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Cassy ist weg. Atticus sitzt in einer Zelle. Etwas verfolgt ihn und er weiß nicht was. Kann er der trügerischen Hoffnung Glauben schenken, die das seltsame Mädchen mit den Narben ihm macht? Wohin führen die Kavernen unter dem verregneten Arundale? Was führt der Anführer einer Menschenhändlerbande wirklich im Schilde? Und was geschieht weit draußen im Wald von Edgemoore wirklich zum Neujahrsfest Sangheyl?
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Seitenzahl: 261
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Ich widme dieses Buch meiner Schwester Jana. Du bist die beste Nervensäge der Welt.
Till Straßner wurde im Winter 1996 in Heidelberg geboren und zog 2003 nach Rheinland-Pfalz. Seit seiner Kindheit begeistert er sich für das Mysteriöse und Fantastische in der Literatur. Im Jugendalter fand Straßner seinen Traumberuf in der Schriftstellerei und veröffentlichte im Jahr 2023 mit „Edgemoore“ den ersten Band seiner eigenen Buchreihe.
Rabenkinder, Rabenkinder,
schwarzes Federkleid,
spitze Zunge, scharfe Krallen
Und des toten Mannes Maid
Rabenkinder, Rabenkinder,
ungewollte Brut,
fliegen durch die Straßen,
trinken Rattenblut
Rabenkinder, Rabenkinder,
sind des toten Mannes Schmaus
eins, zwei, drei
stechen dir die Äuglein aus
- Kinderreim
1. Die Träumerin III
2. Ratten
3. Die Träumerin IV
4. Hunde
5. Eine betrübliche Liebe I
6. Der Goldgefiederte
7. Die Träumerin V
8. Finsternis
9. Eine betrübliche Liebe II
10. Dow´s Meadow
11. Old Lamp Jack
12. Die Träumerin VI
13. Dinner im Herrenhaus
14. Eine betrübliche Liebe III
15. Sangheyl
16. Die Träumerin VII
17. Familie
18. Die Träumerin VIII
„Morgen.“, begrüßte sie eine Stimme. Cassy wälzte sich herum und erblickte Billy, die auf ihrem Bett lag, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und den Blick zur Decke gerichtet.
„Guten Morgen Billy.“, murmelte Cassy schlaftrunken.
„Hayden ist oben, du wirst also mit mir Vorlieb nehmen müssen.“, sagte die junge Frau nüchtern ohne ihren Blick von der Decke abzuwenden.
Cassy lächelte.
„Das ist schon in Ordnung.“
Eine Weile lagen sie nur so da und lauschten dem Heulen des Windes draußen. Irgendwann ergriff Billy das Wort: „Du hast Horace kennengelernt.“
„Ja.“
„Ist netter, als er aussieht, was?“
Cassy nickte.
„Ihr habt euch unterhalten?“
„Er meint, ich sollte zurück gehen.“
„Hayden auch.“, sagte Billy, den Blick starr an die Decke geheftet. „Ist ja auch nur logisch, oder was hast du gedacht?“
Cassy sagte nichts.
„Was HAST du gedacht?“, hakte Billy neugierig nach.
„Du willst nicht zurück.“, stellte sie trocken fest.
Cassy schüttelte beklommen den Kopf.
Billy lachte.
Sie drehte sich zu ihrem Gast um und sah ihr direkt in die Augen. Etwas Schelmisches lag im Blick ihrer bunten Iris.
„Und? Schon eine Idee?“, fragte sie.
„Du findest nicht ich…“
„Solltest zurück? Auf keinen Fall. Die machen sich Sorgen, aber wenn du mich fragst, solltest du dich davon nicht beirren lassen. In deinem Alter bin ich öfter aus dem Waisenhaus geflohen, als ich zählen konnte.“, fuhr sie zwinkernd fort.
„Ich habe einen Onkel in Irland. Er würde mich sicher aufnehmen.“, erklärte Cassy.
Auch wenn sie daran zweifelte, dass Billy Winter ein gutes Vorbild abgab, so hatten ihre Worte doch etwas Aufbauendes. Die Vorstellung zu gehen, erschien ihr nicht mehr so unwirklich.
„So eine Überfahrt ist nur leider nicht billig.“, erklärte Winter.
Unwillkürlich huschte Cassys Hand zu ihrer Brosche.
„Das wird leider nicht reichen.“, sagte Billy und runzelte die Stirn. Dann umspielte ein Lächeln ihre Lippen.
„Aber du könntest arbeiten. Ich habe da eine Freundin, oben in Arundale. Sie hat ein Herz für kleine Ausreißerinnen. Da könntest du für eine Weile unterkommen, was ansparen, weißt du und dir dann ein Schiffsticket kaufen. Es sollte auch ein Gutes sein, du willst ja nicht auf irgendeinem Kutter mitfahren. So ein kleines Mädchen wie du, allein, für Wochen nur mit betrunkenen Seemännern… nein, das willst du ganz sicher nicht. Silver Line wäre was für dich. Da musst du zwar ein paar Monate arbeiten, aber hey, so kommst du sicher nach Hause. Oder wohin auch immer.“
„Und du… du würdest mir helfen?“, fragte Cassy zaghaft.
„Natürlich! Ich bin nicht so schlimm, wie ich aussehe.“,
raunte Billy und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die ihre Worte Lügen zu strafen schien.
„Eines bleibt aber sicher: In Port Avalon kannst du nicht bleiben, allein schon wegen dieses Pinkertons. Wenn der in der Stadt rum schnüffelt, wird er dich irgendwann finden. Ich werde mich die Tage mal umhören.“
„Und… und Hayden? Wird sie…?“
„Einverstanden sein? Behalt es mal noch für dich, aber ich werde sie schon überreden können.“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“, protestierte Hayden energisch. Vehement verschränkte sie die Arme vor der Brust und funkelte Billy mit einer Mischung aus Wut und Enttäuschung an. Die lümmelte wie so oft auf ihrem Bett herum und betrachtete die Flecken an der Decke. Unbeeindruckt von Haydens Widerworten pulte sie sich Dreck aus den Fingernägeln und führte die Diskussion scheinbar nur beiläufig mit. Das Narbenmädchen schien endlich einen Transport organisiert und das Thema behutsam bei Hayden zur Sprache gebracht zu haben.
„Du wirst sie nicht mit nach Arundale nehmen!“,
wiederholte Hayden. Zittrig fummelte sie an dem kleinen Kruzifix um ihren Hals herum.
„Und wie…“, seufzte Billy genervt, „… soll es dann weitergehen?“
„Ich kann mir eine Arbeit…“, warf Cassy ein, die es nicht ertrug Hayden so aufgewühlt zu sehen. Vielleicht gab es ja eine andere Möglichkeit? Billy winkte ab.
„Noch einmal: Es gibt hier in der Stadt keine Arbeit für Leute wie dich. Du bist zu jung, hast keine Erfahrung, geschweige denn Talente und du ratzt ohne Vorwarnung weg. Die einzige Arbeit findest du draußen am Hafen und dann hätte ich dich auch gleich da lassen können. Wir gehen nach Arundale.“
„Aber ihr schafft es doch auch.“, warf Cassy ein.
„Weil wir schlauer und erfahrener sind als du, Kindchen.“
„Könnte ich nicht…“
„Siehst du? Das meine ich; Du bittest. Hier bist du falsch aufgehoben Cassy. Meine Freundin Cat in Arundale hat mehr Verwendung für höfliche junge Damen als wir.“
„Nein,“, rief Hayden hysterisch, „du wirst sie nicht zu dieser furchtbaren Frau mitnehmen!“
„Das hast du allein nicht zu entscheiden.“, erwiderte Billy kalt.
„Manchmal wünschte ich, dieser Hound hätte das Messer nie abgesetzt!!!“, knurrte Hayden und in ihrer Stimme lag eine solch verzweifelte Wut, ein so glimmender Hass, dass Cassy etwas Angst bekam.
Was war nur so schlimm an dieser Cat?
Billy setzte sich auf.
Ihre Augen funkelten, doch als sie sprach, war sie gefasst: „Geh raus Cassy.“
Hayden widersprach: „Bleib hier, du brauchst nicht…“
„Geh. Raus.“
Cassy sah zwischen den beiden Mädchen hin und her, erhob sich und tapste zur Tür hinaus nach oben in die Schenke. Als sie die oberste Stufe der Treppe erreicht hatte, vernahm sie Billys zornige Schreie, dann ging ihre Stimme in der Geräuschkulisse der Taverne verloren.
Die Schenke war gut gefüllt: Stadtvolk, Ladenbesitzer und anderes Gesinde drängte sich an den niedrigen Tischen und ertränkte die Sorgen des Alltags in Ale.
Cassy vernahm das Klatschen von Spielkarten auf Holz, das raue Lachen der Seemänner, das Flackern des gedämmten Gaslampenlichts und das Aneinanderschlagen von Bechern, das die von Rauch getränkte Luft durchdrang.
Wie immer wurde ihr schwindelig, wenn sie die Schenke betrat. Die Flut an Eindrücken vernebelte ihren Geist.
Horace, der dicke, rotgesichtige Wirt sah sie und quetschte sich am Tresen entlang auf sie zu. In den letzten Tagen hatte Cassy den wuchtigen Mann mit den Oberarmtätowierungen und dem gewaltigen Bart trotz seiner direkten Art liebgewonnen. Er war weit freundlicher, als er aussah und erinnerte sie ein wenig an Abraham, dem er in seiner Statue in nichts nachstand.
„Mädchen!“, grüßte er sie; ohne zu lächeln, aber mit Herzlichkeit in der Stimme, wie es seiner Art entsprach:
„Ich dachte ihr schlaft schon?“
„Nein.“, murmelte Cassy. „Die beiden streiten sich.“
„Ah.“, grummelte Horace und kratzte sich am Bart. Er zapfte ein kleines Glas Bier und stellte es ihr hin.
Wie verrückt, dachte sie.
Noch vor ein paar Wochen hatte sie nicht mal an einem Wein genippt, Percy und Lance hatten ihr Alkohol streng verboten und nun war das Bier am Abend ein Ritual geworden. Wenn sie das Lily erzählte… Horace beugte sich vor und erkundigte sich nach dem Grund des Streits seiner zwei Dauergäste.
„Is es wieder wegen der Ratten? Ich hab ihnen gesagt, dass die zum Zimmer dazugehören. Wenn sie die net mögen, ihr Pech. Was soll ich sonst in den Eintopf werfen?“
Lachend klopfte der Riese Cassy auf den Rücken, sodass sie die Hälfte ihres Ales ausschüttete.
Sie wartete etwa eine Stunde, trank gemütlich ihr Ale zu Ende, dass sie fest mit beiden Händen umklammerte.
Zwischen den düster drein blickenden Gestalten; den Arbeitern und Tagelöhnern wirkte das kleine, rothaarige Mädchen völlig verloren.
In Anbetracht ihres ersten Erlebnisses mit Fremden in Edgemoore war sie dem Schankvolk zunächst skeptisch gegenüber gewesen, doch in den vergangenen Tagen mit Billy hatte sie etwas von ihrer Scheu verloren und sich mit dem ein oder anderen Stammgast angefreundet.
Es hatte sie überrascht, wie viele von Ihnen Winter kannten, ihr sogar mit Respekt und manchmal Furcht begegneten und als sich einmal herumgesprochen hatte, dass Cassy eine Freundin des Mädchens mit den Narben war, wurde ihr die gleiche Höflichkeit entgegengebracht.
Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so viele neue Gesichter kennengelernt zu haben.
Da gab es Beppo, einen neunfachen Vater, der stets in Sorge war, wie er das nächste Kind versorgen konnte, das schon unterwegs war. Seine ganze Familie, bis auf die zwei Allerkleinsten, arbeitete, nur damit sie genug zum Leben hatten. Für Cassandra, deren größtes Problem immer die große Auswahl an Speisen gewesen war, stellte dies eine extrem befremdliche Vorstellung dar.
Dann war da ein Mann namens Stynwykk, ein grimmiger Herr aus der Foster Lane. Bei seinem ersten Anblick war Cassy ein Schauer über den Rücken gelaufen, doch er hatte sie schnell für sich gewonnen, nachdem er ihr einige Geräte aus seinem Laden gezeigt hatte.
Ätherische Kunst war der Oberbegriff für das einmalige Kleinod, das er selbst herstellte und Gerätschaften darstellte, die jeden Beobachter in Staunen versetzte.
Laut Mr. Stynwykk gab es nur noch eine Handvoll Menschen auf Edgeland, die dieses traditionsreiche Handwerk beherrschten. Im Laufe der letzten drei Jahrhunderte waren die meisten als vermeintliche Hexen hingerichtet worden. Für ihn schien Billy gewisse
„Aufträge“ zu erledigen, über deren Natur keiner von beiden ein Wort verlor.
Unter all den Gestalten, die Horace´ Pub regelmäßig einen Besuch abstatteten, waren die eindrucksvollsten die Schwarzröcke. Wären es nicht ihre pechschwarzen Mäntel, so doch die unangenehme Stille, die eintrat, wenn die Ordnungshüter einen Raum betraten, an der man ihre Anwesenheit erkannte. Schnell hatte Cassy gelernt, dass man den Umgang mit den Vertretern der Herzogin lieber mied, wenn man nachts ruhig schlafen wollte.
Als Cassy in die Wohnung von Billy und Hayden zurückkehrte, lugte der helle Vollmond hinter Edgemoores dunklen Wolken hervor. Es kam kein Geschrei aus dem Lagerraum, stattdessen umgab ihn eine fast greifbare Stille.
Billy saß aufrecht in ihrem Bett.
Hayden lag auf dem Ihren, das Gesicht von der Tür abgewandt und die Beine eng an den Oberkörper gezogen.
Als das Knarzen der Tür Cassys Ankunft verriet, rührte sie sich, sah aber nicht auf.
Billy hob den Kopf.
Wie Cassy bemerkte, trug sie nicht mehr das bunte Sammelsurium abgetragener Kleidung, sondern eine alte Latzhose und ein Beret auf dem Kopf.
„Wir gehen.“, sagte sie.
Wortlos stand sie auf und warf Cassy eine Hose, ein Hemd und eine Schiebermütze zu.
„Zieh das an.“
„Was? Jetzt?“, fragte Cassy überrascht.
„Jetzt.“, antwortete das Mädchen mit den Narben knapp.
„Aber…“
Eine Geste ihrer Hand brachte Cassy zum Schweigen.
Unsicher blickte sie zum Bett hinüber.
„Hayden?“, fragte sie zaghaft.
Sie bekam keine Antwort.
Es war im schummrigen Licht kaum zu erkennen, doch Cassy konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Körper auf dem Bett leicht zitterte.
„Hayden?“
Nichts.
Von Billy wollte sie wissen, was denn passiert sei, doch die schüttelte nur Kopf und murmelte etwas von „empfindlich“.
Zögerlich wechselte Cassy die Kleidung.
„Steck die Haare unter die Mütze, ja so sieht das gut aus.“
„Das Hemd ist mir viel zu groß…“
„Macht nichts. Pack deine Kleidung hier rein.“
Sie hielt Cassy einen Leinensack hin. Wie sie bemerkte, zitterten Billys Hände leicht.
„Wozu das Alles?“
„So reist es sich sicherer.“
Mit weit mehr Kraft als notwendig schlug Billy die Tür auf.
„Aber…was…was ist denn los… wo gehen wir denn hin?“
„Zum Hafen. Und dann nach Arundale.“
„Und Hayden, sie…“
„Mach dir um die keine Sorgen. Die fängt sich schon wieder.“
Das „Die“ betonte Billy seltsam harsch und verstärkte damit Cassys Unverständnis für die ganze Situation. Was war denn auf einmal los?
Trotz Billys Drängen auf den Aufbruch ließ Cassy es sich nicht nehmen an Haydens Bett zu treten und ihr Lebewohl zu sagen. Sie drehte sich noch immer nicht um, doch als Cassy sich wieder abwandte, schnellte ihre Hand nach oben und packte sanft Cassys Handgelenk.
Zärtlich streifte ihr Daumen sie zum Abschied.
Im schlechten Licht war es nur schwer erkennbar, aber Cassy meinte einen dunkelblauen Fleck auf ihrem Handballen zu erkennen.
Bei Nacht, gestand Cassy sich ein, wirkte das Hafenviertel um einiges bedrohlicher als am Tage.
Vermummte Gestalten lungerten in Gassen herum und warfen den Vorbeigehenden schiefe Blicke zu; grölende, scheeläugige Matrosen torkelten an den Piers entlang; grimmige Schwarzröcke patrouillierten das Viertel in kleinen Gruppen. Der Klang ihres gleichmäßigen Marsches vermischte sich mit dem Rasseln und Klicken ihrer Bewaffnung.
Die meisten Geschäfte, wenn sie nicht vernagelt waren, hatten geschlossen, weshalb die verschmierten Scheiben der alten Pubs und einsame, rostige Laternen die einzige Lichtquelle darstellten.
Die Mädchen standen an Pier Nummer neun und warteten. Worauf, das hatte Billy ihr nicht gesagt.
Der Wind, der vom Meer aufkam, zog an Cassys Kleidung und ließ sie frösteln. Sie rieb die Hände aneinander. Wie Billy da so einsam am Ende des Stegs stehen konnte, in ihrer dünnen Jungenbekleidung und nicht fror, war Cassy ein Rätsel.
Was war nur vorgefallen, dass die beiden so bedrückte?
Für gewöhnlich war Billy wesentlich redseliger. Nun hatte sie eine Mauer aus Schweigen um sich aufgebaut und Cassy hatte nicht den blassesten Schimmer, was in dem Mädchen vorging.
Vom Aufgang des Piers waren schwere, schnaufende Schritte zu vernehmen.
„Ah, na endlich.“, rief Billy in die Stille hinein.
„N´Abend die Damen.“, grüßte ein mittelgroßer und in Cassys Augen ziemlich hässlicher Mann. Er stapfte auf sie zu und lüftete seinen abgetragenen Bowler.
„Schhhht“, zischte Billy.
„Achso, ja richtig. Aber mal ehrlich hier ist doch keine Menschenseele, was soll der Aufriss?“
„Ich bezahl sie nicht fürs Fragen stellen, oder?“, giftete Billy. Offenbar mochte sie den Kerl nicht.
„Ich mein ja nur.“, grummelte er. „Apropos, Bezahlung…“
„Das Regeln wir später.“
„Na, mir wärs schon lieber, wenn wir das jetzt machen.“
Er grinste schief und entblößte gelbe Zähne.
Billy gab einen undeutbaren, gurgelnden Laut von sich.
Cassy spürte ihren bohrenden Seitenblick, dann streckte sie ihre Hand in Cassys Richtung und öffnete sie. Sie wusste, was das ältere Mädchen von ihr wollte. Doch sie brachte es nicht über sich.
„Cassy“, hakte Billy streng nach.
„Ich…“
Ihre Hände glitten über die Brosche in ihrer Tasche – das einzige Erbstück ihrer Mutter.
„Mach schon.“
Billy sagte es langsam und ruhig, aber ein leichter, drohender Unterton lag in ihrer Stimme. Cassy atmete tief durch und zog das Schmuckstück hervor. Mit zitternder Hand streckte sie den Arm aus und ließ sie in Billys´ fallen. Diese reichte es dem Mann, der es gegen das Mondlicht hielt und mit einem prüfenden Blick betrachtete. Das Kleinod verschwand in seiner Manteltasche.
Schnellen Schrittes führte er sie den Pier entlang zu einem Steg, an dem ein ordentlich vertäuter Einmaster lag.
Das Boot, ein Schiff konnte man es nicht nennen, war mit einer breiten Kabine, einem Stand für den Steuermann und einem kleinen Dampfantrieb ausgestattet.
Schweigend bestiegen sie den Kahn.
„Es dauert ne gute Stunde bis der Kessel läuft. Macht´s euch gemütlich, Gentleman.“
Billy rollte mit den Augen, nickte ihm zu und bedeutete Cassy ihr in die Kabine zu folgen.
Durch zwei niedrige Fenster strömte Mondlicht ins Innere und erlaubte den beiden Mädchen sich zu einer Sitzecke zu hangeln. Billy entzündete eine kleine Gaslampe, die auf dem Tisch stand. Als das schummrige Gaslicht ihre Züge erleuchtete, bemerkte Cassy, wie verhärtet und angespannt diese waren.
Schweigen erfüllte die Luft während ihr Kapitän die Leinen losmachte, das Segel setzte und den Kessel befeuerte.
„Wer ist der Mann?“, fragte Cassy, nicht einmal aus Neugier, sondern mehr aus dem Wunsch heraus, die Stille zu durchbrechen.
„Niemand Wichtiges.“, murmelte Billy nur. Angespannt folgte ihr Blick den Strahlen des wolkenverhangenen Mondes.
Wieder Schweigen.
„Wo bringt er uns hin?“
„Weißt du doch.“
Cassy folgte Billys Blick hinaus zum Firmament. Ihr war schon aufgefallen, dass man in Edgemoore keine Sterne sah, zumindest nicht oft. Zu dicht waren die Wolken und der Nebel. Nur in seltenen Nächten wie diesen war dem Auge immerhin ein Blick auf die große weiße Scheibe am Himmelszelt vergönnt, deren kaltes, blasses Leuchten die Nacht erhellte.
„Was…“, Cassy zögerte, doch sie wollte es jetzt wissen,
„… was ist mit Hayden. Warum war sie so aufgebracht und warum war sie so… so fertig?“
Billy sah sie durchdringend an.
„Wir haben uns eben gestritten.“
„Aber warum hat sie solche Angst vor Arundale?“
In ihr war schon die Frage aufgekeimt, ob sie nicht ein Übel gegen ein Anderes eingetauscht hatte. Es war nicht lange her, dass sie aus dem Postamt geflohen war, doch es kam ihr vor, wie eine Ewigkeit. Ihre Angst war nach wenigen Tagen einer jugendlichen Neugier gewichen.
Nun flammte sie wieder auf, so brennend und klar wie zuvor. Hatte sie am Ende doch einen gewaltigen Fehler begangen?
„Sie hat nicht Angst vor Arundale, sondern vor Cat.“,
raunte Billy.
„Deiner Freundin?“
„Ja.“
„Aber warum?“
Lange sah Billy ihr in die Augen, bevor sie antwortete.
„Weil Cat eigentümlich ist. Und sie sich nicht mögen.“
„Eigentümlich?“
„Ja.“
„Und Arundale?“, erkundigte sich Cassy.
„Wird dir nicht gefallen, das sag ich dir jetzt schon. Aber besser, als auf der Straße zu leben. Du verstehst das nicht, aber Hayden ist wie… ja, eine Mutter ohne Kinder.
Das stimmt sogar. Ständig findet sie irgendwelche verirrten Vögelchen oder…“
„…verirrte Mädchen…“
„Ja.“
Billy grinste; zum ersten Mal seit dem Vortag, wie Cassy auffiel. Im Lampenlicht sah ihr Gesicht entsetzlich aus.
Fast wollte sie wegsehen, widerstand dem Impuls aber.
Es wäre nicht nett.
„Und dann muss ich sie auf den Boden zurückholen, wenn sie mal wieder spinnt. Sie wollte mal Kinder haben, weißt du. Der Wunsch steckt tief in ihr drin.“
„Wieso hat sie keine?“
Billy lachte.
„Weil sie das nicht mehr kann.“
Cassy hatte in der vergangenen Zeit zumindest soviel gelernt, dass es Fragen gab, auf die man keine Antwort wollte.
„Sie hatte es auch nicht ganz leicht, weißt du. Aber ich finde sie jammert trotzdem zu viel.“
Da war sie wieder: Billy Winter.
„Wie dem auch sei, ich seh mal draußen nach dem Rechten. Nicht, dass uns der Idiot gegen eine Klippe steuert.“
Ermattet ließ Cassy sich auf eine kleine Hängematte fallen. Sie erblickte Billys Schatten, als diese an Deck schritt; dann überkam sie der Schlummer.
Name: Unbekannt
Alter: Unbekannt, zwischen 25 und 30 Jahre
Männlich, rothaarig, schlank, Gesundheitszustand: schlecht
Gefunden zur dritten Stunde am Ufer der Parlament-Promenade von Off. I. James Squeale, Patrouillienleiter Süd-Ost
Kein Besitz (Kleidungsstücke wurden einige Meter weiter angespült und sind nach Trocknung bis zu einer eindeutigen Zuordnung in Fundtruhe B19 unterzubringen)
Bis zur Klärung der Identitätsfrage wurde das Subjekt zu sicherer Verwahrung an die Kaserne Folger-Süd übergeben; Zellenblock 3 – Zelle 9; verantwortlicher Unteroffizier: Off. II. Carlson Hansruck
Untersuchung läuft!
- Steckbrief aus dem Schichtbericht von James Squeale
Regungslos verharrte die kleine Spinne in ihrem Netz. Sie wartete geduldig, während die Stunden vergingen.
Tag ein; Tag aus beobachtete ich sie.
Ohne ein einziges ihrer langen, haarigen Beine zu bewegen, lauerte sie mit der Wachsamkeit eines wissenden Räubers, den Zeit und Erfahrung gelehrt hatten, dass das Schicksal die Geduldigen belohnt.
Bssss.
Das Opfer kündigte sich mit jenem unverkennbaren Geräusch an, das der letzte jämmerliche Klang Tausender vor ihm war und Tausender nach ihm sein würde.
Bssss.
Ein Salto in der Luft; der unwissende Blick der Facettenaugen. Die Spinne wartete.
Bssss.
Es kam näher.
Schon spürte der Räuber den Windschlag der winzigen Flügel, die frei und fröhlich summten.
Ein weiterer Salto folgte. Eine Landung an der feuchten Wand.
Bssss.
Geifer tropfte über Greifzangen. Geschmiert und geölt warteten sie zuckend auf die Beute.
Noch ein Salto; im Zickzack ging es hinauf und hinab; ein akrobatisches Meisterwerk, dem Akrobaten unwürdig - er war nur eine Fliege, ein niederes Geschöpf, wert genug verspeist zu werden, denn zu mehr taugte es nicht.
Oh, so groß war der Hunger… Die Spinne spürte die Vibrationen in der Luft, den schnellen Schlag der winzigen Organellen. Doch Geduld… nur Geduld.
Wieder ein Salto; einen Meter in die Luft, dann klatschte die Fliege mit einem Schmatzen gegen die schimmelige Decke – so knapp vorbei an den silbrigen Fäden, dem elysischen Kunstwerk, dessen Schöpfer kauerte und wartete.
Die Beute taumelte, drehte einen verirrten Salto und dann…
Bssss.
Panisches Zucken, Desorientierung, Angst – ein großer, haariger Leib erschien mit der Geschwindigkeit des Windes über der Fliege und breite Chitinzangen durchbrachen das Außenskelett mit einem widerlichen Knacken.
Ein Gift wurde injiziert; keine allzu große Dosis, eben nur so betäubend, dass das Opfer sich nicht mehr wehren konnte, gegen das, was unweigerlich folgte.
Ich beobachtete das Tier jetzt schon eine ganze Weile von meiner Zelle aus und gestand mir ein, dass so ein Spinnenleben gar nicht so bescheiden war, wie ich es mir immer ausgemalt hatte.
Das Essen kam von selbst auf den Teller, man konnte sich sein eigenes Haus aus dem Allerwertesten ziehen und man schien problemlos an jeden Ort gelangen zu können, der einem vorschwebte – vorausgesetzt, es gab Ritzen, die groß genug waren.
Und wenn es einem dort nicht mehr gefiel, dann zog man um; durch eine andere Ritze, an einen anderen Ort und zog sich ein neues Haus aus dem Allerwertesten. Die Immobilienpreise der Spinnenwelt lagen sicherlich im Keller, aber wen interessierte das schon, angesichts unbegrenzter Verfügbarkeit von Grundstücken.
Schockierenderweise war mein vielbeiniger Zellengenosse mir damit in Puncto Lebensqualität um Einiges voraus.
Er hatte ein eigens Haus.
Er hatte etwas Nahrhaftes zu essen.
Er hatte keine Familie, die ihm Kopfzerbrechen bereitete.
Immerhin war guten Gewissens davon auszugehen, dass er die Seine gefressen hatte. Moralisch sah ich mich also auf dem Siegertreppchen, aber einen vollen Magen bekam ich davon trotzdem nicht.
Eine Ratte huschte mir über die Füße.
Die kleinen Beinchen streiften meine Zehenspitzen und kitzelten sie.
Ich lachte.
Beim Klang meiner eigenen Stimme, die kalt von den schimmeligen, grauen Wänden wieder hallte, fröstelte es mich.
Vier Tage zuvor hatte ich mich bei diesen nächtlichen Überfällen übergeben, jetzt aber waren sie mir egal. Es war fast erfreulich, etwas lebendigen Kontakt zu haben.
So traurig das klingt, aber hat man erst einmal eine Woche in Dunkelheit und den eigenen Exkrementen verbracht, sehnt der Geist sich nach jeder Form von Gesellschaft.
Hinzu kam der außerordentliche Unterhaltungsfaktor, den eine Rattenkolonie unter dem Fußboden mit sich brachte.
Sobald die jüngeren Ratten das Nest verließen und sich zum mitternächtlichen Walzer neben meinem Scheißeimer einfanden, wurden schon mal die meisten von ihnen von ihren Eltern bei lebendigem Leib gefressen. Das weniger fröhliche Gequieke, das dabei die schimmelsporenreine Luft des Kerkers erfüllte, wurde einzig von dem Geräusch übertönt, das die Überlebenden bei ihrer Orgie zur Feier des überstandenen Festmahls verursachten. Keine Frage: Dieser exklusive Zyklus inzestösen Kannibalismus war eine Augenweide, die den glücklichen Inhabern der Einzelzellen vorbehalten blieben. Beschwerden lagen mir deshalb fern. Aber er wäre doch weitaus angenehmer zu genießen, wenn die Ratten dabei zumindest eine gewisse, nachbarschaftliche Ruhezeit einhielten. Der enthusiastische Freizeitzoologe benötigt irgendwann einmal eine Mütze Schlaf.
Niemand erwähnte, wie ich mir meinen kostenfreien Aufenthalt in der noblen Royal Suite des Hotels Folger Prison verdient hatte. Daher reimte ich mir Folgendes zusammen: Ein schlecht gelaunter Wachmann war eines Abends den Kanal auf und ab patrouilliert. Er hatte sich nichts Böses gedacht, als aus dem Nichts etwas Glitschiges, Zitterndes, um nicht zu sagen, ein betrunkener Haufen Elend, aus dem schwarzen Wasser aufgetaucht und gegen die Kaimauern geschwappt war.
Jener Wachmann hatte sein müdes Hirn rattern lassen und war final zu der einzig logischen Konsequenz gekommen, dass es sich um einen besoffenen Taugenichts aus dem gegenüberliegenden Viertel handelte. Für gewöhnlich hätte er besagten Taugenichts allerhöchstens als Bedrohung der städtischen Ästhetik angesehen, wäre selbiger nicht nackt und offensichtlich, wenn auch nur knapp, lebendig.
Dem armen Wachmann war entsprechend keine andere Wahl geblieben, als den mitternächtlichen Ruhestörer aus dem Wasser zu ziehen und in die nahegelegene Kaserne der Schwarzröcke zu schleppen, zumindest um Bürokratie, Form und Arbeitsethos genüge zu tun. Leider kam es, wie es kommen musste: Anstatt den anständigen Weg Richtung Wasserleiche und geschlossener Akte einzugehen, prustete der Tagedieb wieder und wieder, entledigte sich dabei nebst drei Litern schwarzen Flusswassers diverser Erfrischungsgetränke auf Hefebasis und schlug die rot geäderten Augen auf.
Was man in früheren Zeitaltern gut und gerne als ein Wunder des Allmächtigen angesehen hätte, bedeutete für die Ordnungshüter ihrer herzöglichen Exzellenz leider Arbeit. Da kam es gerade Recht, dass besagter Tagedieb nicht nur Kleider- sondern auch papierlos war und sich weder an den Grund seines abendlichen Bades im Adamsgewand, noch den Namen seiner Absteige erinnerte.
Für meine schwarz gewandten, neuen Freunde wurde das Glück perfekt, als sich außerdem herausstellte, dass niemand aus Folger den Fremden zu kennen schien.
Und so einfach wurde aus einer Nacht langer Arbeit eine Abführung: In die Zelle, ein paar Tage warten und das Fieber und die Entkräftung erledigen den Rest.
Die Erinnerung an das von Narben gezeichnete Mädchen und den Überfall kehrte schnell wieder; die an den Namen des Hotels leider nicht. Und so war mir nichts anderes übrig geblieben, als geduldig abzuwarten, mich den Träumen meines aufkommenden Fiebers hinzugeben und zu einer Vielzahl gesichtsloser Götter zu beten, Abe möge doch endlich aufschlagen und mich auf seinen schwarzen Stahlarmen hier heraus tragen.
Immerhin hatte ich die Ratten.
Den einzigen Lichtblick bildete Abbot Grey; ja, der freundliche Schwarzrock.
Er war am zweiten Tag der Gefangenschaft zufällig im Kerker aufgetaucht und sichtlich überrascht über meine Anwesenheit gewesen. Ohne lange zu fackeln, hatte er mir versprochen nach Abe zu suchen. Doch seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört.
Abwarten blieb die einzige, frustrierende Option während die Arme des Schicksals Cassandra immer weiter von mir fortzogen.
Das Fieber blieb meine größte Sorge.
Des Nachts, wenn ich in unruhigen Dämmerschlaf hinab glitt, erhoben sich wogend die Gedanken aus den Untiefen meines Verstandes.
Erinnerungen an Vergangenes stiegen in mir auf; Erinnerungen an Cassy, an Lance und Percy und sogar zuweilen an Charlie.
Verschwommene, undeutliche Bilder schwammen am Horizont fiebriger Träume vorbei und zogen meinen Geist hinein in den Mahlstrom verlorenen Friedens und vergangener Unbeschwertheit. Zuweilen überschnitten die Phasen unruhigen Schlafes sich mit den trüben Tagen und ich sah die Gesichter all derer, denen einst Vertrauen und Liebe gegolten hatten, auf den grauen, dunklen Wänden vorüber gleiten. Und manchmal sogar, wenn der Blick trübe wurde und der Schlaf mich einhüllte, da förderte das kalte Feuer im Kopf Seltsameres zu Tage, als mir lieb war.
Manchmal glitten meine Augen am kleinen Nischenfenster oben unter der Zellendecke vorbei und ich war sicher etwas vor dem blassen Schimmer des matten Mondes zu erkennen: Ein Gesicht; eine herzlose, grinsende Visage, die mich auslachte.
So weit meine Situation.
Allein in einem dunklen Kellerloch flüchtete ich mich langsam in die wahnsinnigen Abgründe tief vergrabener Gedanken.
So lange jedenfalls bis…
„Ey, Rotschopf. Ja du! Sieh mal, wir haben Gesellschaft für dich.“
Der Mann, der wie immer durch seine angeborene Eloquenz und Empathie bestach, betrat den Gang vor meiner Zelle und trug ein Grinsen auf seinem pockennarbigen Gesicht.
Mr. Carlson Hansruck war der Name dieses Herren und er war leider quicklebendig, auch wenn die aufgedunsene Haut und die blutunterlaufenen, toten Augen dem Beobachter gerne etwas anderes vorgaukelten.
Hansruck war der Adjutant des Kommandeurs von Folger, einem Gentleman namens Thomas Curn und überdies, wie ich schnell lernte, König dieses kleinen Reiches der Vergessenen. Offenbar war sein Vorgesetzter zu beschäftigt, um sich mit der menschengerechten Behandlung von Gefangenen auseinander zu setzten. Daher überließ er diese Aufgabe seinem Adjutanten, der sich zwar im Bezug auf sein Mitgefühl irgendwo zwischen dem Marquis de Sade und Kaiser Caligula bewegte, dies aber mit einem beeindruckenden Mangel an Charme wieder ausglich.
„Wie geht’s uns heute Rotschopf?“, fragte er.
„Wenn ich sie sehe, gleich besser.“, antwortete ich.
Er lachte laut und fuhr fort: „Seht ihr Jungs, so muss das sein. Wir sind doch alle Freunde hier.“
„So gute Laune heute Mr. Hansruck?“, erkundigte ich mich krächzend.
„Mmmm, Mmmm“, nuschelte der Wärter nickend. Er sprach im furchtbaren arundaler Akzent, der sich durch eine eigentümliche Betonung von Vokalen auszeichnete.
„Gute Neuigkeiten also?“
„Gewissermaßen.“, grinste er.
„Sie wollen mir bestimmt mitteilen, dass sie meinen Freund Abraham Freeman endlich aufgefunden haben?
ABRAHAM FREEMAN.“, wiederholte ich den Namen nochmals sicherheitshalber, sodass die Information unter dem fettigen Haarschopf Carlsons versickerte.
„Ah, den ominösen Neger. Nein tut mir leid, Copperhand.
Aber macht nichts, wir haben dich gerne hier, nicht wahr Jungs.“, lachte der Fettsack schallend.
Ich war nicht so naiv zu glauben, dass die Herren in Schwarz wirklich nach ihm suchten, aber den Versuch war es wert.
„Dann haben sie sich wohl wieder mit ihrer Frau versöhnt.“, fragte ich unschuldig.
Carlsons Lächeln gefror augenblicklich. Blitzschnell zückte er seinen Schlagknüppel und hämmerte einmal mit solcher Intensität gegen die Gitterstäbe, dass mir die Ohren klingelten.
„Pass auf, Copperhand.“, flüsterte er drohend. „Wenn du dich nicht benimmst, könnte dein Besuch hier noch sehr unschöne Wendungen nehmen.“
Was etwas hieß.
Ich dachte an die kannibalischen Ratten und was die sonst alles fraßen, wenn man sie ordentlich aushungerte.
„Nein, nein, aber es könnte gut sein, dass wir bald einen neuen Bezirkskommandanten brauchen.“, greinte das Teiggesicht.
„Wie schön – eine Beförderung.“, gratulierte ich.
„Naja, wir wollen uns mal nicht zu früh freuen. Aber wenn es mal soweit ist, dann werden wir beide sicherlich viel weniger Zeit miteinander verbringen können.“
„Oh, nein.“, keuchte ich schockiert.
„Oh, doch. Aber bis es soweit ist, haben wir hier eine neue Spielkameradin für dich. Bringt sie rein!“
Auf Carlsons Befehl hin schleppten zwei bullige Schwarzröcke eine scheinbar ohnmächtige Gestalt in den Kerker und warfen sie mit schwungvoller Eleganz in die Zelle mir gegenüber. Dann verließen sie den Zellentrakt, um sich, wie üblich nach Dienstschluss, in der nächstgelegenen Taverne ins Delirium zu trinken.
Wieder war ich allein mit meinen Gedanken; dem permanenten Tropfen der undichten Rohre unter der Decke; dem huschenden Trippeln der Rattenfüße im Gestein… und offenbar einem neuen besten Freund.
Auch wenn dieser noch bewusstlos zu sein schien.
„Hey.“,rief ich nach einer Weile in die gegenüberliegende Zelle.
Es kam keine Antwort.
„Halloooo!“, versuchte ich es noch einmal.
Wieder Schweigen.
Die schlechten Lichtverhältnisse erlaubten mir leider keinen Blick auf meinen Leidensgenossen. Aber aus der fehlenden Reaktion schloss ich, dass er entweder einen mächtigen Schlag auf den Kopf oder einen zu mächtigen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Die Zeit würde es zeigen.
Im besten Fall war ich nicht mehr allein – im schlechtesten verhungerten wenigstens die Ratten nicht.
Es vergingen etwa zwei Stunden, bis Bewegung in das gekrümmte Häufchen Elend kam; zuerst ein Stöhnen, dann ein Rascheln, als versuchte die Person, sich zu erheben.
Es folgte ein: „Was…Wo… Wo bin ich?“
„Folger. Hotelsuite Royal.“, erklärte und hustete.
„Oh…“, stöhnte die Person erneut. „Mein Kopf…“
Es handelte sich um eine weibliche Stimme; die mir seltsam vertraut erschien.
Sie murmelte belegt: „Oh, diese verdammten Hurensöhne.“
Ich weiß nicht, ob es final der Allmächtige, die gesichtslosen Götter, Madame Fortuna oder eine andere höhere Entität war, aber irgendjemand hatte meine Gebete vernommen.
Ich kannte diese Stimme und in dem Moment, da diese Erkenntnis mich überkam, wallte eine Energie in mir auf, die ich schon lange nicht mehr verspürt hatte: die treibende, rastlose Kraft zügelloser Wut.
„DU!“, grollte ich laut und sprang von meiner Pritsche auf.
„Mmmm?“, fragte die Person irritiert.
„DU!!!“, brüllte ich regelrecht.