Samurai 7: Der Ring des Windes - Chris Bradford - E-Book

Samurai 7: Der Ring des Windes E-Book

Chris Bradford

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Beschreibung

*** Band 7 der Bestseller-Reihe von Chris Bradford in neuem Look! *** Jack will mit seinen Freunden nach Nagasaki, um dort auf einem Schiff nach England anzuheuern. Aus Angst, den Samurai des Shoguns in die Arme zu laufen, entschließen sich die Gefährten für den Seeweg entlang der Küste. Doch auch auf dieser Route lauern todbringende Gefahren … Ein junger Engländer. Gestrandet in Japan. Ausgebildet zum Samurai. Bereit für den Kampf seines Lebens. Entdecke alle Abenteuer der "Samurai"-Reihe: Band 1: Der Weg des Kämpfers Band 2: Der Weg des Schwertes Band 3: Der Weg des Drachen Band 4: Der Ring der Erde Band 5: Der Ring des Wassers Band 6: Der Ring des Feuers Band 7: Der Ring des Windes Band 8: Der Ring des Himmels Band 9: Die Rückkehr des Kriegers Die Kurzgeschichte "Der Weg des Feuers" ist als E-Book erhältlich und spielt zwischen den Ereignissen von Band 2 und Band 3.

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2020Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2014, 2020 Ravensburger Verlag GmbHPostfach 24 60, 88194 RavensburgDie Originalausgabe erschien 2011unter dem Titel »Young Samurai. The Ring of Wind«bei Puffin Books/Penguin Books Ltd, 80 Strand,London WC2R 0RL, EnglandText Copyright © 2012 by Chris Bradford

Covergestaltung: Paul YoungLandkarte: Gottfried MüllerÜbersetzung: Wolfram StröleAlle Rechte vorbehaltenISBN978-3-473-47499-8www.ravensburger.de

Für die Moles,Sue, Simon, Steve, Sam und alle Cousins und Cousinen!

PrologDer Brief

Japan, 1614

Liebste Jess,

ich hoffe, dieser Brief erreicht dich irgendwann. Bestimmt glaubst du, ich sei schon vor Jahren auf dem Meer umgekommen. Du wirst dich freuen zu hören, dass ich lebe und wohlauf bin. Vater und ich sind im August 1611 in Japan angekommen. Leider muss ich dir mitteilen, dass Vater bei einem Überfall auf unser Schiff, die Alexandria, getötet wurde. Ich habe als Einziger überlebt.

Die vergangenen drei Jahre habe ich in einer Samuraischule in Kyoto zugebracht. Ihr Leiter, ein japanischer Krieger namens Masamoto Takeshi, nahm mich in seine Obhut. Aber ich hatte es trotzdem nicht leicht.

Ein Auftragsmörder, ein Ninja, der sich Drachenauge nennt, sollte den Portolan unseres Vaters stehlen. Du erinnerst dich bestimmt an dieses Logbuch, es war für Vater sehr wichtig. Dem Ninja gelang es zwar, seinen Auftrag auszuführen, doch konnte ich das Buch mithilfe meiner Freunde, die ebenfalls Samurai sind, zurückholen.

Ebendieser Ninja hat auch unseren Vater ermordet. Ich kann dir versichern, dass der Schurke jetzt tot ist, auch wenn dich das kaum trösten wird. Er hat seine gerechte Strafe erhalten. Nur leider erweckt sein Tod Vater nicht wieder zum Leben. Ich vermisse ihn unendlich und könnte seinen Rat und seinen Schutz zurzeit gut gebrauchen.

Japan wird gegenwärtig von einem Bürgerkrieg gespalten. Ausländer wie ich sind nicht mehr willkommen. Als Flüchtling muss ich jeden Tag um mein Leben fürchten. Jetzt wandere ich in Richtung Süden, durch dieses merkwürdige, fremdartige Land. Ich versuche die Hafenstadt Nagasaki zu erreichen, in der Hoffnung, dort ein Schiff zu finden, das mich zurück nach England bringt.

Auf dem Tokaido, der Straße, auf der ich unterwegs bin, lauern allerdings zahlreiche Gefahren und viele Feinde trachten mir nach dem Leben. Hab aber keine Angst um mich. Masamoto hat mich zum Samurai ausgebildet und ich werde kämpfen, bis ich zu dir nach Hause zurückgekehrt bin.

Eines Tages kann ich dir hoffentlich persönlich von meinen Abenteuern berichten.

Möge Gott dich bis dahin schützen, geliebte Schwester.

Dein Bruder Jack

PS:Nachdem ich diesen Brief am Ende des Frühjahrs geschrieben hatte, wurde ich von Ninja entführt. Aber ich fand heraus, dass sie gar nicht meine Feinde waren, wie ich geglaubt hatte. Sie haben mir sogar das Leben gerettet und mich in der Lehre der fünf Ringe unterwiesen, der fünf großen Elemente des Universums – Erde, Wasser, Feuer, Wind und Himmel. Die Fertigkeiten im Ninjutsu, die ich mir erworben habe, übertreffen alles, was ich als Samurai gelernt habe. Aber weil unser Vater von Ninja getötet wurde, fällt es mir immer noch schwer, den Weg des Ninja in voller Überzeugung zu gehen.

1Hinterhalt

Japan im Frühjahr 1615

Miyuki hielt warnend den Finger an die Lippen. Jack, Saburo und Yori verstummten und sahen sich unbehaglich auf der Lichtung um. Der Morgen dämmerte gerade erst, und obwohl die vier Freunde seit Tagen niemandem begegnet waren, blieben sie doch stets auf der Hut.

Die Samurai des Shogun jagten Jack erbarmungslos. Als Ausländer, Gaijin, war er aus Japan verbannt worden. Außerdem war er auch noch Samurai. Er hatte in der Schlacht von Osaka gegen den Shogun gekämpft und galt deshalb als Landesverräter. Dass er erst fünfzehn war, spielte dabei keine Rolle. Auf seinen Kopf war eine Belohnung ausgesetzt, der Shogun persönlich hatte seine Festnahme angeordnet, egal ob tot oder lebendig.

Der Weg vor ihnen sah verlassen aus. In den Büschen bewegte sich nichts, kein Geräusch wies auf einen Feind hin, der sich dort versteckt hätte. Doch Jack vertraute auf Miyukis Instinkt. Sie war ein Ninja und spürte jede noch so verborgene Gefahr.

»Ungefähr zehn Männer sind hier entlanggekommen«, flüsterte Miyuki und studierte eine Stelle, an der das Gras niedergetreten war. »Vor weniger als einer Stunde.«

»In welche Richtung sind sie gegangen?«, fragte Jack. Er wollte den Männern nicht in die Arme laufen.

»Genau das ist das Problem«, antwortete Miyuki und kniff die schwarzen Augen zusammen. »In alle möglichen Richtungen.«

Jack begriff sofort, was das bedeutete. Ein unheilvolles Gefühl, als würde sich eine Schlinge um ihn zusammenziehen, überkam ihn. Mit aufs Äußerste angespannten Sinnen ließ er den Blick noch einmal über das Gebüsch wandern. Aufgrund seiner eigenen Ausbildung zum Ninja wusste er, nach welchen Zeichen er suchen musste. Fast sofort entdeckte er einige abgeknickte Zweige und plattgetretene Blätter auf dem Boden. Dann fiel ihm auf, dass es im Wald viel zu still war. Nicht einmal Vögel zwitscherten.

»Wir müssen von hier weg!«, sagte er.

Aber da war es schon zu spät.

Ein Flattern wie von den Flügeln eines aufgeschreckten Spatzen kündigte den Hinterhalt an. Jack duckte sich im letzten Augenblick vor dem Pfeil mit der stählernen Spitze, der auf seinen Kopf zugeflogen kam. Der Pfeil streifte seinen Strohhut und bohrte sich in den Stamm des Baums neben ihm. Im nächsten Moment brach ein Trupp schwer bewaffneter Samurai aus den Büschen und griff sie von allen Seiten an.

Instinktiv stellten Miyuki, Saburo und Yori sich schützend um Jack.

»Wir lassen nicht zu, dass sie dich gefangen nehmen«, rief Yori und schwang seinen shakujō mit beiden Händen. Der hölzerne Stock mit der Eisenspitze und den sechs metallenen Ringen galt als das Symbol des buddhistischen Mönchs, war zugleich aber auch eine furchtbare Waffe. Die Ringe klirrten, während Yori ihren Gegnern tapfer entgegenblickte, obwohl er innerlich zitterte.

»Und ich lasse nicht zu, dass sie euch etwas tun«, erwiderte Jack und hob sein Lang- und sein Kurzschwert. Die Schwerter waren das Abschiedsgeschenk seiner besten Freundin Akiko gewesen. Er nahm die Kampfhaltung der Technik der beiden Himmel ein. Die perfekt ausbalancierten, rasiermesserscharfen Klingen blitzten im Licht der frühen Morgensonne.

Saburo zog ebenfalls sein Langschwert. Er hatte wie Jack an der Niten Ichi Ryū gelernt, aber weder er noch Yori waren in der legendären Technik des Kampfes mit zwei Schwertern unterrichtet worden.

»Wenigstens ist das Zahlenverhältnis besser als beim letzten Mal«, meinte er trocken. In dem Dorf Tamagashi waren sie gegen vierzig Banditen angetreten.

Mit Geschrei und erhobenen Schwertern kamen die Samurai näher, um ihre Opfer niederzukämpfen. Miyuki wandte sich dem ersten Angreifer zu. Bevor er auf Reichweite an sie herangekommen war, schleuderte sie ihm mit einem Rucken des Handgelenks einen Wurfstern entgegen. Blitzend fuhr das tödliche Geschoss durch die Luft und traf den Samurai in den Hals. Er bekam keine Luft mehr und taumelte. Miyuki sprang auf ihn zu und streckte ihn mit einem Seitwärtstritt vollends nieder. Als sie wieder auf dem Boden landete, holte der nächste Samurai gerade mit dem Schwert aus, um ihr den Kopf abzuschlagen. Blitzschnell zog Miyuki ihr Ninja-Schwert mit der geraden Klinge aus der Scheide auf ihrem Rücken und wehrte den Angriff ab. Erbittert begannen die beiden zu kämpfen.

Jack, Saburo und Yori verteidigten sich unterdessen gegen die anderen Samurai. Klirrend trafen ihre Schwerter aufeinander. Jack wurde gleich von drei Gegnern angegriffen und war vollauf damit beschäftigt, sie sich vom Leib zu halten. Er ließ seine Schwerter über dem Kopf kreisen und wehrte ihre Schläge ab. Yori stach unterdessen mit der Eisenspitze seines Priesterstocks nach jedem, der es wagte, ihm zu nahe zu kommen. Einen traf er in den Bauch, einen zweiten konnte er zurückdrängen. Da bemerkte Jack eine Bewegung in den Büschen. Ein mit einem Bogen bewaffneter Samurai zielte auf sie.

»Yori, pass auf!«, schrie er.

Da es auf der Lichtung keine Deckung gab, bot Yori ein leichtes Ziel.

Mit einem blitzschnell geführten Herbstblattschlag entwaffnete Jack den Angreifer vor ihm und stieß ihn mit einem Fußtritt in Yoris Richtung. Im selben Augenblick, in dem der Bogenschütze seinen Pfeil abschoss, taumelte der Samurai rückwärts in die Schusslinie. Der Pfeil traf ihn mitten in die Brust und mit einem Schmerzensschrei ging er zu Boden. Doch in den kostbaren Sekunden, in denen Jack Yori das Leben gerettet hatte, hatte er sein eigenes aufs Spiel gesetzt. Ein Samurai, der bemerkt hatte, dass Jack vorübergehend abgelenkt war, stürzte sich mit seinem Schwert auf ihn. Er wollte ihn gerade durchbohren, da tauchte aus dem Nichts eine zweite Klinge auf und schlug sein Schwert zur Seite.

»Ich habe dir … schon wieder das Leben gerettet!«, rief Saburo keuchend und sprang zwischen Jack und dessen Angreifer. Mit einem wütenden »kiai!« trat er auf ihn zu und trieb ihn zurück.

Doch Jack hatte keine Zeit, sich bei seinem Freund zu bedanken, denn der nächste Samurai stand bereits vor ihm. Zugleich sah er, dass der Bogenschütze jetzt auf ihn zielte. Er hatte die Sehne gespannt und war bereit, seinen tödlichen Pfeil abzuschießen.

Dem Samurai vor ihm war Jack mit seinen Schwertkünsten überlegen, aber gegen den Schützen war er machtlos.

Da erinnerte er sich an eine Ninja-Technik aus dem Ring des Feuers.

Er wehrte den Angreifer mit dem Langschwert ab und hob zugleich das Kurzschwert und richtete es so aus, dass die polierte Klinge das Sonnenlicht einfing. Das Licht blendete den Schützen. Er konnte nicht mehr richtig zielen und der Pfeil flog weit am Ziel vorbei.

Doch Jack wusste, dass er sich nur eine kurze Atempause verschafft hatte. Solange sie auf der offenen Lichtung standen, konnte der Schütze sie einen nach dem anderen abschießen.

Er wandte sich an seine Freunde. »Wir müssen von hier verschwinden!«

Miyuki kämpfte immer noch gegen ihren Samurai. Der Mann war kräftig und drohte sie zu überwältigen. Eine Niederlage schien unvermeidlich, da griff sie in ihre Jacke und schleuderte ihm metsubishi ins Gesicht. Das Pulver aus Sand und Asche blendete ihn, und er konnte dem Seitwärtstritt nicht ausweichen, mit dem sie ihn am Knie traf und ihn kampfunfähig machte. Mit einem Schmerzensschrei ging er zu Boden.

»Hier lang!«, schrie Miyuki.

Ohne einen Moment zu zögern rannten die vier Freunde von der Lichtung in das dichte Unterholz. Hinter sich hörten sie das wütende Geschrei der Samurai, die sofort die Verfolgung aufnahmen.

2In der Falle

»Glaubt ihr, wir haben sie abgehängt?«, fragte Saburo. Seine Brust hob und senkte sich heftig.

Jack und die anderen spähten hinter einem Baum versteckt durch den Wald zurück. Ihre Jugend hatte sich bei ihrer Flucht als Vorteil herausgestellt, denn ihre größeren, weniger beweglichen Verfolger waren im Dickicht langsamer vorangekommen. Ihr Geschrei war allmählich leiser geworden und schließlich ganz verstummt.

Saburo riskierte auch einen Blick und wagte sich dabei etwas weiter aus der Deckung.

Peng!

Ein Pfeil bohrte sich unmittelbar neben seiner Nase in den Stamm.

»Das ist die Antwort auf deine Frage!«, sagte Miyuki und zerrte ihn zurück.

Die vier Freunde flohen weiter durch den Wald, ohne auf die Richtung zu achten, in die sie rannten. Zweige schlugen ihnen ins Gesicht und rissen an ihren Kleidern. Jacks Lungen brannten. Sie sprangen über umgestürzte Stämme und schlängelten sich zwischen Bäumen hindurch.

Jack hatte das Gefühl, schon ewig zu laufen.

Bevor seine Freunde zu ihm gestoßen waren, hatten ihn Samurai, Ninja, Polizisten, Spione und vor allem sein alter Rivale von der Schule, Kazuki, mit seiner Skorpion-Bande gejagt. Seit ihrem Aufbruch aus Tamagashi war jeder Tag eine gefährliche Gratwanderung mit Ausweichmanövern, Verstecken und Flucht gewesen. Die vier hatten größere Ansiedlungen und die belebte Küstenstraße gemieden und sich stattdessen auf abschüssigen Bergpfaden durch unwegsame Wälder geschlagen. Nirgendwo durften sie länger als eine Nacht bleiben, sonst liefen sie Gefahr, entdeckt und einem örtlichen Samuraifürsten gemeldet zu werden. Sie waren nach Nagasaki im Südwesten des Landes unterwegs, der Hafenstadt, in der Jack ein Schiff nach England zu finden hoffte, doch kamen sie ihrem Ziel nur langsam näher.

Das einzig Gute war, dass das Wetter immer besser wurde, je weiter sie nach Süden vordrangen. Die ersten Vorboten des Frühlings zeigten sich und der winterliche Schnee war fast ganz geschmolzen und hielt sich nur noch auf den Berggipfeln. Der Wald um sie erwachte zum Leben und versorgte sie reichlich mit seinen Früchten. Sowohl Jack als auch Miyuki hatten als Ninja gelernt, sich in der Natur zurechtzufinden und zu überleben. Sie konnten sich deshalb selbst mit Nahrung versorgen und waren nicht auf Bauern angewiesen.

Doch konnten sie nicht jeden Kontakt mit der Außenwelt vermeiden. Bereits zu Anfang ihrer Reise hatte ihr Weg sie durch den Flusshafen Kurashiki geführt. Ein paar Tage fanden sie Unterschlupf in dem Dorf Kasaoka, wo Yori sich von einem Fieber erholte, bis eine durchkommende Samuraipatrouille von ihrer Anwesenheit Wind bekam. Bei verschiedenen anderen Gelegenheiten mussten sie in Dörfern Halt machen und Reis kaufen. Ihre größte Sorge war allerdings die Burgstadt Fukuyama gewesen. Dort wimmelte es von Samurai. Leider konnte man den Ashida nur dort überqueren. Brücken über den breiten Fluss mit seiner starken Strömung gab es nicht, nur eine Fährverbindung in der Stadt selbst. Da sie keine andere Wahl hatten, hatten sie sich durch einige kleinere Gassen zur Anlegestelle geschlichen. Jack hatte den Kopf gesenkt und sein Gesicht mit den blauen Augen und den blonden Haaren, das ihn als Ausländer verriet, unter einem breitkrempigen Strohhut verborgen. So hatten sie den Fluss unbemerkt überquert. Zumindest hatten sie das geglaubt …

»Hier sind sie!«, schrie ein Samurai wütend und bahnte sich den Weg durch das dichte Unterholz.

Jack und seine Freunde liefen schneller. Miyuki führte sie einen Hang hinauf. Der Boden wurde steinig und fiel dann wieder ab. Unvermittelt gelangten sie auf eine Lichtung aus festgetretenem Kies. Vor einem kleinen hölzernen Tempel blieb Miyuki stehen. Drinnen befand sich eine Buddhastatue. Sie blickte nach Osten, und der Anblick, der sich ihnen dort bot, war so atemberaubend schön, dass sie stehen blieben.

Das Meer erstreckte sich glasig blau wie ein Spiegel des Himmels zum Horizont, über dem golden leuchtend die aufgehende Sonne stand. Unzählige Inseln lagen schimmernd wie aus dem Meer aufsteigende Wolken auf dem Wasser und schienen miteinander zu verschmelzen. Unmittelbar vor ihnen am Fuß des Abhangs erkannten sie einen hufeneisenförmig geschwungenen Hafen und ein kleines Fischerdorf. Die Dächer mit ihren grauen und blauen Ziegeln zogen sich hangabwärts bis zum Ufer hinunter, wo an einem Steg friedlich vor sich hin dümpelnd eine kleine Flotte von Booten vertäut lag.

»Das Seto-Binnenmeer«, flüsterte Yori ehrfürchtig.

Auch Jack betrachtete die Aussicht staunend. Es war das erste Mal, dass er das Meer sah, seit er im Jahr zuvor Akiko in Toba verlassen hatte. Der Anblick löste eine Flut von Erinnerungen und Hoffnungen in ihm aus und er spürte einen Kloß im Hals. Vor seiner Ausbildung zum Samurai war er Schiffsjunge an Bord der Alexandria gewesen. Sein Vater hatte dort als Steuermann gedient. Sie waren von England aufgebrochen, um ihr Glück in der weiten Welt zu machen. Unterwegs hatte sein Vater ihm beigebracht, was ein Steuermann wissen musste, und ihm den Portolan gezeigt – ein unschätzbar wertvolles Logbuch, mit dessen Hilfe man die Weltmeere sicher befahren konnte. Sein Vater hatte ihn in die Geheimnisse des Logbuchs eingeweiht und der Portolan hatte sie zusammengeschweißt. Jack spürte das beruhigende Gewicht des Buchs in seinem Bündel. In Verbindung mit dem Anblick des Meeres beschwor es die Erinnerung an glücklichere Zeiten seines Lebens und er musste unwillkürlich lächeln. Das Meer rief ihn und schon fühlte er sich seinem Zuhause näher.

Miyuki war über die Aussicht weniger erfreut. »Wir stehen auf einer Landzunge, von der wir nicht mehr wegkommen!«

Ein Pfeil flog sirrend an ihnen vorbei und schlug mit einem dumpfen Laut in einen Pfeiler des Tempels.

»Wir müssen weiter«, drängte Jack. Ihre Verfolger hatten sie fast eingeholt. »Vielleicht können wir sie im Hafen abhängen und dann wieder umkehren.«

Die vier verließen den Schrein, rannten den gekiesten Weg hangabwärts und tauchten in die gewundenen, engen Straßen des Dorfes ein. Sie eilten an übernächtigten Fischern vorbei, zwischen geschlossenen Läden und Häusern hindurch und durch kleine Nebenstraßen. Hinter sich hörten sie die wütenden Rufe der Soldaten, die ihre Opfer aus den Augen verloren hatten. Sie rannten in eine schmale Gasse und an weiß getünchten Lagerhäusern vorbei. Dann endete die Gasse unversehens an einer Mauer.

»Wir müssen zurück!«, rief Miyuki erschrocken.

Die Freunde liefen zu der Straße zurück, von der sie abgebogen waren, hörten aber laute Schritte näherkommen. Rasch schlüpften sie hinter ein hölzernes Wasserfass und drückten sich flach an eine Mauer.

Im nächsten Augenblick tauchten zwei Samurai auf. Sie warfen allerdings nur einen flüchtigen Blick in die Straße und rannten weiter.

Jack seufzte erleichtert und flüsterte: »Sie haben sich aufgeteilt. Wir müssen uns vor den anderen in Acht nehmen.«

Er führte seine Freunde über die Straße und in eine Gasse auf der anderen Seite. Sie gelangten zu der vom Wasser überspülten Treppe des Hafens. Dort stand als Leuchtturm eine steinerne Laterne, die so hoch war wie ein kleiner Baum. Es roch salzig nach Seetang und Trockenfisch, was Jack wieder an seine Tage als Seefahrer erinnerte. Am Kai war der erste Fang bereits zum Verkauf ausgelegt – Körbe mit Garnelen und Gestelle mit Brassen, Makrelen, Ayus und anderen Meerestieren, außerdem große Töpfe mit Krabben, die zappelnd ihrem Schicksal zu entkommen suchten.

Am anderen Ende des Hafens tauchte eine zweite Gruppe von Samurai aus einer Nebenstraße auf. Bevor sie die Flüchtlinge entdecken konnten, hatte Miyuki schon die Tür eines Lagerhauses aufgedrückt und die anderen hineingeschoben. Unversehens standen sie in dem kühlen Innenraum einer Sake-Brauerei. Runde Fässer mit Reiswein, immer zehn übereinandergestapelt, warteten hier auf ihre Verschiffung.

»Jetzt sitzen wir wirklich in der Falle!«, flüsterte Saburo. Das dämmrige Lagerhaus hatte keinen anderen Ausgang.

Wie die Krabben, dachte Jack.

3Pilger

»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns finden«, sagte Yori und spähte durch einen Spalt in der Tür.

Die Samurai suchten systematisch die Gassen ab und überprüften jedes Gebäude. Doch inzwischen war die Sonne aufgegangen, der Hafen erwachte zum Leben und größere Gruppen von Menschen versammelten sich am Kai und behinderten die Soldaten bei ihrer Arbeit.

»Wir werden uns nicht kampflos ergeben«, sagte Miyuki und griff nach ihrem Schwert.

Jack schüttelte den Kopf. Ihre Lage war aussichtslos. »Wenn ich mich ergebe, kommt ihr vielleicht davon.«

»Wir haben es so weit geschafft, dass wir jetzt nicht aufgeben können«, erwiderte Saburo.

»Aber ich lasse nicht zu, dass ihr euch für mich opfert …«

»Vergiss nicht, was Sensei Yamada einmal gesagt hat«, fiel Yori ihm ins Wort. »Ein Samurai allein ist wie ein einzelner Pfeil. Er kann töten, aber man kann ihn auch zerbrechen. Nur indem wir unsere Kräfte vereinigen, sind wir stark und unbesiegbar.«

Er trat neben Saburo und Miyuki.

»Auf ewig miteinander verbunden: Waren das nicht Akikos Worte, Jack? Für uns gilt das auch.«

Jack sah seine Freunde an, fassungslos über ihre unerschütterliche Treue. Er wusste, genau das hieß es, Samurai zu sein – oder auch Ninja.

»Ich fühle mich geehrt, solche Freunde zu haben«, sagte er demütig und mit einer respektvollen Verbeugung. »Dann sollten wir uns jetzt etwas überlegen.«

Miyuki klopfte auf ein Sakefass, auf dem eine Öllampe stand. »Wir könnten den Speicher anzünden, um sie abzulenken.«

Jack schüttelte den Kopf. »Dabei kämen zu viele Unschuldige zu Schaden.«

»Und wenn wir in der Menge untertauchen?«, schlug Saburo vor. »Da draußen geht es ziemlich lebhaft zu.«

Jack und die anderen spähten durch die Tür. Außer Fischern und Hafenarbeitern standen auf dem Kai noch Gruppen von Männern und Frauen, die offenbar darauf warteten, in verschiedene am Anlegesteg vertäute Boote einzusteigen. Die meisten von ihnen trugen weiße Kniehosen, weiße Jacken, Strohhüte und Sandalen. Außerdem hatte jeder eine weiße Tasche über die Schulter gehängt und ein Tuch um den Hals gelegt, ein rechteckiges Stück Stoff, das als einziges Kleidungsstück nicht weiß war, sondern dunkelblau. In der einen Hand hielten diese Menschen Gebetsperlen, in der anderen einen Stock, an dessen Griff eine kleine Glocke befestigt war.

»Sieht aus wie eine winterlich gekleidete Gruppe von Ninja«, bemerkte Jack mit einem schiefen Grinsen in Miyukis Richtung. Als Miyuki ihn gesucht hatte, hatte sie einen weißen shinobi shozoku getragen, das traditionelle Gewand der Ninja für winterliche Missionen. Danach hatte sie ihre Kleider, die sie unter einem schlichten braunen Kimono verbarg, wieder auf die schwarze Seite gedreht.

»Das sind Pilger«, erklärte Yori.

»Wir könnten sie bitten, für unsere Flucht zu beten!«, scherzte Saburo mit einem angestrengten Lächeln, das verriet, wie nervös er war.

Jack sah, wie die Samurai sich am Kai entlangarbeiteten und mit jedem Schritt näherkamen. »Ich glaube, wir brauchen mehr als Gebete.«

»Offenbar sind wir in dem Dorf Tomo«, sagte Yori. »Anhänger des großen Heiligen Kobo Daishi setzen von hier zur Insel Shikoku über und besuchen dort auf einer Wallfahrt achtundachtzig zu seinen Ehren errichtete Tempel.«

»Aber warum sind sie alle in Weiß gekleidet?«, fragte Jack.

»Im Buddhismus ist Weiß die Farbe der Reinheit und des Todes. Sie symbolisiert, dass der Pilger, der zu einer Wallfahrt aufbricht, bereit ist zu sterben. Diese Gefahr besteht auch tatsächlich. Die Reise der Pilger, die alle Tempel besuchen wollen, führt über hohe Berge, durch tiefe Täler und an zerklüfteten Küsten entlang. Sie dauert mindestens zwei Monate und die Pilger sind für sämtliche Bedürfnisse auf Almosen angewiesen.«

»Das verdient Bewunderung«, sagte Jack. »Es bedeutet aber auch, dass die Samurai uns unter den Pilgern sofort entdecken würden.«

»Nicht, wenn wir selber Pilger sind«, erwiderte Miyuki. In ihre Augen war ein listiges Funkeln getreten. »Hast du denn schon alles vergessen, was du als Ninja gelernt hast, Jack?« Sie lächelte spöttisch. »Shichi hō de – die sieben Arten des Gehens.«

Jack fiel ein, wie er sich einmal als Mönch verkleidet hatte, um während eines Auftrags nicht entdeckt zu werden. »Natürlich! Ninja sind ja Meister der Verkleidung und Nachahmung.«

»Aber wo bekommen wir die passenden Kleider her?«, fragte Saburo.

»Von anderen Pilgern«, antwortete Miyuki, als liege die Antwort auf der Hand.

Yori schürzte unbehaglich die Lippen. »Zu stehlen verstößt gegen meine Gelübde.«

»Wir borgen sie ja auch nur aus«, erklärte Miyuki lächelnd. »Die Pilger nehmen doch o-settai an?«

Yori nickte. »Es ist Brauch, dass sie ein Geschenk nicht ablehnen dürfen.«

»Wunderbar«, sagte Miyuki. Sie nahm einen Tonkrug, der neben der Lampe stand, und füllte rasch vier Becher mit Sake. »So eine lange Wallfahrt macht doch sicher durstig.«

4O-settai

Das Bimmeln von Glöckchen kündigte das Eintreffen weiterer Pilger an.

»Wir haben Glück«, sagte Jack. Vier Pilger kamen die Gasse neben der Brauerei entlang.

»Du versteckst dich«, befahl Miyuki.

Jack schlüpfte hinter einen Stapel Fässer.

Miyuki vergewisserte sich, dass draußen keine Samurai zu sehen waren, und schob die Tür auf. »Und jetzt mach es so, wie ich gesagt habe, Yori.«

Yori nickte ein wenig widerstrebend. Er war mit Miyukis Methoden nicht einverstanden, wusste aber, dass sie keine andere Wahl hatten. Also schlüpfte er aus der Brauerei und trat den Pilgern in den Weg. »Mein Herr entbietet Euch o-settai«, sagte er mit einer tiefen Verbeugung. »Einen Becher seines besten Sake gegen Euren Segen für seine Brauerei.«

Die vier Pilger, die eine solche Spende nicht ablehnen durften, sie in diesem Fall aber auch nur zu gern annahmen, folgten Yori zur offenen Tür, an der Saburo sie begrüßte und nach drinnen bat. Die ersten beiden Pilger waren alte Männer mit wettergegerbten Gesichtern, dem Aussehen nach Brüder, der dritte eine Frau mittleren Alters und der vierte ein junger Mann, schlank und hochgewachsen wie eine Bambusstange.

Jack beobachtete von seinem Versteck aus, wie Miyuki jedem Pilger einen vollen Becher überreichte. Die vier nahmen die Gabe dankbar an und tranken den Reiswein. Die Brüder leerten ihre Becher auf einen Zug und leckten sich die Lippen. Anschließend legten alle vier die Hände zum Gebet aneinander, wie der Brauch es vorschrieb, und begannen ein Mantra zu sprechen. »Namu daishi henjo kongo …«

Yori hatte Jack erklärt, die Pilger würden diese Worte dreimal wiederholen und dann ein osame-fuda überreichen, einen Papierstreifen mit ihrem Namen und ihren guten Wünschen für die Brauerei.

Dazu kam es allerdings nicht mehr.

Die Frau wurde als Erste ohnmächtig. Der Becher glitt ihr aus den Händen und fiel klappernd auf die Dielen. Saburo trat sofort vor, fing die Frau auf und bettete sie auf den Boden. Die beiden Brüder folgten als nächste. Sie sackten zusammen wie Marionetten, deren Fäden man durchgeschnitten hatte. Der junge Mann, der bereits unsicher schwankte, starrte seine Gefährten entsetzt an. Dann begann er um Hilfe zu rufen und rannte zur Tür.

Miyuki sprang sofort auf seinen Rücken und drückte den Daumen auf einen Druckpunkt am Halsansatz. Der Schrei erstarb und der Mann sackte zu ihren Füßen zusammen.

»Du hast versprochen, dass du niemandem wehtust!«, rief Yori.

»Keine Sorge«, erwiderte Miyuki und lächelte ihn beruhigend an. »Er hat nur schreckliche Kopfschmerzen, wenn er wieder zu sich kommt.«

»Und die anderen?« Jack tauchte aus seinem Versteck auf. Er untersuchte die bewusstlose Frau und die beiden bewegungslos daliegenden Brüder.

»Ich habe nur so viel Gift in den Sake geschüttet, dass sie einige Stunden bewusstlos sind«, erklärte Miyuki. »Einige Körner mehr und sie wären jetzt wirklich tot.«

»Gut gemacht, Miyuki«, lobte Jack, nachdem er sich überzeugt hatte, dass ihre Opfer noch atmeten.

Sie zogen den Pilgern rasch die Kleider aus und legten sie selber an. Der klein gewachsene Yori versank in Hose und Jacke und musste Beine und Ärmel aufkrempeln. Jack befürchtete für sich das entgegengesetzte Problem – als Ausländer war er im Vergleich zu den Japanern groß –, aber er hatte Glück, weil der junge Pilger so hoch gewachsen war.

Yori half ihm dabei, das blaue Tuch anzulegen. »Das ist eine wagesa, ein Stoffstreifen, der symbolisch für die Kutte des Mönchs steht und deine Hingabe an Buddha zeigt.« Yori reichte ihm die Gebetsperlen. »Das sind die nenju. Die Zahl der Perlen entspricht den einhundertacht bonnō.«

»Was sind bonnō?«, fragte Jack. Er strich mit den Fingern über die Holzperlen, während er Yori aufmerksam zuhörte. Wenn er als echter Pilger durchgehen wollte, musste er diese Dinge unbedingt wissen.

»Das sind die in die Irre führenden Begierden, die die Menschen in samsara festhalten, der Welt des Leidens. Als wahrer Gläubiger musst du wagesa und nenju bei dir haben.«

Jack nahm den Pilgerstab. »Und was bedeutete die Glocke am Griff?«

»Sie ist ein omamori, wie das Amulett, dass Sensei Yamada dir geschenkt hat«, erklärte Yori und zeigte auf das kleine, an Jacks Bündel hängende rotseidene Beutelchen. »Sie beschützt den Reisenden auf der Straße.«

»Hm, diese Pilger hat es nicht beschützt«, meinte Saburo kichernd und betrachtete die reglos auf dem Boden Liegenden, während er seinen beträchtlichen Bauch in die Kniehosen eines der beiden Brüder zwängte.

Yori verdrehte nur die Augen über die respektlose Bemerkung des Freundes und fuhr dann fort: »Behandle den Stock mit Achtung. Er steht für den Leib Kobo Daishis, dessen Geist die Pilger auf ihrem Weg begleitet.«

Jack nickte und betrachtete den Stock genauer. In den Griff waren vier Schriftzeichen geschnitzt. Dank Akiko sprach Jack nicht nur fließend Japanisch, sondern kannte auch die wichtigsten Schriftzeichen. Die Zeichen auf dem Stock wären ihm allerdings auch ohne dieses Vorwissen sofort vertraut gewesen:

»Die fünf Ringe«, sagte er leise zu Miyuki, die bereits fertig angezogen war und die bewusstlosen Pilger wegschleifte, damit man sie vom Eingang aus nicht sehen konnte.

»Die buddhistischen Mönche verwenden sie für geistige Zwecke«, antwortete Miyuki rasch und bedeutete Jack mit einem Blick, nichts von ihren Ninja-Künsten zu verraten, auch nicht seinen Freunden.

Also schwieg er. In die Lehre der fünf Ringe hatte ihn der Großmeister der Ninja eingeführt. Es handelte sich um die fünf grundlegenden Elemente der Welt, die im Leben der Ninja eine große Rolle spielten. Die Ninja machten sich die Kraft und Wirkung dieser Elemente in ihren Kampf- und Überlebenstechniken zunutze. Eben deshalb waren sie so gefährliche und gefürchtete Gegner.

Jack legte den Stock beiseite und wandte seine Aufmerksamkeit der weißen Tasche eines der Pilger zu. In ihr fand er Räucherstäbchen, Kerzen, ein Buch mit Sutren, Münzen, einige Glöckchen, die beim Rezitieren der Sutren verwendet wurden, ein kleines Notizbuch und einen Vorrat von Papierstreifen mit dem Namen des Pilgers. Er zog das Notizbuch heraus, um Platz für seine eigenen Sachen zu schaffen.

»Ich würde das Buch lieber mitnehmen«, meinte Yori. »Man lässt es beim Besuch eines Tempels abstempeln. Vor allem aber ist es eine Reiseerlaubnis. Du brauchst es für die Überfahrt nach Shikoku.«

Jack steckte das Buch gehorsam wieder ein und nahm stattdessen die Glöckchen heraus. Jetzt reichte der Platz gerade aus, um seinen kostbarsten Besitz zu verstauen – den Portolan seines Vaters. Das Logbuch war für ihn nicht nur ein wichtiges Andenken, sondern sozusagen seine Fahrkarte nach Hause. Jeder, der von der Bedeutung des Portolans wusste, wollte ihn haben. Denn wer ihn besaß, beherrschte die Handelswege zwischen den Ländern. Und Jack hatte seinem Vater versprochen, das Buch nicht in falsche Hände fallen zu lassen. Er hatte es unter Einsatz seines Lebens gegen alle Gefahren verteidigt und wollte es auch jetzt auf keinen Fall zurücklassen.

Das einzig andere Wertvolle, das er abgesehen von seinen Schwertern noch besaß, war die schwarze Perle, die Akiko ihm am Tag seines Aufbruchs nach Nagasaki geschenkt hatte. Ein Kaufmann, von dem sie ihm vorübergehend gestohlen worden war, hatte sie in eine goldene Haarnadel eingearbeitet, was aber insofern ein Vorteil war, als Jack sie nun innen am Kragenaufschlag seines Kimonos befestigen konnte. Außerdem enthielt sein Bündel noch vier Wurfsterne, eine mit Wasser gefüllte Kalebasse und einigen Proviant. Während er überlegte, wo er diese Sachen verstauen sollte, nahm Yori die Münzen aus seiner Pilgertasche, legte sie zu einem kleinen Stapel aufeinander und fügte ein wenig Reis von seinem eigenen Vorrat hinzu.

»Aber wir werden den Proviant noch brauchen«, meinte Saburo.

»Wir sind keine Diebe«, erwiderte Yori vorwurfsvoll. »Wir sollten den Pilgern dafür, dass sie uns unfreiwillig geholfen haben, wenigstens ein Geschenk dalassen.«

Schuldbewusst nahm auch Jack die Münzen seines Pilgers aus der Tasche und legte zwei seiner Reiskuchen daneben. Saburo, der sich von seinen Reiskuchen nicht trennen mochte, stiftete stattdessen einen Samuraihelm, der auf dem Scheitel eine runde Delle hatte.

»Den können sie verkaufen, wenn sie wollen.«

»Aber damit kannst du deinem Vater doch beweisen, dass du heldenhaft gekämpft hast«, rief Jack. Er wusste noch, dass die Delle von einer Kugel stammte, die Saburo beim Kampf gegen die Banditen getroffen hatte.

»Er ist zu sperrig zum Mitnehmen. Und wenn wir unseren Verfolgern nicht entkommen, spielt es sowieso keine Rolle mehr, ob ich ein Held bin oder nicht!«

»Beeilt euch«, drängte Miyuki und legte noch einen Reiskuchen dazu. »Die Samurai sind bestimmt gleich da.«

»Was tun wir mit unseren Waffen?«, fragte Saburo und hielt seine Schwerter in die Höhe. »Die sind für einen Pilger nicht unbedingt typisch.«

»Ich habe eine Idee.« Jack zog hinter dem Fässerstapel, hinter dem er sich versteckt hatte, einen Sack aus Leinen hervor. »Hier hinein, dann sehen sie aus wie irgendwelche Waren, die auch mit aufs Schiff sollen.«

Sie verstauten ihre Waffen, Bündel und restlichen Vorräte in dem Sack, dann setzten sie die konischen Strohhüte der Pilger auf. Jack zog sich die Krempe tief über das Gesicht und spähte durch die Tür. Ein Trupp Samurai betrat gerade das Lagerhaus gegenüber.

»Schnell!«, sagte er. »Gehen wir.«

Sie gesellten sich zu den Pilgern, die vor dem Lagerhaus standen. Saburo trug den Sack. Am liebsten wären sie zum Schiff gerannt.

»Nicht rennen«, zischte Miyuki, als sie sich der Anlegestelle näherten.

»Aber zwei Samurai kommen in unsere Richtung!«, flüsterte Yori in Panik.

»Geh einfach ganz normal weiter«, erwiderte Miyuki mit zusammengebissenen Zähnen.

Die Samurai kamen noch näher, doch galt ihre Aufmerksamkeit zum Glück den Gassen und Gebäuden. Yori und Miyuki gingen unbemerkt an ihnen vorbei. Doch die Männer waren so auf ihre Suche konzentriert und Jack so damit beschäftigt, den Kopf gesenkt zu halten, dass ein Samurai versehentlich mit ihm zusammenstieß.

Er fuhr herum und sah Jack böse an.

»Sumimasen«, entschuldigte sich Jack. Er verbeugte sich tief und hielt den Blick demütig gesenkt.

Miyuki und die anderen wurden langsamer, Saburo steckte die Hand in den Sack und griff nach seinem Langschwert, Miyuki hielt unter ihrer Jacke bereits einen Wurfstern in der Hand.

Der Samurai trat vor Jack und legte die Hand an die Schwerter in seinem Obi. Jack hielt die Luft an und machte sich darauf gefasst, gleich wegzurennen.

»Entschuldigt«, sagte der Samurai und zog eine Münze aus dem Beutel an seinem Gürtel. »Ich will das Unglück nicht herausfordern. Bitte nehmt mein o-settai an.«

Entgeistert nahm Jack das Geld und wollte schon weitergehen, da fiel ihm das Ritual ein, mit dem er sich bedanken musste. Er legte die Hände aneinander und sagte mit gesenktem Kopf dreimal »Namu daishi henjo kongo«. Anschließend gab er dem Samurai einen Namensstreifen. Der Soldat nickte zufrieden und nahm die Suche nach den Flüchtlingen wieder auf, ohne zu ahnen, wie nahe er ihnen gewesen war.

5Gezeitenwechsel

»Geschafft!«, seufzte Yori, als sie ihre Pilgerbücher mit der Reiseerlaubnis vorgezeigt hatten und an Bord des nach Shikoku auslaufenden Schiffs gingen.

Jack nickte. »Dank Miyuki und deiner Kenntnisse als Pilger.«

Sie suchten sich einen Platz am Bug, verstauten dort den Leinensack und setzten sich. Während die anderen Passagiere damit beschäftigt waren, sich für die Überfahrt einzurichten, nutzte Jack die Gelegenheit, sich ein wenig umzusehen. Das Schiff war ganz anders gebaut als der gewaltige Dreimaster, auf dem er nach Japan gekommen war. Es hatte nur einen Mast mit einem rechteckigen Leinensegel, außerdem einen flachen Kiel und ein breites, offenes Deck. Es war nur ein Drittel so groß wie die Alexandria und bot Platz für fünfzig Passagiere. Zwischen den Passagieren und im Frachtraum stapelte sich die Ladung, bestehend aus Reisballen und Lampenöl. Die hochgezogenen Seitenwände bestanden aus rautenförmigen Gittern aus Bambuslatten, an dem erhöhten Deck hinten war das große Steuerruder mit einer extralangen Pinne angebracht. Für Jack sah es mehr wie ein Küstenfahrzeug als wie ein hochseetüchtiges Schiff aus, aber es machte immerhin einen einigermaßen stabilen Eindruck. Seine Anspannung ließ ein wenig nach. Das Schiff konnte jeden Moment ablegen.

»Noch sind wir nicht in Sicherheit«, warnte Miyuki und blickte zum Kai zurück.

Soeben hatte eine Samuraipatrouille die Brauerei betreten.

»Warum fahren wir nicht los?«, fragte Saburo ungeduldig.

Das Schiff war voll besetzt, doch der Kapitän schien es nicht eilig zu haben.

Miyuki zuckte die Schultern. »Vielleicht ist der Wind zu schwach?«

Jack schüttelte den Kopf. »Davon haben wir mehr als genug.«

Yori wandte sich an einen gutmütig aussehenden Mann, der neben ihnen saß, das Meer betrachtete und vor sich hin murmelte. »Entschuldigung«, sagte Yori, »warum fahren wir nicht?«

Der Mann sah ihn verwirrt an, wie aus einer tiefen Trance erwacht, dann lächelte er freundlich und antwortete leise:

»Halbrund des Hafens,

Im Wechsel der Gezeiten

fließt mein Leben ein und aus.«

Jack, der die unverständliche Antwort hörte, überlegte, ob der Mann vielleicht nicht ganz richtig im Kopf war.

Der Mann sah Yori erwartungsvoll an. Um seine Lippen spielte ein unsicheres Lächeln. »Also … was meint Ihr dazu?«

Yori überlegte erst eine Weile, bevor er antwortete. »Euer Haiku ist so tief und bewegend wie das Meer.«

Der Mann begann angesichts dieses elegant formulierten Lobs zu strahlen. »Ihr seid auch ein Dichter!«, rief er.

Yori verneigte sich bescheiden.

»Es wäre mir eine Ehre, ein Haiku von Euch hören zu dürfen«, fuhr der Dichter erwartungsvoll fort.

»Natürlich«, antwortete Yori, bemüht, angesichts der drohenden Entdeckung durch die Samurai die Ruhe zu bewahren. »Aber wir haben uns eben gefragt, warum das Schiff noch nicht ausgelaufen ist.«

Die Frage schien den Dichter zu überraschen. »Wir warten auf den Gezeitenwechsel.«

»Und wann genau findet der statt?«, wollte Saburo wissen, während Jack wieder verstohlen in Richtung der Brauerei blickte. Die Samurai waren noch nicht wieder aufgetaucht, aber sicher hatten sie die bewusstlosen Pilger inzwischen gefunden.

»Wenn es an der Zeit ist«, erklärte der Dichter. »Wenn das Wasser steigt, fließen Gezeitenströme von Ost und West in Richtung Land und stoßen unmittelbar vor der Küste von Tomo aufeinander. Fällt das Wasser dagegen, fließen sie wieder in beide Richtungen ab – und nehmen uns und alle Passagiere dieses Schiffes mit. Tomo ist nicht nur die Zwischenstation einer Reise, sondern ein Ort, an dem man darauf wartet, dass das Leben eine Wende nimmt.«

In diesem Augenblick stürzten die Samurai aus der Brauerei und begannen, die am Kai entlangwandernden Pilger zu kontrollieren. Andere liefen ins Dorf zurück, wieder andere kamen auf die Anlegestelle zu. Jack und seine Freunde konnten, da sie ja keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten, nur still dasitzen und zusehen, wie die Samurai näher kamen. Jack wusste, dass sein Leben an einem Wendepunkt angelangt war. Entweder sie konnten fliehen oder sie mussten sterben. Ihr Schicksal hing jetzt offenbar von der Anziehungskraft des Mondes ab.

Zwei Samurai hatten bereits das erste Schiff in der Reihe betreten, da gab ihr Kapitän den Befehl, das Segel zu hissen und abzulegen. Jack spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Stumm betete er, der Kapitän möge den Aufruhr an der Anlegestelle nicht bemerken.

Die Samurai eilten den Anlegesteg entlang, um zu verhindern, dass die Schiffe ablegten. Jack wechselte einen besorgten Blick mit Miyuki. Wie konnten sie jetzt noch hoffen, ihnen zu entkommen? Die Soldaten hatten schon die Mitte des Stegs erreicht, als ihr Schiff sich langsam in Bewegung setzte und ein Windstoß das Segel blähte.

Doch hatten Jack und seine Freunde das Gefühl, dass sie nur quälend langsam vorankamen. Die Samurai schrien dem Kapitän etwas zu und rannten den Steg entlang, so schnell sie konnten, um das Schiff noch einzuholen. Zum Glück übertönte das im Wind knatternde Segel ihr Geschrei, und der Kapitän war ganz darauf konzentriert, das Schiff durch die enge Mündung des Hafens zu steuern. Und dann nahmen sie plötzlich Fahrt auf. Die zurückweichende Flut hatte sie erfasst und trug sie hinaus auf das Binnenmeer. Sie waren gerettet.

Zum ersten Mal seit über einem Jahr fiel jede Anspannung von Jack ab. Sie waren den Samurai entkommen und er war auf das Meer zurückgekehrt. Saburo schlief fest und schnarchte, sein Pilgerhut schützte sein Gesicht vor der hellen Frühlingssonne. Yori tauschte mit dem Dichter Haikus aus, während die stets wachsame Miyuki über das Meer blickte, um zu prüfen, ob ihnen von Tomo ein Boot folgte. Aber sie kamen inzwischen so schnell voran, dass die Samurai sie unmöglich noch einholen konnten.

Jack saß vorn am Bug, der schäumend durch die Wellen schnitt. Ab und zu riskierte er einen Blick nach oben, ließ sich den Wind ins Gesicht blasen und atmete die Meeresluft tief ein. Das unaufhörliche Stampfen und Schlingern des Schiffs empfand er als tröstend wie die Arme einer Mutter, und das gegen den Rumpf klatschende Wasser erfüllte ihn mit einem vertrauten Schauder. Er war wieder in seinem Element.

Ihm war nicht bewusst gewesen, wie sehr er das Leben auf dem Wasser vermisst hatte – das Schwanken der rauen Deckplanken unter den Füßen und das Knallen der im Wind schlagenden Segel. Fast vier Jahre waren seit der Fahrt auf der Alexandria vergangen, es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Nach der jahrelangen Ausbildung an der Niten Ichi Ryū war er inzwischen mehr Samurai als Seemann. Allerdings waren seine Instinkte als Seemann tief in ihm verwurzelt und nicht verloren gegangen. Dafür hatte sein verstorbener Vater gesorgt. Ein schneller Blick sagte ihm, dass der Kapitän nicht das Beste aus seinem Schiff herausholte. Mit einer anderen Stellung des Segels hätte er mindestens noch einen Knoten zulegen können. Unwillkürlich achtete Jack auch auf andere für das Steuern des Schiffes wichtige Hinweise. Die hellere Färbung des Wassers zeigte an, wo das Meer relativ flach war, an der Position der Sonne konnte er ablesen, dass sie an der Küste entlang in südwestliche Richtung fuhren.

Während er diese Beobachtungen anstellte, glich er unbewusst durch Verlagern des Oberkörpers die Bewegung des sich hebenden und senkenden Bugs aus.

Man kann dem Meer den Seemann wegnehmen, aber nicht dem Seemann das Meer.

Das hatte sein Vater jedes Mal bei seiner Rückkehr von einer Reise im Scherz zu seiner Mutter gesagt. Und es dauerte tatsächlich nie lange, bis er erneut den Drang verspürte, in See zu stechen. Auch Jack hatte das Meer angezogen und er hatte wie sein Vater Schiffssteuermann werden wollen. Die beiden Jahre, in denen er als »Mastaffe« von England nach Japan gefahren war, gehörten zu den glücklichsten seines Lebens. Unterwegs hatte sein Vater ihm beigebracht, wie man nach den Sternen navigierte, das Wetter richtig einschätzte, einen Kurs bestimmte und, vor allem, wie man die geheimnisvollen Chiffren und Anmerkungen im Portolan las – der Text des Logbuchs war verschlüsselt, damit unbefugte Augen nicht seine kostbaren Geheimnisse aufdecken konnten.

Während Jack über das Binnenmeer mit seinen zahllosen, wie Edelsteine schimmernden Inseln blickte, meinte er geradezu, seinen Vater im Geist neben sich zu spüren. Mit einem wehmütigen Seufzen überließ er sich seinen Erinnerungen.

Auch viele andere Passagiere – eine erstaunlich bunte Mischung von Pilgern, Kaufleuten, zwei Höflingen, einem Mönch und verschiedenen weiteren Reisenden – genossen den Blick, der sich ihnen bot, und hingen ihren Gedanken nach.

Ein Mann stand auf und näherte sich mit unsicheren Schritten dem Bug. Jack nahm ihn aus den Augenwinkeln wahr. Als er das Samuraischwert an seiner Hüfte sah, überkam ihn einen kurzen Moment lang Panik. Aber der Mann war seekrank und grün im Gesicht, er interessierte sich nicht für ihn. Er war untersetzt und machte mit seinem Stoppelbart und den ungekämmten Haaren einen verwahrlosten Eindruck. Seine Arme waren mit den Narben zahlreicher Schlachten übersät. Er trug einen schäbigen braunen Kimono ohne ein Wappen, das seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Samuraifürsten angezeigt hätte. Demzufolge, vermutete Jack, war er ein Ronin, ein herrenloser Samurai.

Das Schiff neigte sich unvermutet über einen Wellenkamm und der Ronin geriet ins Schwanken. Er versuchte, das Gleichgewicht zu halten, und stieß dabei versehentlich gegen den Leinensack. Eins von Jacks Schwertern fiel heraus und glitt ein Stück aus der Scheide. Der rasiermesserscharfe Stahl blitzte in der Sonne auf und der in die Oberfläche eingravierte Name Shizu war deutlich zu sehen.

Ungläubig starrte der Ronin auf das Samuraischwert und dann auf Jack.

»Was für ein Pilger reist mit Shizu-Schwertern?«

6Kein-Schwert-Schule

»Antworte mir, Pilger!«, sagte der Ronin barsch. »Oder vielleicht bist du ja überhaupt kein Pilger …«

Jack wagte es nicht, den Kopf zu heben und seine wahre Identität preiszugeben. Aber er wusste auch nicht, was er antworten sollte. Saburo erging es genauso – aus dem Schlaf hochgeschreckt, starrte er nur benommen auf das herausgerutschte Schwert. Sie waren in Lebensgefahr. Miyuki wollte das Schwert schon an sich reißen, da trat Yori zwischen Jack und den Ronin.

»Das Schwert ist ein Geschenk«, erklärte er unschuldig. Miyuki schob es unterdessen schnell wieder in den Sack, bevor noch andere Passagiere es bemerkten.

»Ein Geschenk?«, fauchte der Ronin ungläubig. »Shizu-Schwerter wären ein ganz unglaubliches Geschenk.«

Jeder Samurai kannte Shizu-san, einen der größten Schwertschmiede aller Zeiten. Seine Schwerter genossen aufgrund ihrer Qualität und des ihnen innewohnenden Geistes der Güte höchste Wertschätzung. Da es nur noch wenige gab, die eindeutig von ihm selbst geschmiedet worden waren, waren sie unschätzbar wertvoll.

Yori nickte ernst. »Sie sind ein Opfer für die Götter des Oyamazumi-Schreins auf Omishima. Wir spenden sie im Auftrag unseres Sensei.«

Der Ronin musterte Yori misstrauisch. »Unser Schiff fährt aber nicht nach Omishima.«

»Wir … wollen nach der Wallfahrt noch nach Omishima«, sagte Yori, aber er klang wegen des kurzen Zögerns nicht überzeugend. Der Ronin blieb skeptisch.

»Welcher Schwertschule gehört ihr an?«, wollte er wissen.

Yori überlegte kurz. »Der Kein-Schwert-Schule.«

Da die Niten Ichi Ryū auf Befehl des Shogun geschlossen worden war, lag es natürlich nahe, den Namen einer anderen Schule anzugeben. Aber selbst Jack war von Yoris Wahl eines so absurden Namens überrascht.

Der Ronin schnaubte verächtlich. »Was für einen albernen Kampfstil lernt man dort?«

Yori schluckte nervös. »Wollt Ihr eine Kostprobe?«

Der Ronin grinste boshaft. »Einen Zweikampf?«, knurrte er. »Nur zu.«

Er begann, die anderen Passagiere an den Rand des Decks zu drängen, um Platz für den Kampf zu schaffen. Jack packte Yori am Ärmel. »Was fällt dir ein?«

»Wir müssen diesen Ronin loswerden«, beharrte Yori. »Sonst deckt er noch auf, wer du bist.«

»Aber musstest du ihn gleich zum Zweikampf herausfordern?« Jack wusste, dass Yori im Grunde seines Herzens kein Kämpfer war, und fürchtete um das Leben des Freundes. Der Ronin mochte seekrank sein, aber den Narben auf seinen Armen nach zu schließen war er ein kampferprobter, gefährlicher Gegner. »Lass mich deinen Platz einnehmen«, schlug Jack vor.

»Vertrau mir«, sagte Yori. Er wirkte gefasst. »Mit dem komme ich zurecht.«

»Was ist hier los?« Der Kapitän, ein Schrank von Mann mit einem wettergegerbten Gesicht wie altes Leder, kam die Treppe vom hinteren Oberdeck herunter.

»Ein Zweikampf!«, rief ein Händler aufgeregt.

»Hier an Bord wird nicht gekämpft«, entschied der Kapitän.

Doch der Ronin wollte nicht das Gesicht verlieren. »Ich bin herausgefordert worden. Es geht um meine Ehre, wir müssen kämpfen.«

»Auf meinem Schiff gelten meine Regeln«, beharrte der Kapitän.

»Ich bin ein Samurai«, sagte der Ronin. »Ihr tut, was ich sage.«

»Und ich bin der Kapitän«, gab der Kapitän völlig unbeeindruckt zurück. »Auf See tut ihr, was ich sage.«

Die beiden starrten einander an. Auf dem Schiff wurde es still.

Yori machte den Kapitän mit einem Hüsteln auf sich aufmerksam und verbeugte sich. »Vielleicht hättet Ihr die Güte, uns das Ruderboot auszuleihen? Dann könnten wir unseren Zweikampf auf der Insel da drüben austragen und keiner Eurer Passagiere würde verletzt.«

Yori zeigte auf einen unbewohnten, aus dem Meer ragenden Felsen, der mit Bäumen bewachsen und von einem kleinen Strand umgeben war. Der Kapitän sah Yori unschlüssig an. Die Aussicht auf einen Kampf zwischen einem Samurai und einem Pilger hatte ihn neugierig gemacht.

»Einverstanden«, sagte er schließlich und gab den Befehl, vor Anker zu gehen.

Zwei Matrosen ließen das Ruderboot über die Bordwand zu Wasser. Der Ronin kletterte die Strickleiter hinunter und wartete ungeduldig auf Yori.

»Lass mich mitkommen«, schlug Saburo vor.

»Ich gehe lieber allein«, erwiderte Yori und griff nach der schwankenden Leiter.

»Willst du nicht wenigstens das hier mitnehmen?«, fragte Miyuki und hielt ihm das Messer hin, das sie in ihrem Gewand versteckt hatte.

Yori schüttelte den Kopf und stieg zu dem Boot hinunter. Der Ronin ergriff die Riemen und begann zu rudern. Jetzt konnten Jack, Saburo und Miyuki den Zweikampf nicht mehr verhindern. Von der Reling aus sahen sie zu, wie sich ihr Freund in Richtung Insel entfernte.

»Der Ronin wird ihn in Stücke hauen«, seufzte Saburo traurig.

Inzwischen hatten sich Passagiere und Mannschaft vollzählig auf dem Deck versammelt und warteten ungeduldig auf den Beginn des ungleichen Zweikampfs. Wie Jack bemerkte, schlossen Händler und Höflinge bereits Wetten auf den Ausgang ab – und Yori war nicht der Favorit.

Das Boot näherte sich dem kleinen Strand, der Ronin legte die Riemen ins Boot und sprang auf den Sand. Im nächsten Moment hatte er schon ein blutbeflecktes Schwert gezogen und wartete geduckt und breitbeinig auf Yori.

»Jetzt zeig, was du kannst, Pilger!«, höhnte er.

Yori stand auf, um seinen Gegner zum Strand zu folgen. Jack schlug das Herz bis zum Hals. Aber da ergriff Yori plötzlich einen Riemen und stieß das Boot ins Wasser zurück. Empört und vollkommen verwirrt sah der Ronin zu, wie sein Gegner ihn allein am Strand zurückließ.

Yori ruderte seelenruhig zum Schiff zurück. »Da habt Ihr Eure Kostprobe, wie man den Gegner besiegt … ganz ohne Schwert!«

7Seekrank