Santa Rita - Tommy Wieringa - E-Book

Santa Rita E-Book

Tommy Wieringa

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Beschreibung

Verschrobene Einzelgänger, zerbrochene Leben, ein abgelegenes Dorf - Tommy Wieringas neuer, hochaktueller Roman

Stadt, Land, Schluss. Zeit seines Lebens hat Paul Krüzen mit seinem Vater auf dem Hof an der deutsch-niederländischen Grenze gewohnt. Seinen Handel hat er nach und nach von Trödel auf Militaria umgestellt und verdient auch an den Neonazis. Als sein einziger Freund Hedwiges eines Nachts in seinem Haus brutal zusammengeschlagen und ausgeraubt wird, hat Paul sofort den Besitzer des Bordells jenseits der Grenze im Verdacht. Tommy Wieringas mitreißender Roman zeichnet das Schicksal der Verlierer in den abgehängten Gebieten mit großer Empathie nach: Was der jahrzehntelange Stillstand aus den Menschen macht und wie Angst und Zweifel plötzlich in Wut und Hass umschlagen.

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Über das Buch

Stadt, Land, Schluss. Zeit seines Lebens hat Paul Krüzen mit seinem Vater auf dem Hof an der deutsch-niederländischen Grenze gewohnt. Seinen Handel hat er nach und nach von Trödel auf Militaria umgestellt und verdient auch an den Neonazis. Als sein einziger Freund Hedwiges eines Nachts in seinem Haus brutal zusammengeschlagen und ausgeraubt wird, hat Paul sofort den Besitzer des Bordells jenseits der Grenze im Verdacht. Tommy Wieringas mitreißender Roman zeichnet das Schicksal der Verlierer in den abgehängten Gebieten mit großer Empathie nach: Was der jahrzehntelange Stillstand aus den Menschen macht und wie Angst und Zweifel plötzlich in Wut und Hass umschlagen.

Tommy Wieringa

Santa Rita

Roman

Aus dem Niederländischen von Bettina Bach

Carl Hanser Verlag

Für meinen Vater, den Nassesser,

und für Marinus

1

Paul Krüzen spuckte in die Hände, packte den Griff und hob die Axt über den Kopf. Das Holzstück auf dem Hackklotz spaltete sich, zersplitterte aber nicht. Vögel, die in den Bäumen Schutz vor der Nacht gesucht hatten, flüchteten sich in die Dämmerung. Wild zwitschernde Amseln schossen durchs Unterholz. Paul ließ die Axt erneut niedersausen, wieder und wieder, bis das Stück Eiche entzweibrach. Danach wurde es einfacher. Die Stücke stoben nur so herum. Holzschnipsel überall, Lichtflecken auf dem Waldboden. Die Axt die Arbeit machen lassen, so hatte er es vor langer Zeit von seinem Vater gelernt, doch ihm machte es Spaß, Kraft auszuüben.

Ein paar blasse Sterne zeigten sich am Himmel. Viel weiter unten, auf der Lichtung im Wald, schwenkte der Dämon seine Axt. Er ließ sie knallen wie eine Peitsche. Holzscheite wirbelten durch die Luft. Die Buchen ringsum, kräftig und glatt wie Jungenarme, erschauderten von der Gewalt.

Das war sein Leben, er legte Holz hin und spaltete es. Das Hemd klebte ihm am Körper. Stiche im unteren Rücken. Jeder Hieb ein Treffer. Das tat er schon sehr lange, alles mit wohlüberlegter, beherrschter Eile. Der Schweiß, die Schmerzen mussten sein.

Er fuhr sich mit dem Deoroller über die Achseln und schlüpfte in ein frisch gewaschenes kariertes Hemd. »Ich mach los«, sagte er zu seinem Vater, der im Lampenlicht las.

Der Abend war kühl, ein Hauch von Staudensellerie lag über dem Gras. Er fuhr mit offenem Fenster ins Dorf. Drei hohe Bremsschwellen gab es an der Straße. Schwellen und Kreisel sind ein Zeichen für Fortschritt, für eine erhöhte Lebensgeschwindigkeit, die ausgebremst werden muss, auch in Mariënveen, wo sich am Wochenende ab und zu junge Kerle totfuhren. Alle paar Jahre saß Paul dann kerzengerade im Bett von dem Schlag, den Sirenen und dem Jaulen der Kettensäge kurz darauf; der gespenstische Widerschein auf den Eichen in der Kurve. Am nächsten Morgen sah er dann, dass wieder mal einer was von der Rinde abgenagt hatte. In den letzten Jahren stellten die Angehörigen manchmal Blumen und Fotos auf.

Paul hielt vor Hedwiges Geerdinks Haus. Er klingelte und setzte sich wieder ins Auto, ließ die Tür offen. Er hatte keine Gedanken. Anfang Juni, der letzte Rest Licht am westlichen Horizont. Dann setzte sich Hedwiges neben ihn. »Guten Abend alle Mann«, sagte er mit seiner hohen Stimme. Zwei Stimmen hatte sein Freund, man wusste nie, welche es werden würde: seine hohe Piepsstimme oder die tiefe, heisere Bruststimme. Wer es zum ersten Mal hörte, für den zerfiel er schlagartig in zwei Menschen: den hohen Hedwiges und den tiefen Hedwiges. Bakkers Hedwig, wie er im Dorf genannt wurde. Mäuschen Piep.

Paul zog die Beine ein, schlug die Tür zu und fuhr ins Dorf.

Bei Shu Dynasty, ehemals Bar-Feestzaal Kottink, stand Laurens Steggink mit einem Unbekannten am Billardtisch.

»Männer«, grüßte er.

Paul setzte sich ans Kopfende der Theke in die holzverkleidete Nische. Er hatte gern Rückendeckung, wie ein Cowboy, damit er alle sah, die reinkamen. Hedwiges setzte sich auf den Barhocker neben ihm. Das Radio stand zwischen zwei Sendern, auf Rauschwellen erklang Die Sonne geht unter in Texas.

Mama Shu sagte »Hallo, Paul« und »hallo, Hedwig« und stellte eine Flasche Grolsch vor Paul und ein Glas Cola vor Hedwiges. Der Piratensender bedankte sich bei Imbissbuden, Lohnunternehmen, Sägewerken und Abrissfirmen für ihre Unterstützung. Paul wusste, wo er untergebracht war, in einer Scheune hinten beim Tien Ellenweg; manchmal war das dumpfe Bassdröhnen im weiten Umkreis zu hören.

Steggink beugte sich vor und spähte am Queue entlang. Er ließ sich Zeit. Er spielte gut Billard. Im Wehrdienst gelernt, in den langen, leeren Stunden im Mannschaftsheim in Seedorf.

Paul Krüzen war mit Hedwiges Geerdink und Laurens Steggink in eine Klasse gegangen.

Einmal hatten Steggink und er sich im Wald einen Unterschlupf gebaut, um dort zu schlafen. Sie grillten tiefgefrorene Frikadellen an einem qualmenden Lagerfeuer und breiteten ihre Schlafsäcke aus, doch als es dunkel wurde, schreckte Paul vor einer Nacht inmitten von Spinnen und Mauerasseln zurück und radelte nach Hause. Steggink blieb allein da. Er hatte keine Angst im Dunkeln.

Die Freundschaft ging vorüber; Pauls Abneigung gegen Stegginks Streiche und Geschichten, aber auch gegen den fettigen Pferdeschwanz in seinem Nacken war immer größer geworden. An Theo Abbinks dreiundzwanzigstem Geburtstag hatte Steggink den drei Kätzchen von Theos Freundin den Hals umgedreht und sie auf die Weide geschleudert. Seine Verteidigung: Er sei betrunken gewesen und könne Katzen nicht leiden.

Das Schweigen zwischen ihnen hatte fast zwanzig Jahre gedauert.

Als Steggink eines Tages verurteilt worden war, weil er in der Scheune der Eltern seiner Verlobten Marihuana angebaut und im Internet betrogen hatte, wunderte das Paul nicht. Niemand eigentlich. Das war vorhersehbar gewesen. Laurens Steggink hatte keine Biographie, er hatte ein Vorstrafenregister. Seine Ex machte sich seinetwegen immer noch in die Hose.

Nach der Freilassung hatte er seine Geschäfte hinter die Grenze verlegt. In einer ehemaligen Druckerei in einem mickrigen Industriegebiet bei Stattau leitete er einen Puff mit Frauen aus allen Ländern der Welt, Club Pascha. Dort thronte der lange Kerl auf einem Barhocker mit einem Glas Sprudel vor sich und seinem Handy am Ohr. Nichts entging ihm. Aber heute war Montag, und montags war das Pascha geschlossen.

Paul fuhr manchmal rüber, in der Hoffnung, eine seiner Herzensdamen anzutreffen, die maßlose Thong aus Bangkok oder lieber noch die mütterliche Rita aus Quezon. Wer glaubt, dass es keine Liebe geben kann, wenn man dafür bezahlen muss, kennt ihre glühenden Herzen nicht.

Dumpf schlug die Kugel an die lange Bande, schrammte die gelbe und traf voll auf die rote. Ein satter Klang, fand Paul, ein mit Kraft und Vertrauen ausgeführter Treffer. Noch zweimal legte Steggink an, bevor er vorbeitraf. Der andere wählte seine Position, sein Gesicht erschien unter der Lampe.

Blasse Augen, bestimmt ein Pole, der geduckte Körper schwer von Schweineschmalz und Eisbein. Manchmal kamen sie zu Paul auf den Hof, die Mareks und Wojciechs, an denen war nicht viel zu verdienen. Aber es gab Ausnahmen. Den Händler aus Wroclaw zum Beispiel, der ihm ein wahres Wunder gezeigt hatte: einen ganzen Kofferraum voll russischer Sommeruniformen aus dem Ersten Weltkrieg, noch mit den Orden dran.

Der Pole stieß zu. Die Kugeln hüpften übers Tuch.

Scheu kamen die Hennies rein und setzten sich an die Theke. Sie beugten sich über ihr neues Handy, das Display warf eine blaue Glut auf ihre Gesichter. Nach einer Weile sah die weibliche Hennie auf und fragte: »Dein Vater, Paul?«

Paul wedelte mit der Hand. Wozu noch mal erzählen, wie er die Wunde am Schienbein seines Vaters, die einfach nicht verheilen wollte, täglich desinfizierte? Demnächst müssten sie mal wieder ins Krankenhaus.

Neunundvierzig Jahre waren sie jetzt einer im Leben des anderen, sein Vater und er. Eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft würde er allein in dem altsächsischen Bauernhaus in Muldershoek zurückbleiben und in Kauzigkeit und Selbstgespräche verfallen.

Die Billarduhr summte. Steggink nahm eine Fünfzig-Cent-Münze vom Stapel auf der Uhr und warf sie in den Schlitz an der Seite.

Die Hennies beugten sich wieder über ihr neues Sony Xperia. Wozu man es mit Sozialhilfe alles bringen kann. Zu Hause lagen ihre Kleinen im Bett. Man weiß nicht, ob es gut ist, wenn solche Leute sich fortpflanzen, aber das Unheil war schon geschehen; unbeaufsichtigt von jedweder Instanz hatten sie ihr Unglück zweimal vermehrt.

Mit Theo Abbink und Alfons Oliemuller war die Runde von Einzelgängern kurze Zeit später komplett. Aschenbecher kamen auf die Theke. Das Rauchverbot war noch nicht bis hierher vorgedrungen. Bevor es in Mariënveen ankam, hatte das Gesetz viel an Kraft und Glanz eingebüßt.

Als der kleine Berg Münzen auf der Billarduhr verbraucht war, schraubten Steggink und der Unbekannte wie Auftragskiller die Billardstöcke auseinander und räumten die Hälften wieder in ihre Tragetasche.

Jetzt war die Theke bis zum letzten Platz besetzt. Alfons Oliemuller schaute dem männlichen Hennie über die Schulter und sagte: »Dafür brauchst du 4G. In Kloosterzand haben sie 4G, hier wird das nix.« Und weiter ging das Gespräch, über die Biegbarkeit des neuen iPhone und den Produktionsfehler beim Akku des Galaxy Note. Es brach ab, als Steggink seinen Arm wie ein Schwert in die Runde schob. Alle schwiegen verblüfft, als hätte er eine Handvoll Trümpfe auf den Tisch gelegt.

»Wasn das?«, fragte Oliemuller.

»Wofür hältst du es denn?«

Oliemuller nahm ihm das Smartphone aus der Hand und drehte es um. »Gresso«, las er vor.

»Made in Russland«, sagte Steggink und grinste den unbekannten Polen an.

Obszön glänzend lag das Ding in Oliemullers Hand. Alle bestaunten es, wie sie auch Stegginks Ferrari bestaunt hatten, als er das erste Mal damit vorgefahren war. Wie Tagelöhner an einem Sandweg, die ein Automobil hätten vorbeibrausen sehen. Wenn er gehupt hätte, wären sie auf die Knie gefallen und hätten sich bekreuzigt.

Stegginks blutroter Ferrari Testarossa, sein Sonnenwagen — so gut durfte es niemand haben. Schon gar nicht einer wie sie, ein Junge aus der Zouavenstraat, den sie hatten fallen und aufstehen sehen, fallen und aufstehen, den ganzen Weg dahin, wo er jetzt war.

»Bisschen kleines Display, finde ich«, sagte Oliemuller schließlich.

»Saphir«, sagte Steggink. »Und die Verschalung, die ist aus Gold und afrikanischem Schwarzholz, die Verschalung.«

»Verdammte Scheiße«, brachte Abbink heraus.

Am anderen Ende der Theke legte Paul die Bierflasche an den Mund, ohne den Blick von ihnen abzuwenden. Sein Zeigefinger roch nach verdorbener Zwiebel.

»Gibts kein zweites Mal auf der Welt«, sagte Steggink vergnügt.

»Aber was is denn jetzt mit dem Display?«, fragte Oliemuller.

Steggink schob das Kinn vor. »Was soll damit sein?«

»Na ja«, sagte Oliemuller zögerlich, »es is nicht gerade groß, oder so.«

»Design nennt sich das«, erwiderte Steggink knurrig. »Von nem italienischen Herrn, von dem du noch nie im Leben gehört hast.«

Darauf blieb es eine Weile still. Im Radio richtete der Pirat Grüße aus.

»Dass dieser Italiener so auf kleine Displays steht …«, murmelte der männliche Hennie dann erstaunt. Und Theo Abbink sagte fröhlich: »Haste ne Lupe dazugekriegt, Laurens?«

Die Runde brach in Lachen aus, der geschändete Selbstwert war wiederhergestellt.

Im 19. Jahrhundert hatten ihre Vorfahren es zu etwas Grundbesitz gebracht. Ein Stück Land, eine Kuh, ein kleiner Bauernhof. Als die Preise noch nicht im Keller waren, hatten die letzten beiden Generationen alles wieder verkauft, was ihre Vorigen mühsam zusammengekratzt hatten, und waren in den Neubau gezogen. Erneut wurden sie landlose Bauern und schielten mit kleinen, habsüchtigen Äuglein bei den Nachbarn rein, weil sie ihren eigenen Wohlstand bis ins Detail mit dem der anderen verglichen.

Ming, die erwachsene Tochter der Shus, schlappte in Flipflops hinter die Theke und unterhielt sich unbekümmert in gebrochenem Englisch mit dem Fremden. Als Paul aufschnappte, dass er ein Russe war und kein Pole, knurrte er missbilligend. Russen, die konnte er nicht ausstehen, weder hier noch in den All-inclusive-Resorts in Thailand oder auf den Philippinen, wo er jedes Jahr für ein paar Wochen mit Hedwiges hinfuhr.

Mama Shu wischte übers Display ihres Handys. Mit tausend feinen Fäden hing sie an einem fernen Land. Ihr Körper war hier, doch ihre Gedanken waren in einer verrußten Millionenstadt im Südwesten Chinas. Über einen Anschlag in Chengdu wusste sie früher Bescheid als über einen Autounfall hier in der Straße.

Der Russe, der sich anfangs ruhig verhalten hatte, rief immer lauter »Heya, Mutti!«, wenn er ein Bier wollte. Als der männliche Hennie ihm auf die Schulter schlug und »Sa gollandsko-russkuju drushbu!« sagte, wussten alle, dass sie an diesem Abend im Shu Dynasty eine slawische Trunkenheit erleben würden, die damit endete, dass die gesamte Familie Shu aus den Schwingtüren kam, um den großen Russen an die Luft zu befördern.

Paul stellte sich darauf ein. Man darf nichts verpassen, will sich aber raushalten. Neben ihm meckerte Hedwiges über eine Sendung von RTV Oost, er hatte sich nur das Wort »Schrumpfregion« gemerkt. Ein gutes Wort, fand Hedwiges, es passe genau zu dem Tempo, in dem sich der Kundenstamm seines Lädchens ausdünne. »Einer nach dem anderen stirbt mir weg. Letzte Woche noch Ullie.«

»Ullie?«, fragte Paul unwillig.

»Von Tonnie. Mittwoch ist die Beerdigung. Bald bleibt mir keiner mehr übrig.«

»Bist doch sowieso längst Millionär, Hedwig!«, tönte da die weibliche Hennie.

Hedwiges zwinkerte, als hätte man ihm die Brille weggenommen. Ob er sich eigentlich rasiert, schoss es Paul durch den Kopf. Von ihren Urlauben konnte er sich nicht daran erinnern. Vielleicht hatte er gar keinen Bartwuchs. Seine Wangen waren glatt und bleich wie Wachs.

»Wie jetzt, Hedwig?«, fragte Steggink, die Ellbogen auf der Theke abgestützt, eine Bierflasche in seinen großen Händen, »biste Millionär?«

In einer seltenen Anwandlung von Trotz reckte Hedwiges das Kinn und machte sich lang. Er krähte: »Aber hallo bin ich Millionär.« Dann nickte er, schnaubte und sagte mit seiner hohen Stimme: »Locker. Sonst noch was?«

Ein kaum merkliches Stocken der Zeit. Dann kam das Leben mit nervösem Gelächter wieder in Gang. Bakkers Hedwig Millionär, es konnte sogar stimmen, sie alle kannten Geschichten von knickrigen Bauern, die sich nach ihrem Tod als steinreich rausgestellt hatten. Hedwiges passte ins Profil. Immer mit der Hand auf der Tasche, wenn man es sich recht überlegte — er gab drei Euro aus, wenn Paul dreißig ausgab. Bestellte immer nur eine halbe Portion Babi Pangang oder Nasi Goreng, stibitzte Paul aber das Hühnchen vom Teller.

Steggink zuckte die Achseln. »Prima Sache, oder?« Er sah sich um. »Dieser Hedwig aber auch.«

»Dumm«, sagte Paul leise.

»Wenn es aber so is, fang ich doch nicht an zu lügen?«, sagte Hedwiges schrill.

Paul schüttelte den Kopf. Sich klein machen, das hatte er ihm schon öfter gesagt, immer kleiner und dümmer wirken als die anderen. Nix haben und nix können, das waren sie gewohnt, damit konnten sie umgehen. Aber für Hedwiges Johannes Geerdink war das kein solcher Abend, er wollte mal aus seiner rauen, blassen Haut raus und die Zweifel genießen, die er gesät hatte. Hedwiges, der Mil-lio-när, aber hallo!

Paul sah es daran, wie er das Glas zum Mund führte und versuchte zu trinken wie ein Mann. Irgendwo in seinem Innern lag ein kleiner Testosteronspeicher verborgen, und auf den griff er jetzt zu. Natürlich hatte Hedwiges Geld wie Heu, doch er lebte wie eine Kirchenmaus, in ständiger Sorge, alles zu verlieren und mittellos zu sterben. Deshalb tat er schon mal so, als besäße er nichts, gar nichts.

Er hatte Land verkauft, wusste Paul, hier und da was, und hinter De Steenkoele sogar mehrere Hektar für den Neubau. Land war Gold wert, und Hedwiges besaß eine unbekannte Menge, seit 1911 Cent für Cent zusammengespart mit Scheffeln von Buchweizen und Bohnen im Kaufmannsladen am Bunderweg.

Und jetzt wussten alle davon.

2

Paul Krüzens Mutter war die Tochter des letzten Schmieds am Ort. Seine Schmiede hatte gegenüber der Kirche gelegen, am Anfang des Bunderwegs, wo später, in den goldenen Zeiten im Bau, ein weiß verputztes Versicherungsbüro errichtet wurde. Der Schmied Mans Klein Haarhuis war wettergegerbt wie ein sizilianischer Fischer, doch seine beiden Töchter waren perlweiße Kinder von Mariënveen. Sein Sohn Gerard, der jüngste, gedrungen und mit einem Schopf dunklen, welligen Haars, sah ihm da schon ähnlicher.

Es waren die Schwestern Klein Haarhuis gewesen, die an einem wolkenverhangenen Tag 1955 über den Bunderweg nach Kloosterzand radelten. Marion und Alice nahmen die kleine Brücke über den Molenbeek, ohne den Jungen zu bemerken, der unten am Bach ihrem fröhlichen Geplapper lauschte. Kaum waren sie vorbei, kletterte er zur Straße hoch und sah ihnen nach, bis sie außer Sicht waren. Er pflückte alle Blumen am Bach, die er auf die Schnelle fand, Schwertlilien, Schlüsselblumen und ein paar letzte, vertrocknete Holunderblütendolden, und legte sie auf die Straße, als er sie von weitem zurückkommen sah. Mit klopfendem Herzen versteckte er sich hinter einem Baum. Als sie die Brücke überquert hatten, donnerte eben ein feuerwehrroter McCormick vorbei — die Mädchen konnten gerade noch stehen bleiben und schnaubten dem Traktor entrüstet hinterher.

Mit sechsundzwanzig Jahren heiratete Alois Krüzen dann Alice Klein Haarhuis. Rundlich, frisch und in der Blüte ihrer späten Jugend kam sie über die grauen Steinfliesen zum Altar, am Arm des Schmiedes in seinem Sonntagsstaat, der seine ergrauenden Locken mühsam mit Brylcreem gebändigt hatte. Vierschrötig und mürrisch sollte er gleich das Schönste weggeben, was er besaß. Ihr schleppendes, gut verständliches »Ja« kurz darauf, das genauso gut hörbar ein paar Herzen in der Kirche brach. Die vollendete Tatsache — Alice war hinter der eisenbeschlagenen Tür des Sakraments verschwunden, und sie konnten nur noch auf Ehebruch hoffen.

Es war ein Gotteswunder, dass Alice Klein Haarhuis ihm, Alois Krüzen, zuteilgeworden war, was, wie allgemein angenommen wurde, nur daran lag, dass sie keinen Bauern heiraten wollte. Alois hatte das Lehrerseminar in der Stadt besucht und war als Volksschullehrer zurückgekehrt. Ein Drinnenmann mit festem Einkommen, besser gings nicht. So war Alois Krüzen zu seiner Frau gekommen, und keiner konnte sich den Gedanken an falsches Spiel verkneifen.

Auf die Hochzeitsreise fuhren sie mit dem Wagen seines Schwiegervaters, dem ersten Automatikauto im Dorf, ein nagelneuer 2,6 Liter Opel Kapitän, weil Mans Klein Haarhuis ein paar Wochen vorher eine Runde um Alois’ Lloyd Alexander TS gedreht und gesagt hatte: »Damit kannst du doch nicht dein Herzblatt rumkutschieren.«

Sie glitten über die Straße wie ein Kanu durchs Wasser, sechs Zylinder verrichteten lautlos ihre Arbeit. Ihre Hand lag auf seinem Oberschenkel, so still, als hätte sie Alois vergessen. Von Graphit war der tiefe Himmel, grün wie am ersten Tag der Erde.

Nachdem sie bei Zutphen die Ijssel überquert hatten, veränderte sich die Landschaft. Dunkle Anhöhen in der Ferne, wo das Inlandeis Moränen gebildet hatte. Bleierne Flüsse schlängelten sich durchs Flachland. Je weiter südlich sie kamen, desto schwerer drückte der Stein auf Alois’ Brust. Das Schreckliche, das ihnen bevorstand — ein Frontalzusammenstoß würde sie zermalmen, ihr Blut sich auf der Straße mit Öl vermischen …

Es half nichts, sich sein Glück bewusstzumachen — die tolle Frau neben ihm, eine Tasche voller Geld und ein Automatikauto unterm Hintern —, es steckte in ihm.

»Es ist noch weiter, als ich dachte«, sagte Alice zerstreut. Sie starrte durch die Seitenscheibe.

»Immer«, sagte er. Der Stein drückte. Den Lenker gerade halten, defensiv fahren, begreifen, dass man sich nicht entkommen kann.

An diesem Tag aß er zum ersten Mal im Leben in einer Raststätte. Die Bedienung fragte ihn, ob er ein Glas Wein zum Schnitzel mit Kartoffelsalat wolle, und er verfiel in Unentschlossenheit. Erst als er sich erinnerte, dass er auf Hochzeitsreise war, nickte er.

»Und was für einer darfs sein?«

Er verzog das Gesicht und sagte: »Ach, was Sie offen haben.«

Und so wurde es auch der Tag, an dem er erstmals Weißwein trank.

Weil sie noch ein zweites Glas bestellten und sich dann in der Nähe von Nijmegen verfuhren, waren sie erst nach Sonnenuntergang in Mook, wo sie zu ihrem Erstaunen ihr Hotel dunkel und verschlossen antrafen.

Ein Stück weiter fanden sie ein anderes Hotel, ein Landhaus an einem Teich, doch es hatte nur noch ein Zimmer mit zwei Einzelbetten. Die Bar war schon geschlossen.

Alois wartete in seinem Bett, bis sie aus dem Bad kam. Es dauerte lange. Was sie da hinter der geschlossenen Tür machte, war ein Geheimnis, er kannte das Leben der Frauen nicht. Die Betten ließen sich nicht zusammenschieben, weil die Nachttische an der Wand befestigt waren.

Die Tür wurde entriegelt, sie erschien in einer Flut von Licht. Das Seidennachthemd spannte um ihre Brüste und ums Becken, sie glänzte wie ein Fisch. Sie ging zum Bett beim Fenster, schlug die Decke zurück und schlüpfte hinein. Die Sprungfedermatratze quietschte.

Auf dem Rücken liegend wartete er, bis sich seine Vorstellung von diesem Abend offenbarte. Er sehnte sich nach einer Anweisung, etwas, was ihn in Bewegung versetzen würde, doch Alice lag still in ihrem Bett und er mit einem schweren, überflüssigen Körper in seinem. Schritte im Gang, eine Tür, die sich öffnete und wieder schloss.

Woran dachte sie? Was erwartete sie von ihm?

Da erklang leise ihre Stimme. »Komm her.«

Er schlüpfte neben sie und schaltete die Nachttischlampe aus.

»He, hallo«, sagte sie.

Ihr Kuss mit harten Lippen, erstarrt von der Last der Ereignisse. Die Leute, der Pfarrer, das Element der Pflicht.

Nach einer Viertelstunde griff sie über ihn hinweg, schaltete die Lampe wieder an und sagte: »Ich krieg keine Luft so.«

Zurück im eigenen Bett verschränkte er die Arme unter dem Kopf und wurde wieder reglos.

»Gute Nacht«, sagte sie.

»Ja, schlaf gut.«

Am nächsten Morgen machten sie einen Spaziergang auf der Mookerheide. Unbewegt hing die Wolkendecke am Himmel. Er erzählte ihr von der Niederlage Ludwigs und Heinrichs von Nassau gegen die Spanier, hier im Maastal. Über den Tod Tausender Soldaten, die ungeordnete Flucht, davon, wie Unzählige im Sumpf ertranken und dass ihre rastlosen Seelen seither als kleine Lichter über die Heidefelder irrten.

Sie nickte ermutigend, aber zerstreut.

»Das ist mein Fach, Geschichte«, sagte er entschuldigend.

Nach dem Mittagessen zogen sie sich in ihr Zimmer zurück, um sich auszuruhen. Er nickte schon ein, als sie sich zu ihm legte. Ihre Kleider raschelten. Sie paarten sich im grauen Mittagslicht, mit weit offenen Augen.

Amsterdam war die zweite Station ihrer Hochzeitsreise. Sie stiegen im Hotel Neutraal am Damrak ab. Plastikvorhänge am Fenster, Tapete, die sich ablöste. Sie lachten sich kaputt, weil alles so verschlissen war.

Es war warm und sonnig geworden, sie gingen hinaus. Sie versuchten so zu bummeln, als hätten sie ein Recht auf diese Stadt, die auch ihre Hauptstadt war, doch die langhaarigen jungen Männer und die auf der Straße rauchenden jungen Frauen schüchterten sie ein; die Atmosphäre lachlustiger Provokation, die sie verbreiteten. Das alles machte ihnen klar, wohin sie gehörten. Landeier waren sie, denen die Augen aus dem Kopf fielen beim Anblick all dessen, wovon sie in ihrem fernen abgelegenen Winkel des Landes gehört und gelesen hatten. Ein kleines Land, aber gemessen an den Unterschieden zwischen Zentrum und Peripherie hatte es die Größe eines Erdteils.

Waren sie wirklich erst vier Tage von zu Hause weg?

Das Allerseltsamste waren die Schwarzen, die sie auf der Straße sahen. Alois drehte sich nach ihnen um. Wo sie herkamen, Alice und er, gab es keine Schwarzen, so jemand hatte sich noch nie blicken lassen. Vielleicht war so einer im Urwald geboren, in einem Dorf aus Palmhütten am Ufer des Maroni oder des Corantijn. Und jetzt lief er da rum, der schwarze Mann, in der Hauptstadt des Königreichs der Niederlande, ein Fremder wie er selbst, nur war es an seiner dunklen Haut viel deutlicher zu erkennen.

In einem Rundfahrtboot der Reederei P. Kooij fuhren sie durch die Grachten. Atemlos vor Bewunderung betrachtete Alois die Grachtenhäuser und Speicher aus dem siebzehnten Jahrhundert. Groß waren die Häuser, noch größer war der Ruhm des Goldenen Zeitalters. Unerschrocken die Seefahrer, schlau die Kaufleute und Bankiers. Sie hatten Steine zu Städten gestapelt, und im Schatten ihrer Paläste liefen heute diese Provos rum und die Nozems und wie sie alle hießen. Geschichte gab es für sie nicht, sie waren Anfang und Ende zugleich, die Zeit vor ihnen musste zerstört werden, und nach ihnen die Sintflut. Alois bewunderte sie und fürchtete sie; in der Zeitung nannte man sie eine Geschwulst, die weggeschnitten, weggebrannt werden musste — der Pranger sei noch zu gut dafür. So wurde über sie geschrieben, und Alois hatte zwar eine instinktive Abneigung vor jeder Form von Neuerungssucht, aber trotzdem wusste er, solche Kommentare konnten nur von ängstlichen Männern am Ende ihrer Herrschaft stammen.

Sie fuhren aufs Ij. Er sah seine frisch angetraute Frau an und versuchte sich ein Leben hier in der Stadt vorzustellen, inmitten all dieser Menschen. Er könnte hier unterrichten, die Schüler würden sich über seinen Dialekt lustig machen. Er könnte sich anders kleiden und sich den Bräuchen anpassen, doch es bliebe eine Maskerade. Und Alice? Alice würde von Dichtern im Stillen bewundert, sie wäre die Geliebte von Künstlern — eine Muse wäre sie, eine Muse mit dem Akzent des Ostens, den man bei ihr für exotisch hielte und nicht für bäuerlich.

Der Hauptbahnhof glitt vorbei, sie passierten den östlichen Handelshafen, die Inseln und Lagerhäuser, die nach fernen Kontinenten benannt waren. Aus der ganzen Welt waren mit Reichtümern beladene Frachtschiffe aufs Ij gefahren. Vielleicht war es nicht immer anständig zugegangen, dachte Alois, aber sie hatten ihre Sache gut hingekriegt, von ihrem kleinen Flecken auf der Erdkugel aus. Sie hatten sich einen Namen gemacht, der in allen Windrichtungen gehört wurde. In der Genesis wurde vor menschlichem Hochmut gewarnt, doch der Holländer war hochmütig und gottesfürchtig zugleich, und er wurde mit allen Reichtümern der Welt belohnt.

So träumte Alois Krüzen, die funkelnde Spiegelung des Wassers in den Augen, und sehnte sich nach einer anderen Zeit als der seinen.

Am zweiten Abend in Amsterdam betraten sie in einer Anwandlung von Übermut ein Spielcasino im Halvemaansteeg. Als er von der Theke wiederkam, stand sie an einem Roulettetisch. Ohne hinzusehen, nahm sie ihm das Glas mit süßem Weißwein aus der Hand, sagte: »Ich habs raus, glaub ich.« Die Kugel drehte sich im Kreis, der Zylinder wurde immer langsamer, dann blieb die Kugel in einem roten Fach liegen. Auf der anderen Seite des Tisches sog ein Chinese Luft durch die Mundwinkel. Erneut warf der Croupier die Kugel in den Kessel, eine alte Dame und der Chinese schoben Jetonstapel über die Felder auf dem Tisch.

»Frau Krüzen«, sagte er warnend, als er vom Wechselschalter zurückkam. Sie setzte, versuchte, mit dem Blick die Kugel auf ihrer Reise entlang der schwarzen und roten Fächer zu lenken. Sie verlor, gewann, verlor wieder und wieder. »Das macht Spaß«, seufzte sie. »Jetzt müssen wir nur noch gewinnen.«

»Pech im Spiel, Glück in der Liebe«, sagte Alois, doch sie hörte ihn schon nicht mehr.

Eine Stunde später standen sie wieder draußen. Die Amstel hatte ihren Glanz verloren, dunkel glitt das Wasser unter den Brücken hin. Sie schwiegen. Als hätten sie das Geld in den Wind geschlagen, Zehner und Fünfundzwanziger aus den Umschlägen der Hochzeitsgäste. Hundertfünfzig Gulden hatten sie verspielt. Es machte nichts, sagten sie sich, sie hatten noch genug, aber schade war es trotzdem.

»Morgen hab ich mehr Glück«, sagte sie, dann sah sie seinen Schrecken und fügte hinzu: »Entschuldigung, war nicht witzig.«

Als er in einer Kneipe am Leidseplein mit zwei Gläsern in der Hand von der Bar zurückkam, fragte sie: »Du willst mich wohl betrunken machen?«

»Je nachdem.«

»Vielleicht tanze ich dann auf den Tischen, das weißt du doch nicht.«

Er grinste. »Dann mal los.«

Dort, in dieser Kneipe, erzählte er ihr zum ersten Mal von den plattgefahrenen Blumen auf dem Bunderweg, als er noch mit Klinkersteinen gepflastert war und Traktoren von der Marshall-Hilfe vorbeigerast kamen.

»Aber wenn ich sie gesehen hätte«, fragte Alice erstaunt, »woher hätte ich dann wissen sollen, für wen sie sind?«

»Das hättest du gewusst.«

»Dass sie für Marion sind?«

»Ach, du.«

So soll das sein, dachte er, so wollte er sein, und so wollte er, dass sie war, und er war stolz und glücklich, als er später mit ihr tanzte, in einer Seitenstraße in einem Nachtlokal, wo sich anscheinend alle Schwarzen, die ihnen begegnet waren, versammelt hatten.

Die Band spielte Kaseko und Latin, man trank und lachte. Der Bandleader nickte Alice zu und sagte: »Das nächste Stück ist für ein ganz besonders hübsches Fräulein.« Er verneigte sich leicht. Die Band stimmte ein flottes, fröhliches Lied an, das mit großem Johlen begrüßt wurde. Flink sang der Bandleader: »Du wirst nicht glücklich mit einer schönen Frau. Immer fragst du dich: Ist sie mir treu? Und hältst du sie endlich im Arm, ist auch die Konkurrenz nicht fern …«

Das Publikum klatschte und sang aus voller Kehle mit, alle kannten das Lied. Alice lächelte verlegen, Alois wippte mechanisch im Takt. Dutzende Männer sahen zu seiner Frau hin, sie hatten Alkohol intus und weiß Gott was sonst noch, und er verfluchte den Moment, als Alice und er das Nachtlokal betreten hatten. Sie waren die einzigen Weißen hier, außer dem Pianisten, dem Bassisten und zwei weiteren Paaren. Er sah Hände, die sich ihr aus dem Dunkel entgegenstreckten, nach ihr griffen, sich um ihren Mund und ihre Brüste legten, unter ihren Rock wanderten und sie hinter sich herzogen, und er, der versprochen hatte, für sie zu sorgen und sie zu beschützen, stand wie angewurzelt da. Er schrak aus seiner Erstarrung auf, beugte sich etwas vor, um seine Erektion zu verbergen. Langsam wich er zurück, bis er sich an die Wand lehnen konnte. Geniert und entzückt zugleich tanzte Alice inmitten des aufgepeitschten Negerstamms.

Er sehnte sich nach Hause.

Diese Nacht, die Stadt hinter den Vorhängen. Nicht ein Mann war er, er war alle Männer. Ihre Augen glänzten im Dunkeln wie die eines Kalbs. Er stützte sich mit den Fäusten auf die Matratze und nahm sie in Besitz. Ihr offener Mund, der Wein in ihrem Atem. So war es noch nicht gewesen. Die glückselige Gespanntheit unten an seinem Schwanz. Ihr Körper, der sich wie ein Bogen spannte.

Fünf oder sechs Minuten, das war die Dauer seiner Herrschaft.

Ob sie daran denkt, fragte er sich beim Frühstück. An ihren Atem neben seinem Ohr, an das Glitzernde zwischen ihren Beinen? Sie hatten nur so wenig Erfahrung, und die Ehe schien nicht dazu angetan, sie sich anzueignen. Ihre Blicke streiften einander. Die Zukunft wirkte düster, aussichtslos.

Er schaute auf seinen Teller.

Sie sah auf ihn, auf die Gründlichkeit, mit der er die Butter verstrich. Sein Messer, das langsam über den Toast schabte. Nach einer Weile fragte sie: »Geht es auch schneller?«

Er schüttelte den Kopf.

»Aber Obst nimmst du keins mehr, oder?«, fragte sie spöttisch.

Da sprach er es aus: »Ich will wieder nach Hause.«

Sie sah ihn an, sollte das ein Witz sein?

Er schüttelte den Kopf. »Das war schon immer so. Ich kann nicht lange wegbleiben.«

»Was denn, Alois, hast du etwa Heimweh?«

Der weite Weg des Messers zur Butterdose und wieder zurück.

»In Amsterdam?«

»Ich zähle die Tage.«

»Wie viele sind es noch?«

»Drei«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Es blieb lange still. Dann sagte sie: »Aber das ist doch unsere Hochzeitsreise.«

»Ich weiß.«

»Ein Mal. Nur ein Mal im Leben.«

Er nickte. Das Messer zerbrach den Toast, schnitt ihn nicht durch.

Er hörte, wie sie versuchte, den Hohn in ihrer Stimme zu verbergen, als sie sagte: »Dann hätten wir besser nach Bad Bentheim fahren sollen, oder so.«

Erneut nickte er. »Ja. Das ist nicht so weit weg, ja.«

Sie schwiegen.

»So ist das eben«, sagte er nach einer Weile.

»Hättest du das nicht früher sagen können — ich meine, dann hätten wir …«

»Es war mir nicht klar. Nicht so.« Er holte tief Luft. »Ich möchte wirklich gern nach Hause.«

Sie nickte. »Natürlich fahren wir zurück. Ich hätte es nur gern vorher gewusst.«

3

Halb vier Uhr morgens. Das Kind atmete, es schrie, sie nannten es Paul Thomas Krüzen. In seinem Leben als Erwachsener würde er in den Zeitungen und Zeitschriften immer das Horoskop mit dem Krebs darüber suchen, oft auch dargestellt als ♋, den Astrologen zufolge das fürsorgliche Tierkreiszeichen, sensibel unter seinem Panzer. Regelmäßig las er von der großen Liebe, die ihn erwarte, oder dass er auf Familienzuwachs hoffen dürfe, doch es sah ganz danach aus, als würde sein Familienzweig mit ihm aussterben.

Sein Vater hatte sich mehrere Kinder gewünscht, vielleicht eher eine Vorsichtsmaßnahme als reine Vaterliebe. »Schließlich wohnen wir an einer viel befahrenen Straße.«

Seine Mutter darauf: »Solange du sie austrägst.«

Auf krummen Beinchen tappte der Kleine seiner Mutter durchs ganze Haus hinterher. Manchmal stolperte sie über ihn.

»Mensch … Paul!«

Vormittags machte sie den Haushalt, mit ihm im Schlepptau. Das Laufen habe er nur gelernt, meinte Alois, um ihr besser hinterherzukommen.

»Mama«, hatte Paul eines Tages gesagt und auf den Boden gezeigt. »Die Sonne.«

Im frühen Morgenlicht sah sie einen Staubfleck auf dem Boden und drum herum Wischspuren, wie Sonnenstrahlen. Sie fand es poetisch. Das Versprechen einer besonderen Begabung.

In den ersten Schuljahren kam er nicht gut mit. Blutarmut, behauptete seine Mutter, doch wenn er später überhaupt mal an seine Kindheit zurückdachte, glaubte er, dass er die ersten Jahre in unfestem Aggregatzustand verbracht hatte. Flüssiges Plasma, noch ohne Form. Erst später im Leben hatte er den Zustand festen Stoffs angenommen.

Wo seine Mutter auch hinging, überall tauchte er auf, manchmal machte sie das so verrückt, dass sie ihm eine knallte. Er zitterte vor Dankbarkeit, wenn die Hand, die zugeschlagen hatte, ihn wenig später wieder streichelte. Wie ein kleiner Hund ließ er das nagende Schuldgefühl in ihren Umarmungen über sich ergehen.

Eines Nachmittags erzählte sie ihrer Schwester davon. »Von morgens bis abends klebt er an mir. Ich kann keinen Schritt ohne ihn gehen.«

»Du verwöhnst ihn zu sehr«, sagte Marion.

Eine Falte erschien über Alices Nase. »Gar nichts tue ich. Doch, ihn ignorieren. Aber aufs Klo nehme ich ihn nicht mehr mit.«

»Aufs Klo?«

Alice nickte. »Das ging mir doch zu weit.«

»Aufs Klo …«, wiederholte ihre Schwester.

Alice schlug einen anderen Ton an. Verharmlosend: »Ach, so schlimm ist es auch wieder nicht.«

»Hast du noch Süßstoff?«

»Manchmal kann er sich richtig gut allein beschäftigen.«

»Der hier ist alle.«

»Du musst nur schütteln. Feuchtigkeit. Dieses Haus …«

Marion schüttelte die Schachtel heftig und sagte: »Alles nicht so einfach, oder?«

Alice strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Paul nahm die Bastogne-Kekse vom Tisch.

»Nein, Schätzchen, du hattest schon.«

Im Garten waren unter dem schmelzenden Schnee dunkle Maulwurfshügel zum Vorschein gekommen. Marion sah ihren Neffen zerstreut an.

»Es geht schon«, sagte Alice. Sie hatte das Thema falsch angepackt, merkte sie. Ihre Schwester hatte drei Kinder, jedes das große Los, während es gerade so aussah, als müsste sie sich mit einer Niete zufriedengeben. Umständlich fing sie an, ihren dreijährigen Sohn zu loben — dass er ihr so gut beim Fegen und Kartoffelschälen helfe und dass kein Mann sie je wieder so sehr lieben werde wie er. »Stimmts, kleiner Prinz?« Sie zwickte ihn in die Nase.

Paul strahlte. »Wo ist die Nase jetzt?«, fragte er glücklich.

Sie lächelte ergeben. Mit der Spitze des Daumens zwischen Zeige- und Mittelfinger tippte sie ihm an die Nase. »Da ist sie, du Räuber.«

In der Sauerdornhecke flatterten die letzten Luftschlangen von seinem dritten Geburtstag. Januar, nachmittags halb fünf. Sonst trank sie nie so spät Kaffee.

Ihr Sohn holte das Tierdomino und stellte die Schachtel auf den Tisch. Einen nach dem anderen drehte er die Steine um und schob ihr fünf hin. Sie schüttelte den Kopf. »Ich unterhalte mich gerade mit Tante Marion, Liebling. Und gleich muss ich kochen.«

Erneut ging er weg und kam mit dem Weidenkorb für die Kartoffeln aus dem dunklen Flur zur Deele zurück.

Marion stand auf, die Lippen zu einem Lächeln verzogen. »Schwierig, ja. Ich sehe schon.«

Schwer drückte das Ziegeldach auf das Haus, die Fenster lagen dicht unter der auskragenden Dachkante. Wenn es draußen dämmerte, war es innen schon dunkel; an trüben Tagen wurde es gar nicht hell. Früher war es ein stolzes, dreischiffiges, altsächsisches Gehöft, doch ein Vorfahre hatte, als es ihm schlecht ging, die Seitenschiffe abreißen und nur den Mittelteil stehen lassen. Vorn bei der Einfahrt war das hohe, abgerundete doppelflügelige Tor zu der Deele, in der früher das Vieh gestanden hatte, dahinter wohnten die Menschen. Die Deele hatte ihren Zweck verloren und sich nach und nach mit ausrangierten Geräten gefüllt. Flach geschliffene Bentheimer Mahlsteine, ein Heuwender, eine Weidetränke — das Archiv der Misserfolge des Geschlechts Krüzen.

Mit acht Jahren war Paul einmal durch den dunklen Flur gegangen, der das Wohnhaus mit der Waschküche und der Deele verband. Er nahm den Schlüssel vom Nagel im Türpfosten und trat ein. Im großen Raum roch es nach altem Stroh. Er bewegte sich vorsichtig, als fürchtete er, jemanden aus dem Schlaf zu wecken. Die Rinnen waren mit Gehwegplatten abgedeckt. Er dachte an die warmen Kuhleiber, die hier früher gestanden hatten, an das Klappern an den Futterraufen und das Schlabbern an den gusseisernen Tränkebecken, und sehnte sich vage nach einer Zeit lange vor seiner Geburt zurück. Die feuchte Wärme unter den Balken voller Spinnweben, der säuerliche Geruch des Silofutters. Er streifte herum zwischen Reifenstapeln und abgeschriebenen Maschinen, deren Funktion er nicht kannte. Seine Schläfe schrammte gegen die rostige Zinke des Heuwenders; Blut an der Hand, als er darüberwischte. Die Ritzen der schmutzigen Stallfenster waren mit Papierknäueln abgedichtet, die Luft in der Deele stand still.

Er kletterte die Holzleiter zum Heuboden hoch. Als seine Augen sich an die Dämmerung gewöhnt hatten, sah er Haufen halb vermoderten Heus vor einer Trennwand. Sie rochen scharf nach Schimmel. Der Dachboden war zweigeteilt; der größte Teil lag hinter der Trennwand, in die eine alte Stalltür eingesetzt worden war, er erstreckte sich über die ganze Länge des Wohnhauses. Die Tür war fest verschlossen, der Riegel ließ sich kein bisschen bewegen. Der Raum, in den er hineinwollte, musste riesig sein, und mit einem Mal fürchtete er sich vor dem, was hinter der Tür lag; seine Aufregung verfärbte sich in eisige Angst. Sein Rütteln am Schloss — unsanft hatte er etwas aus dem Schlaf geweckt und nun näherte es sich der Tür. Er drehte sich um, fiel rücklings zu Boden, rappelte sich wieder auf und rutschte die Leiter hinab.

»Was ist das denn?«, fragte seine Mutter kurz danach. Sie zog ihn zu sich heran, um sich die Schramme beim Auge genau anzusehen. »Was hast du da auch zu suchen! Er hätte das längst aufräumen sollen …«

Das Haus gehörte ihnen beiden, seiner Mutter und ihm. Am Nachmittag gesellte sich ein dritter Bewohner dazu, der mit seinem Statistendasein offenbar zufrieden war. Der Statist schien nicht das Bedürfnis zu haben, sich einzumischen, ohne ihn lief alles wie geschmiert. Er benahm sich wie ein vorbildlicher Kostgänger, trug die festen Ausgaben, gab das, was von seinem Gehalt übrig blieb, für die Einkäufe ab und versuchte an einem Nachmittag mal, seinem Sohn den Spannschuss beizubringen.