrer Vertreter nicht den gebührenden Respekt zollte.

Der Samurai antwortete nicht und nahm nur verärgert einen Schluck aus seiner Tasse.

»Ich rufe sonst die Polizei«, drohte der Wirt.

Der Samurai murmelte undeutlich vor sich hin und knallte eine Münze auf den Tisch.

»Das … reicht leider nicht«, sagte der Wirt mit aussetzender Stimme, denn sein Mut drohte ihn zu verlassen. »Ihr hattet seit gestern Abend drei Krüge Sake!«

Schnaubend suchte der Samurai in den Ärmeln seines Kimonos nach Geld. Zwei weitere Münzen kamen zum Vorschein, aber sie fielen ihm aus der Hand und rollten über den Boden.

Der Wirt sammelte sie hastig ein und wandte sich erneut an den Samurai. »Jetzt müsst Ihr gehen.«

Der Samurai starrte ihn finster an. »Ich habe … für den Sake bezahlt«, lallte er und drückte einen Krug mit Reiswein an die Brust. »Und jetzt trinke ich ihn auch … und zwar bis auf den letzten Tropfen.«

Der Wirt fügte sich nur ungern, aber der mörderische Blick in den Augen des Samurai hielt ihn davon ab, weiter auf seiner Forderung zu beharren. Unter Andeutung einer Verbeugung zog er sich zurück und beeilte sich, den einzigen anderen Gast des Teehauses, einen schnurrbärtigen Mann mittleren Alters, zu bedienen.

Jack überlegte gerade, wie er den Wirt auf sich aufmerksam machen sollte, da hörte er jemanden erschrocken nach Luft schnappen. Ein Mädchen, kaum älter als vierzehn, war neben dem Tresen aufgetaucht und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Sie hatte ein schmales Gesicht und schwarze, zu einem Knoten zusammengebundene Haare. In den zitternden Händen hielt sie ein Tablett mit klirrend wackelnden Teetassen. Jack fiel ein, dass er bestimmt einen furchtbaren Anblick bot, und versuchte sie mit einem Lächeln zu beruhigen. Sogar das tat ihm weh.

Das Mädchen stellte das Tablett ab und hatte sich rasch wieder gefasst. Sie bedeutete Jack, einzutreten und sich an einen Tisch zu setzen. Jack zögerte, unschlüssig, ob der Samurai von seiner Anwesenheit erfahren sollte. Doch das Mädchen winkte ihm wieder, führte ihn zu einem Platz und verschwand in der Küche. Wegen des Samurai hätte Jack sich nicht zu sorgen brauchen. Er war so betrunken, dass er nicht einmal den Kopf hob. Der andere Gast dagegen blickte überrascht herüber, weniger wegen Jacks erbärmlichen Zustands als vielmehr wegen seines ausländischen Aussehens, der blonden Haare und blauen Augen. Doch mit dem für Japaner typischen Taktgefühl verbeugte er sich nur kurz und setzte sein Gespräch mit dem Wirt fort.

Das Mädchen kehrte mit einer dampfenden Schale Nudelsuppe zurück, und obwohl ihm eben noch übel gewesen war, hatte Jack auf einmal furchtbaren Hunger. Er musste dringend etwas essen, um wieder zu Kräften zu kommen.

»Arigato gozaimasu«, sagte er und dankte dem Mädchen mit einer Verbeugung.

Sie starrte ihn mit offenem Mund an. »Du sprichst Japanisch?«

Jack nickte. Das verdankte er seiner besten Freundin, Akiko. Nachdem es ihn nach Japan verschlagen hatte, hatte ihn zuerst der portugiesische Priester Pater Lucius im Japanischen unterrichtet. Er war allerdings schon bald nach Jacks Ankunft gestorben und Akiko hatte den Sprachunterricht fortgesetzt. Mit ihr hatte Jack stundenlang unter dem Kirschbaum im Garten von Akikos Mutter in Toba gesessen und die japanischen Sitten und Gebräuche kennengelernt. Auch wenn er sich nicht mehr an die letzten Tage erinnern konnte, einige Dinge würde er nie vergessen – darunter Akikos Freundschaft und Güte.

Er blickte auf die Schale vor ihm auf dem Tisch. »Tut mir leid, ich habe kein Geld.«

»Das macht nichts«, erwiderte das Mädchen und legte einen Holzlöffel daneben.

»Danke.« Die Suppe roch köstlich und Jack lief das Wasser im Mund zusammen.

Das Mädchen wandte sich zum Gehen, doch Jack hielt sie zurück. »Bitte … hast du mir den Wasserkrug hingestellt?«

Das Mädchen lächelte scheu und nickte.

»Das war sehr freundlich von dir. Vielleicht kannst du mir sagen, wo ich bin?«

»In Kamo«, antwortete sie. Und auf sein verwirrtes Gesicht hin fügte sie hinzu: »Das ist ein Dorf am Ufer des Kizu, nicht weit von dem Städtchen Kizu entfernt.«

»Bin ich noch im Iga-Gebirge?«

»Nein, das liegt zwei Tagesmärsche von hier im Osten. Hier ist die Provinz Yamashiro.«

Wenigstens wusste Jack jetzt, dass er auf dem Weg nach Hause ein gutes Stück vorangekommen war. »Hast du mich in diesem Zustand gefunden?«, fragte er und deutete auf seine Verletzungen.

»Nein, mein Vater.« Das Mädchen sah zu dem Teehausbesitzer hinüber, der inzwischen hinter dem Tresen stand und Jack von dort beobachtete. Der Gast mit dem Schnurrbart war mittlerweile gegangen.

»Das war gestern Morgen. Jemand, der dich offenbar für tot hielt, hat dich am Fluss liegen lassen.«

Besorgt musterte sie Jacks geschwollenes Auge und die aufgeplatzte Lippe.

»Mir fehlt nichts«, sagte Jack und machte ihr zuliebe ein tapferes Gesicht. »Weißt du, ob dein Vater auch meine Sachen gefunden hat?«

Das Mädchen schüttelte bedauernd den Kopf. »Nur dich.«

»Junko!«, rief ihr Vater streng. »Die Suppe kocht über.«

Junko verbeugte sich vor Jack und lächelte. »Du hast Glück, dass du noch lebst.« Damit eilte sie in die Küche zurück.

Ich lebe, stimmt, dachte Jack. Aber wie lange noch?

Er besaß nichts mehr. Weder Geld, um etwas zu essen zu kaufen, noch seine Kleider oder die Verkleidung, mit der er seinen Verfolgern entkommen konnte. Er hatte keine Freunde, die ihm halfen, und keine Schwerter zu seiner Verteidigung. Und er konnte nicht erwarten, dass das Mädchen und sein Vater ihn länger als ein paar Tage verköstigen würden. Danach war er wieder auf sich gestellt.

Er aß einen Löffel Suppe und zuckte zusammen, denn seine aufgeplatzte Lippe brannte. Doch das warme, nahrhafte Essen weckte seine Lebensgeister. Als er fertig war, fühlte er sich ein wenig besser und deutlich kräftiger.

Wenn ich mich jetzt noch ein wenig ausruhe, dachte er, fällt mir vielleicht wieder ein, was passiert ist.

Besonders schmerzte ihn, dass er den kostbaren Portolan seines Vaters verloren hatte. Nur mit diesem Logbuch ließen sich die Weltmeere sicher befahren, es war deshalb von unschätzbarem Wert. Überhaupt existierten nur wenige Logbücher einer vergleichbaren Genauigkeit und seine Bedeutung erschöpfte sich keineswegs in der Verwendung als Navigationsinstrument. Ein Land, das ein solches Logbuch besaß, konnte damit die Handelswege zwischen den Ländern und die Meere beherrschen. Sein Vater, der Steuermann der Alexandria, hatte ihm eingeschärft, dass es keinesfalls in falsche Hände fallen durfte, und Jack hatte es in den vergangenen drei Jahren unter Einsatz seines Lebens gegen alle Gefahren verteidigt. Einmal war es gestohlen worden und die Wiederbeschaffung war ihn teuer zu stehen gekommen. Sein guter Freund Yamato hatte sein Leben geopfert, es dem verbrecherischen Ninja Drachenauge abzunehmen. Und was immer diesmal passiert war, das Logbuch befand sich jetzt ganz bestimmt in falschen Händen. Die Frage war nur, in wessen.

Der einzige Hinweis darauf war das Amulett. Jack betrachtete den grünseidenen Beutel. Das Kranzsymbol sagte ihm nichts. Akiko hatte ihm zwar einige Schriftzeichen beigebracht, aber er war noch immer so benebelt, dass er die auf den Beutel gestickten Zeichen nicht entziffern konnte.

Junko brachte ihm eine zweite Schale Suppe, die er mit demselben Heißhunger verschlang. Er leerte sie bis auf den letzten Rest und beschloss dann, das Mädchen nach dem Amulett zu fragen. Wahrscheinlich gehörte es ihr und ihrem Vater und sie hatten es ihm gegeben, damit er sich schneller erholte. Wenn nicht, wusste Junko vielleicht, wem es gehörte, und vielleicht konnte er sich auf diesem Weg seine Habseligkeiten und den Portolan wiederbeschaffen.

Er wollte schon Junko zu sich winken, da wurde der Vorhang, der das Teehaus von der Straße abschirmte, zur Seite gezogen und vier bewaffnete Männer traten ein, gefolgt von dem schnurrbärtigen Gast. Die Männer trugen schwarze haori-Jacken, eng anliegende Hosen und dunkelblaue Zehensocken. Um die Köpfe hatten sie hachimaki gebunden, mit Metallstreifen verstärkte Stirnbänder. An der Hüfte trugen sie Schwerter, in der linken Hand eine jutte, einen Eisenstab mit einer kleinen, parallel zum Schaft verlaufenden Gabelzinke.

Trotz ihres einschüchternden Äußeren schien der Wirt erfreut, sie zu sehen. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass die Polizei ihn holen würde, nicht bei diesem Wetter«, sagte er zu seiner Tochter. Er streckte den Arm aus. »Er sitzt da drüben.«

»Wir kommen nicht seinetwegen«, schnaubte der Anführer der Polizisten mit einem verächtlichen Blick auf den betrunkenen Samurai, der mit dem Oberkörper auf die Tischplatte gesunken war. Er wies mit einem Nicken auf Jack. »Wir haben den Auftrag, den Gaijin zu verhaften.«

3Ronin

Bevor Jack wusste, wie ihm geschah, hatten die vier Polizisten ihn umringt und ihre tödlichen Eisenstäbe gehoben. Sowohl der Wirt als auch Junko sahen sie erschrocken an.

»Mitkommen, Gaijin!«, befahl ihr Anführer.

»Aber er hat doch nichts getan!«, rief Junko.

»Sei still«, mahnte ihr Vater. »Er geht uns nichts an.«

»Aber du hast ihn doch gefunden!«

Ihr Vater nickte traurig. »Vielleicht hätte ich ihn besser nicht gefunden.«

Der Anführer der Polizisten bedeutete Jack aufzustehen. »Im Namen des Shoguns, du bist verhaftet.«

»Was wirft man mir denn vor?«, fragte Jack, um Zeit zu gewinnen. Seine Instinkte als Samurai waren erwacht und er sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Nur die Hintertür kam infrage, aber vor ihr stand ein Polizist und Jack war nicht in der Verfassung, sich den Weg nach draußen zu erkämpfen.

»Alle Ausländer und Christen sind auf Befehl von Shogun Kamakura aus unserem Land verbannt worden. Wer dennoch hier aufgegriffen wird, wird bestraft.«

»Aber ich will ja gehen!«, erwiderte Jack.

»Mag sein, aber wir haben Grund zu der Annahme, dass du Jack Fletcher bist, der Gaijin-Samurai. Du bist des Hochverrats angeklagt.«

»Was hat er getan?«, fragte Junko und hob ungläubig die Hand zum Mund.

»Der Gaijin hat in der Schlacht um die Burg von Osaka gegen den Shogun gekämpft«, erklärte der Anführer, während seine Beamten Jack abführten. »Auf seinen Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt.«

Die Polizisten stießen Jack durch den Vorhang des Eingangs und er landete auf allen vieren im Schlamm der vom Regen aufgeweichten Straße. Die Polizisten grunzten belustigt und zogen ihre Holzsandalen an.

Jack sprang hastig auf. Dies war vielleicht seine einzige Möglichkeit zur Flucht. Doch er hatte kaum drei Schritte gemacht, da traf ihn ein eiserner Knüppel in den Rücken. Unter der Wucht des Schlages ging er in die Knie. Die Schmerzen in seinen Schultern trieben ihm die Tränen in die Augen.

»Was fällt dir ein?«, schnauzte einer der Männer. Er hatte ein rundes, pockennarbiges Gesicht und schien sich an Jacks Schmerzen regelrecht zu weiden. Eifrig hob er seine jutte, um noch einmal zuzuschlagen.

Doch diesmal war Jack vorbereitet. Als der Knüppel niedersauste, fing er ihn mit den Händen ab, verdrehte dem Polizisten das Handgelenk und warf ihn über seinen Kopf. Der Mann landete unsanft im schmatzenden Morast. Seine Finger, die sich zwischen Schaft und Gabelzinke des Knüppels verfangen hatten, brachen beim Aufprall. Jack wandte sich den anderen Polizisten zu, die sich wütend auf ihn stürzten.

Doch was konnte er tun? Er war ihnen hoffnungslos unterlegen und zu schwach, um sich gegen sie zu behaupten.

»Dem Gaijin muss eine Lektion erteilt werden«, sagte der Anführer und schlug Jack seinen Knüppel in den Bauch.

Jack blieb die Luft weg und er brach im Morast zusammen. Auch die anderen schlugen jetzt auf ihn ein. Er versuchte nach Kräften, seinen Kopf zu schützen, aber die Schläge gingen aus allen Richtungen auf ihn nieder. Besinnungslos vor Schmerzen, spürte er auf einmal überhaupt nichts mehr und registrierte nur noch den Aufprall der Knüppel auf Armen, Rücken und Beinen.

»He!«, knurrte plötzlich eine Stimme.

Die Schläge setzten aus und Jack hob den Kopf ein wenig. Der betrunkene Samurai aus dem Teehaus näherte sich unsicher schwankend. Er hatte den Strohhut gegen den Regen aufgesetzt, in der linken Hand hielt er einen Sakekrug und die beiden Schwerter hingen an seiner Hüfte.

»Das geht dich nichts an, ronin!«, sagte der Anführer.

Der Samurai drohte ihm mit dem Finger. »Ihr seid zu viert und …« Er versuchte seinen Blick auf Jack scharf zu stellen. »… er ist nur zu zweit. Das geht doch nicht!«

»Du bist betrunken, ronin.«

Der Samurai achtete nicht auf ihn und kam noch näher.

»Das ist meine letzte Warnung. Verschwinde!«

Der Samurai nahm einen Schluck aus seinem Krug, machte zwei unsichere Schritte und rülpste dem Anführer laut ins Gesicht.

»Wie du willst«, schnaubte der angewidert und nickte seinen Männern zu. »Verhaftet ihn auch. Wegen Behinderung der Polizei.«

Einer der Polizisten, ein junger Mann mit eingefallenen Wangen, trat näher, um dem Samurai mit einem Strick die Hände zu fesseln, während der Stellvertreter des Anführers Anstalten machte, sie festzuhalten. Doch der Samurai hielt ihm seinen Sakekrug hin.

»Hier, nimm.«

Der Offizier gehorchte, ohne nachzudenken. Als der junge Polizist den Strick um die Handgelenke des Gefangenen schlingen wollte, schwankte der betrunkene Samurai gefährlich und stieß dem Mann versehentlich den Kopf ins Gesicht.

»Entschuldigung«, murmelte er, torkelte um den Polizisten herum, der wie betäubt dastand, und stieß ihn noch einige Male an, bevor er endlich das Gleichgewicht wiederfand.

Als der junge Polizist an sich hinuntersah, stellte er verdutzt fest, dass er vollständig in seinen Strick eingewickelt war.

»Wie ist das denn passiert?«, rief der Samurai überrascht.

Der Anführer begriff, dass sie hereingelegt worden waren, und schlug mit seiner jutte nach dem betrunkenen Mann. Doch der Samurai wich im letzten Moment schwankend zur Seite aus, sodass die eiserne Spitze des Knüppels den gefesselten Polizisten hinter ihm traf. Der junge Mann ging nach Luft schnappend zu Boden.

Der Offizier, der noch immer den Sakekrug in den Händen hielt, schien vor Überraschung wie gelähmt.

»Danke«, lallte der Samurai, nahm ihm kurzerhand den Krug wieder ab und hob ihn, um einen Schluck zu trinken. Dabei stieß er mit dem Boden des Krugs hart gegen das Kinn des Offiziers. Taumelnd wich der Mann zurück. Der Samurai drehte sich jetzt wieder zum Anführer um und stieß dabei dem taumelnden Offizier versehentlich den Ellenbogen ins Gesicht. Bewusstlos ging der Mann zu Boden.

Jack traute seinen Augen nicht. Der Samurai konnte kaum stehen und schlug doch scheinbar mühelos einen Polizisten nach dem anderen nieder.

»Das wirst du mir büßen, ronin!«, brüllte der Anführer und schlug nach dem Kopf des Samurai.

Inzwischen war auch der Polizist mit den gebrochenen Fingern wieder zu sich gekommen und hatte sein Schwert gezogen. Er näherte sich dem Samurai von hinten, während der Anführer von vorne angriff. Jack schrie warnend auf. Im letzten Moment brachte sich der ronin durch einen Purzelbaum in Sicherheit. Seine beiden Gegner hingegen stießen mit voller Wucht zusammen, wobei der Polizist dem Anführer geradewegs sein Schwert in den Leib bohrte. Röchelnd ging er zu Boden und hielt sich die Wunde.

»Das tut weh!«, schniefte der ronin mit einer mitfühlenden Grimasse.

Kreideweiß im Gesicht funkelte ihn der Anführer wütend an und rief: »Tötet ihn!«

Der Polizist, der sich zutiefst schämte, dass er seinen Vorgesetzten verwundet hatte, zögerte kurz und stürzte sich dann mit einem wütenden Aufschrei auf den Samurai. Doch genau in dem Sekundenbruchteil seines Zögerns hatte der Samurai seinen Eisenstab aufgehoben.

»Gehört der nicht dir?«, fragte er, als der Polizist nach seinem Kopf schlug. Blitzschnell wehrte er den Schlag mit dem Stab ab, fing die stählerne Schwertklinge zwischen Schaft und Gabelzinke auf und zerbrach sie mit einer ruckartigen Drehung. Als der Polizist das sah, wandte er sich zur Flucht.

»Vergiss deine jutte nicht!«, rief der Samurai ihm dröhnend nach und warf ihm die Waffe hinterher. Sie wirbelte durch die Luft und der Griff traf den Mann am Hinterkopf. Er taumelte noch einige Schritte, bis er schließlich mit dem Gesicht voraus in den Morast fiel.

»Er sollte sie eigentlich fangen«, sagte der ronin und hob entschuldigend die Hände. Dann nahm er einen weiteren großen Schluck Reiswein und betrachtete den reglos auf dem Boden liegenden Anführer.

»Ist er tot?«, fragte Jack.

»Nein, nur ohnmächtig.« Schwankend setzte sich der ronin in Bewegung. »Warum liegst du überhaupt noch hier herum?«

»Ich wurde vorhin …«, begann Jack, dem noch alles wehtat, aber der Samurai hörte ihm schon nicht mehr zu.

Mit einiger Mühe stand Jack auf. Der Samurai entfernte sich bereits auf der Straße. Jack wusste nicht, ob er ihm folgen sollte oder nicht. Ein Blick auf die vier mehr oder weniger bewusstlosen Polizisten im Morast überzeugte ihn jedoch davon, dass es besser war, die Flucht anzutreten.

Junko trat aus dem Teehaus und eilte zu ihm. »Du hast etwas vergessen!«, rief sie und gab ihm das Amulett.

Im Durcheinander der Verhaftung hatte Jack den einzigen Gegenstand liegen lassen, der ihm helfen konnte, seine Habseligkeiten zu finden. Jetzt stand er doppelt in der Schuld des Mädchens. »Danke …«, begann er.

»Komm schon!«, brüllte der Samurai ungeduldig. »Wir haben keine Zeit für Mädchen.«

4Gedächtnislos

Der Samurai wartete nicht auf Jack, auch nicht als der Regen zu einem Wolkenbruch anschwoll und er von der Hauptstraße in einen Wald abbog. Dort führte der Weg steil bergauf und Jack, der noch geschwächt war, hatte Mühe, mit ihm mitzuhalten.

An einem abgeschiedenen Shinto-Schrein inmitten einer kleinen, auf einer Anhöhe gelegenen Lichtung holte er ihn endlich ein. Der Schrein bestand aus einer einfachen Holzhütte, zwei mit Flechten bedeckten großen Steinen und einem hölzernen Tor, das den Eingang bezeichnete. Der Samurai hatte sich bereits zum Ausruhen in den Schrein gesetzt und hielt eine Sakeflasche in der Hand.

Jack rief sich in Erinnerung, wie man eine solche Kultstätte zu betreten hatte, und ging durch das Eingangstor. An einer steinernen, mit Wasser gefüllten Schale blieb er stehen, schöpfte mit dem daneben liegenden Holzlöffel Wasser, wusch sich zuerst die linke und dann die rechte Hand, spülte den Mund aus und legte den Löffel wieder ordentlich zurück.

Zwar wusste er nicht, ob die Reinigung notwendig war, da er sowieso bis auf die Haut durchnässt war, aber er wollte kein Risiko eingehen.

Im Herzen war er zwar ein protestantischer Christ, doch sein Zen-Meister Sensei Yamada hatte ihm geraten, die Rituale des Shintoismus und Buddhismus zu befolgen, um so wenig wie möglich aufzufallen. Da der Shogun – und inzwischen auch ganz Japan – die Christen bekämpfte, durfte Jack niemanden vor den Kopf stoßen. Wenn er zudem einzelne Menschen wie diesen Samurai davon überzeugen konnte, dass er ihrer Religion angehörte, waren sie vielleicht eher bereit, ihm auf seiner Reise zu helfen.

Er verbeugte sich zweimal, klatschte zweimal in die Hände, um die kami-Geister zu wecken, und verbeugte sich anschließend noch einmal. Dann faltete er die Hände zu einem stummen Gebet.

»Du verschwendest deine Zeit«, brummte der Samurai. »Ein solcher Schrein ist ein guter Unterschlupf, mehr nicht.«

Jack hob überrascht den Kopf. Die Japaner waren ein frommes Volk und er hatte von einem Samurai keine so geringschätzige Bemerkung erwartet. Er betrat den Schrein und setzte sich, froh, dem strömenden Regen entronnen zu sein und die schmerzenden Glieder ausruhen zu können.

»Wer bist du?«, fragte der Samurai. »Du siehst nicht aus, als seist du von hier.«

»Ich heiße Jack Fletcher«, antwortete Jack mit einer ehrerbietigen Verbeugung. »Ich komme aus England, einer Insel wie Japan, aber auf der anderen Seite der Erde. Und wer seid Ihr?«

»Ronin.«

»Ich dachte, das hieße ›herrenloser Samurai‹?«

»Nenn mich einfach so«, wiederholte der Samurai schroff. Er nahm einen großen Schluck Sake und hielt Jack dann die Flasche hin.

»Nein danke«, erwiderte Jack, der schon einmal Reiswein gekostet und davon einen Hustenanfall bekommen hatte. Im Augenblick war sein Magen dem kaum gewachsen. »Aber ich muss mich bei Euch bedanken, Ronin. Ihr habt mich gerettet.«

Der Samurai brummte. »Die Polizisten standen mir im Weg.«

»Aber werden sie Euch jetzt nicht verfolgen?«

Ronin lachte prustend. »Erbärmliche Samurai sind das! Von wegen neue Polizisten im neuen Japan des Shoguns. Ganz gewöhnliche Soldaten sind sie, die sich wichtigtun. Sie werden sich viel zu sehr schämen. Außerdem hast du selbst gesehen, dass sie sich gegenseitig angegriffen haben.«

Jack dachte an den Kampf zurück und musste ihm im Grunde Recht geben. Die einzige wirkliche Verletzung hatte der Stellvertreter des Anführers dem Anführer zugefügt. Die von Ronin ausgeteilten Schläge hatten dagegen wie Versehen gewirkt.

»Aber dir werden sie nachstellen.« Ronin zeigte auf Jack. »Was macht dich zu einem so gesuchten jungen Mann?«

»Ich habe im Krieg gegen den Shogun gekämpft«, antwortete Jack. Soweit er sich erinnerte, hatte Ronin bei der Ankunft der Polizisten geschlafen. Dann hatte er hoffentlich nicht gehört, dass auf Jacks Kopf eine Belohnung ausgesetzt war. Seine Chancen standen schlecht, wenn Ronin plötzlich beschloss, ihn auszuliefern und die Belohnung zu kassieren.

»Auch viele Samurai haben gegen den Shogun gekämpft, aber er lässt sie deswegen nicht suchen. Warum bist du etwas Besonderes?«

Jack überlegte kurz, auf welcher Seite Ronin wohl gestanden hatte, traute sich aber nicht, zu fragen. »Weil ich Ausländer bin …«

»Das sehe ich.« Ronin bedachte Jack mit einem prüfenden Blick, der allerdings nicht abwertend war. »Aber auch das erklärt nicht, warum der Shogun ausgerechnet dich sucht.«

Dafür konnte es viele Gründe geben. Jack vermutete, dass es letztlich mit dem Portolan zu tun hatte. Shogun Kamakura gehörte zu den wenigen Menschen in Japan, die von der Existenz und Bedeutung des Logbuchs wussten. Drachenauge, der den Portolan im Auftrag des portugiesischen Priesters Pater Bobadillo gestohlen hatte, hatte vor seinem Tod noch versucht, ihn für Kamakura zurückzuholen, allerdings ohne Erfolg. Offenbar hatte der Shogun, der inzwischen an die Macht gelangt war, den Portolan nicht vergessen. Doch Jack wusste, dass es leichtsinnig gewesen wäre, Ronin zu vertrauen, auch wenn er ihm das Leben gerettet hatte. Er beschloss deshalb, den Portolan nicht zu erwähnen.

»Ich bin auch ein Samurai«, erklärte er stattdessen.

»Ein Gaijin, der Samurai ist?« Ronin lachte ungläubig. »Wer um alles in der Welt hat dich zum Samurai ausgebildet?«

»Mein Vormund Masamoto Takeshi.«

Ronin hörte auf zu lachen.

»Er ist der Leiter der Niten Ichi Ryu …«

»Ich weiß, wer er ist«, fiel Ronin Jack ins Wort und legte die linke Hand an den Griff seines Langschwerts. Jack erstarrte. Was hatte Ronin vor? »Masamoto-samas Ruf eilt ihm voraus. Jetzt überrascht mich nicht mehr, dass der Shogun hinter dir her ist. Du bist nicht nur der Ziehsohn seines Feindes, sondern verkörperst gleichzeitig alles, was er an den ausländischen Eindringlingen hasst. Hat Masamoto-sama dir etwa auch die Technik der beiden Himmel beigebracht?«

Jack nickte argwöhnisch.

Ronin begann breit zu grinsen. »Dann beneide ich dich.« Er ließ sein Schwert los und prostete Jack mit der Sakeflasche zu. »Ich wollte Masamoto-sama immer zu einem Freundschaftsduell herausfordern. Es heißt, er sei mit seiner geheimen Technik unbesiegbar.«

»Er ist ein ehrenhafter und mutiger Samurai«, bestätigte Jack, erleichtert, dass Ronin seinen Vormund bewunderte. »Aber der Shogun hat ihn in ein abgelegenes Kloster auf dem Iawo verbannt, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

Ronin ließ die Sakeflasche sinken und schüttelte empört den Kopf. »Ein Jammer!«

Schweigend saßen sie eine Weile da und lauschten dem Trommeln des Regens auf dem Holzdach. Ronins Kopf sank nach vorn und er schien in einen sakeseeligen Schlummer zu fallen. Jack dachte unterdessen wehmütig an Masamotos Unterricht und seine Versuche, die Technik der beiden Himmel zu erlernen. Die Ausbildung zum Samurai an der Niten Ichi Ryu war mörderisch anstrengend gewesen, aber der Sinn, den sie seinem Leben gegeben hatte, und die tiefen Freundschaften, die dabei entstanden waren, hatten die Strapazen gelohnt. Zu gern wäre Jack an die Schule zurückgekehrt, doch war sie wegen Masamotos Verbannung und infolge des verheerenden Krieges, in dem viele Sensei gefallen waren, bestimmt längst geschlossen.

Ronin fuhr aus seinem Schlummer hoch. »Du hast also an der Niten Ichi Ryu gelernt, unter Satoshis Fahne gegen Kamakura gekämpft und die Schlacht um die Burg von Osaka irgendwie überlebt. Und dann?«

»Ich konnte mit Akiko in die Hafenstadt Toba fliehen. Wir haben bei ihrer Mutter gewohnt …«

»Wer ist Akiko?«

»Masamotos Nichte – und meine beste Freundin.« Jack musste bei der Erinnerung an Akiko unwillkürlich lächeln. Wie sehr er sie vermisste! Wenn sie an seiner Seite gewesen wäre, befände er sich jetzt nicht in dieser misslichen Lage und käme sich weniger einsam und verletzlich vor. Sein Lächeln wich der Reue darüber, sie verlassen zu haben.

Ronin sah Jacks unglückliches Gesicht und hob wissend die Augenbrauen. »Warum bist du dann nicht bei ihr geblieben?«

»Es ging nicht. Als der Shogun alle Ausländer und Christen per Gesetz aus dem Land verbannte, war ihre Familie in großer Gefahr. Also habe ich mich auf den Weg nach Nagasaki gemacht. Dort hoffe ich ein Schiff zu finden, das nach England fährt.«

»Wann bist du in Toba aufgebrochen?«

»Es muss im Frühjahr gewesen sein«, sagte Jack. Und jetzt ist es Herbst, dachte er.

»Und du bist nur bis Kamo gekommen?!« Ronin schnaubte ungläubig.

Jack hatte selbst nicht damit gerechnet, dass er so langsam vorankommen würde. Daran waren widrige Umstände schuld. Die Häscher des Shoguns hätten ihn fast auf dem Tokaido geschnappt und er hatte ins Iga-Gebirge fliehen müssen, das Reich der Ninja. Zuletzt hatte er in einem verborgen gelegenen Dorf bei seinen Erzfeinden gelebt. In dieser Zeit hatte er begriffen, wer die Ninja in Wirklichkeit waren. Sie hatten ihn in der Kunst des Ninjutsu, den Werten des ninniku und der Lehre von den fünf Ringen unterwiesen und damit all seine Vorurteile ins Wanken gebracht. Er hatte viele überlebensnotwendige Fertigkeiten von ihnen gelernt und seine alten Feinde waren zu Freunden geworden. Trotz einiger letzter Vorbehalte betrachtete er sich inzwischen sowohl als Samurai wie auch als Ninja. Doch brauchte Ronin das nicht zu wissen.

»Ich habe mich im Gebirge verirrt«, sagte er deshalb, was auch teilweise stimmte.

Ronin nickte langsam, schien von der Antwort allerdings nicht vollständig überzeugt. »Das geht schnell. Bist du deshalb so übel zugerichtet? Deine Verletzungen stammen nicht nur von heute.«

Jack sah an sich hinunter. Die roten Schwielen der Eisenknüppel überlagerten nur die vielen dunkelblauen Flecken, die seinen ganzen Körper bedeckten. Dumpfe Schmerzen pochten in seiner gesprungenen Lippe, dem geschwollenen Auge und auch in seinen Rippen. Er war mit Wunden übersät, ohne zu wissen, wie er dazu gekommen war. Am schlimmsten war jedoch sein Magen, der immer noch vom Angriff des Polizisten-Anführers schmerzte.

»Keine Ahnung«, antwortete er und zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich an die letzten Tage nicht erinnern.«

»Keine Sorge, das passiert mir auch oft«, brummte Ronin und hob die Flasche an die Lippen.

»Aber ich trinke keinen Sake!«, erwiderte Jack und musste unwillkürlich lachen, verstummte aber sofort wieder, weil seine Bauchmuskeln höllisch wehtaten.

»Und was hast du jetzt vor?«, fragte Ronin und lehnte sich an die Wand des Schreins.

»Zunächst einmal werde ich die Sachen suchen, die ich verloren habe …«, begann Jack. Das omamori in seiner Hand fiel ihm wieder ein und er fügte hinzu: »Oder besser gesagt, die mir gestohlen wurden.«

»Man hat dir nicht nur die Erinnerung geraubt, sondern auch dein Gepäck?!«, rief Ronin und hob voller Mitgefühl die Augenbrauen. »Du hast aber auch ein Pech! Was wurde denn gestohlen?«

»Alles. Meine Kleider, mein Geld, mein Proviant, ein Inro, den mir Daimyo Takatomi geschenkt hat und in dem ich ein Kranich-Amulett meines Freundes Yori aufbewahrte, eine kostbare Perle, die mir Akiko geschenkt hat …«

»Noch etwas Wertvolles?« In Ronins blutunterlaufene Augen war ein Funkeln getreten.

Jack nickte. »Das … Tagebuch meines Vaters«, sagte er, das Wort Portolan sorgfältig vermeidend. »Und einige Wurfsterne, an die ich durch Zufall gekommen bin. Und natürlich meine Schwerter.«

»Deine Schwerter?!«, rief Ronin bedauernd.

»Ja.« Jack nickte beschämt. Schwerter waren die Seele eines Samurai. Sie zu verlieren, galt als unverzeihliche Schande. »Sie gehörten Akikos Vater und wurden von Shizu angefertigt. Sie haben dunkelrot umwickelte Griffe und die Scheiden sind mit Perlmutt eingelegt. Ich würde sie überall wiedererkennen.«

»Shizu«, flüsterte Ronin andächtig. Der Ruf des Schwertschmieds war legendär. »Dieses Mädchen muss sehr viel von dir halten, wenn sie dir solche Schwerter schenkt. Und sie zu verlieren, muss unerträglich schmerzen!«

Nachdenklich strich er sich über den Bart. Dann setzte er mit einer entschlossenen Geste die Sakeflasche ab. »Ich werde dir helfen«, erklärte er. »Vermutlich bist du Banditen in die Hände gefallen.«

»Vielen Dank, Ronin«, sagte Jack, von dem großzügigen Angebot überrascht. »Aber ich kann Euch nicht bezahlen.«

»Ich tue so etwas doch nicht für Geld!« Ronin schnaubte beleidigt. »Das tun Krämer, nicht Samurai. Allerdings …« Er schüttelte die fast leere Flache. »Der Mensch lebt nicht von Luft allein. Als Gegenleistung für meine Dienste erbitte ich lediglich, dass ich eins von den Dingen, die wir wiederfinden, behalten darf.«

Jack zögerte. Wenn Ronin sich nun den Portolan aussuchte? Aber das war höchst unwahrscheinlich. Ronin interessierte sich nämlich nur für eins – wie er sich den nächsten Rausch antrinken konnte. Jack betrachtete den zerzausten und betrunkenen Samurai für einen Moment und überlegte, ob er ihm wirklich helfen konnte oder ihn eher behinderte. Doch er brauchte im Moment jede Hilfe, die er bekommen konnte, also nickte er zustimmend.

»Gut, das wäre dann abgemacht«, sagte Ronin. Er trank einen Schluck, um den Handel zu besiegeln, ließ sich gegen die Wand zurücksinken und schloss die Augen. Kurz darauf war er eingeschlafen und schnarchte er laut.

Eine schöne Hilfe wird er mir sein!, dachte Jack.

5Der Rätselmönch

Jack kniete vor dem Altar des Schreins, legte die Hände aneinander, schloss die Augen und betete. Er dachte an seine Eltern. Was hätte er für eine tröstende Umarmung seiner Mutter oder den guten Rat seines Vaters gegeben! John Fletcher hatte niemals geschwankt oder die Hoffnung verloren, nicht einmal im heftigsten Sturm.

Ein ruhiges Meer hat noch keinen tüchtigen Seemann gemacht, hatte er immer gesagt.

Jetzt, während der Regen auf den kleinen Schrein niederprasselte, wünschte Jack sich eine solche Unerschütterlichkeit und Zuversicht. Doch sosehr er sich auch anstrengte, er wurde die Verzweiflung nicht los. Was für eine Chance hatte er denn, seine Habseligkeiten wiederzubekommen oder überhaupt zu überleben? Er konnte sich nach wie vor an nichts erinnern und wusste nicht, wer ihn überfallen hatte und warum. Es konnte eine Samuraipatrouille gewesen sein oder, wie Ronin vermutete, eine Räuberbande. Hatten sie gewusst, wer er war? Oder hatten sie ihn durch Zufall erwischt? Wussten sie überhaupt, was die Sachen wert waren, die sie ihm gestohlen hatten? Und vor allem, wo waren die Sachen jetzt?

Es gab so viele unbeantwortete Fragen. Wütend schlug Jack mit der Faust auf den Boden und versuchte die Erinnerung herbeizuzwingen, ein Gesicht, einen Namen, einen Ort, irgendwas. Doch sein Kopf blieb leer.