Samurai 8: Der Ring des Himmels - Chris Bradford - E-Book

Samurai 8: Der Ring des Himmels E-Book

Chris Bradford

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Beschreibung

*** Band 8 der Bestseller-Reihe von Chris Bradford in neuem Look! *** Jacks Leben ist in Gefahr, denn Japans Herrscher hat befohlen, alle Ausländer gefangen zu nehmen und hinrichten zu lassen. Jack hat nur eine Chance: Er muss es bis nach Nagasaki schaffen und von dort ein Schiff nach England nehmen. Doch die Samurai sind ihm dicht auf den Fersen, allen voran sein alter Erzfeind Kazuki … Ein junger Engländer. Gestrandet in Japan. Ausgebildet zum Samurai. Bereit für den Kampf seines Lebens. Entdecke alle Abenteuer der "Samurai"-Reihe: Band 1: Der Weg des Kämpfers Band 2: Der Weg des Schwertes Band 3: Der Weg des Drachen Band 4: Der Ring der Erde Band 5: Der Ring des Wassers Band 6: Der Ring des Feuers Band 7: Der Ring des Windes Band 8: Der Ring des Himmels Band 9: Die Rückkehr des Kriegers Die Kurzgeschichte "Der Weg des Feuers" ist als E-Book erhältlich und spielt zwischen den Ereignissen von Band 2 und Band 3.

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2020Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2014, 2020 Ravensburger Verlag GmbHPostfach 24 60, 88194 RavensburgDie Originalausgabe erschien 2011unter dem Titel »Young Samurai. The Ring of Sky«bei Puffin Books/Penguin Books Ltd, 80 Strand,London WC2R 0RL, EnglandText Copyright © 2012 by Chris Bradford

Covergestaltung: Paul YoungLandkarte: Gottfried MüllerÜbersetzung: Wolfram StröleLektorat: Gabriele DietzAlle Rechte vorbehaltenISBN978-3-473-47598-8www.ravensburger.de

Gewidmet allen Fans dieser Serie, mögt ihr in eurem Leben dem Weg des Kriegers folgen …

PrologDer Brief

Japan, 1614

Liebste Jess,

ich hoffe, dieser Brief erreicht dich irgendwann. Bestimmt glaubst du, ich sei schon vor Jahren auf dem Meer umgekommen. Du wirst dich freuen zu hören, dass ich lebe und wohlauf bin. Vater und ich sind im August 1611 in Japan angekommen. Leider muss ich dir mitteilen, dass Vater bei einem Überfall auf unser Schiff, die Alexandria, getötet wurde. Ich habe als Einziger überlebt.

Die vergangenen drei Jahre habe ich in einer Samuraischule in Kyoto zugebracht. Ihr Leiter, ein japanischer Krieger namens Masamoto Takeshi, nahm mich in seine Obhut. Aber ich hatte es trotzdem nicht leicht.

Ein Auftragsmörder, ein Ninja, der sich Drachenauge nennt, sollte den Portolan unseres Vaters stehlen. Du erinnerst dich bestimmt an dieses Logbuch, es war für Vater sehr wichtig. Dem Ninja gelang es zwar, seinen Auftrag auszuführen, doch konnte ich das Buch mithilfe meiner Freunde, die ebenfalls Samurai sind, zurückholen.

Ebendieser Ninja hat auch unseren Vater ermordet. Ich kann dir versichern, dass der Schurke jetzt tot ist, auch wenn dich das kaum trösten wird. Er hat seine gerechte Strafe erhalten. Nur leider erweckt sein Tod Vater nicht wieder zum Leben. Ich vermisse ihn unendlich und könnte seinen Rat und seinen Schutz zurzeit gut gebrauchen.

Japan wird gegenwärtig von einem Bürgerkrieg gespalten. Ausländer wie ich sind nicht mehr willkommen. Als Flüchtling muss ich jeden Tag um mein Leben fürchten. Jetzt wandere ich in Richtung Süden, durch dieses merkwürdige, fremdartige Land. Ich versuche die Hafenstadt Nagasaki zu erreichen, in der Hoffnung, dort ein Schiff zu finden, das mich zurück nach England bringt.

Auf dem Tokaido, der Straße, auf der ich unterwegs bin, lauern allerdings zahlreiche Gefahren und viele Feinde trachten mir nach dem Leben. Hab aber keine Angst um mich. Masamoto hat mich zum Samurai ausgebildet und ich werde kämpfen, bis ich zu dir nach Hause zurückgekehrt bin.

Eines Tages kann ich dir hoffentlich persönlich von meinen Abenteuern berichten.

Möge Gott dich bis dahin schützen, geliebte Schwester.

Dein Bruder Jack

PS: Nachdem ich diesen Brief am Ende des Frühjahrs geschrieben hatte, wurde ich von Ninja entführt. Aber ich fand heraus, dass sie gar nicht meine Feinde waren, wie ich geglaubt hatte. Sie haben mir sogar das Leben gerettet und mich in der Lehre der fünf Ringe unterwiesen, der fünf großen Elemente des Universums – Erde, Wasser, Feuer, Wind und Himmel. Die Fertigkeiten im Ninjutsu, die ich mir erworben habe, übertreffen alles, was ich als Samurai gelernt habe. Aber weil unser Vater von Ninja getötet wurde, fällt es mir immer noch schwer, den Weg des Ninja in voller Überzeugung zu gehen.

1Fußspuren

Japan im Sommer 1615

Spuckend und würgend erbrach Jack einen Schwall Salzwasser. Wieder schlug eine Welle über ihm zusammen und drohte, ihn in das kalte Meer hinauszuziehen, und er krallte sich mit den Fingern in den nassen Sand. Das ständige Heranrollen der Brecher war wie das rastlose Atmen eines großen Drachen, der sich satt gefressen und ihn an die Küste ausgespuckt hatte.

Mit letzter Kraft kroch Jack den Strand hinauf. Als die Wellen ihn nicht mehr erreichen konnten, drehte er sich keuchend auf den Rücken und öffnete die Augen. Über ihm wölbte sich endlos der blaue Himmel. Keine einzige Wolke war zu sehen, keine Spur des Unwetters, das in der vergangenen Nacht gewütet hatte. Im Osten war die Sonne aufgegangen und schickte ihre wärmenden goldenen Strahlen herunter. Es würde ein schöner Sommertag werden.

Jack wusste nicht, wie lange er so dalag und sich erholte. Als er die Augen das nächste Mal öffnete, waren seine Lippen vom Salzwasser aufgesprungen und sein Kimono getrocknet. Seine Gedanken wirbelten durcheinander wie das aufgewühlte Meer, sein Körper fühlte sich wund an, zerschlagen von Wellen und Klippen. Soweit er es beurteilen konnte, hatte er sich nichts gebrochen, aber alle Muskeln taten ihm weh und an der linken Seite spürte er einen schmerzhaften Druck. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass nur das Heft seines Schwertes gegen seine Rippen drückte.

Benommen setzte er sich auf. Wie durch ein Wunder war er immer noch im Besitz seines Lang- und seines Kurzschwerts. Die Schwerter galten als Seele des Samurai, entsprechend froh war Jack, der zum Samurai und zum Ninja ausgebildet worden war, dass er sie nicht verloren hatte. In einem Land, in dem Ausländer und Christen inzwischen als Staatsfeinde galten, war er ohne sie verloren.

Auch sein Bündel hing noch an seiner Hüfte. Es sah schmutzig und zerdrückt aus, was für seinen Inhalt fürchten ließ. Jack leerte ihn auf den Sand. Eine gesprungene Kalebasse fiel heraus, einige zerdrückte Reiskugeln und drei eiserne Ninja-Wurfsterne. Zuletzt sank noch ein schweres Paket in den Sand – der Portolan seines Vaters, ein unschätzbar wertvolles Logbuch, mit dessen Hilfe man die Weltmeere sicher befahren konnte. Zu Jacks Beruhigung war das Buch noch in das wasserdichte, schützende Öltuch eingewickelt. Mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm die zerbrochene Kalebasse. Er hatte fast die ganze Nacht um sein Leben gekämpft und war geschwächt von Hunger und Durst. Mit zitternden Händen hob er das Gefäß auf und schüttete sich einige letzte Tropfen Wasser in den ausgedörrten Mund. Anschließend verschlang er heißhungrig die kalten Reiskugeln, ohne sich die Mühe zu machen, vorher den Sand abzustreifen. Eine kümmerliche, salzige Mahlzeit, die ihn aber wenigstens so weit belebte, dass er über seine Lage nachdenken konnte.

Er sah sich um. Das Meer hatte ihn an den Strand einer geschützten Bucht gespült, der im Norden und Süden durch felsige Landzungen begrenzt wurde. Hinter ihm, im Westen, führte ein steiler Hang zu einem mit Gestrüpp bewachsenen Höhenrücken hinauf. Auf den ersten Blick schien die Bucht verlassen, doch dann sah Jack am Ufer etwas im Wasser schwimmen. Er erkannte es sofort und sein Mut sank. Ausgebreitet wie eine große, ertrunkene Motte lag das zerrissene Segel der Jolle im Wasser. Es hing noch an dem abgebrochenen Mast und hob und senkte sich mit den Wellen.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass seine Freunde fehlten.

Hastig rappelte er sich auf, rannte zum Ufer und sah sich panisch um. Am Strand und im seichten Wasser lagen keine Leichen. Er suchte die Bucht und dann den Horizont nach der Jolle ab, aber sie blieb spurlos verschwunden. In ihm wuchs die Angst, Yori, Saburo und Miyuki könnten dem Meer zum Opfer gefallen sein. Doch dann entdeckte er im Sand zwei menschliche Fußspuren und seine Hoffnung lebte wieder auf.

Er kniete sich hin und untersuchte sie mithilfe seiner Kenntnisse als Ninja im Fährtenlesen genauer. Großmeister Soke hatte ihm beigebracht, Spuren anhand ihrer Größe, Gestalt, Tiefe und Anordnung zu bestimmen. Jack kam denn auch schnell zu dem Schluss, dass diese Spuren keinem seiner Freunde gehörten. Er seufzte. Ihrer Größe nach zu schließen kam als Verursacher nur ein Erwachsener infrage. Sie verliefen zwar in entgegengesetzte Richtungen, aber es war klar, dass sie von derselben Person stammten. Beide zeigten die gleiche, etwas unregelmäßige Anordnung der einzelnen Abdrücke. Die entsprechende Person hinkte entweder oder hatte einen ungewöhnlichen Gang. Und sie war beim Kommen schnell gelaufen und auf dem Rückweg regelrecht gerannt – die Ränder im Sand waren stärker verwischt und die einzelnen Abdrücke lagen weiter auseinander.

Ein mulmiges Gefühl beschlich Jack.

Er hörte Stimmen. Hastig sammelte er seine Habseligkeiten ein und lief am Ufer entlang in die entgegengesetzte Richtung auf die südliche Landzunge zu. Unterwegs hielt er weiter nach einem Lebenszeichen seiner Freunde Ausschau. Er näherte sich der felsigen Landzunge, bemerkte die Öffnung einer Höhle und hielt geradewegs darauf zu. Kaum war er in den kühlen, dunklen Innenraum eingetaucht, hörte er jemanden rufen.

»Der Gaijin ist dort drüben!«

Er spähte aus der Höhle. Ein alter Fischer mit Säbelbeinen führte eine bewaffnete Samuraipatrouille zum Strand. In den Eingang der Höhle gedrückt, beobachtete Jack, wie der Fischer zu der Stelle eilte, an der der Mast lag.

»Wo denn?«, fragte der Anführer der Patrouille, ein mürrisch dreinblickender Mann mit einem schwarzen Haarknoten und einem dicken Schnurrbart.

»Ich versichere Euch, ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen!«, rief der Fischer und zeigte mit einem krummen Finger auf Jacks Spuren im Sand. »Das Meer hat ihn an Land gespült. Er war Ausländer und hatte Samuraischwerter.«

Der Anführer beugte sich über die Spuren und folgte ihnen am Ufer entlang mit den Augen.

»Weit kann der Gaijin-Samurai nicht gekommen sein«, schnarrte er und zog sein Langschwert. »Wir werden ihn jagen wie einen Hund!«

2In der Falle

Um nicht gesehen zu werden, drang Jack tiefer in die Höhle ein. Der Fels war durchlöchert wie eine Wabe und in alle Richtungen zweigten Gänge ab. Kalter, nasser Stein umgab ihn und das Sonnenlicht, das von draußen hereinfiel, wurde immer schwächer, bis nur noch ein schwacher Schein übrig war. Von fern hörte Jack das dumpfe Brausen des Meeres wie einen urzeitlichen Herzschlag. Er folgte dem breitesten Gang in der Hoffnung, auf diesem Weg wieder nach draußen zu gelangen. Im Dunkeln stolperte er und suchte mit den Fingern nach einem Halt an den feuchten Felswänden. Er folgte einer gekrümmten Wand nach rechts, doch stellte sich dieser Weg als Sackgasse heraus und er musste umkehren.

Er versuchte den nächsten Gang. Wieder donnerte das Echo einer Welle durch die Waben und plötzlich stand Jack das Unwetter der vergangenen Nacht vor Augen: grellweiße Blitze und schwarze Wolken, prasselnder Regen und riesige Wellen, die ihr Boot wie einen Korken hin und her geworfen hatten. Seine Freunde hatten sich schreckensbleich an ihre Sitze geklammert. Jack konnte immer noch nicht begreifen, wie ihr Glück so schnell hatte umschlagen können. Ihre Flucht von der Pirateninsel war geglückt, ihr Boot war mit den nötigen Lebensmitteln ausgerüstet gewesen, sie hatten eine Karte gehabt und sogar der Wind hatte günstig gestanden. Der Fahrt nach Nagasaki schien nichts mehr im Weg zu stehen. Nur zwei Wochen hätte sie gedauert, dann hätte er auf dem Deck einer englischen Galeone gestanden, bereit für die Heimreise zu seiner Schwester Jess.

Aber das Seto-Binnenmeer hatte seine Pläne zunichtegemacht. Mitten in der dritten Nacht war aus dem Nichts ein Unwetter über sie hereingebrochen. Jack hatte es nicht vorhergesehen und ihm deshalb auch nicht ausweichen können. Ihre kleine Jolle flott zu halten hatte sein ganzes seemännisches Geschick beansprucht. Und der Sturm war immer noch schlimmer geworden. Angesichts der Gefahr, über Bord gespült zu werden, hatte er seine Freunde angewiesen, sich am Boot festzubinden. Und dann war plötzlich sein Bündel mit seinem wertvollen Inhalt weggerutscht. Aus Angst, den Portolan seines Vaters zu verlieren, hatte Jack sich danach gestreckt. Er hatte es im selben Moment zu fassen bekommen, in dem eine gewaltige Welle das Boot erfasste. Ein grässliches Knacken wie von einem brechenden Knochen ertönte, dann war der Mast abgeknickt. Das Boot war gekentert und hatte seine Besatzung ins schäumende Meer geworfen.

Jack hatte mit aller Macht versucht, zu seinen Freunden zurückzuschwimmen, doch die Strömung hatte ihn fortgerissen. Beschwert durch das Bündel und seine Schwerter, hatte er sich an den abgebrochenen Mast geklammert, um nicht unterzugehen. Seine an die gekenterte Jolle gebundenen Freunde hatten ihm etwas zugerufen, aber der heulende Wind hatte ihre Rufe übertönt. Sie waren immer weiter auseinandergetrieben und zuletzt hatte das Wellengebirge das kleine Boot verschluckt.

Seitdem hatte er Yori, Saburo und Miyuki nicht mehr gesehen. Er musste sich mit der schrecklichen Wahrheit abfinden – seine Freunde waren im Sturm untergegangen. Ertrunken, tot. Nichts konnte sie je zurückbringen.

Doch blieb ihm keine Zeit, um sie zu trauern, denn eine raue Männerstimme hallte durch die Höhle. »Die Spur führt hierhinein.«

Jack floh durch einen anderen Gang. Es war eng hier und er musste sich ducken, um nicht den Kopf an einem spitzen Felsvorsprung anzustoßen. Nach etwa zwanzig Schritten bemerkte er vor sich einen hellen Schein. Vielleicht konnte er seinen Verfolgern in diese Richtung entkommen.

Er betrat einen dämmrigen Saal. Doch wohin er auch blickte, überall sah er massiven Stein. Das Sonnenlicht, das er bemerkt hatte, fiel durch einen Spalt in der Decke hoch über ihm. Verzweifelt suchte er nach Vorsprüngen, an denen er sich hinaufziehen konnte. Doch das Wasser hatte den Felsen abgeschliffen, und selbst mit seinen Kletterkünsten bestand keine Aussicht, den schmalen Spalt zu erreichen. Er war wieder in einer Sackgasse gelandet, und diesmal konnte er nicht umkehren.

Eine Stimme rief: »Versuchen wir es hier!.« Sie klang besorgniserregend nah.

»Aber geht kein Risiko ein«, warnte der Anführer. »Tötet den Gaijin, sobald ihr ihn seht.«

Jack hörte, wie die Samurai den Gang entlangeilten, der zu dem Saal führte. Vom Unwetter geschwächt, hatte er einen Kampf vermeiden wollen, doch jetzt, in die Ecke getrieben, blieb ihm nichts anders übrig, als seine Schwerter zu ziehen und sich seinen Verfolgern zu stellen. Ein Schwall Wasser spülte über seine Füße und floss wieder ab. Er blickte hinunter und entdeckte einen Spalt im Boden der Höhle. Endlich war das Glück wieder auf seiner Seite. Wenn das Wasser hier hereinkam, musste es auch einen Weg nach draußen geben.

»Ich habe ihn!«, rief ein Samurai.

Jack ließ sich auf alle viere hinunter, schob seine Schwerter und sein Bündel in den Spalt und zwängte sich selbst hinein. Hände packten seine Füße und zogen daran, aber er konnte sich mit einem heftigen Fußtritt losreißen. Er verschwand in dem Loch wie ein Kaninchen in seinem Bau. Der Spalt verbreiterte sich zu einem abwärtsführenden Gang. Hastig kroch Jack ihn entlang. Er schürfte sich dabei Ellbogen und Knie auf.

»Lass ihn nicht entkommen!«, schrie der Anführer. »Auf seinen Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt!«

»Das Loch ist zu eng«, protestierte der Samurai.

Der Anführer fluchte. »Dann bleib hier für den Fall, dass er umkehrt. Die anderen kommen mit mir. Wir schnappen ihn uns auf der anderen Seite … wenn er es überhaupt lebend nach draußen schafft.«

3Atmen wie ein Ninja

Jack kroch weiter, so schnell er konnte, und zwängte sich mit Händen und Füßen durch den Gang. Es war stockdunkel und der Durchlass wurde wieder enger. Die Steinwände rückten von allen Seiten immer näher an ihn heran und unwillkürlich dachte er an das gewaltige Gewicht der Landzunge über ihm. Der Schweiß brach ihm aus. Platzangst überkam ihn und seine Hände begannen unkontrolliert zu zittern. Schließlich blieb er auch noch mit den Schultern zwischen zwei Felsen stecken. In Panik drehte er sich in alle möglichen Richtungen, doch er konnte sich nicht befreien. Auch das Atmen fiel ihm auf einmal schwer, als enthalte die Luft nicht genügend Sauerstoff.

Dann hörte er das unheilvolle Donnern einer Welle.

Ein Windstoß ging der unsichtbaren Wand aus Wasser voraus, die durch den engen Gang auf ihn zustürzte. Er holte tief Luft und schloss die Augen. Die Welle traf ihn mit der Wucht eines durchgehenden Pferdes. Wasser überflutete den Gang und er tauchte in das Gebrodel ein.

Er kämpfte gegen die in ihm aufsteigende Panik. Wenn er nicht ertrinken wollte, musste er den Atem anhalten, wie er es bei den Ninja gelernt hatte. Da er keine Zeit gehabt hatte, vor dem Untertauchen ein paarmal tief einzuatmen wie eigentlich notwendig, musste er so zurechtkommen. Er entspannte seine Muskeln, wie er es oft geübt hatte, sammelte seine Gedanken und begann über einen schönen Moment seines Lebens zu meditieren. Er stellte sich vor, wie er mit Akiko, seiner besten Freundin, in Toba unter dem Kirschbaum saß. Die Welle warf ihn hin und her, während er in Trance fiel und sein Herzschlag sich dramatisch verlangsamte. Der Sauerstoffbedarf seines Körpers sank und er konnte das Bedürfnis zu atmen unterdrücken.

Allerdings nur eine gewisse Zeit … höchstens einige wenige Minuten.

Das Wasser füllte den Gang ganz aus und er fürchtete schon, es würde ihn nie mehr aus seiner kalten Umarmung entlassen. Unter dem Druck der Wassermassen lösten sich seine Schultern plötzlich aus der Verengung zwischen den Felsen. Im nächsten Augenblick flossen sie in der umgekehrten Richtung wieder ab und rissen ihn mit. Zappelnd wehrte er sich, sein Puls beschleunigte sich schlagartig und seine Lungen lechzten nach Sauerstoff. Er konnte nicht mehr. Gleich würde sein Mund aufgehen und statt der erwarteten Luft Wasser einatmen …

Doch da sank der Spiegel und Jack sah sich in letzter Sekunde vor dem Ertrinken gerettet. Er tauchte mit dem Kopf aus dem Wasser auf und schnappte nach Luft. Hustend und spuckend tastete er im Dunkeln nach seinen Schwertern und seinem Bündel. Er bekam die Griffe und den Gurt zu fassen und kroch so schnell er konnte den breiter werdenden Gang entlang. Noch bevor er den Ausgang erreichte, strömte die nächste Welle herein.

Diesmal war er besser vorbereitet. Er stützte sich an den Wänden ab, holte dreimal tief Luft, behielt die Luft des letzten Atemzugs in sich und versetzte sich in meditative Trance. Das Wasser stürzte an ihm vorbei und er hatte das Gefühl, als würde ihm der Kimono vom Leib gerissen. Doch blieb er ruhig. Endlos lange rollte die Welle über ihn hinweg. Dann endlich spürte er den Richtungswechsel. Sein Bedürfnis zu atmen wurde stärker, denn das Wasser brauchte zum Abfließen viel länger, als er erwartet hatte. Seine Lungen wollten schon bersten … da sank der Spiegel endlich wieder. Gierig sog er die kostbare Luft ein, während er schon die nächste Welle näher kommen hörte. Offenbar war Flut.

Er hatte Glück gehabt, die ersten beiden Wellen zu überleben. Für eine dritte fehlte ihm die Kraft.

Hastig kroch er den Gang entlang und zog sein Bündel und seine Schwerter hinter sich her. Die Welle kam donnernd näher. Er kletterte über einige Felsen und gelangte im Dunkeln an eine Gabelung. Zeit zum Überlegen hatte er nicht, deshalb folgte er einem hellen Schein nach links. Der Gang führte nach oben zu einem großen Loch. Von hinten verfolgte ihn das Meer wie ein schäumendes Ungeheuer. Mit letzter Kraft stieg er durch das Loch und warf sich zur Seite auf ein Stück Sand. Durch das Loch stieg eine Gischtfontäne auf.

Jack blieb einen Moment lang auf dem Rücken liegen und schöpfte Atem nach seiner knappen Flucht. Er lag in einer großen Höhle mit Gezeitentümpeln und Stalaktiten. Durch den gezackten Eingang schien hell die warme Sonne. Dahinter erstreckte sich ein Strand mit schwarz glitzerndem Sand.

Ohne weitere Zeit zu verschwenden, steckte Jack seine Schwerter in den Gürtel und schulterte sein Bündel. Dann ging er zu der Felsöffnung und spähte vorsichtig hinaus. Von einigen Möwen abgesehen, war der Strand leer. Offenbar war die Samuraipatrouille noch nicht über den felsigen Landvorsprung geklettert. Jack verließ die schützende Höhle und rannte über den Strand auf einen Pfad zu, der am anderen Ende an den Klippen in die Höhe führte.

Der Sand unter seinen Füßen fühlte sich bereits warm an. Um die Mittagszeit war er wahrscheinlich unerträglich heiß. Jack hatte den Strand zur Hälfte überquert, als er zwischen den im Sand pickenden Möwen einen Gegenstand liegen sah. Beim Näherkommen flogen die Möwen auf und Jack musste zu seinem Entsetzen feststellen, dass es sich um den Kopf eines Menschen handelte.

Eigentlich hätte er darauf vorbereitet sein müssen. Die Samurai waren bekannt dafür, dass sie ihre Opfer köpften. Krieger pflegten nach einer Schlacht ihrem Feldherrn die Köpfe der von ihnen getöteten Feinde zu präsentieren. Köpfe wurden auch im Zusammenhang mit seppuku abgeschlagen, dem rituellen Selbstmord. Unter weniger ehrenvollen Umständen war das Köpfen eine grausame Form der Todesstrafe.

In diesem Fall war das unglückliche Opfer ein Junge, vielleicht ein Bauer oder gewöhnlicher Krimineller – sein Schädel war nicht rasiert und die Haare waren auch nicht zu einem Haarknoten aufgebunden wie beim herrschenden Samuraistand. Stattdessen standen sie wirr nach allen Seiten ab, als könnten sie das plötzliche Ableben ihres Besitzers noch gar nicht fassen.

Jack streifte den Kopf mit einem mitleidigen Blick und wollte weiterrennen. Er wusste, dass ihn dasselbe Schicksal erwartete, wenn er sich nicht beeilte.

»He, nanban!«

Jack riss sein Langschwert aus der Scheide und wirbelte herum, um sich gegen den Angreifer zu verteidigen. Doch da war niemand.

»Bist du blind? Hier unten!«

Jack erstarrte. Der abgeschlagene Kopf sprach mit ihm.

4Der Kopf im Sand

»Steh nicht dumm herum, sondern hilf mir«, sagte der Kopf. Er hatte die Augen gegen die helle Sonne zusammengekniffen.

»D… du lebst!«, rief Jack entsetzt und ungläubig.

»Natürlich, nanban. Stell dich vor die Sonne.«

Misstrauisch und mit gezücktem Schwert trat Jack näher und stellte sich so, dass sein Schatten auf den Kopf fiel. Er hatte auf seiner Reise durch Japan schon viele seltsame Begegnungen gehabt – von Mönchen, die ihre Gestalt veränderten, über weissagende Hexen bis zu Geistern von Kriegern –, aber dieser sprechende Kopf ließ sich einfach nicht vernünftig erklären. Doch dann wurde ihm plötzlich klar, dass man den Jungen, dem der Kopf gehörte, bis zum Hals im Sand eingegraben hatte. Er mochte ein Jahr älter sein als Jack und hatte eine flache Stirn, eine Stupsnase und große Ohren, die wie die Henkel eines Krugs von seinem Kopf abstanden. Die dicken Lippen waren von der Sonne verbrannt, auf den geröteten Wangen glänzte Schweiß. Auf der Stirn unter dem Haardschungel hatten die Schnäbel der Möwen blutige Spuren hinterlassen.

Sobald der Schatten auf sein Gesicht fiel, seufzte der Junge erleichtert. Doch dann verzog er das Gesicht und seine Nase begann zu zucken. »Kratz mich bitte an der Nase, ja?«

Jack streckte zögernd die Hand aus und rieb den Jungen mit dem Fingernagel an der Nase.

»Ein wenig tiefer … ah, tut das gut! So ein Jucken kann wirklich eine Qual sein. Hilfst du mir jetzt oder nicht?«

»Ich weiß nicht, ob ich viel für dich tun kann.«

»Sind alle nanban so schwer von Begriff?«, fragte der Junge ungeduldig. »Wie wär’s, wenn du mich ausgräbst?«

Jack warf einen Blick über die Schulter. Von der Patrouille war zwar noch nichts zu sehen, aber er hatte ganz gewiss keine Zeit, diesen Jungen auszugraben …

»Auf was wartest du noch?«, jammerte der Kopf. »Ich sterbe hier!«

Andererseits konnte er den Jungen auch nicht dem sicheren Tod überlassen. Die Sonne brannte schon jetzt heiß herunter und die Flut stieg. Der arme Kerl starb in wenigen Stunden entweder an der Hitze oder er ertrank im Wasser. Jack vergaß für einen Augenblick seine eigene Not, steckte hastig sein Schwert ein, kniete sich hin und begann, den Sand mit den Händen wegzuschaufeln. Doch dann hielt er inne.

»Nicht aufhören!«, rief der Kopf.

»Warum hat man dich überhaupt hier eingegraben?«, fragte Jack. Am Ende wurde der Junge noch zu einer Gefahr für ihn selbst.

»Meine Freunde haben sich einen Scherz mit mir erlaubt«, antwortete der Kopf und lächelte ihn munter an.

»Schöner Scherz.«

Der Kopf merkte, dass Jack ihm nicht glaubte. »Ich bin kein Mörder, wenn du das denkst, nanban. Gerade du musst doch wissen, wie es in Japan unter dem neuen Shogun zugeht. Unschuldige sind auf einmal schuldig … es sei denn, sie sind Samurai.«

Jack nickte. Er hatte seit seiner Ankunft in Japan erlebt, wie ein schwerhöriger Teehändler geköpft worden war, weil er sich nicht verbeugt hatte, und wie man christliche Priester nur wegen ihres Glaubens gehängt hatte. Unter der grausamen Herrschaft des Shogun Kamakura reichten Nationalität, Religion oder niederer Stand bereits für ein Todesurteil aus. Egal was für ein Verbrechen dieser Junge begangen hatte, eine so grausame Strafe hatte er sicher nicht verdient.

Jack grub weiter. »Wer bist du denn?«

»Benkei der Große!«, rief der Kopf.

Jack hob die Augenbrauen, als er den bombastisch klingenden Namen hörte, schwieg aber. »Ich bin Jack Fletcher aus England.«

»Ein nanban, der fließend Japanisch spricht«, sagte Benkei beeindruckt. »Und ich bin noch nie einem Südbarbaren mit Samuraischwertern begegnet. Wen musstest du dafür töten? Oder hast du sie von einem Schlachtfeld gestohlen?«

»Eine gute Freundin hat sie mir geschenkt«, erwiderte Jack und entfernte den nassen Sand, der auf Benkeis Brust drückte.

Benkei zwinkerte ihm wissend zu. »Wie du meinst, nanban.«

Jack ging nicht auf den ironischen Ton ein. »Wie lange bist du hier schon eingegraben?«

»Ach, ungefähr einen Tag.«

»Dann überrascht mich, dass du noch lebst.«

»Ich habe mit dem Mund zwei Sandkrabben gefangen«, erklärte Benkei. »Ziemlich knusprig für rohen Fisch, ehrlich gesagt. Und sie wehren sich!« Er streckte die Zunge heraus, auf der eine Schere ein rotes Mal hinterlassen hatte. »Und als vergangene Nacht der Regen herunterprasselte, hatte ich mehr als genug zu trinken. Ich bin sogar fast ertrunken.«

Jack hörte auf zu graben. »Hast du an diesem Strand noch andere Leute gesehen?«

Benkei überlegte einen Moment. »Vielleicht. Wen suchst du?«

»Drei Freunde. Einen kleinen Mönch, der Yori heißt und einen buddhistischen Pilgerstock mit Ringen trägt, einen jungen Samurai namens Saburo, der deutlich kräftiger ist, vor allem um die Hüften, und Miyuki, ein schmächtiges Mädchen mit nach allen Richtungen abstehenden schwarzen Haaren und schwarzen Augen.«

»Sind wir nicht alle auf der Suche nach so einem Mädchen?«, fragte Benkei mit einem spitzbübischen Grinsen.

»Dieses Mädchen könnte dich töten«, sagte Jack. Das Grinsen auf Benkeis Gesicht erlosch. »Hast du also einen von den dreien gesehen?«

»Grab mich zuerst aus, dann sage ich es dir.«

Jack schaufelte eifrig weiter, bis er Benkeis Arme freigelegt hatte. Anschließend gruben sie zu zweit um Benkei herum in die Tiefe, bis Jack den Jungen herausziehen konnte.

»Ich gehe nie mehr an den Strand«, sagte Benkei und klopfte den Sand aus seinem leuchtend bunten Kimono, der kunterbunt aus roten, grünen und gelben Seidenstücken zusammengenäht war. Er schüttelte seine schlaksigen Beine und eine verirrte Krabbe fiel aus seinem Untergewand. »Die hat mich die ganze Zeit gezwickt.«

»Also, wen hast du gesehen?«, fragte Jack, der auf eine Nachricht von seinen Freunden brannte.

Benkei zuckte entschuldigend die Schultern. »Leider niemanden, auf den deine Beschreibung passen würde.«

Jack fühlte sich hinters Licht geführt. »Aber du hast doch gesagt …«

»Danke fürs Ausgraben, nanban«, fiel Benkei ihm ins Wort. Er warf einen kurzen Blick auf die Landzunge hinter Jack, dann rannte er in die entgegengesetzte Richtung los. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen!«

Jack hörte hinter sich Geschrei und blickte über die Schulter. Die Samurai kamen im Laufschritt über den Strand auf ihn zu. Er drehte sich wieder um und rannte Benkei nach. Inzwischen bereute er fast schon, dass er angehalten und ihm geholfen hatte.

5Onsen

»Die sind hinter mir her, nicht hinter dir!«, rief Jack, als sie oben auf den Klippen angekommen waren.

»Mag sein, nanban, aber ich bin bei den Samurai in dieser Gegend auch nicht gerade beliebt«, erwiderte Benkei, ohne langsamer zu werden.

Der Pfad führte durch Gebüsch zu einer Kreuzung an einem einsamen Baum. Eine offenbar viel benutzte, ungepflasterte Straße folgte der Küste, ein kleinerer Weg führte landeinwärts in Richtung einer zerklüfteten Bergkette.

»Wohin?«, fragte Jack. »Ich habe keine Ahnung, wo ich bin.«

Benkei hob überrascht die Augenbrauen. »Auf Kyushu. Wenn du nach Norden gehst, kommst du nach Shimono-seki. Im Süden liegt Funai mit der Stadt Beppu, in dieser Richtung« – er zeigte auf den kleineren Weg – »das Kuju-Hochland. Aber dorthin würde ich an deiner Stelle nicht gehen, es sei denn, du willst dich hoffnungslos verirren.«

Von weiter unten hörten sie die Rufe der näher kommenden Patrouille. Außerdem sahen sie zu ihrem Schrecken zwei weitere Samurai auf der Straße von der Landzunge her in ihre Richtung rennen.

»Am besten verstecken kannst du dich in Beppu. Komm mit mir, wenn du willst.« Benkei schlug die Richtung zur Stadt hin ein.

In Ermangelung einer Alternative folgte Jack ihm. Sie eilten nach Süden und erklommen eine Anhöhe. Von dort bot sich Jack ein bemerkenswerter Anblick. Am Fuß eines Berges lag eine Stadt, deren Ausläufer sich an einer breiten Bucht des Binnenmeers entlangzogen. Was Jack aber vor allem verblüffte, waren die Dampfwolken, die aus der Umgebung der Stadt zum Himmel aufstiegen. Sie erweckten den Eindruck, als sei Beppu auf einem schwelenden Feuer erbaut worden.

Benkei bemerkte Jacks Erstaunen. »Beppu liegt … im Schatten des … Tsurumi«, erklärte er atemlos. Er zeigte auf einen gewaltigen Vulkan in der Ferne. »Der Dampf ist der Atem des Bergdrachen.«

Sie erreichten den Stadtrand. Die beiden Samurai folgten ihnen auf dem Fuße, der Rest der Patrouille kam unweit dahinter. Zweistöckige Holzhäuser mit Wänden aus Papier und Schiebetüren säumten die Straße auf beiden Seiten. Bei vielen schien es sich um Herbergen mit Gästezimmern zu handeln.

»Beppu ist ein beliebter Badeort«, fuhr Benkei fort und führte Jack durch das Gewirr der dampfenden Gassen. »Die onsen hier sind wirklich wunderbar … sie gehören zu den besten von Japan …«

Er warf einen Obstkarren um, um ihre Verfolger aufzuhalten, und die Einheimischen und Badegäste, an denen sie vorbeirannten, sahen ihnen empört nach. Einige schrien auch erschrocken auf, als sie einen blonden, blauäugigen Ausländer mitten durch ihren Ort rennen sahen.

»Adlige, Samurai, Kaufleute … nehmen weite Reisen … auf sich, um sich in diesen Quellen zu erholen …« Benkei stieß mit einem Passanten zusammen und der Mann landete unsanft auf dem Hintern. »Sumimasen!«, entschuldigte Benkei sich. Der Mann begann zu schimpfen und Benkei rannte schnell weiter.

Sie eilten durch eine Nebengasse, um die Patrouille abzuschütteln. Doch die Samurai kannten sich in der Stadt aus und Benkei hatte seine liebe Mühe, sie loszuwerden. Jack musste sich anstrengen, mit ihm mitzuhalten. Sein Bündel hüpfte auf seinen Schultern auf und ab und die Schwerter klapperten an seiner Hüfte. Unerbittlich folgte ihnen das wütende Geschrei der Samurai durch die Straßen. Überall gingen Schiebetüren auf und neugierige Einwohner spähten heraus, um zu sehen, was den Aufruhr verursachte.

»Die Besitzer der onsen behaupten, ihre Bäder wirkten Wunder an Körper und Geist«, erklärte Benkei. »Ich zeige dir eins.« Er schwenkte unvermutet nach rechts, auf ein großes, hölzernes Gebäude mit einem Dach aus Bambusstroh zu, und stürmte durch eine Doppeltür.

Jack wunderte sich über die Besichtigungstour mitten auf der Flucht, folgte ihm aber trotzdem nach drinnen. Sie schlitterten über den polierten Holzboden des Empfangsbereichs und stießen gegen einen Kübel mit perfekt arrangierten Blumen.

»Mir nach!«, rief Benkei, ohne auf die Proteste der Badewärter zu achten.

Er eilte einen Gang entlang und in einen von Dampfschwaden erfüllten Raum. Einige Badegäste lagen entspannt in einem in den Boden eingelassenen Becken, das von dem milchigen Wasser einer heißen Quelle gespeist wurde. Erschrocken über die unerwartete Störung, fuhren sie hoch und starrten ihnen mit aufgerissenem Mund wie Frösche entgegen.

»Und jetzt?«, fragte Jack, der keinen Ausgang sah.

»Falsche Abzweigung!«, rief Benkei entschuldigend und rannte zur Tür zurück.

Der erste Samurai betrat den Baderaum. Benkei nahm rasch einen mit heißem Wasser gefüllten Eimer und schüttete ihn über den Krieger. Der Samurai schnappte überrascht nach Luft, kam aber trotzdem näher, deshalb warf Benkei auch noch den Eimer hinterher. Er traf den Samurai am Kopf. Betäubt blieb er stehen und Jack streckte ihn mit einem Fausthieb vollends nieder. Im selben Moment stürzte der zweite Samurai mit gezücktem Schwert herein. Benkei riss einem entsetzten Badegast das Handtuch weg, schwang es durch die Luft und schleuderte es dem Samurai ins Gesicht. Die kurze Ablenkung verschaffte Jack die Gelegenheit, den Mann mit einem Seitwärtstritt in das dampfende Becken zu befördern. Spritzend landete er unter den entgeisterten Badegästen.

»Ich bin beeindruckt, nanban!«, sagte Benkei. »Jetzt nichts wie weg!«

Sie kehrten auf den Gang zurück, rannten ihn entlang und stürmten durch die letzte Tür. Geschrei tönte ihnen entgegen und die weiblichen Badegäste griffen hastig nach ihren Bademänteln.

»Sumimasen!«, entschuldigte sich Benkei und tat, als halte er sich die Augen zu. »Wir gehen nur schnell durch.«

Jack wandte ehrerbietig den Blick ab und sie rannten auf die andere Seite des onsen. Dort schoben sie eine weitere Tür auf und gelangten in einen gepflegten Garten mit von Steinen eingefassten Teichen und kleinen Wasserfällen. Aus verschiedenen natürlichen, mit heißem Wasser gefüllten Becken, in denen weitere Badegäste saßen, stieg Dampf auf.

»Schade, dass wir nicht bleiben können!«, rief Benkei. »Ich könnte ein Bad gebrauchen.«

Sie sprangen über einen blubbernden Teich mit Badenden, deren Haut von der Hitze gerötet war, und rannten weiter. Empörte Rufe folgten ihnen. Sie kletterten auf eine steinerne Mauer, ließen sich in die verlassene Gasse dahinter fallen und duckten sich hinter einen Holzstapel. Vorsichtig spähten sie hervor.

»Ich glaube … wir haben sie abgehängt.« Benkei wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Jack wollte schon zustimmend nicken, da ertönte plötzlich vom anderen Ende der Gasse Geschrei.

»Sofort stehen bleiben, Gaijin!«, brüllte der Samurai mit dem mürrischen Gesicht. »Und du auch, Benkei.«

Die anderen Samurai der Patrouille standen mit gezogenen Schwertern hinter ihrem Anführer.

»Offenbar habe ich mich geirrt«, sagte Benkei und ergab sich mit erhobenen Händen.

6Die neun Höllen von Beppu

»Ich verhafte dich auf Befehl des Shogun wegen Verrats!«, brüllte der Anführer und marschierte auf sie zu.

»Wie bitte?«, rief Benkei aufrichtig erschrocken. »Ich habe nur einen Beamten angeschwindelt.«

»Nicht dich, Idiot, den Gaijin. Aber glaube nicht, dass du ungestraft davonkommst. Du hängst jetzt mit drin.«

»Nimm dir eine Waffe, Benkei«, sagte Jack und zog sein Langschwert. Die Patrouille rückte vor.

»Du bist doch der Samurai, kämpf du gegen sie.« Benkei wich zurück. »Meine Mutter sagte immer, wenn du Probleme hast … lauf!«

Und Benkei nahm die Beine in die Hand und überließ es Jack, sich zu verteidigen. Angesichts einer Übermacht von zehn zu eins fand Jack, dass Benkeis Mutter in diesem Fall womöglich Recht hatte. Er schnitt die Seile durch, die den Holzstapel zusammenhielten, und stieß mit aller Kraft mit der Schulter dagegen. Polternd rollten die Hölzer durch die Gasse und den Samurai zwischen die Füße. Sie stolperten und stürzten und Jack nützte das Durcheinander aus und rannte hinter Benkei her.

Sie waren schon fast am Stadtrand angelangt, als er ihn endlich einholte.

»Wir haben sie noch nicht abgeschüttelt«, keuchte Jack.

»Natürlich nicht.« Benkei verdrehte die Augen. »Du bist des Verrats angeklagt! Gegen den Shogun höchstpersönlich! Es wäre mir lieber, ich würde noch bis zum Hals im Sand stecken!«

»Und ich wäre schon längst über alle Berge, wenn ich nicht angehalten hätte, um dir das Leben zu retten«, gab Jack zurück.

Benkei seufzte. »Stimmt auch wieder, nanban. Aber denke nicht, ich stehe deshalb in deiner Schuld. Ich glaube nicht an diesen ganzen Bushido-Quatsch.«

»Da sind sie!«, schrie jemand. Die Samuraipatrouille tauchte in einiger Entfernung hinter ihnen auf der Straße auf.

»Wir müssen wieder.« Benkei seufzte. »Tja, bleibt uns nichts anderes übrig, als die neun Höllen von Beppu zu riskieren.«

»Die neun Höllen?« Der Name klang nicht besonders tröstlich, fand Jack.

»Sie sind unsere einzige Hoffnung«, sagte Benkei ernst und kletterte einen bewaldeten Hang hinauf. »In den neun jigoku wohnen die Dämonen des Vulkans. In ihre Nähe begibt man sich nur, wenn es sein muss.«

Der Pfad, dem sie folgten, wand sich zwischen Bäumen und Büschen hindurch und führte schließlich durch verschiedene rote Tempeltore. Je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto kränklicher sahen die Bäume aus. Ihre schlaff herunterhängenden Blätter waren fleckig, die Stämme fahlweiß gebleicht wie Knochen. Dampfschwaden wirbelten um die skelettartigen Äste und erfüllten den Wald mit einer gespenstischen Stimmung. Jack fühlte sich in eine andere Welt versetzt, eine Welt der Geister, Dämonen und Drachen. Die Luft war feucht und roch beißend nach Schwefel. Aus dem Nebel drang ein bösartiges Zischen wie von einem Nest wütender Schlangen.

»Pass auf, wohin du trittst«, warnte Benkei. Er zeigte auf eine kleine Spalte im Boden, durch die pfeifend heißer Dampf entwich. »In dieser Hitze bist du genauso schnell gar wie eine Handvoll Reis.«

Jack hielt sich dicht hinter Benkei und ließ sich von ihm durch die Höllenlandschaft führen. Durch die wirbelnden Schwaden sah er tückische, mit blubberndem Schlamm gefüllte Tümpel und in giftigen Farben schillernde Seen. Einer leuchtete kobaltblau und dampfte vor sich hin wie der Kochtopf eines Riesen. In einem anderen war das Wasser stumpfweiß wie saure Milch, in einem dritten gelb wie geschmolzenes Gold.

»Wenn du in ein jigoku stürzt, wirst du bei lebendigem Leibe gekocht!«, warnte Benkei. Ein Gestank nach faulen Eiern stieg ihnen in die Nase und er hielt sich den Mund zu.

Während sie vorsichtig die verschiedenen Höllenteiche umrundeten, hörten sie die Samurai hinter sich streiten.

»Mir ist egal, was für Dämonen oder Drachen hier wohnen!«, schimpfte der Anführer. Seine Stimme klang seltsam körperlos durch den Nebel. »Der Shogun hat den Haftbefehl für diesen Gaijin persönlich unterschrieben. Verteilt euch und sucht die beiden – oder ich lasse euch selbst in dieser Hölle schmoren!«

Gedeckt durch den Nebel, eilten Jack und Benkei stumm weiter. Sie kamen an einem Teich mit blubberndem grauem Schlamm vorbei. Blasen groß wie die kahlen Schädel buddhistischer Mönche stiegen auf und zerplatzten mit einem knallenden Geräusch.

Plötzlich rissen die Schwaden auseinander und Benkei stand einem Samurai gegenüber, der ihn mit kaltem Blick fixierte und blitzschnell mit seinem Schwert nach ihm schlug. Benkei konnte sich gerade noch ducken. Fast genauso schnell hatte Jack sein Schwert gezogen. Er blockte den zweiten, auf Benkeis Bauch zielenden Schlag und stieß Benkei zur Seite und außer Reichweite des Samurai.

Der Samurai wandte sich daraufhin Jack zu und holte zu einem tödlichen Streich aus. Jack wehrte ihn mühelos ab und konterte mit einem Aufwärtsschlag. Die Spitze der Klinge sauste um Haaresbreite am Kinn des Mannes vorbei. Jack hätte ihn getroffen, hätte ihn nicht jemand von hinten gepackt. Ein zweiter, größerer Samurai hatte den Unterarm um seinen Hals gelegt und begann ihn zu würgen. Der erste Samurai sah seine Chance und schickte sich an, den Gaijin zu durchbohren. Jack konnte allerdings den Schwertarm noch frei bewegen und parierte den Angriff. Der Samurai schlug erneut zu und Jack wehrte sehr zum Ärger seines Gegners auch diesen Schlag und den nächsten ab. Doch der andere Samurai drückte ihm unbarmherzig die Kehle zu. Vor Jacks Augen erschienen schwarze Flecken und er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte.

Wo war Benkei, wenn er ihn brauchte?

Er parierte erneut einen Angriff und trat den ersten Samurai mit einem Vorwärtstritt in die Brust, dass er zurücktaumelte. Dann stieß er dem Samurai, der ihn umklammert hielt, mit aller Kraft den Ellbogen in den Bauch. Der Griff des Mannes lockerte sich. Jack ließ sich auf die Knie fallen und riss ihn mit einem einarmigen Schulterwurf vom Boden. Der Mann flog durch die Luft. In diesem Moment griff der andere Samurai wieder an. Die Spitze seines Schwerts war auf Jacks Brust gerichtet. Die beiden Angreifer stießen zusammen und das Schwert durchbohrte den zweiten Samurai. Der erste verlor durch die Wucht des Zusammenstoßes das Gleichgewicht. Während sein Kamerad sich den blutenden Bauch hielt, schwankte er am Rand des kochenden Schlammlochs.

»Hilfe!«, schrie er und fuchtelte mit den Armen, um nicht zu stürzen.

Jack, der immer noch um Atem rang, machte hastig einen Schritt auf ihn zu, um ihn zu retten, doch zu spät. Mit einem grässlichen Schrei stürzte der Samurai in den blubbernden jigoku. Sofort tauchte er bis zum Hals in den kochend heißen Schlamm ein und von seinen Augen war nur noch das Weiße zu sehen. Er zappelte und strampelte wie ein urtümliches Ungeheuer und streckte die Arme nach dem Ufer aus, doch unerbittlich zog das Schlammloch ihn in seine stinkenden Tiefen und er verschwand unter der Oberfläche.

Benkei tauchte neben Jack auf und blickte mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen in das Loch hinunter. »Jetzt weißt du, woher der Name kommt. Das ist wirklich ein höllischer Tod!«

7Sturmhölle

»Wo warst du?«, krächzte Jack und rieb sich die Würgemale an seinem Hals. »Warum hast du mir nicht geholfen?«

Benkei klopfte ihm beruhigend auf den Rücken. »Du schienst ganz gut allein zurechtzukommen.«

Jack wollte widersprechen, doch da tauchte auf der anderen Seite des Teichs der Rest der Patrouille aus dem Nebel auf.

»Lass uns verschwinden«, sagte Benkei und rannte in die Richtung der anderen heißen Quellen.

Im Nebel praktisch blind, schlängelten sie sich zwischen den todbringenden Teichen hindurch. Ein Samurai kürzte ab und versperrte ihnen den Weg. Sie liefen in eine andere Richtung. In seiner Hast trat Jack in einen Spalt, aus dem es dampfte. Er stolperte, schrie vor Schreck und Schmerzen auf und fiel nach vorn, direkt auf eine Höllenquelle zu – deren blutrotes Wasser nur darauf wartete, ihm die Haut vom Fleisch zu brennen. Im letzten Augenblick bekam Benkei ihn am Arm zu fassen und riss ihn zurück. »Jetzt ist keine Zeit für ein Bad!«

Sie gelangten zu einem steinigen Hang am Rand der neun Höllen und standen vor einer tosenden Wand aus sengend heißem Dampf. Die Wand fiel in sich zusammen und stieg erneut auf wie der Puls des Vulkans.

»Die Berghölle«, erklärte Benkei. »Hier kommen wir nicht durch.«

Sie gingen um die Dampffontäne herum und gelangten zu einem mit Felsbrocken übersäten Gelände am Fuß eines kleinen Steilhangs. Während sie sich noch nach einem Weg nach oben umsahen, hatten die Samurai zu ihnen aufgeschlossen und umzingelten sie.

»Diesmal entkommt ihr uns nicht!«, rief der Anführer mit einem triumphierenden Grinsen. »Ergebt euch oder sterbt!«

»Keine große Auswahl«, erwiderte Jack und drehte sich zu seinen Verfolgern um. »Auf Verrat steht sowieso die Todesstrafe!«

»Stimmt«, sagte der Anführer und gab den Befehl zum Angriff.

Jack zog sein Kurzschwert, hob es über den Kopf und hielt sein Langschwert abwehrbereit vor sich. So aussichtslos der Kampf gegen acht Samurai auch sein mochte, ihre einzige Überlebenschance war die Technik der beiden Himmel – der Kampf mit zwei Schwertern gleichzeitig, den sein Vormund, der Samurai Masamoto, ihn gelehrt hatte.

Die Samurai ließen sich durch den Gaijin und seine Schwerter nicht einschüchtern und rückten weiter vor.

»Diesmal könnte ich Hilfe gebrauchen«, sagte Jack zu Benkei, ohne den Kopf zu drehen.

»Keine Sorge, ich stehe hinter dir«, versicherte Benkei.

Jack sah sich rasch um. Sein Gefährte stand tatsächlich ganz buchstäblich hinter ihm und benutzte ihn als Deckung.

Die ersten beiden Samurai griffen an und schlugen seitlich nach Jacks Hals. Jack parierte beide Schläge und versetzte dem Samurai zu seiner Linken einen Seitwärtstritt. Dann wirbelte er herum und schnitt dem anderen mit seinem Langschwert über die Brust. Der Samurai konnte sich gerade noch durch einen Sprung retten, doch die rasiermesserscharfe Schwertspitze zerteilte seinen Kimono.

Als die anderen sahen, wie gefährlich ihr Gegner war, griffen sie ihn zu viert gleichzeitig an. Ununterbrochen wirbelten Jacks Schwerter durch die Luft und konterten einen Angriff nach dem anderen. Er duckte sich unter einem heimtückischen Schlag nach seinem Kopf und sprang über ein zweites Schwert, rollte zwischen zwei Samurai hindurch und entging so einem tödlichen Streich des Anführers der Patrouille.

»Das Gerücht stimmt also!«, rief der Anführer aufgebracht, doch mischte sich in seine Stimme ein Anflug von Bewunderung. »Du beherrschst die Technik der beiden Himmel.«

Jacks Herz klopfte wie verrückt. Seine Lunge brannte. Er kämpfte wie besessen und die Samurai kamen nicht an ihn heran. Benkei dagegen war ungeschützt hinter ihm zurückgeblieben und ein Samurai wollte das ausnutzen.

Benkei hob einen Stein auf, um sich zu verteidigen – und ließ ihn sofort wieder fallen.

»Au!«, schrie er und blies sich auf die Finger. »Der ist ja glühend heiß!«

Der Samurai lachte hämisch, doch wurde ihm seine Schadenfreude zum Verhängnis. Benkei wickelte seine Hand hastig in ein Stück Stoff, das er von seinem bunten Kimono abgerissen hatte, hob einen anderen Stein auf und warf ihn auf den Angreifer. Das Geschoss traf den Samurai mitten ins Gesicht. Schreiend wich er zurück.

Jack kämpfte sich wieder zu Benkei zurück und nebeneinander hielten sie sich die Samurai mit Schwertern und Steinen vom Leib. Doch im Kampf gegen die vielen Gegner schwanden Jacks Kräfte rasch.

»Ich habe keine Steine mehr!«, rief Benkei.

Die Samurai kamen näher, um ihren Opfern den Garaus zu machen.

Entschlossen, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen, blickte Jack ihnen entgegen, da begann plötzlich der Boden zu beben. Aus der Tiefe unter ihm ertönte ein Donnern, das immer lauter wurde.

»Der Drache erwacht!«, rief ein Samurai in panischer Angst, machte kehrt und verschwand im Nebel.

Im nächsten Augenblick stieg eine sengend heiße Dampfsäule zum Himmel auf, gefolgt von einem Strahl kochenden Wassers. Heiße Tropfen prasselten auf die Samurai nieder und sie flohen in alle Richtungen.

Jack hielt sich schützend sein Bündel über den Kopf, fasste Benkei an der Hand und begann ebenfalls zu laufen.

»Sie fliehen!«, brüllte der Anführer wütend.

»Ich habe ganz vergessen … dass noch eine letzte Hölle kommt«, keuchte Benkei, während sie an dem donnernden Geysir vorbeirannten. »Tatsumaki Jigoku.«

Sturmhölle, wie passend,dachte Jack und seine unangenehme Begegnung mit der gleichnamigen Piratenkönigin fiel ihm ein.

Er blieb vor der »Berghölle« genannten Quelle stehen und sah hinter dem Dampf bewaldete Hänge. Die Wand aus Dampf waberte vor ihm auf und ab. »Wenn wir den richtigen Zeitpunkt erwischen, können wir durchrennen.«

»Bist du verrückt geworden?«, rief Benkei und starrte auf die kochende Barriere.

»Kennst du das Herz-Sutra?«, fragte Jack.

»Natürlich, das kennt doch jeder. Aber was willst du jetzt damit?«

»Ich habe gelernt, dass man mithilfe eines Mantras aus diesem Sutra über Feuer gehen kann«, erklärte Jack hastig. Sensei Yamada hatte ihnen das in einem Ausbildungslager in Koya-san gezeigt. »Dazu macht man den Kopf ganz leer und entleert dadurch den Körper von allen Gefühlen und Schmerzen und unangenehmen Empfindungen. Hast du schon einmal meditiert?«

Benkei nickte stolz. »Ein oder zwei Mal.«

»Gut, dann sprich die folgenden Worte, sie schützen dich vor der Hitze: Om gate gate paragate parasamgate bodhi svaha …«

Jack wiederholte das Mantra und Benkei fiel ein, bis sie es beide einstimmig aufsagten. Eine Art Ruhe im Sturm senkte sich über sie und Jack spürte, wie sich ein vertrautes Kribbeln in seinen Gliedern ausbreitete.

»Da sind sie!«, schrie jemand.

Sie konnten nicht mehr warten. Jack packte Benkei am Arm.

»Nein, halt!«, rief Benkei. »Hast du nicht gesagt, das Mantra sei für Feuer?«

Doch Jack war bereits mit dem Kopf voraus in die Berghölle eingetaucht und zog Benkei hinter sich her.

8Trauer

»Ich bin so rot wie ein Hummer!«, jammerte Benkei und betrachtete seine mit Blasen übersäte Haut, als er unter einem Wasserfall an einem höher gelegenen Hang des Tsurumi stand und sich abkühlte.

»Aber wenigstens ein lebender«, erwiderte Jack. Er ließ seine Beine in einen felsigen Teich baumeln.

»Aber dein Mantra hat mir nichts genützt. Ich habe sogar an Stellen Verbrennungen, die ich nicht mal sehen kann!«

»Ohne den Schutz des Mantras wären sie noch viel schlimmer«, erwiderte Jack. Er hatte sich nur an den Füßen verbrüht. »Außerdem haben wir die Patrouille abgehängt, das Risiko hat sich also gelohnt.«

Benkei schüttelte fassungslos den Kopf. »Du bist der verrückteste nanban, den ich kenne! Und der gefährlichste. Wo hast du so kämpfen gelernt?«

»Ich war Schüler der Niten Ichi Ryū in Kyoto … bis die Schule durch den Shogun geschlossen wurde.« Da Jack Benkei eben erst kennengelernt hatte, beschloss er, seine Ausbildung zum Ninja nicht zu erwähnen. In diesem Stadium ihrer Beziehung war Zurückhaltung entschieden klüger.

»Und noch was – warum will der Shogun dich unbedingt töten?«, fragte Benkei. »Du bist zwar Ausländer, aber der Patrouillenführer sprach von einer persönlichen Anordnung des Shogun.«

»Kamakura hat etwas gegen mich, seit ich bei einem Wettbewerb gegen seine Schule gewonnen habe und er dadurch das Gesicht verloren hat«, erklärte Jack. »Später habe ich in der Schlacht von Osaka gegen ihn gekämpft.«

Benkei pfiff durch die Zähne. »Kein Wunder, dass du in Schwierigkeiten steckst! Ich habe gerüchteweise von der Jagd auf einen Samurai gehört, der sich gegen den Shogun auflehnt. Aber ein ausländischer Samurai ist natürlich noch zehnmal schlimmer.«

Das stimmte zwar, war aber, wie Jack wusste, nur der eine Grund, warum Kamakura ihn verfolgte. Der andere war, dass Kamakura unbedingt den Portolan haben wollte. Der Shogun wusste, dass man mithilfe des Logbuchs die Handelswege zwischen den Ländern beherrschen konnte. Das Buch verhalf zu Macht und Reichtum und er gedachte es zu seinem eigenen Nutzen einzusetzen. Doch Jack hatte seinem Vater versprochen, es nicht in falsche Hände fallen zu lassen.

»Und was willst du jetzt tun?«, fragte Benkei.

Darüber hatte Jack noch nicht nachgedacht. Er war so mit Weglaufen beschäftigt gewesen, dass er keine Zeit gehabt hatte, seinen nächsten Schritt zu überlegen.

»Ich war auf dem Weg nach Nagasaki, aber dann …« Er blickte von seinem Platz am Rand des Felsenteichs auf die weite Bucht von Beppu hinaus. Dampfwolken stiegen zum Abendhimmel hoch und lösten sich dort auf wie wegfliegende Geister und die untergehende Sonne glitzerte auf dem von Wellen gekräuselten Wasser des Seto-Binnenmeers. Jacks Blick wanderte hin und her und suchte nach einer in der Bucht oder davor treibenden Jolle ohne Mast, doch vergeblich. Er war zu weit von der Küste entfernt, um etwas erkennen zu können. Außerdem wusste er tief im Innern, dass die Jolle den Sturm nicht überstanden haben konnte und inzwischen wahrscheinlich auf dem Grund des Meeres verrottete.

Eine Träne lief ihm über die Wange und er spürte einen Kloß im Hals. Vor Kummer und Zorn über den Verlust der Freunde hätte er am liebsten laut geschrien. Stattdessen ballte er in ohnmächtiger Wut die Fäuste und schlug sie gegen den Felsen. Seit seiner Ankunft in Japan hatte er immer wieder Menschen verloren, die ihm nahestanden. Zuerst seinen Vater von der Hand des grausamen Ninja Drachenauge, dann seinen Samuraibruder Yamato durch dessen mutiges Opfer. Sein Vormund Masamoto war verbannt worden, seine beste Freundin Akiko hatte er wiederholt verlassen müssen … und dazu kam jetzt noch der tragische Tod seiner treuen Freunde Yori, Saburo und Miyuki.

Von Trauer überwältigt, senkte er den Kopf. Er überlegte, ob er aufgeben, ob er auf diesem Stein sitzen bleiben sollte, bis er an Kälte oder Hunger starb oder die Samuraipatrouille ihn holte. Aber er durfte nicht zulassen, dass alles Leid umsonst gewesen war.

Wenn es dunkel genug ist, sieht man die Sterne, hatte sein Zen-Lehrer Sensei Yamada einmal gesagt.1