Der verlorene Sohn - Tommy Wieringa - E-Book

Der verlorene Sohn E-Book

Tommy Wieringa

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Beschreibung

Ludwig lebt allein mit seiner Mutter, bis die beiden bei einem heftigen Sturm ihr Haus verlieren. Von nun an ist er heimatlos, auf der Suche nach seinem eigenen Platz im Leben. Schockiert über seine Mutter, die nach Amerika reist, um ihr früheres Leben als Pornodarstellerin wieder aufzunehmen, folgt er ihr und verdient sein Geld in Los Angeles als Barpianist. In zwei Nächten erzählt Ludwig einer Zufallsbekanntschaft die Geschichte seines rastlosen Lebens. Tommy Wieringa schreibt den Roman einer Generation: eine verrückte, extreme Lebensgeschichte über den Aufbruch eines jungen Mannes ins Ungewisse.

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Tommy Wieringa

Der verlorene Sohn

Roman

Aus dem Niederländischen

von Bettina Bach

Carl Hanser Verlag

Die niederländische Originalausgabe erschien 2009

unter dem Titel Caesarion bei De Bezige Bij in Amsterdam.

Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert vom

Nederlands Letterenfonds.

Das Gastmahl von Platon im Motto wird zitiert in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Insel Verlag 1991,

© Suhrkamp Verlag Berlin.

Moby-Dick von Herman Melville auf Seite 157 wird zitiert in der Übersetzung von Matthias Jendis, Carl Hanser Verlag 2001,

© Carl Hanser Verlag, München.

Das Gedicht »Cäsarion« auf Seite 177 wird zitiert aus: Konstantinos Kavafis. Das Gesamtwerk. Griechisch und Deutsch. Aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Robert Elsie

© Ammann Verlag & Co., Zürich 1997.

eBook ISBN 978-3-446-23681-3

© Tommy Wieringa 2009

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2010

Satz: Gaby Michel, Hamburg

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele weitere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Für C, Glückszahl

»Wer aber, fragte ich, ist sein Vater und seine Mutter?«

Platon, Das Gastmahl

Erosion

Am Flughafen von Norwich mietete ich einen Ford Focus, das einzige Automatikauto, das es gab.

»Waren Sie schon mal bei uns, Herr Unger?«

Ihre Schönheit war die wässrige Schönheit vieler Frauen in diesem Teil der Welt, dazu das typische feine blonde Haar. Ich kam nicht im System vor, sie kopierte meinen Pass und meinen Führerschein und schob mir beides über die Theke wieder zu.

»Und den Schlüssel natürlich, sonst kommen wir nicht weit.«

Sie erinnerte mich an ein Mädchen. Ich hatte es einmal auf Bunyans Walk gesehen, als ich mich vom Pfad entfernte, weil da ein Geräusch war. Auf dem federnden Waldboden sah ich sie, sie ritt einen reglosen Alten. Er hatte die Hose halb heruntergelassen und blickte mit glasiger Angst in den Augen zu ihr hoch, zu ihren auf und ab hüpfenden großen weißen Brüsten, ihrem knallroten Gesicht. Die Farne hatten ihre Zungen ausgerollt.

Ich nahm den Schlüssel von ihr entgegen. Glänzend elfenbeinfarben ihre Nägel.

Wegen der Nachricht, die mich am Morgen erreicht hatte, war ich aus den Niederlanden abgereist.

»Ein Telegramm für Sie«, hatte die Empfangsdame des Pulitzer Hotels gesagt.

Warren gestorben.

Beerdigung Montag, 2. März.

Catherine

Als ich kurz darauf meinen Koffer packte, stellte ich mir vor, wie Catherine Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um den Schalterbeamten dazu zu bringen, noch ein Telegramm zu verschicken. In ihrer Welt verkündete man den Tod eines geliebten Menschen nicht telefonisch. Auch Warren hätte das freundlich, aber entschieden abgelehnt. Wenn ich sie früher, als wir noch Nachbarn waren, anrief, weil ich zu faul war, das kurze Stück zu ihrem Haus zu laufen, gingen sie erst nach langer Zeit und wie überrascht ans Telefon, als würden sie denken: Was hat das komische klingelnde Ding hier im Flur zu suchen?

Die Bronzeurne mit der Asche meiner Mutter, die ich seit einigen Monaten mit mir herumtrug, steckte ich in eine Plastiktüte. Im Koffer wickelte ich sie in zwei Sweatshirts.

Der Ford roch wie neu. DRIVE LEFT warnte ein Aufkleber auf dem Armaturenbrett. Ich verließ Norwich und fuhr nach Suffolk. Die Geborgenheit der Hohlwege, die hohen Hecken, die sie säumten. Ich verpasste die Abzweigung, Alburgh war schlecht ausgeschildert. Es gab kaum Straßenbeleuchtung in diesem Teil der Welt. Kurz vor der Ortschaft Alburgh bog ich ab. Wieder auf der Flint Road, einer Schotterstraße voller Schlaglöcher. Im eisigen Scheinwerferlicht sah ich träge, kranke Kaninchen. Fontänen von Lehmwasser spritzten unter den Reifen auf. Diese Straße verband die übriggebliebenen Häuser von Kings Ness miteinander. Kings Ness! Glorreicher Hügel, auf dem wir bis zum bitteren Ende ausharrten!

Ein dumpfer Schlag am hinteren Radkasten. Erlösung für ein Myxomatose-Kaninchen.

Bei Nummer siebzehn hielt ich an. Die Haustür klemmte, ich zog meine Schuhe aus und stellte sie in die dunkle Diele. Leise klopfte ich an und öffnete die Tür. Eine Flut von Licht, Frauen an einem Esstisch. Catherine saß am Kopfende, die anderen Frauen waren ihre irischen Töchter aus erster Ehe. Vier von ihnen.

»Junge«, sagte sie, »endlich bist du da.«

Sie richtete sich auf wie ein Nagel, der geradegebogen wird, und schloss mich in ihre Arme wie einen verlorenen Sohn. Mit der Nase an ihrem duftenden Scheitel stand ich da, angestarrt von ihren Brocken von Töchtern.

»Catherine …«

»Schon gut, Junge, schon gut.«

Auf Strümpfen schob ich mich über den Linoleumboden von einer Tochter zur nächsten, schüttelte Hände, sprach mein herzliches Beileid zum Verlust ihres Stiefvaters aus. Ich bekam ein Glas Whiskey in die Hand gedrückt.

»Glenfiddich«, sagte eine der Töchter, »das Einzige, was ich im Duty-free bekommen konnte.«

Sie sahen mir beim Trinken zu. Früher, wenn sie aus Irland zu Besuch gekommen waren, hatte ich mich immer von ihnen ferngehalten. Sie würden gemein zu mir sein, wenn keiner in der Nähe war, mich zwicken oder so lange durchkitzeln, bis ich weinte. Ich war zwar nur ein Nachbarsjunge, aber die Tatsache, dass Catherine offensichtlich keinen Unterschied zwischen mir und ihren leiblichen Kindern machte, weckte ihre Eifersucht und machte sie unberechenbar. Sie lebten mit ausgefahrenen Krallen.

Hin und wieder beugte sich eine von ihnen vor und schneuzte ihren Kummer in ein Papiertaschentuch. Vor dem Fenster sah ich die Lichter von Alburgh. Catherine lächelte mir zu.

»Warren hat noch nach dir gefragt. Ob du wohl kommen würdest, fragte er sich. Du warst schwer aufzutreiben, Junge. Versprich mir, dass du nie mehr unauffindbar sein wirst.«

Es rührte mich, dass er auf seinem Sterbebett an mich gedacht hatte. So einer Zuneigung muss man wert sein. Ich wusste nicht, ob es auf mich zutraf.

»Deine Mutter«, sagte Catherine. »Wie schlimm für dich. Ich habe deine Karte bekommen.«

»Ihr musstet es erfahren, dachte ich.«

»Wie lange ist es jetzt her?«

»Mai. Auch schon fast ein Jahr.«

»So jung«, sagte sie. »Viel zu jung.«

Die Töchter glotzten. Ich fragte mich, ob sie sich schon fortgepflanzt, die Menge dumpfer Objekte auf der Welt schon vermehrt hatten. Zwei von ihnen beugten sich zueinander und murmelten etwas in gutturalem Gälisch. Eine dritte schenkte die Gläser voll.

»Ein heidnisches Land ist das hier«, sagte Catherine. »Sie wollten Warren in der Trauerhalle behalten. Wir sollten ihn nur auf Absprache sehen dürfen. Dann hätten sie ihn geholt. Aber wir behalten unsere geliebten Toten bei uns, zu Hause, bis zum letzten Tag. Und danach trinken wir und machen Musik.«

Abscheu huschte über ihr Gesicht.

»So kalt, die Engländer, so kalt.«

»Heiden«, sagte eine Tochter.

Catherine holte eine Spritze und eine kleine Flasche aus der Tischschublade und bereitete einen Insulinschuss vor. Eine der Töchter stand auf, Catherine schob ihren Pulli ein wenig hoch und zeigte auf die Stelle, wo die Spritze gesetzt werden sollte.

»Warren hat all die Jahre meinen Blutzuckerspiegel in ein Heft eingetragen. Jede Veränderung war sofort zu sehen. Jetzt muss ich alles selbst lernen. Wie ein Kind.«

»Das schaffst du schon«, sagte eine der Töchter. »Wir helfen dir.«

»Möchtest du Warren sehen?«, fragte Catherine.

Ich schüttelte den Kopf.

»Lieber morgen früh«, sagte ich. »Wenn ich darauf vorbereitet bin.«

Das trockene Schaben des Whiskeyverschlusses am Schraubgewinde. Der Single Malt versengte meine Speiseröhre, aus meinem betäubten Mund sprudelten jetzt Fragen über die Klippe, ihre Bewohner, die von den Winterstürmen verursachten Schäden. Die anhaltende Erosion.

An der Spitze der Pier von Alburgh, wo früher die Bell Steamers mit all den Urlaubern aus London angelegt hatten, lehnten sich zwei Fischer über die Brüstung. Sie hatten mehrere Angeln gleichzeitig ausgeworfen. Unten umspülten bleigraue Wellen die Pfeiler, die See sah kalt aus wie eine Leiche.

Von hier war Warren Feldmans titanische Leistung gut zu sehen, aber auch die Tatsache, dass das Meer die Früchte seiner Arbeit zum Großteil wieder zunichtegemacht hatte. Auf einer Länge von etwa einem Kilometer hatte er einen Wall aus Torf, Erde und Lehm aufwerfen lassen – der Wall war vier Meter hoch und hob sich dunkel vom gelben Sand der viel höheren Klippe von Kings Ness ab, an der er lehnte. Ein primitives Bollwerk gegen die Erosion. Seit Menschengedenken wurde das Land hier vom Meer angegriffen, bei Sturm, wenn die Nordsee ihre geballte Kraft auf die ostenglischen Klippen losließ. Weit weg, am nördlichen Ende von Kings Ness, stand das Haus von John und Emma Ambrose. Noch ein paar Meter, dann würde der Abgrund auch ihr Haus eingeholt haben.

Meine Mutter und ich kannten das fallende Gefühl, das zum Leben an diesem Abgrund gehört. Die Einwohner der mittelalterlichen Stadt Castrum kannten es auch, das Meer hatte sie immer weiter nach Westen getrieben. Jetzt ist dort, wo früher die Stadt lag, Wasser, Castrum gibt es nicht mehr, der Name klingt wie Atlantis. Die Stadt hat sich geschlagen gegeben, die Nordsee hat sie sich Sturm für Sturm, Bissen für Bissen einverleibt. Die westliche Grenze der verschwundenen Stadt verlagerte sich nach Kings Ness. Man könnte sagen, dass wir, die Menschen von Kings Ness, die letzten Einwohner Castrums sind, die letzten der Atlantier. Auch unser Haus ist, in jener Nacht vor langer Zeit, Teil des zerrütteten Grundrisses von Castrum geworden, der sich auf dem Meeresboden etwa drei Meilen in Richtung Osten erstreckt und nur von Tauchern und Meerestieren besucht wird.

Der Teashop am Eingang der Pier war geöffnet, die Spielhalle und die Souvenirgeschäfte waren geschlossen und würden es auch, laut einem Zettel an der Tür, bis Samstag, 21. März, bleiben.

Die Strandhäuschen hatte man über den Winter auf dem Parkplatz bei der Pier gelagert. Ein in sich gekehrtes Geisterdorf. Im Mai, nach den Stürmen, würden sie als langes buntes Band am Strand von Alburgh aufgebaut werden.

Ich ging über eine Treppe in der betonierten Küstenbefestigung zum Strand hinunter, wo die Flut weit vorgerückt war. Auf dem schmalen Streifen zwischen Klippe und Meer lief ich bis zum nördlichen Ende von Kings Ness. Anders als die Kreidefelsen von Sussex war die Klippe hier spröde und sandig. Es gab sogar Winderosion – an Sommertagen, bei starkem Ostwind, stürzten gelegentlich Tonnen von Sand und Kieselsteinen auf den Strand. Uferschwalben, die dicht unter dem Rand nisteten, höhlten die Klippe noch weiter aus.

Um die Küstenbefestigung kümmerte sich schon eine ganze Weile niemand mehr, das Meer hatte große Bissen daraus genommen. Die Wolkendecke über dem Wasser riss auf, ein Eisloch im grauen Himmelsgewölbe, Funkeln auf den Wellen weit vor der Küste, als würden dort silberne Delfine schwimmen. Plötzlich erinnerte ich mich wieder, wie ich früher an Geisterschiffe aus Licht geglaubt hatte, die am Horizont fuhren, an einen muschelbewachsenen alten Meeresgott, der vor der Küste erschien. Von der Erinnerung überwältigt, stand ich da und sah zu, wie das Loch in der Wolkendecke sich wieder schloss, wie alles zum Grau eines Frühlings erlosch, der nicht kam.

Hier hatte unser Haus gestanden, zehn Meter über dem Wasserspiegel. Das erkannte ich an den abgebrochenen Rohren, die da oben aus der Klippe ragten – Leitungen, die unser Haus mit Gas, Wasser und Licht versorgt hatten. Rostige Rohre, auf ein leeres Meer feuerndes Flakgeschütz.

Ich lief weiter. Unter meinen Füßen knirschte der Kies. Wer sich die Mühe machte, stundenlang mit gesenktem Kopf am Strand entlangzugehen, konnte Bernstein aus nordeuropäischen Wäldern von vor Millionen Jahren zwischen den Kieseln finden.

Der Zaun der Familie Ambrose baumelte nur noch an zwei Pfosten. Einmal mit dem Fuß dagegen, und der ganze Kram krachte hinunter. Irgendwo oben auf der Klippe war ein Hund, der pausenlos heiser bellte.

Ich gelangte zum Ende der Küstenbefestigung, wo der Hügel von Kings Ness schräg abfiel und in einiger Entfernung in einer labyrinthischen Landschaft von Wasserläufen und wogendem Schilf versank. Hier fanden sich nur Schilfschneider und importierte chinesische Muntjaks zurecht. Ich stieg den Hügel hinauf, zurück in Richtung Alburgh. Vor langer Zeit hatte jemand einen Pfosten mit einem Schild in den Boden gerammt. KLIPPENRAND INSTABIL. ABSTURZGEFAHR.Auf der Klippe verspürte ich die Weite zwischen Himmel und Wasser, hier zerbröckelte die Welt und verschwand spurlos in den Wellen. Da oben stand noch immer der fest installierte Wohnwagen von Terry Mud, einige Meter vom Rand entfernt. Man konnte darin wohnen, zumindest wenn man die schweinchenrosafarbenen Samtvorhänge, die riesigen geblümten Sessel, die holzverkleideten Wände und die verendenden Epiphyten im Fenster ertrug. Wie den Hai von Damien Hirst könnte man den Wohnwagen als Ganzes plastinieren und ihn zukünftigen Generationen als Zeitkapsel vermachen: Durch die Fenster könnten unsere Nachfahren auf die Siebzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts schauen. Auf einen Blick würden sie den Stil und die Mentalität dieser Jahre erkennen und froh und erleichtert sein, dass sie für immer vorbei waren.

Ich ging am Haus der Familie Ambrose vorbei. Eine Frau im türkisfarbenen Morgenmantel lehnte sich über den Zaun und rief ihren Hund.

»Ruffles! Ru-ffles!«

Hinter ihr, in der Tür, stand ein splitternacktes Mädchen. Ihr Gesicht trug die Merkmale des Downsyndroms. Weiß und fröstelig stand sie da, ihre wässrigen Augen sahen mir mit leerer Neugier hinterher. Sie hatte einen ausgeprägten Schamhügel. Ich erkannte die Frau im Morgenmantel nicht, Emma Ambrose konnte es nicht sein. Sie grüßte mürrisch, wie ertappt.

Ich nahm die Abzweigung zu Warrens und Catherines Haus und lief den Weg voller Schlaglöcher entlang, auf dem ich am Vorabend gekommen war. Unzählige überfahrene Kaninchen. Der Straßenbelag eine verschlissene Decke aus platt gewalztem Kaninchenfell. In weiter Ferne hörte ich einen Gewehrschuss. Ein Fasanenhahn flüchtete sich gackernd ins Gestrüpp.

Auf dem Feld erkannte man die kranken Kaninchen an ihrer dumpfen Reglosigkeit. Ihre Augen schwollen an und sie bekamen Beulen am ganzen Körper, erblindeten und starben eines langsamen, qualvollen Todes. Ein Hermelin lief in Schlangenlinien am Wegrand entlang und tauchte in den Schutz der braunen Farne und Brombeerhecken ab, als es mich bemerkte.

Trostlos lagen die Felder da, Krähen scharrten zwischen aufgeweichten Maisstoppeln. Inmitten der Hügel im Westen ragte hier und da ein stumpfer alter Kirchturm aus den Eichenwäldern. Die Krähen und die Kirchtürme und die Kaninchenpest vor meinen Füßen – das Mittelalter hatte hier nie aufgehört.

Catherine hängte hinter dem Haus Wäsche auf, ich sah sie aus dem Küchenfenster. Schwarze Kleidungsstücke flatterten im Meereswind. Durch die Waschküche ging ich nach draußen. Sie nahm eine Wäscheklammer aus dem Mund und hängte einen Strumpf an die Leine, strich sich die Haare aus dem Gesicht.

»Vor wenigen Wochen habe ich noch sein gutes Hemd für die Beerdigung von Frau Hendricks gewaschen und gebügelt.«

Die Kälte kroch durch meine Socken herauf. Der Verlust von Warren bedeutete für Catherine den Verlust ihrer großen Liebe. Ich wusste, wie sie sich kennengelernt hatten, Warren hatte mir die Geschichte erzählt, sie war wildromantisch. Das Herz krampfte sich beim Gedanken daran in der Brust zusammen. Wir gingen ins Haus, Catherine sagte, sie brauche eine Spritze. Sie öffnete die Schublade und nahm das Etui mit dem Arsenal für ihren durcheinandergeratenen Blutzuckerspiegel heraus.

»Ich verstehe sein System nur halb«, sagte sie, als sie das Heft mit dem Insulinschema aufschlug. »Was sind das für rote und grüne Kästchen? Selbst meine Krankheit ist in seinen Händen. Selbst die. Komm, hilf mir mal.«

Sie gab mir die Spritze und zog den Pulli hoch. Ich sah ihre weiße alte Haut, ein Schauder lief mir über den Rücken.

»Wo soll sie hin?«

Sie deutete auf eine Stelle auf der Höhe der Milz, eine Insel von Nadelstichen. Die Spritze stand senkrecht auf der Haut, Catherine machte ein beschwichtigendes Geräusch. Die Nadel stieß durch den Widerstand der Oberhaut und drang ins subkutane Fettgewebe. Der Schauder setzte sich bis zu meinem Hodensack fort, es war von einer unerträglichen Intimität. Ich spritzte die Flüssigkeitskammer leer und zog die Nadel heraus.

»Komm jetzt«, sagte sie.

Warrens Arbeitszimmer, von hier aus hatte er seinen Kampf gegen Politik und Bürokratie geführt. Bevor wir eintraten, fragte Catherine, ob ich Montag auf der Beerdigung vielleicht ein Stück spielen könnte.

»Gibt es da ein Klavier?«

Sie nickte.

»Natürlich«, sagte ich. »Bei Marthes Beerdigung habe ich Beethovens Trauermarsch gespielt. Der ist bekannt und sehr schön.«

»Gut, dann spiel den.«

Dunkel und kalt das Zimmer, hinter den zugezogenen Vorhängen waren die Fenster geöffnet. Auf beiden Seiten der Bahre brannten zwei große Kerzen, die Dochte hatten sich tief ins Wachs gegraben. Catherine beugte sich zu dem Mann im Sarg und streichelte seine Wange. Im Halbdunkel sah es aus, als läge da mein Vater. Es dauerte einen Moment, bis der Tote und der Mann in meiner Erinnerung zu einem Bild verschmolzen waren, dem von Warren Feldman. Catherine sprach im Flüsterton mit ihm. Alle Farbe war aus seinem Bart gewichen, er sah noch wüster aus als früher. Warum trug er seine Brille? Es war ein beschämender Anblick. Ich wünschte mir ein kleines Wikingerschiff, mit ihm, dem König, auf einer in Petroleum getränkten Holzbahre, das Heft seines Schwerts in den gefalteten Fingern. Das Schiff wollte ich bei ablandigem Wind abstoßen und es dann mit einem Pfeil in Brand schießen – doch die Zeiten waren nicht dafür.

Seine großen Hände, die auf dem Bauch gefalteten Finger. Schöne, gerade Nägel. Seine Hände rührten mich – ich dachte an die Dinge, die er damit geschaffen hatte. Das Haus seiner Exfrau Joanna, das neue Dach auf der Waschküche unseres Hauses, seine Küstenbefestigung. Sie hatten Messer geschliffen, Beile gewetzt und Briefe an die Kreisverwaltung geschrieben, aus denen beim Auffalten die Splitter seiner erstarrten Wut fielen. Sie hatten zwei Frauen geliebt, erst fast zwanzig Jahre lang Joanna, dann den Rest seines Lebens Catherine. Der Wachsgeruch brachte mich zu jenem anderen Katafalk zurück, dem meiner Mutter im Abschiedsraum des Krematoriums. Mein Kopf wurde warm, ich musste hier weg. Ich dachte, dass sie, Catherine, weinte. Meine obligatorische Hand auf ihrer Schulter eine unangemessene Unterbrechung der letzten Augenblicke, die sie in seiner Nähe verbrachte. Mit diesem letzten Kontakt wollte ich garnichts zu tun haben.

Auf der Flint Road kamen sie mir entgegen, die Töchter. Russische Bäuerinnen. Sie waren bei Somerfield in Alburgh einkaufen gewesen. Ich hob die Hand. Keine Reaktion, an ihren Armen hingen Taschen. Ich hatte zu früh gegrüßt, zu viele Meter mussten noch mit abgewandtem Blick überbrückt werden. Es dauerte sehr lange, bis wir uns trafen. Ich sagte:

»Hallo, wie geht’s?«

Sie sagten:

»Ganz gut«

und fragten, ob ich bei Catherine gewesen sei. Ich bejahte. Wir setzten unseren Weg fort. Fünfzig Meter weiter drehte ich mich um und sah, dass sie sich nebeneinander über die Straße schoben. Wenn sie einem Loch auswichen, entstand eine Bresche in der Formation, die sie bildeten.

Ich ging den Hügel hinunter und kam an Joannas Haus in der Kurve vorbei, dem Haus, das Warren gebaut hatte. Wie am Abend zuvor wirkte es verlassen. Warrens Land erstreckte sich bis zum Fuß des Hügels, bis zu dem Parkplatz an der Pier. Ich fragte mich, ob Joanna zur Beerdigung kommen würde, ob die Kriegshandlungen zwischen ihr und Catherine für die Dauer der Feierlichkeiten eingestellt und in einen brüchigen Waffenstillstand verwandelt werden würden.

Ich war im Hotel The Whaler abgestiegen. Catherine hatte mir ein Bett angeboten, doch ich hatte dankend abgelehnt. Zu viele Frauen, zu viel Trauer.

Hinter der Theke in der Schooner-Bar erblickte ich ein bekanntes Gesicht: Mike Leland. Wir hatten zusammen Rugby gespielt, er war damals Kapitän der zweiten Mannschaft. Er lächelte breit.

»Sieh an, der Pianomann!«

Er streckte seine große Hand über die Theke und pumpte meinenArm auf und ab. Mike Leland arbeitete schon als Kellner im Whaler, als ich noch in Alburgh wohnte. Ich spielte dort Klavier, nachmittags im Salon und abends in der Bar – ich weiß noch, was für Augen er machte, als er hörte, wie viel ich verdiente.

»Ich arbeite«, hatte er entrüstet gesagt, »und du … du spielst.«

Inzwischen hatte er es zum Geschäftsführer gebracht, doch er wirkte immer noch fehl am Platz mit seinem Körper einer Nummer Acht in der Hoteluniform. Er spiele noch immer Rugby, natürlich, aber jetzt als Erste-Reihe-Stürmer in der ersten Mannschaft. Mike stellte ein Half-Pint-Glas vor mich und fragte, was mich nach Alburgh verschlagen habe.

»Der alte Knut«, sagte er dann. »Jetzt ist es sicher bald vorbei mit denen da oben. Wie lange bleibst du?«

Ich sagte, dass ich es nicht wisse, keine festen Pläne habe, es mir jedoch guttue, den Hügel und das Dorf wiederzusehen. Er runzelte die Stirn.

»Nicht verheiratet, Ludwig?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Kinder? Eine feste Stelle?«

Auf mein beharrliches Kopfschütteln hin pfiff er leise durch die Zähne. Mechanisch spülte er die Gläser.

»Nicht verheiratet, keine feste Stelle. Was treibst du so, Pianomann?«

»Klavierspielen, immer noch. Eine nützliche Kunst.«

Mike schüttelte den Kopf und lachte fast gegen seinen Willen.

»Immer noch keinen einzigen Tag gearbeitet. Ich muss echt was falsch machen.«

Mein Zimmer hatte Blick auf den kleinen Marktplatz. In der Mitte des Platzes stand eine Seemine aus dem Zweiten Weltkrieg auf einem Sockel, feuerwehrrot angemalt, mit einem Schlitz für Spenden zugunsten der Familien umgekommener Seeleute. Ich dachte an das Zitat aus Jeremia, das darauf stand – There is sorrow on the sea.

Mein Handy zeigte zwei Anrufe in Abwesenheit an.

»Hey, Liberace, wo steckst du? Die Bar ist bis oben hin voll. Wir warten hier auf dich.«

»Das ist eine höfliche Bitte, mir zu sagen, wo du bist. Beim Empfang hieß es, du hast ausgecheckt. Verflucht, Unger, geh ans Telefon. Lass die Starallüren, verdammt.«

Der Akku war nur noch zwei Balken geladen. Auf der Suche nach meinem Ladegerät wühlte ich im Koffer, hantierte vorsichtig mit der in Plastik verpackten Urne, bis ich das Bild einer Wandsteckdose vor mir sah und begriff, dass das Ladegerät sich noch im Hotel Pulitzer befand, das ich am Tag zuvor verlassen hatte.

Ich zog meine Schuhe aus, wickelte mich in die Überdecke und schlief ohne einen einzigen weiteren Gedanken ein.

Als ich aufwachte, war es früher Abend. Im Reader’s Room an der Strandpromenade sah ich mir alte Fotos von Alburgher Seeleuten an – Kapitäne auf großer Fahrt, Matrosen auf Kriegsschiffen, Heringsfischer, die ihre Netze bei der Doggersbank auswarfen. Im Schein der Milchglaslampen blickte ich auf gestrandete oder von hinterlistigen U-Booten zerschossene Schiffe. In den Vitrinen lagen Steinpfeifen und Stoffepauletten.

Eine fromme Christin hatte finanzielle Mittel für den Erhalt des Reader’s Room hinterlassen, damit die Seeleute sich ihre Zeit nicht in der Kneipe vertrieben, sondern im Schein der Leselampen. Ich hatte noch nie einen Seemann dort gesehen. Es war sogar fraglich, ob es in Alburgh überhaupt noch Seeleute gab. Fischer oder Matrosen würden hier genauso vorsintflutlich wirken wie Barbiere auf einem Jahrmarkt. Trotzdem gab es den Reader’s Room noch, und jeden Tag kam jemand her, um die Tür zu öffnen und abends gegen elf wieder abzuschließen. Dieser wunderliche Raum, ein kleines Museum und ein Lesesaal zugleich, war auf rätselhafte Weise vom Zahn der Zeit verschont geblieben.

Im Lighthouse Inn bat ich den Kellner, die Portion Pommes frites in die Küche zurückzubringen. Manchmal vertrage ich keine Pommes. Das hat mit der Ekstase der Einsamkeit zu tun. Wenn ich mich früher so fühlte, steckte ich mir manchmal Steine in die Taschen, aus Angst, sonst abzuheben. Dieses Gefühl von Leichtigkeit überkam mich noch gelegentlich, wenn ich lange allein war und nur mit wenigen Menschen sprach. Ich schabte die silbergraue Haut des Kabeljaus ab und machte mir keine Gedanken um meinen freischwebenden Zustand. Ich wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis es mit der Schwerelosigkeit wieder vorbei war.

Im Lauf des Abends fragte Mike Leland nochmals, wie lange ich vorhatte zu bleiben, und auf meine wiederholt unbestimmte Antwort hin warf er seine Netze aus.

»Hättest du nicht Lust, ein bisschen hier zu spielen, wenn du Zeit hast? Dazu ist das Ding schließlich da.«

Das Ding: ein Brinsmead-Klavier, auf dem ich früher schon gespielt hatte und das jetzt so falsch klang wie ein Kompliment an die Schwiegermutter.

»Es ist verstimmt«, sagte ich.

»Ich kann morgen jemand kommen lassen, das ist kein Problem.«

Er holte seine Netze ein.

»Letzten Sommer war ein gewisser John Whittaker da«, sagte er. »Der hat noch auf der Queen Mary gespielt. Ich habe gehört, dass er gestorben ist. Tot in seinem Zimmer im Seagull in Lowestoft gefunden.«

»Der Tod eines Barpianisten«, murmelte ich.

»Es ist ein Service, den wir unseren Gästen gern bieten«, sagte Leland, als käme er frisch aus einem Kurs. »Und du sollst natürlich nicht umsonst spielen, nicht wahr, Prince Charming?«

Das war eine Anspielung auf meinen früheren Stundenlohn von fünfundzwanzig Pfund, festgesetzt von Julie Henry, der damaligen Geschäftsführerin. Es ließ sich nicht leugnen, dass sie eine Schwäche für mich hatte. Die Beleidigung, die die fünfundzwanzig Pfund pro Stunde für Leland darstellten, hatte sich ihm tief ins Gedächtnis gegraben. Vielleicht glaubte er immer noch, dass es einen dubiosen Zusammenhang zwischen der Höhe meines Honorars und dem Lächeln von Julie Henry gab, wenn sie in ihrer Hoteluniform, die sie meiner Meinung nach hauteng auf Figur nähen ließ, am Klavier vorbeiging. Manchmal strich ihre Hand dabei langsam über das lackierte Gehäuse.

Wir einigten uns auf fünfunddreißig Pfund pro Stunde, Leland und ich, und eine warme Mahlzeit vorab. Innerhalb von zwölf Jahren war ich einen Zehner mehr wert geworden. In der ersten Woche war die Unterkunft im Hotel kostenlos, danach musste ich mir eine andere Bleibe suchen, denn die Zimmer dort waren zu teuer.

So hatte ich, der ich zu einer Beerdigung gekommen war, innerhalb von vierundzwanzig Stunden Arbeit, Kost und Logis.

Als ich am nächsten Morgen nach unten kam, war ein Klavierstimmer bei der Arbeit.

»Ein alter Kasten isses«, sagte der Mann. »All die Kinderhände.«

Ich trat näher und linste ins Gehäuse.

»Sie sehen es sich erst eine Weile an«, sagte ich. »Dann suchen sie sich ganz vorsichtig eine Taste aus. Wenn niemand kommt und sie ausschimpft, schlagen sie die nächste an. In ihrem Kopf haben sie die magische Vorstellung, plötzlich Klavier spielen zu können, einfach so, ein Wunder. Ich kann mich noch an die Tage erinnern, als ich vor dem Klavier stand und dachte, dass ich Beethoven aus dem Ärmel schütteln könnte, ich müsste die Tasten nur anschlagen.«

»Ich glaub eher, dass es ihnen einfach Spaß macht, so laut wie möglich drauf rumzuhämmern«, sagte der Klavierstimmer.

»Kriegen Sie es noch hin?«, fragte ich.

»Das wird schon. Sind Sie der neue Pianist?«

Ich nickte.

»Ich tu mein Bestes für Sie, aber der Filz ist ziemlich abgenutzt. Das lässt sich nicht auf die Schnelle ändern.«

»Für My way reicht es bestimmt«, sagte ich.

In den Gärten waren die Palmwedel für den Winter hochgebunden. Ich schüttelte meinen Traum von dieser Nacht ab, über eine Frau von vor langer Zeit. Am frühen Nachmittag ging ich in einen Laden und kaufte eine Flasche Whiskey. Die Strandhäuschen auf dem Parkplatz bei der Pier verströmten dumpfes Warten. Genau wie ich waren sie für eine andere Jahreszeit gemacht. Ich ging den Hügel hoch. Warren hatte Schilder aufgestellt. PRIVATE. AUTHORISED VEHICLES ONLY. PLEASE KEEP GATEWAY CLEAR. Die mit Sand, Lehm und Schutt für Warrens berüchtigte weiche Küstenbefestigung beladenenLaster waren jahrelang über diesen Weg gefahren. Durch die schmalen Straßen von Alburgh donnerten sie zur Strandpromenade, an der Pier vorbei und dann Kings Ness hoch. Der Weg war mit Schotter und Betonplatten befestigt, in Staubwolken gehüllt rasten die Laster hügelauf, hügelab. Jeden Tag hatte Warren sie gezählt, ein Klemmbrett in der Hand, hatte die Art der Ladung kodiert und Sachen wie herrlicher Lehm gemurmelt. Bei Regen hatte er in seinem Landrover hinter hin und her peitschenden Scheibenwischern gesessen, das Klemmbrett auf dem Schoß. Es war etwas Stillvergnügtes an ihm, daran, wie er sagte, es ist doch alles nur ein Spiel, oder bei Rückschlägen verschmitzt grinste und sie als neue Herausforderung für den oppositionellen Geist bezeichnete.

Warren hatte lange Zeit für eine Kläranlagenfirma gearbeitet, bis ein Autounfall ihn zu einer einjährigen Reha zwang. Als er wieder arbeiten konnte, war sein Platz weg. Da war er knapp unter Sechzig, er bekam eine Abfindung und widmete sich fortan dem Erhalt der Klippe und der Häuser, die noch geblieben waren.

Ein paar Vormittage pro Woche stellte ein ehemaliger Kranführer aus Kessingland sein Mofa vor Joannas Haus ab. Dann ging er zu dem Greifbagger, der auf Warrens Heerstraße stand. Bei uns zu Hause konnten wir den Motor starten hören, und ich habe oft gesehen, wie schwarzer Rauch aus dem Rohr über der Kabine quoll, heftiges Beben durch die Maschine ging. Jedesmal glaubte ich, dass Teile abfallen würden. So, im Leerlauf dröhnend, blieb der Bagger eine Weile stehen. Als würde der Motor Kraft sammeln, um von der Stelle zu kommen, bevor er sich langsam und unbeteiligt wie ein Reptil in Bewegung setzte. Der Greifbagger brachte die von den Lastern herbeigeschaffte Ladung ans andere Ende der Küstenbefestigung. So rückte der Wall immer ein Stückchen weiter vor. Aber für uns war es zu spät.

Warren sollte erst Montag beerdigt werden, in drei Tagen. Aus dem Arbeitszimmer drang der Geruch, der mich an den Tod meiner Mutter erinnerte.

Nicht alle Töchter waren da. Eine saß bei Catherine am Tisch,eine zweite machte sich durch klapperndes Geschirr in der Küche nebenan bemerkbar. Catherine lächelte das unerträgliche Lächeln einer Frau, die sich krampfhaft aufrechthält. Ich setzte mich und stellte die Flasche Tullamore Dew auf den Tisch, die ich am Nachmittag gekauft hatte.

»Irischer Whiskey«, sagte ich. »Hoffentlich ist es der Richtige.«

»Das ist lieb von dir. Hol Gläser, Mary.«

Die Tochter stand auf und setzte sich in Richtung Küche in Bewegung. Es war mir ein Rätsel, wie die zarte, schmalgliedrige Catherine solche Töchter geboren haben konnte.

»Nur Maureen und Mary konnten bleiben. Kathleen und Jane mussten schon zurück. Maureen bleibt noch eine Woche. Danach bin ich allein. Ich bin wegen Warren nach England gekommen. Ich mag dieses Land nicht. Aber ich habe es keinen Moment bereut, dass ich mit ihm gegangen bin. Jetzt habe ich hier nichts mehr. Nur sein Grab. Sie …«, und sie zeigte mit dem Kopf in Richtung Küche, »… finden, dass ich zurückkommen soll. Aber ich frage mich, Junge: Soll man da bleiben, wo seine Liebe begraben liegt, ist man da zu Hause? Oder dort, wo man seine Kinder hat?«

Mary kam mit Gläsern aus der Küche zurück und stellte sie vorsichtig ab, wie Eier, die über den Tisch davonrollen könnten. Ich zuckte mit den Schultern, peinlich berührt von der Frage.

»Ich weiß nicht, Catherine. Seit dieser Sache hier, seit das Haus weg ist, weiß ich nicht genau, wie es sich so verhält mit Orten. Ich glaube nicht, dass ich der Richtige bin für die Frage. Ich würde …«

»Sprich dich aus.«

»Ich dachte an die Menschen, die wie Gras und Blumen sind, dann geht der Wind darüber und niemand weiß noch, wo sie standen.«

»Das ist ein Psalm, oder?«, fragte Mary.

Ich nickte und schraubte die Flasche auf. Catherine sagte:

»Sag das noch einmal.«

»Mehr weiß ich nicht, nur diese Zeilen.«

»Dann wiederhole sie.«

Lächelnd schüttelte ich den Kopf. Der Psalm war bei der Einäscherung meiner Mutter vorgetragen worden, da hatte ich die Bedeutung jedes einzelnen Worts gespürt, das Gras, die Blumen, der Wind. Alles so flüchtig, so zerbrechlich. Marys Augen flitzten über dem Glas zwischen ihrer Mutter und mir hin und her. Sie würde das Kristall der Stille nicht brechen.

»Marthe«, sagte Catherine zu mir, »ist also kremiert worden?«

»Eingeäschert. Am liebsten wollte sie am Ufer des Ganges verbrannt werden.«

Eine glühende Bahn in meiner Kehle.

»Aber Winschoten war auch in Ordnung.«

»Mutter«, sagte Mary, »ohne Warren gibt es das Haus in ein paar Jahren nicht mehr. In zehn Jahren ist hier alles verschwunden. Willst du so lange warten?«

Catherine reagierte nicht. Sie starrte vor sich hin, die gegerbten knochigen Hände ums Glas gelegt, als wollte sie sich am Feuer darin wärmen. Der Sekundenzeiger der Plastikuhr dröhnte wie eine Ramme. Wir saßen da und atmeten.

Als ich an dem Abend in der Bar Summertime sang, stimmte es mich eher wehmütig als froh. Your daddy’s rich, and your mamma’s goodlookin’, so hush little baby, don’t you cry … Sommer und Jugend fielen in dem Wiegenlied zusammen wie in der Erinnerung vieler Menschen. Doch es war nicht der richtige Moment für Summertime,in der Bar herrschte am Freitagabend ausgelassene Stimmung. Leland bediente die Zapfhähne, als jagte er einen Kohlenwagen übers Gleis, man sah ihm an, dass er der geborene Gastwirt war.

Ich stimmte Candle in the Wind an, bei dem Engländer jedesmal wegschmelzen, seit Elton John es von Marilyn Monroe auf Lady Di umgeschrieben hat. Goodbye England’s rose, may you ever grow in our hearts – bis dahin hat der Durchschnittsengländer seine feste Substanz längst gegen etwas Flüssigeres getauscht.

Ich blinzelte durch die Wimpern und sah eine Frau an einem Tisch. Unter ihrer taillierten Jacke trug sie einen schwarzen Rolli. Ihr Kopf schien über dem Körper zu schweben. Ich musterte ihr blasses, empfindsames Gesicht, das Porträt einer katalanischen Fürstin. Sie ließ die Flüssigkeit in ihrem Glas schwappen wie eine flache Welle. Runde Augen, kornblumenblau, die einer Puppe mit großen Lidern, die auf- und zuklappen, wenn man sie bewegt. Weil sie so wählerisch ist, bleibt sie immer als Letzte übrig, wenn alle anderen Mädchen schon mit jemandem nach Hause gegangen sind. Sie sagt:

»Es macht nichts. Man gewöhnt sich daran.«

Sie weint, wenn sie kommt. Lautlos, doch wenn man mit den Fingern im Dunkeln über ihr Gesicht streicht, spürt man Tränen an den Schläfen.

Das fröhliche Geschnatter, das aus dem Raum zu mir drang, hob allmählich meine bedrückte Stimmung. Leland grinste mir zu, als ich Take Five spielte. Aus meiner Anwesenheit würde er für sich Kapital schlagen. Es fiel mir genauso leicht, die Dankbarkeitsmelodie zu spielen wie den Radetzkymarsch.

Der Abend verstrich, zweimal machte ich eine kurze Pause. Gegen elf beendete ich meinen ersten Auftritt mit As Time goes by, so lange schon von vielen mitgesummt. A kiss is still a kiss, a sigh is just a sigh …

Ich stand auf und ging zur Bar. Die Frau stellte ihr Glas ab und nickte mir zu. Leland stand gestikulierend hinter der Theke. Am liebsten hätte er laut gejubelt wie im Vereinslokal des Rugbyclubs am Samstagmorgen nach dem Turnier. Er stellte mir ein Glas Bier hin.

»Klasse, Ludwig. Genau das Richtige für so einen Abend.«

»Ja, es war ganz in Ordnung, nicht?«

»Sie sind ganz wild drauf. Eine echte Show, die du da abziehst. Mit jemandem wie dir im Laden haben sie das Gefühl, auf der Titanic zu sein oder in einer Bar in Casablanca.«

Das Bier sang sich einen Weg durch meinen Körper. Vielleicht würde ich eine Weile hierbleiben, auf den Frühling warten, zu Hause und nicht zu Hause sein. Eine Staubwolke, die sich legt.

Sie begegnete mir am nächsten Tag auf der Strandpromenade, die Frau aus der Bar. Ihr Name war Linny Wallace. Sie meinte, dass ich am Abend zuvor schön gespielt habe.

»Vor allem Gershwin spielst du mit viel Feingefühl.«

Ich sagte, dass ich Gershwin mochte, seine Leichtigkeit, die ich als typisch amerikanisch empfand.

»Ich habe dich hier noch nie gesehen«, sagte sie.

»Ich bin erst seit Mittwoch da.«

Sie arbeitete als Maklerin in Reading. Weit weg am Strand waren Leute mit Hunden. Ich erzählte ihr, dass ich zu einer Beerdigung gekommen war, in der Zwischenzeit jedoch über diesen Job gestolpert sei. Dass es eine Art Heimkehr sei, weil meine Mutter und ich dort hinten auf dem Hügel gewohnt hätten. Vor zwölf Jahren seien wir weggezogen. Vielleicht würde ich ein paar Monate bleiben, im Frühling sei es hier wunderschön.

»Und danach, was hast du dann vor?«, fragte sie.

»Danach weiß ich noch nicht. Ich bin eine Grille, ich spiele Lieder in der Sonne.«

»Aber bei der Ameise um Holz betteln, wenn dir kalt wird!«, sagte Linny Wallace.

Wir gingen über die Strandpromenade in Richtung Süden, in der Ferne zeichnete sich der Kernreaktor von Sizewell deutlich ab – seine Kuppel glänzte in der Sonne.

»Dachte ich es mir doch, dass man so jemandem wie dir eher auf der Strandpromenade in Cannes begegnet als hier«, sagte sie.

Wenn sie lachte, sah man, dass sie älter war als ich. In der Avondale Street schauten wir eine Zeitlang einem alten Mann zu, der mit seinem Hund Gassi ging. Das Tier saß mit dem Hinterteil auf dem Boden und zog sich mit den Vorderpfoten übers Straßenpflaster, so kratzte es seinen juckenden After.

»Das habe ich noch nie gesehen«, sagte Linny Wallace. »Als würde er Schlitten fahren.«

Ich sagte nichts von entzündeten Analdrüsen, die fähige Hände mit Leichtigkeit ausdrücken könnten.

Zwischen uns machte sich eine gewisse Fröhlichkeit breit, wir lachten über die vielen Erscheinungsformen erlöschenden Lebens, die hier im Dorf zu sehen waren. Gottes Wartezimmer wurde es genannt, weil Alburgh die höchste Sterblichkeitsrate Englands hat. Paradoxerweise rührte das von den günstigen Bedingungen her, die man hier für einen ungestörten Lebensabend vorfand. Die Kleinunternehmer des Örtchens lebten in der ruhigen Gewissheit stetiger Einkünfte aus den vielen Pensionen, die Restaurants und Teehäuser boten mittags und abends Mahlzeiten mit bis zu zwanzig Prozent Seniorenrabatt an.

Ich erzählte ihr, dass ich gestern vor der Tür eines Spirituosenhandels einen alten Mann gesehen hatte, der neben seinem Elektromobil stand und sich mit seinen Handschuhen abmühte. Als ich Minuten später wieder aus dem Laden kam, war er immer noch da. Er lebte in einem anderen Zeitgefüge, in dem man hundert Jahre brauchen konnte, um einen Handschuh anzuziehen, ohne die Geduld zu verlieren.

Von früher, als ich als Kind hier herumgelaufen war, erinnerte ich mich an den Mann, den man immer wieder irgendwo stehen sah. Dann dachte er wohl darüber nach, wer er war und was für ein Leben er eigentlich führte, und dabei hielt er seine tattrigen Hände vor sich und malte geheimnisvolle Zeichen in die Luft – es sei denn, er dirigierte, mit viel Fantasie, ein Mäuseorchester.

Die vielen Hartholzbänke im öffentlichen Raum hatten Alburgh zu einer gewissen Bekanntheit verholfen. Sie standen überall – an der Strandpromenade, auf dem Golfplatz, bei der Kneipe: einfache Sitzbänke, von Hinterbliebenen zum Nutzen der Allgemeinheit gespendet. Auf Inschriften an der Rückenlehne konnte man lesen, an wen die Bank erinnern sollte.

Meinem teuren Gatten, er liebte Alburgh

See und Segel in Sicht

An alle, die hier nippen an ihrem Bier. Denkt an Tom

Früher machte Ginger Tooke, ein munteres Frauchen, Führungen von einer Bank zur nächsten, sie kannte viele der Geschichten hinter den Inschriften. Ich wusste nicht, ob sie inzwischen selbst ihr nächstes Leben als Hartholzbank an der Strandpromenade fristete.

Ich musste zu meinem Nachmittagsdienst ins Hotel zurück. Linny und ich kamen herein wie ausgelassene Kinder. Rasch ging ich in mein Zimmer hoch, um ein Hemd zu bügeln. In meiner Mailbox war wieder eine Nachricht meines ehemaligen Arbeitgebers. Sein Giftstachel war noch nicht geleert.

»Ludwig? Hier Peter. Falls du dich noch erinnerst. Du kommst nirgends mehr rein. Bei der ganzen Kette liegt ein Fax. Ach ja, und ich habe eine Klage gegen dich eingereicht. Wegen Vertragsbruch. Ich weiß, was du jetzt denkst, aber ein mündlicher Vertrag gilt auch. Vor dem Gesetz. Du hörst noch von mir. Arschloch.«

Ich klickte auf den SMS-Umschlag. Mi amor. Wo bist du? Das habe ich nicht verdient. F.

Ich wusste nicht, wer F. war. Mein Handy erkannte die Nummer nicht. Ich dachte über die spanische Anrede nach, doch das musste nicht unbedingt etwas heißen, weil in Liebesangelegenheiten babylonische Sprachverwirrung herrscht. Ich löschte die Nachricht. Der Akku war noch einen Balken geladen.

Im Salon hielten sich ein paar Gäste auf, sie saßen in orangefarbenen Sesseln und lasen Thriller oder Zeitungen. Zwei Kellner schoben das Klavier herein. Linny Wallace hockte auf den Fersen beim gemauerten Kamin und stocherte im glühenden Herzen des Feuers. Der Kellner vom Dienst, noch ein Junge, besah sich aufmerksam ihren Hintern. Er war der Mittelsmann zwischen Bar und Salon. Auf dem olivgrünen Teppich spielten Kinder. Ich setzte mich ans Klavier und blätterte in der Notenmappe. Auf mein Winken hin kam der Kellner in reichlich schlingerndem Gang zu mir.

»Bringst du mir einen Daiquiri, bitte?«

Seine zusammengewachsenen Augenbrauen senkten sich über der Nasenwurzel zu einem Grübchen, es sah aus, als würde er gleich hä? sagen.

»Ich weiß nicht, ob wir das haben«, antwortete er.

»Es ist ein Mixgetränk, man kann es machen.«

Es schien ihn nicht zu reizen, herauszufinden, ob das im Rahmen der Möglichkeiten lag. Ich ging davon aus, dass das Wort auf halber Strecke zur Bar seinen Kopf verlassen würde wie ein Zehncentstück, das einem aus der Hosentasche rutscht.

»Können Sie es noch einmal sagen? Vielleicht kennt es ja Herr Leland.«

»Dai-qui-ri. Er kennt es bestimmt.«

Der Junge schlurfte zur Tür, das Hemd hing ihm aus der Hose. Sein Hinterteil sah mindestens so schlaff aus wie seine Visage.

Ich hatte die Partituren auf A5-Format kopiert, um nicht so oft umblättern zu müssen. Zuerst einige Passagen aus Tschaikowskys Balletten, den Blumenwalzer aus dem Nussknacker, einen Walzer aus Dornröschen. Meine Schuhe knirschten auf den Pedalen, ein Geräusch, das ich überhaupt nicht leiden konnte. Nach Tschaikowsky ging ich zu Mozart über. In der Stille zwischen zwei Wiener Sonatinen betrat Leland den Salon.

»Was hast du nur bei dem armen Jungen bestellt?«, flüsterte er. »Einen Do-Re-Mi?«

»Einen Daiquiri«, flüsterte ich zurück.

Leland wiegte den schweren Schädel.

»Einen Daiquiri. Verdammt noch mal!«

Er nickte den Gästen, die über Zeitungen und Brillenränder hinweg zu uns schauten, servil zu. Kurze Zeit später brachte mir der Junge einen Daiquiri in einem konischen Cocktailglas mit einer Zuckerschicht am Rand, genau so, wie ich ihn am liebsten mochte.

Linny war begeistert davon, wie ich Mozart zum Leben erweckte. Draußen glitt die Dunkelheit in Straßen und Hauseingänge, drinnen knisterte trockenes Holz im Kamin. Es erinnerte mich an einen Nachmittag vor langer Zeit in Wien. Wegen ihrer Rolle in Josephine Mutzenbacher’s 1000-and-1 Night verbrachten meine Mutter und ich einige Wochen dort. An jenem grauen Dezembernachmittag verließ ich das Hotel am Kärntner Ring und fuhr mit dem Bus zum Sankt Marxer Friedhof, auf der Suche nach Mozarts Scheingrab. Bis ich den richtigen Bus gefunden hatte, war so viel Zeit vergangen, dass ich erst bei Einbruch der Dunkelheit am Friedhof ankam. Das Tor war schon verschlossen. Durch die Gitterstäbe sah ich zwischen den Gräbern nur einen kleinen weißen Hund. An einer Seite des Friedhofs kletterte ich auf einen Holunderbaum, stieg von dort auf die niedrige Mauer und sprang auf der anderen Seite hinunter. Ich irrte auf gut Glück zwischen den Bäumen umher, in deren Kronen die Dämmerung dunkle Fäden spann. Irgendwo hier war er am 5. Dezember 1791 nach Sonnenuntergang unter die Erde gebracht worden. In einer amtlichen Urkunde war die Rede von einem einfachen allgemeinen Grab, doch um welches Grab es sich handelte, war umgehend wieder in Vergessenheit geraten.

An einer offenen Stelle, wo das letzte Tageslicht zauderte, fand ich eine kunstvoll abgebrochene kleine Steinsäule, ein trauernder Engel lehnte mit der Stirn dagegen. Ein freundliches Engelchen war es, das gleich, wenn ich wieder weg war, den Kopf aufrichten und leise Der Tod, das muss ein Wiener sein singen würde.

Die grauen Pflastersteine auf dem Platz vor dem Hotel glänzten vom leichten Nieselregen, ich nahm einen Schirm aus dem Ständer beim Ausgang. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick ins Restaurant. Es war noch früh, nur wenige Tische waren besetzt.

Viele der kleinen Fischerhäuser standen leer, sie wurden in der Badesaison an Touristen vermietet. Hier und da brannte hinter einem Fenster Licht. Die Straße war verlassen, ein Aushängeschild quietschte im Wind. Ich roch Kohle und manchmal ein Holzfeuer. Durch die Art und Weise, wie sie sich an den Hang schmiegten, erweckten die Fischerhäuser in Alburgh den Eindruck stetigen organischen Wachstums, wie bei einem Schmetterlingsporling oder einem bunten Fantasieentwurf des Wiener Verzierers Friedensreich Hundertwasser. Die Häuschen sahen aus, als könnten ein paar starke Männer sie hochheben wie die Strandhäuser an der Pier. Aus der Ferne wirkte Alburgh wie ein Mille-feuille – übereinandergeschichtete pastellfarbene Gebäude. Zwei Türme stachen heraus, der kegelförmige weiße Leuchtturm und der Glockenturm von St. George.

Die Promenade lag im Schein der orangefarbenen Straßenbeleuchtung. Das kalte Metall des Geländers oberhalb des Strands biss in meine Handflächen. Es war das Dekor meiner Jugend, ich fühlte mich wie ein Tourist in Pompeji. Ich vermied es, jemanden anzusehen, ich wollte nicht erraten müssen, was die guten Leute in Alburgh noch über Marthe Unger und ihren Sohn Ludwig wussten.

Was mir fehlte, als ich bei Joanna anklopfte, war das tiefe Bellen von Black und White, der eine so schwarz, wie der andere weiß war, so dass sie wie ein einziger Hund mit seinem Schatten aussahen. Stattdessen ertönte wütendes Kläffen hinter der Tür. Sobald sie offen war, stürzte sich ein Hündchen auf meine Beine. Ein Jack-Russell-Terrier, seine kleinen Zähne blitzten gefährlich.

»Schluss, Wellington!«, sagte die Frau, die aufgemacht hatte.

Wellington drehte völlig durch. Er sprang an meinen Beinen hoch und schien wild entschlossen, mich mit seinen scharfen Zähnchen in die Hoden zu beißen.

»Verdammt noch mal aber auch …«

Sie packte das Biest im Nacken und schleuderte es in einem eindrucksvollen Wutausbruch in den Garten.

»Entschuldigung«, sagte sie. »Welly ist so …«

Dann erkannte sie mich.

»Ludwig!«

»Hallo, Joanna.«

Sie schloss mich in eine muffige Umarmung.

»Wie schön, dich zu sehen, Ludwig. Oje, komm doch rein. Welly, hau ab!«

Sie knallte die Tür zu, dahinter kläffte Wellington wie besessen und kratzte mit den Krallen am Holz.

»Er ist wirklich ein Schatz«, sagte sie, »aber er ist so eifersüchtig! Ich habe ihn von den Kindern bekommen. Dann brauchen sie sich nicht solche Sorgen um ihre alte Mutter zu machen, denken sie. Ich lasse ihn gleich wieder rein, wenn er sich ein bisschen beruhigt hat.«

Aber auf der anderen Seite der Tür hatte es nicht den Anschein, als würde Wellington seine Reserven bald erschöpft haben. Joanna führte mich durch den holzverkleideten Gang in das kleine, niedrige Wohnzimmer. Es war sehr heiß. Alle Fenster waren geschlossen.

»Möchtest du Tee? Oder ist es schon Zeit für etwas Stärkeres? Tee, oder?«

Ich sah, dass sie sich Mühe gab, immer in Bewegung zu bleiben, ihren munteren Ton beizubehalten, sich ja keine Blöße zu geben, weil sie sonst unweigerlich zusammengebrochen wäre.

Vor dem Fenster stand ein Bügelbrett, im Fernseher sprach die Moderatorin von Channel 4 eindringlich zu mir, ohne dass ein Laut über ihre Lippen kam. Ich beugte mich vor, um mir den Wildwuchs von Bilderrahmen auf der Anrichte anzusehen. Drei Söhne und eine Tochter, ausstaffiert mit gediegenen Heiligennamen, im Kreis ihrer Partner und Kinder. Ich hatte nie viel mit ihnen zu tun gehabt, sie waren älter als ich, zwei von ihnen waren schon nicht mehr im Haus, als wir auf den Hügel zogen. Auf einem Foto waren Warren und Joanna inmitten dreier Kinder abgebildet, ein viertes, noch ein Baby, lag in Joannas Armen. Warren trug einen kurzen schwarzen Bart und eine Brille mit dunklem Gestell – noch lange nicht der zottelige Wikingerkönig späterer Jahre. Das wurde er erst, als er Joanna wegen Catherine verlassen hatte und in die Nummer siebzehn gezogen war. Seither war bei Joanna immer der Union Jack gehisst, nie auf halbmast, nie gebügelt. Es war eine kleine diplomatische Provokation, Joanna wusste, dass die Irin die Fahne von ihrem Fenster aus sehen konnte.

Der Krieg zwischen Joanna und Catherine kannte weder Höhen noch Tiefen. Er würde einfach so lange dauern, wie sie lebten. Von Catherine, die keinen Führerschein hatte, wusste ich, dass sie sich nie an Joannas Haus vorbei zum Supermarkt oder zur katholischen Kirche von Alburgh bringen ließ, sondern immer über die Flint Road, eine Verlängerung der Bundesstraße. Ich nahm an, dass sie sich in den Jahren, in denen sie beide auf dem Hügel wohnten, vielleicht zwei- oder dreimal aus der Nähe gesehen hatten und ansonsten Schemen füreinander waren. Ihre Eifersucht hielt sich vollkommen die Waage und hing mit dem Faktor Zeit zusammen: Zeit, die sie beide nicht mit Warren verbracht hatten. Catherine wurde jedesmal schwach und wütend, wenn sie von der Zeit sprach, in der Joanna mit ihm verheiratet gewesen war.

»Fünfundzwanzig Jahre hat sie mir gestohlen«, hörte ich sie einmal sagen.

Ungelogen. Und Warren ergötzte sich am Besitz einer solchen Frau, die sich um jede Faser von ihm stritt.

Joanna wiederum würde nicht davor zurückschrecken, die Irin zu vergiften, weil Warren ihr den Rest seiner Tage geschenkt hatte. Das war der bittere Kern ihres Streits: Zeit. Um die Tage, an denen sie nicht neben Warren aufgewacht waren, ihn nicht mit Mundwasser gurgeln, nicht die Tür ins Schloss fallen hörten, wenn er ins Büro ging, ihn nicht das kalte Roastbeef schneiden und seine berüchtigten selbstgemachten Fischsülzen schlürfen sahen. (Mein Gott, da kamen bis zu zwanzig Schälchen mit einem ganz anderen Inhalt als dem, der auf dem Etikett vermerkt war, auf den Tisch, alle von ihm selbst zubereitet. Iss, sagte Warren dann, und man aß. Was man da aß, wagte man nicht zu fragen, man kaute mit angehaltenem Atem und schluckte alles hinunter. So war das.)

»O Ludwig«, hörte ich hinter meinem Rücken, »wie schön, dass du mich besuchst. Ich habe mich schon gefragt, ob du kommen würdest, in dieser Situation und so. Von wo bist du angereist?«

Sie stellte zwei Becher auf Korkuntersetzer. Durch das Rauchglas des Couchtischs sah ich angenagte Pantoffeln und von Wellington zerfledderte Zeitungen.

»Möchtest du Milch, love? Ich habe keine reingetan. Du mochtest meinen Tee doch immer so gern, Ludwig. Das kochende Wasser direkt auf die Blätter, und immer nur First flush, das hast du doch nicht vergessen, oder?«

Ich erschrak über das Hündchen, das plötzlich draußen an der Scheibe hochsprang, es scharrte mit den Krallen am Glas. Als stünde ein kleines Trampolin unter dem Fenster. Ein schauerlicher Anblick, dieses hüpfende Hündchen, das einen vollwertigen Platz unter den Menschen einforderte.

»Der Arme, ich lass ihn kurz rein.«

Sie verließ den Raum. Der Hund stürmte herein. Sofort nahm er seine feindliche Haltung wieder an und kläffte so schrill, dass es an meinem Trommelfell kratzte.

»Schluss jetzt, Welly!«

Wellington wich ein Stück zurück und hielt die Klappe. Joanna stellte die Milch auf den Tisch.

»Gut so. Braver Hund, braver Wellington.«

Ich streckte die Hand aus und streichelte leicht über seinen Kopf.

»Nicht an seine Ohren kommen!«, warnte Joanna erschrocken.

Rasch zog ich die Hand zurück.

»Er ist da sehr empfindlich«, sagte sie. »Ich glaube, dass er ein Trauma hat. Überall sonst kann man ihn streicheln, mit dem Strich, aber an den Ohren ist er irrsinnig empfindlich, nicht wahr, Welly? Kommt er sich einen Keks holen?«

Bei diesem Satz preschte der Hund vor und schnappte nach dem Butterkeks in ihrer Hand. Die Höhe seines Sprungs, das Zuklappen seiner Kiefer zum exakt richtigen Zeitpunkt waren von bewundernswerter Präzision. Der Keks verschwand unzerkaut. Ich versuchte, mich mit Joanna zu unterhalten, darüber, wie es ihr ging, den Kindern, ob sie noch Golf spielte, doch bei jedem Satz drängte sich Wellington dazwischen.

»Er fordert viel Aufmerksamkeit«, sagte ich. »Du musst aufpassen, dass du mit einem solchen Hund nicht erst recht vereinsamst.«

Joanna nickte. Aus ihren Augen strömte ein Fluss von Liebe dem Hund entgegen.

»Er muss sehr einsam gewesen sein«, sagte sie. »Sonst würde er sich nicht so verhalten. Das kann man überall nachlesen. Und jetzt überkompensiert er eben. Jack-Russell-Terrier sind Gesellschaftstiere, das wird oft unterschätzt. Steht alles hier drin.«

Sie nahm ein Buch vom Stapel, Denken wie Ihr Hund. Darunter ein Büchlein aus derselben Reihe, Was der Hund von seinem Herrchen denkt. Noch unheimlicher war Der Jack Russel: Ihr treuester Freund.

»Liest du das alles?«

Joanna nickte eifrig.

»Man muss doch wissen, worauf man sich einlässt. Die meisten Leute haben keine Ahnung, sie denken sich gar nichts dabei, wenn sie sich einen Hund anschaffen.«

»Was ist mit Black und White passiert? Gestorben?«

»Hinten im Garten begraben. White ist eingeschläfert worden. Ach ja, die beiden Schätzchen hast du ja noch gekannt. Warst du schon da oben?«

Der Zeigefinger, der, ohne dass ihr Blick folgte, in Richtung der Nummer siebzehn wies.

»Hast du ihn gesehen?«

»Gestern. Nein, vorgestern. Und du?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich zähle nicht mehr, mich haben sie ausradiert. Nicht wahr, Welly, dein Frauchen brauchen sie nicht mehr! Obwohl ich seine Kinder großgezogen habe, gibt es für mich keinen Platz mehr.«

Der bittere Zug um ihren Mund verstärkte sich.

»Bei aller Liebe«, sagte sie, »du hast seine Kinder nicht geboren und darfst trotzdem zu ihm. So ungerecht ist das, so falsch. Sie schließen uns aus, nicht wahr, mein Hundi? Aber sie wissen nicht, dass er noch oft hergekommen ist, und nicht nur zum Teetrinken, nein, nein …«

»Joanna …«

»Möchtest du Milch? Lass mich nur machen. Die englische Art, oder, darling?«

Ich konnte mir dieses Menschenleben im freien Fall nicht länger ansehen. Nach dem Tee ging ich weg. Eine Hand schloss sich um mein Herz und drückte zu.

Können Sie etwas aus Schindlers Liste spielen?«

Ich sah zu einer Frau mittleren Alters hoch. Ihre beringten Finger trommelten aufs Gehäuse. Ich wandte den Blick zur Decke und tat so, als würde ich mein Gedächtnisarchiv mit einem inneren Suchscheinwerfer durchforsten. Dann seufzte ich tief und sagte:

»Es tut mir schrecklich leid, aber ich kann nichts aus Schindlers Liste finden.«

Sie lächelte, als wäre ich bemitleidenswert. Als dieselbe Frau mich später fragte, ob ich wenigstens etwas aus Titanic parat hätte, konnte ich sie mit My heart will go on zufriedenstellen. Sie würde mir hoffentlich verzeihen, dass ich nicht wie Céline Dion klang, sagte ich. Sie sah mich an, als gefiele ihr der Hauch von Ironie nicht.

Linny Wallace kam von der Toilette zurück. Jeans und ein seidig schimmerndes weißes Hemd mit Stehkragen. Ihre Lippen glänzten wie ein polierter Apfel. Das glatte blonde Haar hatte sie hochgesteckt.

Es war Samstagabend, die Woche hatte ihren Höhepunkt erreicht. Der Samstagabend war ein Grat, auf der einen Seite lag die vergangene Woche, auf der anderen die kommende – genau auf diesem Grat mit starren Pflichten zu beiden Seiten fühlten die Leute sich frei, äußerten Musikwünsche. Beim Maple Leaf Rag verwandelte sich die Schooner-Bar in einen Tingeltangel, der Refrain von Tom Jones’ Delilah wurde von ein paar Männern am Tresen mitgesungen. O ja, ich war jeden Penny wert. Zwei Typen an der Bar sprachen Linny an, sie waren guter Laune. Derselbe Junge, der nachmittags bedient hatte, brachte mir im Lauf des Abends zwei weitere Daiquiris, fabelhaft gemixt von Mike Leland. (Ich weiß, dass manche Barpianisten behaupten, man sei nicht für den Beruf geeignet, wenn man beim Spielen trinkt. Was soll ich dazu sagen?) Ein nervöser Mann kam zu mir und fragte, ob ich Erroll Garner spielen könne.

»Ich spiele nicht Erroll Garner«, sagte ich mit einem Augenzwinkern, »ich spiele Ludwig Unger, der Erroll Garner spielt.«