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Afghanistan Ende 2008. Die internationale Schutztruppe ISAF droht zu scheitern. Die Taliban erheben sich erneut und drängen auch die Bundeswehrsoldaten in ihre Feldlager zurück. Eine gemeinsame deutsch-afghanische Operation soll das Blatt wenden. Ziel ist die gefährlichste Provinz im Norden: Kunduz. Zehn Jahre lang hat der ehemalige Offizier Martin Küfer seine Erinnerung an diese Operation verdrängt. Als er nach einem Anschlag in Mazar-e-Sharif unerwartet seinen afghanischen Freund Abdul in der Tagesschau erkennt, holt ihn die Vergangenheit ein.
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Seitenzahl: 451
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Afghanistan Ende 2008. Der Stabilisierungseinsatz der internationalen Schutztruppe ISAF kippt. Die Taliban erheben sich im ganzen Land und drängen auch die Bundeswehrsoldaten in ihre Feldlager zurück. Eine gemeinsame deutsch-afghanische Operation soll das Blatt zugunsten der Schutztruppe wenden. Ziel ist der gefährlichste Distrikt des Nordens: Chahar Darreh in der Provinz Kunduz.
Zehn Jahre lang hat der ehemalige Bundeswehroffizier Martin Küfer seine Erinnerung an diese Operation verdrängt. Als er nach einem Anschlag in Mazar-e-Sharif unerwartet seinen afghanischen Freund Abdul in der Tagesschau erkennt, holt ihn die Vergangenheit ein.
Erzählt nach wahren Begebenheiten.
Wolf Gregis absolvierte eine Offiziersausbildung bei der Bundeswehr und diente im Auslandseinsatzin Afghanistan. Er studierte Germanistik, Geschichte sowie Bildungs- und Kommunikationswissenschaften in Rostock. 2020 erhielt er das Literaturstipendium der Hanse- und Universitätsstadt für die Arbeit an seinem Romandebüt Sandseele.
Als Mitglied des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. fördert Wolf Gregis eine friedliche Erinnerungskultur. ImBund Deutscher Einsatz-Veteranen e. V. und Veteranenkultur e. V. unterstützt er darüber hinaus die Integration von Veteraninnen und Veteranen in die Mitte der Gesellschaft.
Wir haben nicht nur Spuren im Sand hinterlassen, sondern der Sand auch Spuren in uns.
Afghanistan, Ende 2008
DIE TAGESSCHAU
DER KARTON
DER SHEMAG
DIE BIERDOSE
DER TEDDY
DER WEGWEISER
DAS ABTEILUNGSBILD
DIE BEFEHLSHILFE
DER OMLT-AUFNÄHER
DER SCHLÜSSELANHÄNGER
DER SPRACHFÜHRER
DAS SHAHEEN-VERBANDSABZEICHEN
DIE UNIFORM
DIE POCAHONTAS-DVD
DIE GERMANIA DES TACITUS
DIE ISAF ID-CARD
DAS BEINHOLSTER
DIE ERINNERUNGSBILDER
DIE METHANE-NOTFALLKARTE
DER MARMALMARMOR
DANKSAGUNG
JESSE COLE
HEIMAT UND HILFE FÜR VETERANINNEN UND VETERANEN – DER BUND DEUTSCHER EINSATZVETERANEN E. V.
DER GESELLSCHAFT AUCH ETWAS ZURÜCKGEBEN – VETERANENKULTUR E. V
DIENSTGRADE DER BUNDESWEHR (HEER)
Der Dienst tat gut.
Nein.
Es war kein Dienst mehr. Es hieß jetzt Arbeit.
Dienst. Arbeit.Manches bekam mannicht mehr raus. Gelernt war gelernt. Sollten sie in der Firma ruhig lachen.
Die Arbeit tat gut.
19:57 Uhr auf dem Monitor. Schon.
Aber ich hatte zu wenig geschafft. Der Samstag war fast rum.
Fünf Wochen lang hatte ich auf diese Tage gewartet. Fünf Wochen. Als meine ElternGreta den Vorschlag unterbreiteten, dieses Wochenende gemeinsam zu verbringen, stand ich imWohnzimmer am Fenster. Der Schnee war schon braun und versandet. Er sah fleckig aus. Aber es lag noch etwas.
Greta konnte mir die Freude nicht ansehen. Ich stand mit dem Rücken zu ihr und rührte mich nicht. Ein Spa-Hotel am See, all inclusive, schlugen meine Eltern vor. Von Freitag bis Sonntag. Für uns alle.
Endlich ein Wochenende allein, war das Erste, was mir durch den Kopf ging. Endlich in Ruhe die Stapel herunterarbeiten. Es hatte sich so viel angesammelt. Es wurde immer mehr.
Fünf Wochen war das her. Und jetzt war das Wochenende schon fast vorbei.
Ich hatte einiges geschafft. Aber noch nicht alles. Nicht mal genug.Ich hatte auf mehr gehofft.Die Zeit verflog.Morgen Mittag würde Greta mit den Kindern wiederkommen.
»Sag Bescheid, wenn ihr losfahrt«, rief ich ihr von der Wohnungstür hinterher. »Eine Nachricht reicht.«
Was hatte sie gesagt? Wo lag das Hotel?
Eine Stunde Fahrt, meinte sie. Das hatte ich mir gemerkt, das war die wichtige Information. Alles andere konnte ich mir vorstellen: Familienhotel, Pool mit Kinderbereich, Sauna für die Alten, Buffet twenty-four seven. Kurze Spaziergänge am Wasser.Was der März eben zuließ.
Greta fragte nicht mal, warum ich nicht mitkommen wollte.
Die Kleine war traurig. Sie versuchte alles, um michumzustimmen.Mein Großer presste nur die Lippen zusammen. Er konnte mich verstehen. Acht Jahre alt. Er war stark. Die Kleine musste noch stärker werden.
Meine Augen tränten. Der Bildschirm stand zu dicht. Der Schreibtisch war nicht tief genug. Länger als zehn Stunden hielt man die Display-Beleuchtung nicht aus. Dann brannten und tränten die Augen. Das nervte. Sonst würde man mehr schaffen.
Mein Kreuz schmerzte auch. Die Lendenwirbelsäule. Mehr bewegen, sagte Dr. Freidel immer. Sie müssen sich mehr bewegen, Herr Küfer.
Früher auf dem Panzer ging es tatsächlich besser.Hoch, runter, rein, raus. Wie ein Aal glitt ich den Bock rauf und runter. Das war noch Dienst. Lange her.
Unwichtig. Jetzt zählte die Arbeit.
Die Bandscheiben drückten auf die Nerven, als ich aufstand. Ein stechender Schmerz. Ich drückte das Kreuz durch, kreiste mit den Schultern und fühlte die Knorpel in meinen Muskeln.
Eine Pause musste sein. Etwas essen.
Hatte ich nach dem Frühstück noch etwas gehabt?
In der Küche lag das Geschirr der letzten beiden Tage noch in der Abwäsche. Fünfzehn Minuten würde es mich morgenkosten, es abzuwaschen. Blieben nur noch fünfundvierzig nach Gretas Nachricht. Ärgerlich.
Im Kühlschrank war kaum noch etwas da. Ich hätte einkaufen sollen. Gretas Liste lag auf dem Tisch. Sie würde mit den Augen rollen. Sagen würde sie nichts.
Ich schob die Soßen im Kühlschrank beiseite und fand dahinter Nudeln in einer Tupperdose. Von Donnerstag. Oder Mittwoch? Das spielte keine Rolle. Sie waren okay. Es würde reichen.
Ich füllte den Nudelklumpen auf einen Teller um, streute Käse darüber und stellte ihn in die Mikrowelle.
Das Surren erschreckte mich. So laut war sie doch sonst nicht. Oder war es die Stille im Raum? Ich atmete langsam aus. Mein Puls beruhigte sich.
Drei Minuten brauchten die Nudeln. Was sollte ich mit den drei Minuten Sinnvolles anfangen?
Ich ging zurück zum Schreibtisch, kontrollierte, ob ich alle Dokumente gespeichert hatte. Hatte ich.
Ich ging auf Toilette, musste aber nicht.
Noch immer eine Minute.
Was würden andere in so einem Moment tun?
Ich trat an die Balkontür. Gegenüber flimmerte in drei Wohnzimmern ein blauer Bildschirm. Es war kurz nach acht. Die Tagesschau lief.
Warum nicht? Tun, was man als Bürger eben so tat: Nachrichten schauen. Informiert sein. Interessiert. Die ganze Welt vom eigenen Sessel aus erleben.
Die Mikrowelle gab ein »Bing!« von sich.
Warum nicht die Tagesschau? Auf dem Schreibtisch war kein Platz zum Essen und tatenlos am Esstisch rumsitzen, war Zeitverschwendung. Dann wenigstens den Wetterberichtsehen. Montag ging es auf die Baustelle, da war Begehung. Der Klinikanbau wurde nicht fertig. Die Liste der Änderungswünsche war lang. Ich sollte mitkommen, weil der Bauleiter immer so rummoserte. Bei Trockenheit war er vielleicht besser gelaunt. Für den Wetterbericht lohnten sich wenigstens die Nachrichten.
Ich setzte mich vor den Fernseher und schaltete die ARD ein. 20:04 Uhr.
Abdul.
Sein Gesicht.
Abdul.
Das war er.
Abdul.
Kein Zweifel.
Abdul Rahman.
Zehn Jahre war es her, aber dieses Gesicht kannte ich.
Der Journalist hielt ihm ein Mikrofon vor den Mund. Ich suchte zuerst seine Schulterklappen.
Er war jetzt Major. Damals war er Oberleutnant. Wie ich. Er hatte Beziehungen spielen lassen oder sich in den Dienstgrad einkaufen können.Mit soldatischer Leistung hatte sein Aufstieg sicher nichts zu tun. Nicht am Hindukusch. Sein Onkel hatte es ihm vorgemacht,Mohammed Sahib Khan.
Mohammed Sahib Khan.
Abdul Rahman.
Wie lange hatte ich diese Namen nicht mehr gedacht. Namen aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben, einer anderen Welt. Längst vergessen.
Abdul in der Tagesschau. Abdul in meinem Wohnzimmer. Niemals.
Er wandte seinen Blick von dem Journalisten ab. Den Ausdruck kannte ich. Er fühlte sich schuldig. Ich wusste es. Der Journalist wusste es nicht. Aber ich wusste es. Ich kannte Abdul. Er nicht. Er schaute damals auch schon so. So schuldig. Aber damals konnte ich das noch nicht deuten. Ich hielt es für Scham. Aber es waren Schuldgefühle. Und Abdul hatte wieder Schuld auf sich geladen. Worum es auch ging, er trug Schuld daran.
Im Hintergrund erkannte ich das fahlgelbe Stabsgebäude seiner Kaserne, bevor Thorsten Schröder deren Namen aussprach. Camp Shaheen inMazar-e-Sharif. Davor die Freifläche mit den rostenden russischen Panzerwracks. Preußisch aufgereiht harrten sie noch immer in Staub und Wind aus.
Zehn Jahre war das jetzt her.
Wie oft war ich durch diese Kaserne geschlendert. Man konnte es nicht anders sagen: geschlendert. Es waren auch gute Tage dabei. Damals.
Die eisige Januarluft jener Tage, als ich selbst das erste Mal vor den Wracks im Camp Shaheen stand. Der Wind war durchsetzt vom metallischenGeruch rostender Vergangenheit,von Sand und Staub eines erodierenden Landes.Es roch nachkaltem Metall und trockenem Winter. Der Geruch Afghanistans zog sich durch die Nase in meinen Körper und mit ihm das Land am Hindukusch selbst. Rost und Sand und Wind – Afghanistan.
Ich sah in Abduls Gesicht und in seine Augen. Diese braunen Augen, sie zuckten wieder von links nach rechts, rollten zurück und zuckten wieder. Er schilderte dem Journalisten den Anschlag auf seine Kaserne. Camp Shaheen. Camp Falke. Nur dort konnte so etwas gelingen.
Die Taliban rasten während des Freitagsgebets durch die Checkpoints und töteten mehr als 140 afghanische Soldaten, die Zahl der Verletzten dürfte noch mal so hoch sein. Glaubte man Thorsten Schröder, war es der wirksamste Anschlag auf eine afghanische Armeeeinrichtung seit 2002. Und nun stand Major Abdul Rahman mit zuckenden Augen vor der Kamera, und es war klar, er hatte davon gewusst. Irgendetwas gewusst. Entgegen aller gespielten Betroffenheit, er hatte etwas gewusst. Vorher.Wie damals bei uns.
Abdul hatte immer von Fenstern gesprochen. Jetzt war er darin. Der Bildschirm war schwarz gerahmt wie die Bilder der Gefallenen. Die Stubenfenster waren schwarz.
Ein Spätwinterabend. Damals war es auch März. Ein Monat des Übergangs. Was war er? Ende oder Anfang? Es gab keine Sicherheit imMärz.
Zehn Jahre waren vergangen. Das spielte doch heute keine Rolle mehr. Die Tage vergingen leise, das reichte.
Warum saß ich auch vor dem Fernseher? Den Nudelteller hielt ich in der Hand.
Ich musste wieder an den Schreibtisch. Ich hatte keine Zeit fürs Fernsehen. Ich hatte zu tun, es gabWichtigeres.
Abdul.
Sein Gesicht in der Tagesschau.
Das war unmöglich.
In den ersten Monaten nach meinerRückkehr entdeckte ich es überall. Ich schreckte in Fußgängerzonen auf, in Straßenbahnen, in Kneipen und oft bei geschlossenen Augen. Aber Abdul hier zu entdecken, war abwegig. Abdul war noch in Afghanistan. Er hatte sich entschieden.
Als ich ihn damals kennenlernte, war er ungefähr Anfang zwanzig. Genau wusste man das bei Afghanen nicht. Genau wussten sie das selbst nicht. Geburtenregister wurden nicht geführt, Urkunden nicht ausgestellt. Wenn sie Glück hatten, überlebten sie die ersten fünf Jahre und waren dann schon alt. Spätestens mit zwanzig sahen sie verschlissen aus. Die Sonne, die Trockenheit, die Kälte, die Sorgen, der Krieg – alles furchte sich tief in ihre Haut. Am Ende blieben nur noch ledrige Kettengesichter übrig.
Abdul erblickte die Düsternis des Lebens in einem afghanischen Flüchtlingslager in Pakistan. Das musste Ende der 80erJahre gewesen sein. Er hatte Glück und überlebte. Aber Afghanistan hatte sich in den letzten zehn Jahren auch tief in Abduls Gesicht gegraben. Dort hatte ich ihn das letzte Mal gesehen. In Kunduz.
Er war eins dieser paschtunischen Armeegesichter, schwer zu unterscheiden. Erst recht, wenn deren Körper in einer Uniform steckten. Hagere afghanische Leiber in Hosen und Jacken, die für amerikanische Kraftpakete geschneidert worden waren. Die Uniformen schlackerten an den Afghanen wie ihre Loyalität. Sie waren nicht auf Linie zu bringen.Nicht mal bei ihrer Uniform gelang uns das.
Abdul würde ich trotzdem immer wiedererkennen. Vielleicht war es gar nicht sein Gesicht selbst. Vielleicht waren es eher seine Augen. Unverkennbar.
Nein.
Genug.
Es reichte.
Ich wollte mir den Bericht nicht länger anschauen. Ich war mit all dem fertig. Ich hatte Wichtigeres zu tun.
Es ging nicht.
Ich kam nicht los.
Es erschienen Aufnahmen von Präsident Ghani auf dem Bildschirm. Ich tastete nach der Fernbedienung auf dem Couchtisch und starrte auf Särge und Flaggen. Wie damals.
Etwas klapperte, ich griff ins Leere.
Ghani im Krankenhaus, wieder Särge, Trauer.
Ich tastete weiter,die Fernbedienung bekam ich nicht zu fassen. Meine Finger trommelten auf den Tisch. Sie zitterten.Der Bericht lief weiter.
Das Stabsgebäude im Camp Shaheen, die afghanischen Uniformen auf den Straßen, der Geruch des kalten Sandes im Morgengrauen, der Staub in meinen Barthaaren. Ich kratzte mir durchs Gesicht. Diese Bilder, dieses Gesicht, diese Augen – ich hatte das alles schon mal gesehen. Ich hatte genug gesehen.
Wo war die Fernbedienung?
Meine Hand griff ins Leere, ich starrte auf den Bildschirm.
Es waren mit Sicherheit afghanische Soldaten aus dem Camp unter den Taliban oder zumindest hatten sie ihnen geholfen, das Massaker anzurichten. Alles wie damals. Ich sah in die Vergangenheit.
Zehn Jahre lang war sie begraben unter kleinbürgerlichen Pflichten und Sorgen, zugeschüttet von Papier und noch mehrPapier, Alltagserlebnissen und Jedermannserfahrungen. Dienstzeitende, ein nachgeholtes Studium, Büroarbeit, Gleitzeit, Urlaub in den Niederlanden, ein Schrebergarten, eine neue Couchgarnitur, Bilder eines ernsten Paares im Wohnzimmer, Grillpartys und Gespräche über Immobilienpreise.
Zehn Jahre voller Bedeutungslosigkeit.
Die Fotos dazu hingen an der Wohnzimmerwand. Greta und ich auf einem Deich. Wir mit den Kindern an der Ostsee. Wir im Garten, die Kinder auf dem Baum, ich mit dem Spaten auf dem Acker.
Ich lachte selten auf den Fotos. Was sollte das auch, das blöde Grinsen.
Es waren auch zehn Jahre ohne Abdul.
Jetzt war er wieder da. Mit einem Anschlag. Wie damals.
Mit Abdul kam die Erinnerung. Sie stieg aus seinen braunen Augen. Es war fast, als stiege er selbst aus demFernsehschimmern zu mir in die Dunkelheit.
Erinnerungen. Wozu? Was sollten sie schon nützen?
Und viel wichtiger: Was konnte man dagegen tun? Kämpfen? Gegen die Erinnerung? Gegen Abdul? Gegen das, was war?
Ich hatte vier bedeutende Monate in meinem Leben. Nur vier. All die Jahre im Dienst zuvor, all die Ausbildung, all die Lehrgänge und Vorbereitungen, alles war auf diesen Einsatz und sein Ziel ausgerichtet: den Feind niederhalten und die Guten schützen. Und wenn es dazu nötig war, ein paar Taliban gehörig wegzubürsten, dann sollte es so sein. Mich störte das nicht. Ich war Soldat. Das war mein Auftrag. Die Armee war, wenn schon nicht mehr die Schule der Nation, so doch immerhin die Schule meines Lebens.
Alles, was danach kam, war beliebig. Ich war ein Niemand geworden. Was wichtig war, lag bereits hinter mir. Ich hatte versagt.
Und jetzt Abdul. Das war unmöglich. In der Tagesschau, in meiner Wohnung.
Ich roch ihn. Das ganze Land am dreckigen Ende der Welt, ich roch es. Es war alles wieder da: der Staub, der Gestank, das Elend, die Generatoren, das Dosenbier, die Waffen, der Frust, die Hoffnung, der Schmerz, der Feind, die Kameraden.Und vor allem Abdul.
Wir waren fast so etwas wie Freunde, vielleicht waren wir es wirklich. Zumindest waren wir einander Hoffnung. Und wir glaubten damals ernsthaft,wir könnten den Unterschied machen– wir beide, er und ich – uns befreien. Uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, den wir unser Leben nannten. Für die gute Sache. Wie lächerlich. Aber wir glaubten es. Ich glaubte es. Aber dann zuckten seine Augen, und alles war vorbei.
Ich saß vor dem Fernseher, die Tagesschau lief ohne mich weiter. Thorsten Schröders Lippen bewegten sich, Aufnahmen von Flüchtlingen und Demonstranten, Trump und andere alte Männern waberten hinter ihm, doch ich hörte nichts und sah anderes: Bilder von Abdul, von Kameraden–Wulf – Kasernen, Panzern in Kunduz,von brachliegendem Gelände,vermauertenDörfern und gefrorenen Äckern. Wirr und durcheinander, ein Geflecht von Bildern, Gerüchen, Gesprächen, Gesprächsfetzen, Empfindungen, Gefühlsfragmenten. Wie Reihen unsortierter Fotos, schnell in einer Diashow nach dem Zufallsprinzip auf eine Leinwand geworfen.
Die Liste für Montag war noch nicht fertig. Die Begehung stand an. Ich musste die Dokumente noch durcharbeiten, die Mängelliste erstellen. Wir brauchten das am Montag.
Kein Mensch brauchte die Tagesschau, keiner afghanisches Kopfkino. Das interessierte niemanden mehr.
Ich funktionierte noch. Sollten die Jungen in der Firma ruhig besser sein. Ich machte einfach immer weiter. Akzeptieren ist leichter als verstehen, hieß es damals in Afghanistan.
Damals hatte ich Wichtiges getan.
Ich schaltete den Fernseher aus. Die Schüssel mit den aufgewärmten Nudeln brachte ich in die Küche zurück. Ich stopfte mir drei volle Löffel in den Mund, vier, fünf. Halbvoll stellte ich sie neben die Abwäsche.
Abdul.
Er war wichtig gewesen.
Ich ging Richtung Arbeitszimmer, im Flur drehte ich um und ging in die Küche zurück. Ich öffnete den Mülleimer und schüttete die Nudeln hinein. Fürs Essen war keine Zeit mehr. Ich hatte noch zu tun. Sie landeten in Gretas Pilzresten. Wie ich Pilze hasste. Mein Bauch verkrampfte sich allein bei ihrem Anblick.
Abdul.
Oh Gott. Abdul.
Vielleicht sollte ich jemanden anrufen. Irgendwen.
Wen?
Ich suchte das Telefon im Flur. In der Stube hörte ich Abduls Stimme. Ich machte kehrt, aber der Fernseher war aus. Ich ging zurück zu meinem Schreibtischund fiel auf den Drehstuhl,stand wieder auf und schaute in den Giftschrank.Whiskey war noch da. Nur zur Sicherheit. Greta würde es nicht merken.
Diese dunklen braunen Augen. Wie nah sie mir waren. Ich schlich zurück und horchte. Es war still. Der Bildschirm war schwarz und stumm.
Sonst war hier immer Bewegung, die Kinder liefen umher, stritten, bettelten um irgendetwas, Greta hastete beim Telefonieren auf und ab, rief mir irgendetwas zu, es musste immer irgendetwas getan, vor- oder nachbereitet werden: das Abendbrot, die Wäsche, Aufräumen, Schulsachen, Sportzeug. Nur heute nicht. Ich war allein, und es war Samstagabend.
Es war mein Wochenende. Jetzt war der Abend dahin. Nur einmal wollte man vor dem Fernseher Zeit totschlagen, nur einmal die Tagesschau sehen, nur einmal den Wetterbericht und dann das. Abdul. Warum war ich überhaupt vom Schreibtisch aufgestanden? Das kam dabei heraus!
Jetzt war ich mit Abdul allein. Ich drehte mich um, ob er hinter mir im Flur stand.
Er sah alt aus, müde, verschlissen. Allein. Mit seinem Wissen. Wie ich. Wir waren beide allein.Wie damals.
Was hätte er gesehen, wenn er mich durch den Fernsehschirm hindurch hätte betrachten können? Wie sah ich aus?
Ob er manchmal an mich dachte?
Ich schlich zurück in meine Arbeitsnische.Noch einmal würde ich die Stille nicht brechen. Die Papiere mussten für Montag sortiert werden.
Abdul sah jetzt aus wie Khan damals. Der war auch Major gewesen. Khan.
Ich stapelte rechts die Unterlagen für das Heitmann-Projekt. Der Klinikanbau hätte längst fertiggestellt sein müssen. Die ewigen Änderungswünsche zogen alles in die Länge und produzierten stapelweise Papier. Viel zu viel, das hätte ich längst zusammenschreiben müssen. Hätte, müssen.
Dieser Geruch, Afghanen rochen anders. Wie Khalil an der Panzertruppenschule. Der kam aus dem Jemen. Der roch auch so. Das war die Wüste.
Links das WoGe-Projekt auf dem anderen Stapel. Die Sanierung stotterte vor sich hin, Handwerkerausfälle und versteckte Folgekosten. Es nervte.
Dahinter die Steuersachen, die Kreditangebote, das Prospekt der Baufirma: »Ihr Leben, Ihre Zukunft, Ihr Haus«. Ich schob es nach ganz unten.
Was aus Khan wohl geworden war? Hatte ihn der Hindukusch gefressen, der Männer wie ihn erst geboren hatte?
Rechts stapelte ich Einkaufsbons, Rechnungen von Versicherungen, gemalte Bilder der Kinder: die Familie im Grünen. Zwei Kinder spielten Fußball, der Vater stand amRand.Der Boden war kalt. Hatte ich das Stubenfenster geöffnet? Das Blut in meinen Füßen floss zäh wie das Wasser des Kunduz River im Februar.
Ich prüfte alle Fenster. Sie waren geschlossen.
Abdul hatte auch von Fenstern gesprochen. Hört nicht auf, Fenster zu bauen, hatte er gesagt.
Ich verschob Teile des Heitmann-Projektes nach links. Wo war der Rest? Die Unterlagen vomWoGe-Projekt gerieten durcheinander, als ich sie rechts neu stapelte. Sie waren auch unvollständig, der Fortschrittsbericht vom letzten Jahr fehlte. Er musste hier irgendwo sein. Früher wäre mir das nicht passiert.
Es lag alles durcheinander.
Es hatte keinen Zweck. Wenn es doch schon Montagmorgen wäre.Wenn irgendjemand hier wäre.Wulf, wenn Wulf jetzt hier wäre.
Abdul. Sah er heute wirklich aus wie Khan damals?
Nichts passiert ohne Grund, sagte Greta immer.
Abdul war wieder da. Im Fernseher und im Keller noch immer. Dort hatte ich ihn damals mit allem anderen begraben.
Sah er wirklich aus wie Khan? War das aus ihm geworden?
Der Keller, der Karton. Es war alles noch da. Ich musste nur runtergehen.
Das alte Foto von Abdul, es lag im Keller.Wie er damals aussah, als wir uns auf braunem Sand im Schatten der Marmalberge trafen. Als wir den Schulbau abnahmen. Er und ich vor dem Tor. Es war so ein friedvoller Tag gewesen. So voller Hoffnung.
Er konnte nicht wie Khan aussehen.
Ich müsste nur den Karton hochholen. Ganz kurz nur.War ja nichts dabei. War ja nur ein Karton mit altem Zeugs. Hatte doch jeder.
Aber nur ich hatte ein Bild von Abdul. Ich kannte ihn.
Ich griff mein Schlüsselband und trat in den Hausflur. Er war kalt. Vielleicht zog die Kälte von hier herein. Ich stieg hinab.
Der Winter war in die Mauern gezogen. Mich fröstelte. Es würde schnell gehen. Ich musste nicht suchen. Der Karton stand immer in der hintersten Ecke. In allen Kellern, in all den Jahren. Ganz tief im Regal. Er stand dort, wo das Regal an die Wand stieß und man ihn leicht mit Sonnenschirmen, Campingstühlen und Gardinenstangen zustellen konnte. Lauter unnützer Kram von Greta. Es wurde von Jahr zu Jahr mehr.
Ich hing an nichts. Ohne zu zögern, würde ich die halbe Wohnungseinrichtung aus dem Fenster werfen, wenn da nicht Greta wäre, die so unglaublich viel Wert auf den ganzen Tand legte. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank, ein Rechner, mehr hatte ich in meinen zwölf Dienstjahren in der Truppe auch nicht. Ich hängte mir keine Fotos an die Wand, stellte mir keine IKEA-Deko hin, machte es mir nicht behaglich.
Als gemütlich hatte ich immer die Momente auf der Heckplatte meines Panzers empfunden, wenn die Sonne nach einem langen Schießtag rötlich über der Lüneburger Heide unterging, der frische Oktoberwind einen tiefer in den Feldparka zwang und man in Seelenruhe langsam und tief an einer zerdrückten Zigarette zog. Die Restwärme des 1.500-PS-Motors wärmte einem dabei den Hintern durch. Das war mir genug. Mit Teelichtern auf Korbuntersetzern hatte ich nie viel anfangen können.
Großzügig hatte ich bei jedem Umzug weggeworfen. Greta meckerte immer. Was wollte sie mit dem Krempel? Übrig geblieben war ein halbvoller Kleiderschrank. Greta warf längst ein Auge auf dessen freie Hälfte. Ein paar Abschiedsgeschenke aus der Kompanie und eben dieser eine Karton. Sonst hatte ich nichts durch mein Leben geschleppt.
Ich hatte ihn sorgfältig zugestellt, er stand sonst doch nur im Weg.
Ich räumte die Campingstühle beiseite, den Sonnenschirm. Allmählich kam der Umzugskarton hinter all dem Müll zum Vorschein. Unscheinbar wie die Erinnerungen darin. Ich hatte mit Bleistift »Afghanistan« auf ihm notiert.
Afghanistan.
Wer konnte schon verstehen, was das bedeutete: Afghanistan. Oft hatte ich ein ehrfürchtiges Raunen erlebt, wenn mein Einsatz bei Fremden zur Sprache kam. Mit Fremden ließ sich noch einigermaßen darüber reden. Nur das Allgemeine. Mal hingen sie einem an den Lippen, oft sah man sich aber auch sofort in Diskussionen verstrickt, die auf nichts anderes hinausliefen als ein nachgeplappertes Loblied auf universalistische Menschenrechte für alle. Auch für das letzte Burkamütterchen im Hochland von Feyzabad, die nicht mal ahnte, dass es so etwas wie Freiheit überhaupt gab. Dann hielt ich lieber meine Schnauze, mit den Diskussionen war ich durch. Ich blieb lieber für mich.
Endlich stand der Karton frei im Regal. Ganz wohl war mir nicht. Ich hätte die Nudeln aufessen sollen. Jetzt war mir flau im Magen.
Den Karton hatte ich lange nicht gesehen. Meine Erinnerung gewöhnte sich nur langsam daran, wie Augen an plötzliche Finsternis.
Meine Handschrift war Jahre alt und klein genug, um nicht aufzufallen zwischen all den anderen Kartons, aber so sauber,dass man sofort erkannte, der Schreiber hatte sich Zeit genommen für dieses eine Wort: Afghanistan.Wahrscheinlich hatte er sich richtig Mühe gegeben, so wichtig war es ihm gewesen. Aber auffallen sollte es nicht.
Ich zerrte den Brocken aus dem Kellerregal. Egal. Nur das eine Bild. Sah er wirklich aus wie Khan?
Es lag wenig Staub darauf, er war auch nicht angestoßen, die Kanten waren noch spitz. Er stand fest wie an dem Tag, an dem ich alles darin eingemottet hatte.
Es war der Tag, an dem ich mich an der Uni einschrieb. In Zivil, ich war raus aus der Bundeswehr, hatte meine Zeit abgedient. Plötzlich war ich einer von vielen, nicht mehr der Vorgesetzte. Dass ich Hauptmann war, Einsatzveteran, das interessierte niemanden von den Kindern an der Uni. Für die war ich ein alter Mann, für mich waren sie unfertig. Ihnen fehlte der Schneid. Gerade den Jungen. Alles nur Keksteig: weichgeknetet, ungedient, untauglich.
Vielleicht war ich zu streng mit ihnen. Ich konnte sie damals kaum ertragen. Sie hatten nicht gesehen, was ich gesehen hatte. Sie ließen mich in Ruhe.
Ich wollte mit all dem nichts mehr zu tun haben, kein Soldat mehr sein, mit dem Studium ganz neu anfangen. Zwar völlig überaltert, das ja, die zwölf Jahre Truppendienst standen mir ins Gesicht geschrieben. An der Uni war ich das verwitterte Ledergesicht. Aber ich konnte es nicht ändern. Ich wollte neu anfangen, und so packte ich den Karton an dem Abend,als ich meinen Studentenausweis nach Hause trug. Ich schrieb mit Bleistift auf die braune Pappe und vergrub den Karton im Keller. Ich öffnete ihn danach nie mehr.
Nun stand er vor mir. Ich musste an Anthony Swofford und Jarhead denken. Der alternde Ex-Marine blickte auf sein Leben zurück. Swofford war traumatisiert.
Ich war kein Ernst Birkholz oder Paul Bäumer auf Fronturlaub, mit Remarques Romanverlierern hatte ich nichts zu tun. Ich war auch kein Johannes Clair.Wahrlich nicht. Er hatte zu kämpfen. Ich war Offizier, ich hatte einen anderen Auftrag, und den führte ich aus. Und den Kram hier hatte ich einfach nur Ewigkeiten nicht angefasst, und jetzt tat ich es. Mehr nicht.
Es gab auch keine Klischeegeschichten von großen Träumen zu erzählen, die an der Front so richtig durchgeknetet wurden. Träume hatte ich keine, sondern Verantwortung, einen klaren Auftrag und den festen Willen, ihn auszuführen. Weil es richtig war. Die Dinge liefen falsch, das war es.
Ich hatte genauso wenig Geschichten zu erzählen von Sprengfallen, Hinterhalten und Feuergefechten, dass die Scheiße nur so durch den Ventilator flog. Ich war kein Ernst Jünger, Afghanistan war nicht die Westfront 1915. Bis auf das eine Mal hatte ich damit nichts zu tun.
Ich packte den Karton, fasste den Deckel – und ließ ihn wieder los. Hier war kein Platz zwischen all dem Müll. Aber ihn nur wegen Abdul nach oben zu tragen,war doch lächerlich.Was sollte das schon bringen, in dem alten Kram herumzuwühlen? Nur weil Abdul in der Tagesschau zu sehen war? Wer war er schon?
Ich setzte mich auf einen Campingstuhl und rieb mir den Staub von den Fingern. Jetzt eine rauchen.
Das war eine Scheißidee. In Bewegung bleiben. Kein Ziel bieten.
Ich hob den Karton an, trug ihn nach oben, stellte ihn neben den Esstisch in der Wohnküche und öffnete die Balkontür.Meine Ohren glühten. Es war alles so lange her. Das flaue Gefühl im Magen war verschwunden, aber mein Kopf kochte. Fieber?
Lächerlich. Ich schloss die Tür, räumte den Tisch frei, warf das Deko-Gelumpe mehr auf den Couchtisch, als dass ich es stellte, und starrte auf den Karton.
Ich wusste genau, was mich jenseits des Pappdeckels erwarten würde: Zeugs. Erinnerungsstücke. Banales wie Taschenkarten, Ausrüstung, Bilder, Bücher.
Wenn ich heute sterben und Greta irgendwann meinen Nachlass durchsehen würde, würde sie das meiste davon achtlos wegwerfen. Zu Recht. Denn am Ende war es eben nur das: Zeugs. Aber es war mein Zeugs, jeder Gegenstand eine Erinnerung.
So viele Erinnerungen waren an einen Fetisch gebunden: ein Foto, ein Brief, ein Lied, ein Geruch – irgendetwas, das sie konservierte und ihr eine Gestalt gab, ein Gefühl. Etwas, was den Fluch auslöste und die Erfahrung dahinter lebendig werden ließ.
Mein Magen meldete sich zurück.
Jeder Gegenstand im Karton erzählte seine eigene Geschichte. Eine Episode in dem,was ich »meine Zeit in Afghanistan« nannte. Ich war mir nicht sicher, ob ich sie alle hören wollte.
Was wollte ich überhaupt?
Ich war nicht krank, ich brauchte keinen Arzt, keinen Pfarrer, keinen Seelsorger. Ich wollte nur sehen, wie Abdul damals aussah.
Nur kurz reinschauen. Es war okay.
Ich öffnete den Karton – und schnaubte.
Beim Verschließen ich einst eine Sicherung für den Moment ein, in dem ich schwach und den Karton öffnen wollen würde. Ich breitete den Shemag über den Inhalt aus und stopfte ihn wie ein Bettlaken an den Innenwänden des Kartons fest. Er verhüllte alles darunter. Das khaki-schwarze Tuch war letzte Hürde und Warnung zugleich.
Jetzt war dieser Momentgekommen,und ich beugte mich über den Karton. Wie lächerlich. Als wenn man ein Tuch über die Erinnerungen legen könnte, und dann würden sie verschwinden.
Es war wie mit den Zielen auf der Schießbahn, wenn sich im Herbst ein Nebelschleier am Morgenüber das Zielgelände im Vorfeld legte. Der Feind war nicht mehr aufzuklären. Er entzog sich der Sicht. Und blieb dennoch da. Wie beim Mond.Auch wenn man ihn nicht sah, war er doch da. Das galt auch für den Feind im Nebel und erst recht für die Erinnerungen. Der Nebel schützte sie sogar, ließ sie sich annähern, aus nächster Nähe überraschend zuschlagen.Aus der Tagesschau heraus.Unerwartet. Rücksichtslos. Trefferblitz.
Was halfen Shemags gegen Erinnerungen, was sollte einWüstentuch ausrichten gegen einen Sandsturm? Am Ende sickerte und zwängte sich der Staub doch unter deine Haut, in deine Nase und deinen Rachen, dass man vor Körnern kaum noch atmen konnte.Man konnte dem Sand nicht entkommen. Nicht am Hindukusch.Man konnte auch den Erinnerungen nicht entkommen. Nirgends.
So vieles war lächerlich. Was ich damals zu wissen glaubte.Was ich dachte, tun zu müssen, hoffen zu dürfen. Was ich meinte, wer ich war. Und heute? Worauf konnte ich heute hoffen, was hatte ich schon noch für einen Auftrag?
Ich stand über den Karton gebeugt, das khaki-schwarze Leichentuch unter mir. Ich wusste genau, was darunter vor meinen Blicken verborgen war. Es war ein altes Leben. Eins meiner alten Leben, aber ein besonderes, vielleicht das Bedeutendste, was ich je getan hatte.
Ich zog mir einen Stuhl heran und lehnte mich zurück. Der Shemag ruhte vor mir. Ich wartete, atmete langsam. Okay. Es würde gehen.
Ich beugte mich über das Tuch, ganz tief, und roch daran. Durch die Jahre roch ich den Wüstensand.Wobei Wüstensand noch etwas Romantisches hatte, etwas von Tausendundeiner Nacht und Lawrence von Arabien. Der Shemag roch eher nach Staub und Kot und Dreck, er roch nach Afghanistan, so wie ich es kennengelernt hatte. Nein, so wie ich es verlassen hatte. Kennengelernt hatte ich es anders. Da roch es noch anders, da roch Afghanistan noch nach Erfüllung. Als mir die Heckklappe der Transall in Mazar-e-Sharif den Weg in eine andere Welt öffnete. Es war der Tag meiner Ankunft in Afghanistan.
Dicht gedrängt saßen wir im dunklen Bauch des Fliegers. Es rumpelte mächtig. In zwei langen Doppelreihen warteten wir auf den Moment, in dem die Nase der Transall kippen würde.
Wir stellten das neue deutsche Einsatzkontingent amHindukusch. Ich war stark, bereit. Die Bügelfalte in der fabrikneuen Feldhose zeichnete sich im Stoff ab. Die Taschen hatte ich vollgestopft mit Zeugs, als würde es nie wieder Nachschub geben, als würde ich direkt in die Hintertäler im Feindesland abspringen. Ich wünschte es mir. Dafür war ich ausgebildet.
Wir waren die Neuen in Afghanistan, die Ablösung, die in den Kampf geworfen wurde – wild, hungrig, bereit. Endlich. Seit Monaten hatte ich ein Porträt von Osama bin Laden im Portmonee bei mir.Das von 1988 mit dem erhobenen Zeigefinger. Es erinnerte mich daran, warum ich hier war. Dafür wurde ich Soldat. Um zu schützen. Die Lüneburger Heide war nur eine Station auf dem langen Weg in die Transall.
Wir waren bereit, und doch schaute ich nur in erschöpfte Gesichter. Erschöpft von einer quälenden Verabschiedung zu Hause und erschöpft von einer langen Reise um den halben Globus an das hässliche Ende der Welt. Irgendwo jammerte ein Diensthund.
Dann ein Erwachen. Sinkflug, steil und heftig, ein kräftiger Stoß beim Aufsetzen, abruptes Bremsen, Stillstand. Angespannte Betriebsamkeit, Gurtschnallen schepperten, Ausrüstung wurde zusammengepackt, Uniformen schoben sich übereinander, während der Ladungsfeldwebel über uns hinwegkletterte, um die Heckklappe hinabzulassen.
Als sich ein erster Spalt öffnete, verrenkten wir uns die Hälse. Wie zu lange im Dunkeln eingesperrt, zog uns der schmale helle Streifen an. Eine lichtgewordene Verheißung. Alles drängte in Richtung Ausgang, jeder wollte zuerst draußen sein. Ich ließ mich mitreißen. Auch ich wollte endlich meine Kampfstiefel auf afghanischen Boden setzen. Darauf hatte ich so lange gewartet, alle Sehnsucht drängte nach draußen. Afghanistan. Krieg.
Die Heckklappe schlug auf den Asphalt des Flugfeldes, und ich folgte der Verheißung ins Licht.
Blinzelnd stand ich auf dem Flugfeld.Wie im Film, nur auf der anderen Seite der Mattscheibe. Viel zu oft und viel zu lange hatte ich dort hineingeglotzt, wenn ich den Alltag nicht mehr ertragen konnte.Das Papier,das Als-ob,die Frage nach dem Wozu und Wasdann. Wie oft hatte ich diese Szene schon im Fernsehen gesehen: Ein junger Mann betrat die Bühne irgendeines Schlachtfeldes in Übersee. Auf seinem Rücken ein Rucksack voll drückender Erinnerungen an ein Zu Hause, das ihn hierher getrieben hatte. Er hoffte auf etwas anderes, egal was.
Wie oft hatte ich mir gewünscht, selbst einmal nach einem langen Flug in einer wackeligen Maschine über menschenleere schwarze Nachtböden in die sengende Sonne eines Kriegsgebietes hinauszutreten. Dorthin, wo die ermüdende Banalität eines entfremdeten Lebens bedeutungslos würde und man sich angesichts eines fürchterlichen Feindes bewähren musste. Das Risiko war mir willkommen. Es fühlte sich nach Leben an.
Und jetzt stand ich hier, endlich war der Tag gekommen.
Das Flugfeld stank nach Teer und Kerosin, das Gift brannte in meinen Lungen, und ich strahlte. Ich war weit weg von allem. Weiter weg hätte ich nicht fliehen können. Das hier war eine andere Welt. Alle Alltagszwänge waren aufgehoben, es war die Stunde Null. Ich war frei.
Ich atmete tief ein.Um mich herum nur ausgedörrte Wüste. Der feinkörnige Staub setzte sich sofort in meiner Nase, meinem Mund und meinem Bart fest. Und ich strahlte.
Ich stand in einem riesigen Heerlager im Nirgendwo. So hatte ich es im Fernsehen gesehen, so hatte ich es mir vorgestellt. So wollte ich es haben. Ich war überwältigt: Tornados starteten, ihre Strahltriebwerke donnerten im Tiefflug, und Propellermaschinen spuckten frische Wüstenkrieger aus aller Herrn Länder mit Ausrüstung, Helmen und Rucksäcken aus ihren Bäuchen aus.
Es war November, aber mit braun gebrannten Armen und durchgeschwitzten T-Shirts lungerten die Altgedienten im Schatten der Flughallen herum und rauchten billige Zigaretten. Ein gepanzerter Konvoi mit laffettierten Maschinengewehren dröhnte aus dem Feindesland zurück und zog eine lange Staubwolke hinter sich her.
Ergreifend. Meine Augen wurden feucht.Das wollte ich. Tun, wofür ich ausgebildet war: für die gute Sache kämpfen. Einmaliges bewegen. Den Taliban mächtig in den Arsch treten.
Wäre es einem Offizier nicht unangemessen gewesen, ich hätte auf die Knie sacken und in Tränen ausbrechen können.
Es konnte mir alles nicht schnell genug gehen. Ich drängte darauf rauszufahren. Ich war ein ausgetrockneter Schwamm, presste die faule Luft aus meinen Lungen, zog mich zusammen, um das aufzunehmen, wofür ich geschaffen war. Mich dürstete nach Afghanistan. Ich konnte meine erste Fahrt in die Stadt nicht erwarten. Ich war zu allem bereit.
Bis dahin wusste ich nichts mit dem Shemag anzufangen.
Hauptmann Harst wartete an meinem dritten Tag auf der Fahrzeugplatte auf mich. Er hielt seinen Shemag in der Hand. Ich verband damit nur vermummte Palästinenser, die mit Fahne und Schleuder israelische Sicherheitskräfte angingen. Ich hätte mir nie ein Palästinensertuch um den Kopf gewickelt, ich wollte Gesicht zeigen.
Hauptmann Harst deutete ein Lächeln an, als er mich mit demGefechtshelm auf dem Kopf knitterfrei an der Sammelstelle auflaufen sah.
Er hatte mich an meinem ersten Tag vom Flugfeld abgeholt. Der Artillerist wirkte auf mich wie ein müder Truppenpsychologe. Wenn man mit ihm sprach, senkten sich seine Augenlider oft halb wie am Freitagabend vor dem Fernseher. Er hatte Afghanistan bereits hinter sich. Wenn er mich als seinen Nachfolger eingearbeitet hätte, würde er in wenigen Tagen abfliegen. Er war eigentlich schon fort. Ich wusste nicht wohin.
Mit dem Helm auf dem Kopfund dem Sturmgewehr in der Hand stand ich vor ihm und den beiden MercedesWölfen.Harst warf seine Ausrüstung in den Heckraum und band sich seinen Shemag um den Hals. Er sagte nichts und kletterte in den ersten Jeep. Er hatte nicht mal eine Langwaffe dabei. Seine Pistole steckte er blank in die Jackentasche. Ich kam mir vor wie bei meiner Einschulung. Mit meiner Schultüte voller Munition und Verbandszeug zwängte ich mich über die Fahrertür nach hinten zu Harst ins Führungsfahrzeug.
Der Dieselmotor brummte auf und wir rollten auf das Feldlagertor zu.
Ich hatte Harst gedrängt,mir die Stadt zu zeigen.
»Was wollen Sie da sehen?«, fragte er.
»Alles. Land und Leute. Das Gelände, den Sand, von dem sie alle sprechen.«
»Für unseren Dienstposten ist das nicht erforderlich.« Er schien gleich einzuschlafen.
»Aber für mich.«
»Wenn Sie sich da mal nicht täuschen.«
Dann hatte er in der Fahrzeuggruppe angerufen und uns als stumme Mitfahrer für eine Einweisungsfahrt der Kfz-Gruppe gemeldet.
Die Feldlagertore öffneten sich vor uns. Dahinter lag Afghanistan. Stacheldrahtsperren wurden entfernt, Kameraden mit dunklen Brillen und Sturmgewehren grüßten. Hinter dem Maschinengewehr auf dem Wachturmerhob sich eine Hand zum Gruß. Wir rollten hinaus.
Vor den Mauern betrieben die afghanischen Sicherheitskräfte eine weitere Schleuse. Ein Heerhaufen an bemitleidenswerten Tagelöhnern lungerte am Straßenrand herum und wartete darauf, für ein paar Stunden bei uns »Aalmaani« arbeiten zu dürfen.
Ich saß hinten im Jeep und gaffte. Neben mir träumte sich Hauptmann Harst durch das Glas hinaus. Er sah aus dem Wolf ins Feindesland wie andere aus dem Stadtbus nach einem langen Arbeitstag. Vorn rechts rutschte ein Oberfeldwebel auf dem Sitz hin und her, ein Frischling wie ich. Er schwitzte, seine Glatze war feucht, und er fuchtelte nervös mit den Geländekarten herum. Der Fahrer, ein Oberfeldwebel mit Gunslinger-Bart, erzählte ununterbrochen von seinen Heldengeschichten der letzten Monate. Oberfeldwebel erzählten immer Heldengeschichten. Niemand hörte ihm zu. Sein Nachfolger faltete Karten auf und zu und schwitzte dabei.Harst träumte, wovon auch immer.
Ich saugte alles auf.Die sowjetischen Panzerwracks am Straßenrand, Zeugen eines vergangenen Krieges. Verrostet, ausgeschlachtet, entkernt. Auf den Straßen Konvois afghanischer Polizisten. Braune Gesichter auf den Ladeflächen von Ford Rangern. Manche grüßten, die meisten starrten. Sie teilten sich die Straße mit Eselskarren, Kamelen und Toyota Corollas. Legionen von weißen und weiß-gelben Corollas, alle vollgepfropft mit Menschen.
Nur Selbstmordattentäter saßen allein im Auto.
Am Straßenrand liefen Afghanen. Um sie herum nur Sand und unter ihnen Asphalt. Ich suchte die Umgebung nach Bushaltestellen oder dergleichem ab, aber es war nichts zu sehen. Kein Taxistand, kein Haus, nichts.Diese Afghanen liefen, um sich fortzubewegen.
Bei uns lief man nur zur Haltestelle, wenn der Bus schon in der Anfahrt war. Wir hatten uns das Laufen gründlich abgewöhnt, viele hatten es ganz verlernt. Man sah es ihnen an. Gerade im Sommer. In Flipflops laufende Menschen – ein entwürdigender Anblick.Aber hier lief man noch,man konnte es noch.Die weiten Kleider der Afghanen flatterten im Wind.Der Sand schien ihnen nichts auszumachen.
Und Burkas, ich hielt Ausschau nach ihnen, wollte sie endlich selbst sehen. Ich kannte all die Burka-Witze, den Burkini und all den Schrott.
Für mich war die Burka ein Schleier. Sie verhüllte den Menschen darunter. Geheimnisvoll wie das Land. Was verbarg sich dahinter?
Die erste Burka, die ich sah, war die Marias.
»Maria?«, fragte ich den Fahrer und sah auf den blauen Haufen am Kreisverkehr vomHighway 76 und der Airport Road.
Die Fahrbahn wurde durch schwarz-gelbe Betonblöcke vom Staub und Sand und Schotter des Nichts dahinter abgegrenzt. Im Nichts saß Maria und lehnte sich schwer auf die durchgezogenen Begrenzungssteine. Ihren Kopf hielt sie noch aufrecht, ihren Körper musste sie stützen. Sie lag halb auf einer Plastiktüte mit ihren wenigen Habseligkeiten. Müll. In ihrer blauen Burka ruhte sie zu Füßen des vorbeischeppernden Transitverkehrs. Laster um Laster ächzte durch den Kreisel, überladen rußten und quälten sie sich durch das Rondell. Ich schluckte und schüttelte mich.
Der Fahrer drosselte die Geschwindigkeit, um sich in den Kreisverkehr zu drängen. Er hupte. Wieder und wieder.Maria saß keine drei Schritte von mir entfernt.
»Die sitzt da jeden Tag. Weiß keiner, wie sie wirklich heißt.« Der Fahrer zuckte mit den Schultern. »Wir nennen sie Maria. Keine Ahnung, wer sich das ausgedacht hat. Bettelt.« Dann blökte er nach vorn. »Verdammte Axt, der soll sich da verpissen mit seinem Karren.« Er schlug auf die Hupe, bevor er den Kopf über die Schulter nach hinten drehte. »Schön bescheuert am Highway. Der EOD hat sie schon mal untersucht.Um sicherzugehen, dass sie keine Bombe ist. Aber war wohl nix. Die macht’s nicht mehr lange.« Er drehte sich wieder nach vorn. »Nu verpiss dich da.«
Ein Eselskarren schob sich zwischen die Autos, anscheinend wollte er den Kreisel kreuzen, aber das Langohr bockte nach einem Drittel der Strecke. Der bärtige Afghane auf dem Karren, ein alter Mann mit weniger Zähnen als Falten im Gesicht,drosch mit seinem Rohrstock auf das Tier ein.Das blökte nur vor Schreck vor den riesigen Jingletrucks.Quietschend stiegen die in die Eisen. Die schwerfällige Fracht auf den Containern schob die Laster zusammen. Stoßstange an Stoßstange stauten sie sich. Nichts ging mehr.
Maria rührte sich nicht. Der Wind fuhr ihr durch die Burka, und aus dem blauen Geflatter streckte sie mir eine zierliche, zum Schälchen geformte Hand entgegen. Ungefilterte Abgasnebel hüllten sie schwarz ein. Sie zuckte. Sie hustete.
»Die erstickt da in dem Nebel.«
»Mir kommt hier auch gleich alles hoch, wenn der scheiß Yallah da nicht endlich verschwindet!« Wieder hupte der Fahrer.
»Müssen wir jetzt nach links?« Der Oberfeldwebel mit der Glatze auf dem Beifahrersitz wischte sich mit der Karte den Schweiß von der Stirn.
»Erst muss der Alte weg.« Der Fahrer ruckte an. »Wir sind hier ein erstklassiges Ziel.Wenn ich ein Bomber wäre, würde ich michgenau jetzt hochjagen. Weg da, Mann!«
Marias Burka färbte sich um den Mund herum rot.
»Sie hustet Blut. Halten Sie an! Wir müssen sie da wegholen. Die erstickt doch.« Ich umklammerte mit beiden Händen die Fahrerlehne.
»Nichts werden wir«, mischte Harst sich ein. »Setzen Sie zurück, und fahren Sie über den Acker.«
»Links oder rechts jetzt?«, die Glatze sah sich hilfesuchend um.
»Warten Sie doch!« Ich richtete meinen Blick auf Harst. »Herr Hauptmann, lassen Sie mich raus. Die Frau muss da weg.«
Der Alte auf dem Karren stand mit einem Bein auf der Deichsel und schlug auf den Esel ein. Der hatte schon Schaum am Mund. Weiße Toyotas drängten sich über den Seitenstreifen an den Lastern vorbei. Gleich würden sie auch uns umringen.
»Zurücksetzen, Oberfeldwebel.« Harst spähte aus dem Fenster.
»Herr Hauptmann«, protestierte ich, »Sie können doch nicht… wir können doch nicht…Die Frau…Maria!«
»Die hat Schlimmeres hinter sich.« Er sah mich nicht mal an. »Zurücksetzen.«
»Verdammte Kacke«, der Oberfeldwebel legte den Rückwärtsgang ein und ruderte am Lenkrad. Der Motor heulte auf. »So eine Kacke hier. Bloß weg aus diesem Scheißland.Noch drei Tage. Dann fahre ich wieder gemütlich auf der A3.«
Hinter uns setzte auch unser Begleitfahrzeug zurück. Der Fahrer musste schon geahnt haben, worauf es hinauslief.
Marias Hand war mitihrem Kopf hinabgesunken.Sie schüttelte sich vor Krämpfen. Der Begrenzungsstein unter ihr färbte sich rot.
»Herr Hauptmann!«
»Links über den Acker.Machen Sie schon, mir gefällt das nicht.«
Der Fahrer schlug hart ein, prügelte den Vorwärtsgang ins Getriebe und trat das Gaspedal durch.
»Herr Hauptmann!« Meine Blicke wechselten zwischen Maria und Harst.
»Oberleutnant«, jetzt sah er mich an. Seine Augen waren ganz offen. »Und wenn Maria, Mutter Jesu Christi, hier höchstpersönlich vor mir das Zeitliche segnet – wir halten nicht. Dem Esel gehen wir nicht auf den Leim. Denn dann hält jemand neben uns. Ein einzelner Mann in einem Auto.« Er blickte mir in die Augen. »Buuum. Vier Soldaten killed in action. Willkommen in Afghanistan.«
Der Fahrer rumpelte über den Acker Richtung Stadt. Harst zog sich den Shemag über Mund und Nase.
Maria entschwand meinen Blicken im schwarzen Nebel. Sie schien sich nicht mehr zu rühren.
Maria. Meine erste Burka.
Bis zur Stadt schwiegen wir. Der Fahrer drängte den Verkehr auseinander. Die Glatze glich die Karten mit dem Straßenbild ab. Harst träumte.
Dreihunderttausend Seelen hofften in Mazar-e-Sharif auf Besseres. Es war ein Moloch. Die Häuser und Straßen trauerten in Braun und Grau und Beige und Ocker. Mauern und Monotonie.
Auch wenn wir längst wieder auf Asphalt fuhren, Harst nahm seinen Shemag nicht ab.
»Sieht noch gut hier aus«,kommentierte der Fahrer. »Sie müssen sich mal Kabul anschauen. Das sieht hier noch gut aus.«
Ich hatte noch nie so viele verwachsene, vernarbte, verstümmelte und verlorene Gestalten gesehen. Sie hockten im Dreck, starrten aus Bretterbuden, hausten in Ruinen und Frachtcontainern, lungerten in Gruppen herum und boten fleckiges Vieh feil. Kinder mitVerkrüppelungen, Schädelbeulen so groß wieTennisbälle, mit fließendem Schleim aus Nase und Ohren.Opiumsüchtige Eltern und zahnlose Aussätzige. Sie lagen, kauerten, starben in den Straßen. Eine Stadt voller Marias. Teilnahmslos wurde das hingenommen.Wer gesund war, den scherte es einen Dreck.
Hauptmann Harst reichte mir eine Flasche Desinfektionsmittel aus seinem Feldparka. »Nehmen Sie das. Das brauchen Sie eher, als das da.« Er deutete auf mein Gewehr.
Den Starken gehörte die Stadt: den jungen Business-Afghanen im Anzug mit Handy am Ohr,die sich in den neuen Zeiten ihre Gebetskette vergoldeten. Den aufstrebenden Verwaltungsbeamten,den Drogenhändlern – alte Warlords und neue Kriegsgewinnler – die sich am aufgepumpten Staatssäckel kräftig bedienten.
Hier war kein Platz für persische Romantik. Mazar-e-Sharif war ein Drecksloch. Kein Strom, kein Wasser, keine Arbeit, nicht mal eine Beschäftigung. Vegetieren in den Straßen.
Und ein Gestank. Wie faule Gullis in der Sommerhitze. Auch im November. Das Abwasser trocknete offen in den Straßengräben.Durch Luken wurden die Exkremente auf die Straße gekippt, wo die Bauern sie mit Handwagen aufschippten.
Ich zog mir meinen Shemag ins Gesicht. Ich konnte es nicht ertragen. Ich hatte es mir anders vorgestellt.Mir spukten Bilder vom Kleinen Muck im Kopf herum, von weiß getünchten Häusern des Orients, stolze Handwerker mit kräftigen Unterarmen, goldene Minarette.
Hier gab es nur Dreck. Von Plastik vermüllte Straßen. Einwegflaschen und flatternde Tüten überall. Staub- und erddurchsetzte Müllberge, an den Straßenrand geschoben, untrennbar voneinander. Eine Stadt auf einem Müllfundament. Darauf das Vieh, überall Ziegen, die Kinder und das Essen.
Ich entdeckte einen vierjährigen Jungen mit einer Pistole am Straßenrand. Eine russische Makarow, ich konnte es nicht genau erkennen. Der Junge hielt die Waffe in den Händchen, seine kleinen Finger umspannten den Verschluss, er versuchte, die Pistole fertigzuladen. Daneben fraß eine räudige Straßentöle Plastikmüll. Der Junge quetschte sich die Finger, schaffte es aber nicht, die Makarow zu spannen. Aber er gab nicht auf. Immer wieder nahm er all seine kindliche Kraft zusammen,um die Waffe fertigzuladen. Immer wieder.
Wir fuhren die Regierungsgebäude ab,die Sehenswürdigkeiten wie die Blaue Moschee, die internationalen Hilfsorganisationen. Allesamt Festungen mit Betonsperren, stacheldrahtbewehrten Mauern und bewaffneten Sicherheitskräften.Eine Stadt im Kriegszustand.
Wir passierten die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für Afghanistan in einem besseren Teil der Stadt. Der Komplex lag an einer befahrenen Straße, und ein Polizist in grauer Uniform bewachte mit einer Kalaschnikow die runtergewirtschaftete blaue Wehrburg aus bröckelndem Putz und Stacheldrahtverhauen. Mit drei Meter hohen Mauern und Polizisten versuchte die Mission sich gegen das Land zu wehren, zu dessen Hilfe sie errichtet worden war.
Ein bärtiger Greis, ein Klappergestell von Unterernährung, näherte sich dem Polizisten davor. Der Uniformierte versuchte, ihn mit einer schüttelnden Handbewegung zu verscheuchen. Dann wendete er sich uns zu und grüßte mit erhobener Hand. Er lächelte. Als er merkte, wie sich das Skelett hinter ihm doch weiter heranschleppte, zögerte er nicht. Er rammte ihm die Schulterstütze auf die Brust, bevor er die Betonsperren erreichen konnte.
»Fuck!«,entfuhr es mir.Durch die Scheiben unseres Wolfes hörte ich nichts, aber in meinem Kopf war das knackende Brechen des Brustbeins zu hören.
Der alte Mann ging zu Boden, sein Pakol landete neben ihm im Staub, doch bevor er danach greifen konnte, trat der Polizist die Mütze weg und rammte ihm seinen Stiefel ins Gesicht. Ein roter Blutbrei lief dem Mann aus Mund und Nase. Er wälzte sich am Boden.
Ich war Soldat. In meinem Leben drehte sich alles um Gewalt, um militärische Gewaltanwendung. Aber auf diese Art von Gewalt war ich nicht vorbereitet. Einen feindlichen Kampfpanzer auf zweitausend Meter Entfernung mit einem sauber platzierten Projektil zu vernichten, das hatte ich gelernt. Einen anstürmenden Feind auf zweihundert Meter mit dem Sturmgewehr niederzuschießen, das war Gegenstand der Grundausbildung. Zerfetzte Gliedmaßen abzubinden, Training in der Einsatzvorbereitung. Zuzuschauen, wie ein alter Mann auf offener Straße von einem Polizisten zerschlagen wurde, darauf war ich nicht vorbereitet.
Ich suchte Harsts Blick. Der Hauptmann zuckte nur die Achseln: »Noch drei Tage und ein Frühstück.«
Ich war gelähmt. Wir fuhren langsam am Polizisten vorbei, er winkte freundlich.
»Da kannste nichts machen«. Der Fahrer beschleunigte.
Doch. Ich sah keinen Film mehr, das hier war echt. Ich war hier, um zu handeln. Wir waren hier, um zu handeln. Damit es anders würde, besser. Doch: Wir konnten was machen.
»Halten Sie an!«, befahl ich.
»Weiter Marsch«, entgegnete Harst.
»Herr Hauptmann, halten Sie an! Da liegt ein Mann verletzt am Boden.«
Harst zog seinen Shemag hinunter. »Wir mischen uns nicht in innerafghanische Angelegenheiten ein, das geht uns nichts an.«
Ich musste ihn anstarren, denn er quälte seine Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben. »Guck nicht hin, Krieger, hier kannst du nichts tun. Die verstehen nicht mal das Problem.« Harst nickte mir zu. »Wird schon, man gewöhnt sich dran. Afghanistan is not worth dying for.«
Die Sache war für ihn erledigt.
»Aber das«, ich streckte meinen Arm in Richtung des Polizisten aus, »kann es auch nicht sein. Wir müssen anhalten. Oberfeldwebel!«
»Herr Hauptmann?« Der Fahrer trommelte auf das Lenkrad.
Harst blieb ruhig. »Das ist deren soziale DNA. Lass es.« Er klopfte dem Fahrer auf die Schulter. »Weiter Marsch. Bringen wir es schnell hinter uns.«
»Nein, Herr Hauptmann. So nicht. So können Sie doch nicht gehen.«
Der Wolf rollte ruhig weiter. Der Fahrer beobachtete uns im Rückspiegel. Seine Blicke sprangen zwischen uns hin und her.
Harst sah mich lange an. Er forschte. In mir oder sich. »Drehen Sie um, Oberfeld, wir fahren zurück.«
»Verdammte Axt!« Der Fahrer kurbelte den Wagen herum, dass es die Glatze an die Seitenscheibe presste. Wir waren die Straße schon einige Hundert Meter heruntergerollt. »Charlie Eins, hier Charlie«, funkte der Fahrer an das Fahrzeug hinter uns. »Wir fahren zurück zu Uniform November. Keine Fragen. Ende.«
»Los, schneller«, drängte ich.
»Hier laufen Leute,Herr Oberleutnant.« Anzugträger und Händler verengten die Straße. Als sie den Motor heulen hörten, sprangen sie zur Seite. »Ich mach schon so schnell es geht.« Er drückte immer wieder auf die Hupe.
Der Wolf kreuzte die Straße und kam vor den Vereinten Nationen zum Stehen. Der Polizist rauchte längst im Wärterhäuschen an der Mauer. Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Die Betonpoller und Stacheldrahtsperre verhinderten unsere weitere Annäherung. Von dem Skelett war nichts zu sehen.
»Lassen Sie mich raus!« Ich ruckte am Fahrersitz.
Der Oberfeldwebel saß ab, und ich zwängte mich raus. Hinter uns kam der zweite Wolf zum Stehen.
»Was ist los?«, brüllte ein Unteroffizier herüber.
»Demmler soll absitzen und die Straße runter sichern.« Er wandte sich mir zu. »Sie haben fünf Minuten, Herr Oberleutnant,dann müssen wir weiter.Länger dürfen wir nicht stehen.Sonst könnten wir Besuch kriegen.«
Der Polizist trat mit einem Kollegen aus dem Wärterhäuschen. Beide rauchten und warteten, was passieren würde. Der Kollege deutete auf die Stacheldrahtsperre, aber der Oberfeldwebel winkte ab.
»Und was wollen Sie jetzt tun?«, fragte Harst von der Rückbank.
Ich sah mich um. Der Alte war weg. Seine Mütze war weg. Ich suchte den Boden nach Blutspuren ab, fand aber nichts. Vielleicht hatte der Schläger sie im Sand zertreten und verstreut. Verwinkelte Mauern, Gassen, Ecken, der Alte konnte in so viele Richtungen verschwunden sein. Verflucht, wo war er?
Ich machte ein paar Schritte auf die Kreuzung zu. Es war hoffnungslos.
»Herr Oberleutnant, es bringt nichts«, rief mir der Fahrer von hinten zu.
Er hatte recht.Der Alte war weg.Aber der Polizeischläger nicht.
Harst schien etwas geahnt zu haben, denn als ich mich umdrehte, stand er schon zwischen mir und dem Wärterhäuschen. Ich musste an den Psychologen aus der Einsatzvorbereitung denken, wie er da vor mir stand. Er forschte wieder. Ohne Schutzweste, ohne Helm, nur im Feldparka, die Hände in den Taschen. Die Polizisten waren schon wieder in ihrem Kabuff verschwunden.
Harst schüttelte den Kopf: »Die verstehen nicht mal das Problem. Selbst wenn Sie es ihnen in ihrer Sprache erklären könnten. Lassen Sie es. Man gewöhnt sich daran.«
Ich atmete tief ein. Der aufgewirbelte Sand der vorbeifahrenden Autos stand in der Luft. Ich zog ihn tief ein. Ich hörte das Brechen des Brustbeins. Sah den roten Brei auf demBoden.Dann atmete ich aus und ging ich zum Jeep zurück.
Wir fuhren ab, und ich schaute lange zurück. Über dem Wärterhäuschen wehte die blaue Fahne der Vereinten Nationen. Sie war das Letzte, was ich von der Szene sah.
Zurück fuhren wir über die Sandstrecke im Süden. Harst zog sich den Shemag wieder über Mund und Nase. Ich fuhr ohne. Es war November, aber trocken. Kein Gras und kein Regen hielten Dreck und Sand am Boden. In grau-braunen Wolken wurde er von unseren Jeeps aufgewirbelt. Er kroch durch die Lüftung, die Fensterritzen, die Heckplane. Er war wie Mehl. Er kroch ins Haar, in die Augen, in die Nase und den Rachen, wo er sich in dicken Schichten ablagerte, dass manaustrocknete und sich beim Schlucken den Hals aufkratzte. Er rieb den Zahnschmelz ab, grub sich in die ausgedörrten Lippen, dass man innerlich vom Staub und Dreck und Kot auf den Feldern aufgefressen wurde.
Nach unserer Rückkehr ins Feldlager, als ich den Sand auszuspucken versuchte, lachte Hauptmann Harst zum ersten Mal aus voller Brust und klopfte mir auf die Schulter. Er lachte den ganzen Weg zurück zu unserer Unterkunft, er lachte, und ich schlich hinterher. Ich schwieg und kaute Sand.
Die Dinge würden sich ändern müssen. Dafür waren wir hier. Um Dinge zu ändern.
Noch immer über den Karton gebeugt, nahm ich den Shemag in die Hand. Er war leicht, grob gewebt, es war nichts Feines an ihm. Die Baumwolle fühlte sich steif an, rau. Ein ausgewaschenes Etwas. Ich hatte die Handgriffe nicht verlernt, ich musste nicht darüber nachdenken, wie man ihn anlegte.
Ich trat vor den Spiegel im Badezimmer. Graue Ringe umrandeten meine Augen, Furchen gruben sich tief in meine Stirn, mehr war nicht von meinem Gesicht zu erkennen. Den Rest verschluckte der Shemag.
Aber das reichte mir damals irgendwann auch nicht mehr. Ich mauerte mich hinter schwarzen Gläsern ein. Mit Schutzbrille, Shemag und tiefsitzendem Barett, schwarz wie meine Welt, blieb vom Menschennicht viel mehr übrig als eine formlose Maske in Uniform, eine regungslose Maschine in Schwarz, Khaki und Oliv. Man musste sich nicht mehr verstellen. Niemand konnte die hängenden Augen sehen, die rote Haut, den versandeten Bart.
Ich bewegte mich am Ende nur noch so.
Das war mein Afghanistan. Dreck und Staub und ein Shemag, der keinen Schutz bot. Nichts konnte dort Schutz vor dem Sand bieten. Wenn er einmal in dich eingedrungen war, verdorrte er dich von innen heraus.AmEnde wurde man wie er. Trocken und haltlos.
Es schüttelte mich. Die Nudeln krampften sich aus meinem Magen Richtung Rachen. Das war der Shemag. Ich fingerte an dem Tuchknoten herum. Er zitterte in meinen Händen. Hitze stieg in mir auf. Mein Herz pochte. Einzelne Schweißtropfen traten durch die Haut auf meine Stirn.