Sara Grey - Parker & Parker - E-Book

Sara Grey E-Book

Parker & Parker

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Beschreibung

Plötzlich allein: Sara ist ein ganz normaler Teenager, bis eines Tages ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen. Ein tiefer Einschnitt in ihrem Leben. Sie soll zu ihrem Onkel ziehen, den sie in ihrem Leben erst zweimal gesehen hat. Sich einzuleben fällt ihr schwer und Sara findet keinen Anschluss. Jake ihr Nachbarjunge entwickelt sich zur Hassliebe. Keiner merkt, dass es ihr immer schlechter geht…Saras Fluchtversuch scheitert und auch wenn sich ihr Onkel mehr Mühe gibt, es wird alles nur noch schlimmer…Saras einziger Halt ihre Telefonate mit ihrer Freundin Sophie… Alle(s) blöd: Sara hat sich nicht wirklich nach dem Tod ihrer Eltern bei ihrem Onkel eingelebt. Sie beschließt, sich in Bezug auf ihr Äußeres einer radikalen Verwandlung zu unterziehen. Heraus kommt etwas, was eher nach einem "Gothic-Schneewittchen" aussieht. Sara gefällt`s. Zwischen Jake und ihr entwickelt sich eine Hassliebe. Zum Schluss wird ihr jedoch alles zuviel... Todkrank: Im Krankenhaus versucht Sara ihr Problem immer noch zu verbergen, doch es war zu offensichtlich. Ihr erster Termin beim Psychologen bringt alles ans Tageslicht. Doch Sara wäre nicht Sara, wenn sie keinen Plan hätte. Sie beschließt zu fliehen und schafft es einige Kilometer, bis sie zusammenbricht. Wird Sara ihr Martyrium überleben?

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Seitenzahl: 326

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Sara Grey

 

 

 

 

 

von

Parker & Parker

Impressum:

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-468-6

MOBI ISBN 978-3-95865-469-3

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Plötzlich allein

„Sophie, ich muss jetzt auflegen. Meine Eltern landen gleich und sie wollten sich melden.“

Sara trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Irgendwie fühlte sie sich unwohl, aber sie wusste nicht weshalb. Ihr Magen rebellierte.

„Aber ich muss dir noch erzählen, was Enrique gesagt hat.“ Sophie war ganz aufgeregt.

„Na das, was er immer sagt, wie hübsch du bist und laber, laber, laber, tralala!“, konterte Sara.

„Du bist gemein, nur weil du keinen Freund hast, musst du mich nicht runterziehen.“

Sara konnte durchs Telefon hören, wie ihre Freundin nach Luft rang.

„Ich freue mich für dich, hab im Moment nur nicht den Nerv jemandem zuzuhören.“

Sophie stöhnte.

„Ist ja schon gut, ich lege auf. Willst du nicht doch noch hören, was er gesagt hat?“, rief Sophie mit flehender Stimme.

„Nein, will ich nicht. Ich will auch nicht wissen, wie oft Enrique gestern seinen Kaugummi aus Versehen runter geschluckt hat. Oder wie oft er dabei beinahe erstickt ist. Ich lege jetzt auf, bis nachher. Hab dich lieb.“

Sara drückte den Knopf, auch wenn es ihr leidtat. Aber wenn Sophie erst einmal angefangen hatte zu reden, hörte sie normalerweise nicht mehr auf. Selbst ein Tsunami würde sie nicht stoppen können.

Sara warf das Telefon auf die Couch und zappte durch die Fernsehkanäle. Aber konzentrieren konnte sie sich nicht. Entnervt sah sie auf die Uhr. Ihre Eltern waren schon seit 30 Minuten gelandet, wieso riefen sie nicht an? Das war doch sonst nicht ihre Art. Sara sprang auf und starrte das stumme Handy an. Sie drückte die 1 und wartete. Aber nichts tat sich, nur der dämliche Spruch:

„Der von Ihnen gewählte Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen. Bitte versuchen Sie es später noch einmal. The Person you have called, is temporary not available. Please call again later.”

“Was sollte denn der Scheiß, als wenn sie das nicht Selbst wüsste! Warum konnte sich nicht ein kluger Programmierer einen besseren Spruch ausdenken? Das war echt ätzend! Total sauer starrte sie auf das Display und zog dabei Fratzen, bevor sie das Gerät auf die Couch warf. Sara schaltete die Glotze aus, Talkshows machten sie nervös. Erneut blickte sie auf die Uhr und versuchte sie zu hypnotisieren. Mensch, denen würde sie was erzählen. Von wegen man muss pünktlich und verlässlich sein.

Sara hasste diese Litanei. Von anderen alles erwarten und dann selbst nichts einhalten. Sie bekam Durst, ging in die Küche und nahm sich ein Glas Milch. Erst wollte sie direkt aus der Packung trinken, doch dann entschied sie sich dagegen, Paps würde es sofort bemerken und arghhh...er und sein Bakterienfimmel.

Es klingelte. Mit der Milch in der Hand rannte sie ins Wohnzimmer und schnappte sich das Mobiltelefon.

„Hallo, ich bin es!“, sagte Sophie bedrückt.

„Ach du bist es schon wieder!“, rief Sara enttäuscht. „Bist du mir böse, wenn ich auflege? Nichts gegen dich, aber du weißt, wie nervös ich bin, wenn meine Eltern mit dem Flugzeug unterwegs sind. Ich bin erst wieder entspannt, wenn sie vor mir stehen, oder mich angerufen haben. Wieso mussten die beiden auch so viel reisen?“

„Sophie schwieg betreten am anderen Ende der Leitung. Sollte sie ihrer Freundin am Telefon davon erzählen? Ihre Stimme versagte, anscheinend wusste Sara nicht, was in der letzten halben Stunde passiert war.

„Ich komme vorbei!“, rief sie schnell und legte auf, bevor ihre beste Freundin etwas erwidern konnte.

„War die nun völlig übergeschnappt?“, dachte sich Sara.

Es dauerte keine drei Minuten und es klingelte an der Haustür. Sara öffnete und dort stand Sophie mit einem Gesicht wie 3 Tage Regenwetter. Die umarmte sie ohne Worte und schloss mit dem Fuß die Tür. Sie wusste doch, wie sehr ihre Eltern das hassten. Sara verstand gar nichts. Wie war Sophie so schnell zu ihr gekommen? Sie muss bei ihrem Anruf schon vor dem Haus gestanden haben.

„Ist dein Hamster gestorben?“, fragte sie lächelnd, doch Sophie kullerte eine Träne hinunter. Sie verstummte. Es klingelte erneut an der Tür.

„Was ist denn hier los? Ist das hier ein Bahnhof? Oder die Irrenanstalt?“, motzte Sara, lies die total verstörte Sophie stehen und öffnete die Haustür.

Vor ihr standen 2 groß gewachsene Männer in schwarzen Anzügen.

„Meine Eltern haben ihre Steuern bezahlt“, meckerte sie, „aber sie können sie nachher gerne selbst fragen, sie sind gerade auf dem Weg hierher. Obwohl ich das gar nicht so genau weiß, weil sie unzuverlässig und ohne Pflichtgefühl sind. Ich soll immerzu anrufen. Aber egal, was wollen sie hier? Haben Sie nicht irgendwelche Verbrecher zu jagen?“

„Wir sind keine Polizisten, wir sind von der Flughafensicherheit“, erzählte einer der Männer knapp.

„Und wo haben sie bitte schön meine Eltern gelassen?“ Sara sah an den Männern vorbei auf die Straße, doch nirgendwo stand ihr Auto. Sophie heulte los. Sara sah sie fragend an.

„Haben meine Eltern etwa geschmuggelt?“, frotzelte Sara, die noch immer nicht genau wusste, was eigentlich los war. Sie stellte sich ihre Eltern gerade beim Verhör und der nachfolgenden Untersuchung vor. Nein, ihre Eltern würden nie etwas Unrechtes tun.

„Dürfen wir hereinkommen?“, fragte der Mann, der sich als Simon Wagner vorstellte.

„Hmmm!“ Sara trat zur Seite und lies die Beamten herein. Sie führte sie in das penibel aufgeräumte Wohnzimmer, das aus einer „Schöner Wohnen“ Zeitung entsprungen sein könnte, und bot ihnen einen Platz auf der Couch an. Doch die beiden blieben regungslos stehen. Saras mulmiges Gefühl verstärkte sich, doch sie wusste nicht warum. Sophie weinte noch immer leise vor sich hin, warum regte sie sich so wegen eines toten Hamsters auf? Speedy schlief doch eh den ganzen Tag und nachts machte er so einen verdammten Krach. Wie oft hatte sich Sophie schon beklagt und den kleinen Nager kurzerhand in den Garten verfrachtet? Und jetzt diese Heulattacke, doch eher fehl am Platz. Einer der Männer räusperte sich laut und riss Sara aus ihren Gedanken. Fragend sah sie die beiden Beamten an.

„Befanden sich ihre Eltern an Bord des Fluges A- 4794?“

„Woher soll ich denn wissen, was die für eine Flugnummer haben? Sie waren in New York! Warum fragen Sie?“

Sophie schluchzte laut auf. Sara schaute hektisch von den Männern zu Sophie und wieder zurück.

„Wir müssen Ihnen eine traurige Mitteilung machen. Der Flug ihrer Eltern….“

Den Rest vernahm Sara nur noch wie durch einen Schleier. Ihr Verstand verabschiedete sich gerade. Sie ahnte, nein sie wusste, was passiert war. Schweiß trat auf ihre Stirn, der Magen rebellierte heftig. Sie fühlte wie ihre Beine nachgaben. Der Beamte sprach von Flugzeugabsturz. Dass das Flugzeug aus unerklärlichen Gründen über die Landebahn hinaus geschossen war und Feuer fing. Es gab keine Überlebenden. Die Löschfahrzeuge waren direkt vor Ort, doch es sei zu spät gewesen. Sara zog es den Boden unter den Füßen weg. Das letzte, was sie noch dachte, war, dass sie niemals wieder das Lächeln ihrer Mutter sehen beziehungsweise die liebevollen Umarmungen ihres Vaters spüren würde. Niemals mehr, unwiderruflich. Dann wurde es schwarz um sie.

Das Erste, was sie sah, als sie zu sich kam, waren drei fremde Männer, die an ihr herumhantierten. Es war noch immer alles verschwommen. Sophies trauriges, schmerzverzerrtes Gesicht holte sie auf einen Schlag in die Realität zurück. Sara schloss die Augen, wenn sie doch nie die Tür geöffnet hätte, wäre alles noch beim Alten, oder? Zugleich wünschte sie sich auch in dieses verdammte Flugzeug, dass ihr das Liebste auf Erden nahm. Ärgerlich zog sie ihren Arm weg, einer der Typen versuchte ihr gerade eine Nadel in den Arm zu rammen. Sara setzte sich ruckartig auf, sollte der Pavian jemand anderes quälen. Alles drehte sich. Sie sackte auf die Liege. Diesmal entkam sie nicht und eine Nadel wurde unsanft in ihren Arm geschoben. Sara funkelte den Kerl böse an.

„Geht es wieder?“, fragte der Grobian.

„Verlieren Sie mal ihre Eltern, dann wissen Sie es!“ Sara war sauer auf den blöden Sani. Eine Träne rann ihre Wangen herunter.

„Ich muss deinen Kreislauf stabilisieren, sonst kippst du wieder um! Willst du das etwa?“, fragte der Arzt, den Sara für einen Sanitäter gehalten hatte, besorgt.

„Ist mir doch egal, was passiert. Was kümmert Sie das eigentlich?“, erwiderte Sara eingeschnappt.

„Ich tue nur meinen Job.“ Der Arzt blieb gelassen.

„Können Sie mich nicht einfach hier liegen lassen? Was soll ich noch auf diesem beschissenen Planeten?“

Sophie war stinkwütend.

„Ich weiß, es ist schwer für dich. Irgendwann wird es besser“, antwortete er.

„Und wann? Im Moment zerreißt es mich innerlich. Ich habe keine Ahnung, wie ich die nächste Minute schaffen soll, geschweige denn mein restliches Leben! Ich bin allein, mutterseelenallein. Ich brauche meine Eltern, ich brauche sie so sehr!“ Sara brach in Tränen aus, ihre Stimme versagte. Sophie nahm ihre weinende Freundin fest in die Arme und weinte mit ihr. Der Flughafenbeamte räusperte sich erneut.

„Können wir irgendjemanden für Sie anrufen?“

„Wen denn? Ich habe doch niemanden! Oma und Opa habe ich nicht mehr. Und mein Onkel hat mich das letzte Mal bei meiner Taufe gesehen“, schluchzte Sara.

„Sie sind noch minderjährig, das wird die Fürsorge klären müssen.“

„Warum das denn?“, schrie sie hysterisch.

„Sie müssen zur Schule gehen. Außerdem haben Sie gerade ihre Eltern verloren, das ist schon genug. Ich kann leider nichts anderes sagen. Gibt es ein Testament?“

„Woher soll ich das wissen? Ich kenne doch nicht einmal unsere Kontonummer“, antwortete Sara empört.

„Es wird gleich jemand hier sein. Die werden sich um dich kümmern. Wir müssen leider weiter, es gibt noch mehr Menschen, die noch nicht wissen, was passiert ist.“

Simon Wagner nickte, doch Sara wollte kein Mitleid, sie wollte nur ihre Eltern zurück, egal was es kostete.

„Ich brauche keinen Babysitter!“, brüllte Sara den Beamten an.

„Bringt mir meine Eltern zurück, dann könnt ihr euch sofort verziehen.“

Sara hatte gerade mit ihren Blicken die Beamten getötet. Da sah sie eine ihr unbekannte Frau im Wohnzimmer stehen.

„Ist hier vielleicht Tag der offenen Tür oder was?“, zischte sie zornig.

„Ich habe Frau Winter rein gelassen, sie ist die Sozialarbeiterin und sie ist sehr nett.“ Die junge Frau lächelte.

„Ich heiße Juliane Winter und bin von der Fürsorge, ich werde mich die nächsten Wochen und Monate um dich kümmern, bis du volljährig bist.“

„Nein, danke, ich schaffe es alleine. Kann ich meine Eltern sehen?“ Sara protzte.

„Das kann ich nicht genau sagen. Wie ich vorhin am Telefon erfahren habe, ist die Feuerwehr noch auf der Landebahn. Es ist schwieriger als bisher gedacht.“

„Mama, Papa“ flüsterte Sara leise, während sie weinte.

„Ich werde für dich da sein, versprochen“, versuchte Sophie zu sagen, doch ihre Stimme versagte fast.

Langsam tat die Beruhigungsspritze ihren Dienst.

Sara schlief ein.

Am nächsten Morgen wachte Sara mit Kopfschmerzen auf. Wie lange war sie eingenickt? Sie schaute auf die Uhr. Es war 8 Uhr. War es morgens oder abends? Was war passiert? Der erste Tag ohne Eltern für den Rest ihres Lebens. Sie fühlte sich so elend wie nie zuvor. Sie warf sich auf ihr Bett und schloss die Augen, doch da sah sie nur das brennende Flugzeug vor sich. Wütend riss sie die Augen auf. Sie ging zum Fernseher und schaltete wie wild über die Kanäle hinweg, bis sie die Nachrichten gefunden hatte. Die Löscharbeiten waren beendet worden, die Landebahn war bereits wieder freigegeben worden. Das Leben der Anderen ging einfach so weiter, als wäre nie etwas geschehen. Die grausame Wahrheit über den Tod ihrer Eltern traf sie mit voller Wucht. Es gab keine Überlebenden, die Menschen an Bord der Maschine waren qualvoll erstickt oder bis auf die Unkenntlichkeit verbrannt. Sara wischte sich die Tränen weg, ihr Magen rebellierte schmerzhaft. Müde schleppte sie sich in die Küche, wo sie widerwillig in einen vertrockneten Donut biss. Schnell spuckte sie ihn ins Waschbecken und spülte den Mund mit Leitungswasser aus. Dann sank sie auf den Fußboden und weinte hemmungslos, sie war ja noch nicht mal fähig, sich ein Frühstück zu machen. Wie sollte sie den Rest des Tages schaffen oder den restlichen Monat? Weiter wollte sie gar nicht mehr denken. Ihre Eltern würden nie mehr zurückkehren, nie mehr, egal wie sehr sie es sich wünschte.

Sophie stand plötzlich mit geröteten Augen in der Küchentür, anscheinend war sie durch Saras Weinen aufgewacht. Sophie setzte sich einfach neben ihre beste Freundin und nahm sie in den Arm. Lange saßen die beiden Freundinnen nebeneinander, bis es an der Haustüre klingelte. Sara und Sophie schleppten sich müde an die Türe. Juliane Winter stand vor der Tür, sie hätte Neuigkeiten.

„Die einzige erfreuliche Neuigkeit wäre, dass meine Eltern diesen schrecklichen Unfall überlebt haben. Ansonsten bin ich für Nachrichten nicht in der geeigneten Laune. Oder was würden sie sagen, wenn Sie mein Gesicht betrachten?“ Sara hasste Frau Winter. Ihre Anwesenheit war das Zeugnis dafür, dass ihre Eltern nicht mehr lebten.

„Anhand der Passagierliste waren ihre Eltern an Bord der Maschine. Ich bin mir sicher, sie hätten sich bestimmt bei ihnen gemeldet, wenn sie noch am Leben wären.“

„Und damit soll ich mich abfinden?“ rief Sara hysterisch.

„Ich habe ihren Onkel ausfindig gemacht, besser gesagt er hat sich bei uns gemeldet und er ist bereit, sie aufzunehmen. Das wird wohl die beste Möglichkeit in ihrer Situation sein, er scheint jedenfalls ganz nett zu sein.“ Juliane Winter ging gar nicht auf Saras Einwände ein.

„Das ist unser Briefbote auch und trotzdem möchte ich nicht zu ihm ziehen!“, rief Sara schnippisch.

„Lassen Sie mich einfach hier, meine Freunde wohnen in der Nähe, meine Schulkameraden, einfach alle. Sie können mir nicht auch noch den Rest meines Lebens wegnehmen. Was soll ich denn bei meinem Onkel? Den kenne ich doch nicht einmal, geschweige denn er mich! Ich will da nicht hin und fertig! Das ist mein letztes Wort.“

„Das geht nicht, die Richterin hat bereits entschieden. In einer Woche wirst du zu deinem Onkel ziehen, einen anderen Weg gibt es nicht. Deine Eltern haben es so in ihrem Testament verfügt und das finde ich sehr vernünftig. Ich habe das Testament bei mir, du kannst es gerne sehen. Der zuständige Anwalt Roman Weiermann hat sich bei uns gemeldet, anscheinend haben deine Eltern ihren letzten Willen bei ihm aufgesetzt.“

„Roman ist ein guter Freund meiner Eltern, eigentlich der Beste. Dachte ich zumindest, aber man kann sich irren.“

„Herr Weiermann kann nichts dafür, es ist ja nicht seine Verfügung. Er hat nur alles schriftlich festgehalten und erfüllt den letzten Wunsch ihrer Eltern. Was sehr nobel ist.“

„Pah“, rief Sara verächtlich.

„Sonst hätte es jemand anderer getan. Ich weiß, dass er ihre Eltern auch sehr vermisst und sehr traurig ist. Es gefällt ihnen dort bestimmt und sie werden neue Freunde finden. Und Sophie können sie in den Ferien besuchen. Mehr kann ich im Moment nicht für sie tun, aber wir bleiben in Kontakt. Mir sind da leider die Hände gebunden, tut mir leid. Wenn es nach mir gegangen wäre, könnten sie hier bleiben, aber das kann ich nicht.“

Sara und Sophie umklammerten sich wie Ertrinkende aneinander.

Eine Woche später ließ Sara ihr bisher vertrautes Leben hinter sich und brach in ein fremdes, ihr unbekanntes Leben auf. Sara saß im Zug auf dem Weg nach nirgendwo. Sie entschloss sich mit der Bahn zu fahren, Fliegen würde nie wieder in Frage kommen. Nie wieder wollte sie auch nur einen Fuß in ein Flugzeug setzen. Sie schloss die Augen und dachte an den gestrigen Tag, die Beerdigung ihrer geliebten Eltern und an den Tag, an dem sie ihre Eltern identifizieren musste. Sara hatte das Gebäude der Gerichtsmedizin betreten, wo alle Todesopfer aufgebahrt waren. Die meisten Leichen der Unglücksmaschine waren noch nicht identifiziert, da sie teilweise nur noch anhand kleinster Merkmale und der Passagierliste nach zugeordnet werden konnten. Die Obduktion ihrer Eltern konnte zügig abgeschlossen werden, denn sie waren im hinteren Teil des Flugzeuges von den Flammen verschont geblieben. Dank der Feuerwehr, die den Flugzeugrumpf ständig nass gehalten hatte, blieb ihren Eltern dieses grausame Schicksal erspart. Dafür waren sie wahrscheinlich an den giftigen Dämpfen qualvoll erstickt. Aber tot war eben tot. Ob verstümmelt oder nicht. Aber so würde ihr Anblick in der Gerichtsmedizin wenigstens kein so großer Schock werden.

Sie betrat den riesigen Raum. An jeder Seite des Raumes standen verschiedene Schränke, in denen die Leichen aufgebahrt lagen. Alle Wände waren gefliest. Ein Mitarbeiter in weißem Kittel diktierte einen Obduktionsbericht in sein Diktiergerät. Als er Sara sah, ging er geradewegs auf den Schrank in der linken Ecke zu, als wüsste er genau, wo welche Toten lagen. Er schaute ein letztes Mal auf die Tür, nickte kurz und öffnete zwei nebeneinander liegende Türen. Geschickt zog er an den Tragen, die mit einem Laken vollständig verhüllt da lagen und zog das Tuch bis zum Oberkörper weg. Sara erschrak für einen kurzen Moment. Ihre Eltern lagen so friedlich da, als schliefen sie. Sara nahm ihre Hände in die ihren und küsste sie vorsichtig, als könne sie sie durch diese Berührung aufwecken. Aber sie fühlten sich so kalt an, so schrecklich kalt. Sara rieb sich die Arme, ihr war auch kalt geworden. Sara liefen die Tränen herunter, doch sie wischte sie nicht weg, warum auch? Sie schluckte schwer, sah sich um, niemand der Angestellten kümmerte sich um sie. Umso besser. Sara knabberte an ihren Fingernägeln, was sie sonst nie tat. Der Angestellte, der sie vorhin rein ließ, gab ihr noch fünf Minuten. Danach führte er sie höflich aber konsequent in den Besucherraum, wo sie schon erwartet wurde. Saras Gesicht war rot verquollen. Noch immer liefen Tränen über ihre Wangen. Sophie erschrak bei ihrem Anblick etwas, wollte sich aber nichts anmerken lassen. Wenigstens hatte Sara ihre Eltern ein letztes Mal gesehen, die Chance war leider nur wenigen Hinterbliebenen möglich. Sophie ging auf ihre Freundin zu und nahm sie tröstend in den Arm. Sara ließ ihren Tränen freien Lauf.

Der Schaffner riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Sara war dankbar für die Ablenkung, denn sie wurde fast verrückt. Sie konnte seit dem Flugzeugabsturz nicht mehr schlafen und war bereits einige Kilo leichter. In der Schule fand sie nur noch schwer Anschluss an den Schulstoff, da sie sich nicht mehr konzentrieren konnte. Ihre bisherigen Freunde waren ihr gegenüber irgendwie gehemmt. Man konnte das Gefühl nicht richtig beschreiben, sie merkte es einfach. Entweder sie behandelten sie wie ein rohes Ei oder sie starrten sie ungeniert an, als wäre sie zu einem schrecklichen Alien mutiert. Lediglich Sophie war die alte Freundin geblieben. Sara konnte nicht mehr lachen. Kein Witz, keine noch so komische Situation entlockten ihr auch nur ein Grinsen. Sie wusste ja selbst nicht, wie sie sich aus dieser schrecklichen Situation befreien sollte, wie konnte es da ein anderer machen?

Sara sah ins Leere, Sophie fehlte ihr jetzt schon. Fast genauso wie ihre Eltern, nur auf andere Art. Wie konnte man nur das Gemeckere über offene Zahnpastatuben und zu laute Musik vermissen? Aber gerade das war es und natürlich die liebevolle Art ihrer Eltern miteinander. Nie wieder würde sie das Stirnrunzeln ihres Vaters oder die süßen Grübchen ihrer Mutter entdecken, wenn sie lächelten. Ein dicker Kloß steckte in ihrem Hals, aber er wollte nicht verschwinden. Sie ballte die Fäuste, bloß nicht in einem überfüllten Zug mit dem Weinen anfangen. Sie ging zur Toilette und schaute in den Spiegel. Ihr Gesicht war grau und matt geworden. Grau, ja so fühlte sie sich, ohne Leben, ohne Farbe… einfach Sara Grey… dennoch, ein wenig blitzten die sonst rosigen Wangen noch durch…

Drei Stunden später kam sie in endlich an. Nicht dass sie gerne in eine fremde Umgebung wollte, nein ihr tat lediglich der Hintern und die Waden vom langen Sitzen weh. Sara schnappte sich ihre beiden Koffer und trat auf den Bahnsteig. Die grelle Sonne blendete sie und sie konnte einige Augenblicke nicht mehr richtig sehen. Schützend hielt sie die Hände vor ihre Augen. Da rief doch jemand ihren Namen. Verzweifelt sah sie sich um, bis ihr jemand auf die Schulter tippte. Sara erschrak fürchterlich und fuhr herum.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken!“ lächelte ihr Onkel Ted, der eigentlich Thomas hieß, aber aufgrund seiner Körperfülle von allen nur Ted, von Teddy abgeleitet, genannt wurde. Wie ähnlich er ihrer Mutter sah, so ganz anders wie auf den Fotos, die bei ihnen zuhause auf dem Kamin standen.

„Schon gut, bin wohl schreckhafter als sonst“, rief sie ernst.

„Ich freue mich, dich willkommen zu heißen. Dir wird es hier bestimmt gefallen. Im Moment ist zwar noch alles neu hier, aber du wirst dich schnell an uns gewöhnen. Und irgendwann wirst du hier nicht mehr weg wollen. Entschuldige, ich quassele wohl etwas zu viel, aber das tue ich immer, wenn ich nervös bin. Und anscheinend bin ich total aufgeregt.“

Sara nickte nur gelangweilt mit dem Kopf, was so viel wie Zustimmung bedeutete.

„Wie war die Fahrt hierher? Ich hoffe doch angenehm, ansonsten werden wir wohl das Unternehmen verklagen, wenn du das möchtest.“ Ted grinste.

„Kein Bedarf, ein Anwalt hat mir schon diese Scheiße hier eingebrockt. Ich habe erst einmal die Schnauze gestrichen voll“, erwiderte Sara.

„Ich bin auch nicht begeistert darüber, dass meine Schwester nicht mehr lebt.“

Teds Miene verfinsterte sich.

„Du hast dich doch nie blicken lassen, was weißt du denn schon davon? Für dich ist meine Mutter doch nur eine Fremde gewesen. Du kennst mich nicht und ich dich genauso wenig. Ich bin nur hier, weil irgendein Typ, von dem ich dachte, er sei ein guter Freund unserer Familie, mir diesen Mist vor die Füße geworfen hat. Und niemand hat mich gefragt, was ich eigentlich will. Bin ich ein Baby? Ich bin doch kein Hund, den man einfach weggibt, wenn er einem lästig geworden ist. Hätte nur noch gefehlt, dass sie mich am Straßenrand angeleint zurück gelassen hätten. Ich gehöre genauso wenig hierher wie Schokolade in eine Mülltonne!“ Sara redete sich in Rage. Wieso kapierte das eigentlich niemand?

Ted wusste keine Antwort, murmelte etwas von „Auto holen“ und verschwand in der Menge.

„Du bist zu hübsch, um ausgesetzt zu werden!“ vernahm sie eine Stimme im Rücken.

„Was hast du zu melden?“, blaffte Sara ihr Gegenüber an.

„Ich bin dein Kofferträger!“, sagte der Junge lächelnd.

„Und so was gibt es in diesem Kaff? Außerdem kann ich die selber tragen. Bin alt genug.“

„Das sollte auch nur nett gemeint sein. Ich hoffe eure Hoheit hat nichts dagegen“, sagte der Junge etwas angesäuert.

Jetzt tat es Sara etwas leid, aber sie fand die Nummer war eine etwas zu plumpe Anmache. Von wegen Koffer tragen und so. Vielleicht wollte der Typ die Dinger nur klauen. Sara stand der Sinn nicht nach Kommunikation und sie drehte sich demonstrativ herum. Der Junge schüttelte den Kopf und ging davon. Na das konnte ja heiter werden. Und diese blöde Kuh sollte er als Banknachbarin in der Schule ertragen? Vielen Dank auch.

„Wo ist Jake denn hin?“, fragte Ted, der gerade das Auto näher herangefahren hatte.

„Welcher Jake?“, wollte Sara wissen.

„Blue Jeans, kariertes Hemd, Sneakers, Baseballcap“

“Ach der. Der wollte meine Koffer klauen, aber nicht mit mir. Ich habe ihn zum Teufel gejagt.“

„Das ist ein Nachbarjunge, ich bat ihn darum, mir bei deinen Sachen zu helfen. Ich wusste ja nicht, wie viel Zeug du mitbringst.“

„Ich brauche nicht so viel, ich bleibe ja auch nicht lange. Antrag beim Vormundschaftsgericht habe ich bereits gestellt, abwarten. Wer weiß, wie lange dieses Trauerspiel dauert.“

Ted schnappte nach Luft, nahm die Koffer und trottete wortlos davon.

Nachdem ihre wenigen Habseligkeiten im Kofferraum verstaut waren, nahm Sara auf der Rückbank Platz, aber nur weil ihr dieser unverschämte Typ mit dem Beifahrersitz zuvor kam. Eigentlich war sie froh darum, dann konnte die krampfhafte Konversation dieses Koffer- klauende Scheusal führen. Die beiden Kerle amüsierten sich prächtig, sie gackerten wie die Hühner und lachten aus vollem Hals zu einem total dämlichen Witz, der außerdem noch so was von letztem Jahrhundert war. Genauso wie der Rest dieser trostlosen Umgebung. Na hier würde sie vor Langeweile krepieren, bevor sie auch nur aus dem Auto gestiegen war. Abrupt hielt das Auto an.

„Jake muss einmal für kleine Königstiger!“ sagte ihr Onkel.

„Gibt es hier Raubtiere oder giftige Schlangen?“ Sara gefiel es, ihrem Onkel ein wenig Kontra zu geben.

„Nicht dass ich wüsste! Warum?“

Ted tat naiv.

„Nur so, eigentlich schade. Das würde mir gerade ungemein den Tag versüßen!“

Ted verstand erst nach kurzer Zeit, was Sara da meinte und schüttelte den Kopf. Ob das gut ging? Er war nicht so der Kindertyp, schließlich war er weder verheiratet noch stolzer Vater eines Kindes. Zumindest glaubte er dies mit großer Wahrscheinlichkeit zu wissen. Familie und Kinder standen auf seiner Wunschliste nicht an oberster Stelle und das hatte sich bis jetzt auch nicht geändert. Aber das schlechte Gewissen und sein Pflichtgefühl waren stärker als seine Abneigung gegen Familie und Co. Der Kontakt zu seiner Schwester war eher mager, da sie in verschiedenen Welten lebten. Sie ging in der Familie auf, er in seiner Liebe zur Musik. Und als Drummer in einer Band war man viel unterwegs, er war sehr oft durch die Weltgeschichte gereist. Doch so langsam wurde er ruhiger, er wollte sich aus dem hektischen Musikleben mit Sex, Drugs und Rock´n Roll zurückziehen. Obwohl er erfolgreich die Finger von den Drogen gelassen hatte. Man sah ja oft genug, wie sehr dieses Teufelszeug einen Menschen negativ veränderte. Er musste einfach helfen, das war seine Pflicht, ob er wollte oder nicht. Aber dass es so schwer werden würde, daran hatte er nie auch nur ansatzweise gedacht. Jake ließ sich ins Auto plumpsen. Irritiert sah er sich um, die dicke Luft zwischen den beiden war nicht zu übersehen. Er würde dieser Tussi so gut es ging aus dem Weg gehen.

Eine halbe Stunde später war die Fahrt zu Ende. Jake verabschiedete sich mit einem knappen Gruß und verschwand eilig hinter einer Hecke. Na der wollte aber mal schnell weg, nicht einmal „Tschüs“ konnte dieser Lackaffe sagen. Und was war mit ihren Koffern? Ein Gentleman durch und durch! Sie würde ihn einfach ignorieren, das war die beste Lösung für alle.

Aber erstens kam es anders und zweitens als man denkt. Das konnte sie gleich am nächsten Tag feststellen, als sie sich in der neuen Schulklasse genau neben Jake setzen musste.

„Darf ich euch eine neue Mitschülerin vorstellen?“, rief Herr Sanders in die Klasse. Der Lärmpegel ebbte sofort ab, als hätte der Klassenlehrer ihnen eine Million versprochen, wenn sie bloß ruhig seien.

„Sie lebt bei ihrem Onkel Ted. Jake hat sie gestern bereits kennen gelernt.“

„So kann man es auch nennen!“, rief er laut. Die Klasse lachte laut, als wäre schon jeder informiert.

„Darf ich um Ruhe bitten? Wir sind nicht in der Disco hier.“

Sofort verstummten alle.

„Das ist schon besser. Eine Bitte habe ich an euch. Die näheren Umstände über Saras Anwesenheit habe ich euch bereits erläutert. Ich bitte hierbei um eure Diskretion. Und Jake möchte ich bitten, sich etwas um Sara zu kümmern.“ Jake verzog angewidert das Gesicht, was erneutes Lachen provozierte.

„Die hat nicht alle Latten am Zaun!“ platzte ihm heraus..

„Das ist doch hoffentlich kein Problem für dich, oder?“

Herr Sanders räusperte sich laut. Jake schüttelte den Kopf und verschluckte sich, was eine heftige Hustenattacke auslöste.

„Geschah ihm Recht, diesem Trottel!“ dachte Sara wütend. Was bildete der sich ein?

„Schlagt alle bitte Seite 118 in eurem Deutschbuch auf. Sara schau bitte in Jakes Buch hinein. Erinnere mich nachher bitte daran, dir die Bücherliste auszuhändigen. In der örtlichen Buchhandlung kannst du die Sachen bestellen, die liefern recht zügig. Dein Onkel wird dir den Weg zeigen, obwohl… Jake kann dir sicher helfen.“

Herr Sander lachte, für Sara hörte es sich gehässig an. War es so? Sie sah zu ihrem Lehrer, er lächelte sie an. Sie musste sich wohl irren, er schien ganz nett zu sein. Widerwillig schob ihr Jake das Buch hin, Sara musste wohl oder übel näher rücken, dass sie auch was sehen konnte. Beide passten gut auf, dass sie sich nur nicht berührten, was fast unmöglich war in dieser Situation. Doch Sara schaffte es irgendwie. Hoffentlich waren die Bücher schnell verfügbar. Lange würde sie es neben Jake nicht aushalten.

„Wo bleibst du denn?“ rief Jake nach hinten, wobei er sein Tempo noch erhöhte.

„Kannst du vielleicht mal warten?“, rief Sara atemlos und blieb stehen.

Ihre Kondition war anscheinend nicht mehr die beste. Der Typ war echt unmöglich, so was von unhöflich. Typisch Hinterwäldler, wahrscheinlich knallten die den Frauen die Tür vor den Kopf statt sie aufzuhalten.

„Aber sonst geht’s noch, oder?“, motzte Sara.

„Anscheinend seid ihr Städter nicht gerade schnell, hä?“, frotzelte Jake.

„Sehr witzig, mir stand in letzter Zeit nicht der Sinn nach Sport, kapiert?“, äffte sie seinen Tonfall nach.

Jake zog die Augenbrauen hoch und stampfte wütend in die Buchhandlung. Natürlich hielt er ihr nicht die Tür auf. War doch klar. Warum war er eingeschnappt, er hatte doch mit den Kindereien angefangen? Vertrug wohl das Echo nicht. Wütend stapfte sie ihm hinterher an den Tresen, wo eine Angestellte eifrig arbeitete. Gerade kassierte sie bei einer älteren Dame. Dann wand sie sich an Jake und begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln. Auch Sara lächelte sie zu. Die war ja anscheinend mit ihrer aufgesetzten Freundlichkeit nicht sehr wählerisch, wenn sie nett zu so einem Idioten war. Sara hielt ihr die Bücherliste hin.

„Du bist wohl neu hier?“

„Leider! Hatte keine andere Wahl!“ sagte sie und verschwand zwischen den großen Buchregalen.

Sie wollte keinen Smalltalk beginnen, der irgendwann in einer peinlichen Stille endete. Sie sah sich lieber die vielen Bücher an. Vorsichtig schaute sie zu den beiden hin. Was konnten die wohl so Vertrautes zu bereden haben? Ist doch egal, dachte sie. Wahrscheinlich lästern sie über mich.

„Ich habe alle deine Bücher hier!“ rief die Buchtante laut in den Raum, weil sie ja nicht wusste, wo sich Sara gerade befand.

„Das ist ja super. Das erspart mir jede Menge Ärger!“, rief Sara in Jakes Richtung. Aber es schien ihn kalt zu lassen.

„Oh, ich habe etwas übersehen!“

„Was denn?“ meinte Sara.

„Mist, das Deutschbuch. Ich habe hier das Falsche liegen. Sie sah im Computer nach. Ich werde es bestellen müssen, tut mir leid.“

„Wann ist es denn da?“ Saras Stimme klang enttäuscht.

„Vielleicht in ein paar Tagen, lass mir deine Telefonnummer da und ich melde mich umgehend.“

Sara seufzte.

„Ich habe ja wohl keine andere Wahl, oder?“

„Stimmt!“ lachte Jake hinterhältig.

Am liebsten wäre sie ihm an den Hals gesprungen und hätte ihn erwürgt. Wie konnte ein halbwegs gut aussehender Typ wie er so ein Vollpfosten sein? Ob die Tussis hier auf solche Proleten abfuhren? Es war ja auch so was von egal, gleich morgen würde sie sich in der Klasse auf einen anderen Platz setzen. Und damit war das Thema für sie abgehakt.

„Findest du alleine nach Hause? Ich habe noch was anderes vor als Babysitter zu spielen.“ Jake war etwas angewidert.

„Dann hau doch ab, hier braucht dich eh keiner, Schwachkopf!“, blaffte Sara ihn an.

„Was?“ fragte Jake.

Sara überspielte die Situation.

„Ich sagte dahinten liegt ein Knopf. Ist mit deinen Ohren alles in Ordnung?“

Jake drehte sich kopfschüttelnd um. Diese Ziege war ja schlimmer als die Pest. Zum Glück war sie bald wieder weg. Wann wurde sie gleich noch mal volljährig? Egal wie lange es dauern würde, jeder Tag bis dahin war einen Tag zu lang.

„Ihr mögt euch wohl nicht sonderlich?“, lächelte die Angestellte.

„Wie kommen sie darauf? Wir sind die besten Freunde, aber nicht auf die herkömmliche Art und Weise. Bei uns läuft es ein wenig anders.“

Sara macht ihr ein Petzauge.

„So kann man es auch nennen?“

Die Bücherfrau lächelte wissend.

„Kann ich jetzt bezahlen? Ich habe es eilig.“

Sara wollte nur noch weg von hier.

„Ich schicke die Rechnung an deinen Onkel.“

„Ich habe aber mein eigenes Geld“ protestierte Sara laut.

„Dein Onkel bestand darauf, es ist alles geregelt.“

Sie drückte Sara die Büchertasche in die Hand.

„Ich nehme noch dieses Buch hier mit! Aber ich werde das selbst bezahlen“, rief Sara, die keine Widerworte duldete.

„Das ist eine gute Wahl, traurig aber wunderschön. Du hast deine Eltern verloren?“

„Hmmm!“ Mehr brachte sie nicht heraus…

„Ich habe meine Eltern auch ganz früh verloren.“

„Und wann hört es endlich auf, so weh zu tun?“

Sara versuchte die aufkommenden Tränen weg zu blinzeln.

„Wenn du deine Eltern geliebt hast, erst wenn du die Augen für immer zumachst.“

„So ehrlich hat mich noch niemand mit der Wahrheit konfrontiert!“

Sara wischte sich eine Träne weg.

„Dann haben dir die Leute was Falsches erzählt, auch wenn sie es gut mit dir meinen. Dieser Schmerz nimmt irgendwann eine andere Form an. Zuerst bist du wütend. Du machst dir Vorwürfe für Sachen, für die niemand etwas kann. Ich habe das auch durchgemacht. Andere Menschen leben ungesund und leben ewig, andere leben vernünftig aber sterben trotzdem früh. Dafür gibt es keine Erklärung, egal wie sehr du danach suchst. Irgendwann nimmst du es hin. Aber bestimmte Situationen oder Lieder erinnern dich wieder daran und der Schmerz kommt mit voller Härte zurück. Du lernst damit umzugehen, es wirft dich nicht jedes Mal komplett aus der Bahn, auch wenn es sehr schmerzt. Doch du hast deine Eltern geliebt und dir steht die Zeit der Trauer zu, auch wenn es lange dauert. Jeder Mensch verarbeitet die Trauer um einen geliebten Menschen anders. Aber deine Eltern würden sich nicht wünschen, dass du dich vergräbst und dein Leben an dir vorbeizieht. Lass dich nicht von der Traurigkeit leiten. Bleib du selbst.“

„Okay, ich werde tun, was ich kann“, sagte Sara nachdenklich und verließ die Buchhandlung. Sie lief auf direktem Weg zu ihrem Onkel nach Hause, sie konnte es gar nicht abwarten, das Buch zu lesen. Von ihrem provisorisch eingerichteten „Zimmer“ das eher an eine Rumpelkammer erinnerte war sie genervt. Vom Regen in die Traufe, dachte sich Sara und warf sich auf das Bett. Sie schnappte sich das Buch und schlug die erste Seite auf. Sara las, bis ihr Onkel sie zum Abendessen rief. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Bevor sie das Zimmer verlies warf sie noch einen schnellen Blick in den Spiegel. Was war mit ihr los? Sie sah immer blasser aus.

Am Tisch mit ihrem Onkel hörte man nur das Besteck klappern. Gespräch? Fehlanzeige. War auch gut so, was sollten sie sich auch erzählen? Sara stocherte im Essen herum. Eigentlich hatte sie gar keinen Hunger, doch sie wollte auch keine Sekunde länger sitzen bleiben. Sie entschied sich für schnelles Reinstopfen und verabschiedete sich schnell von ihrem Onkel. Sie hatte keinen Bock auf unnötiges Bla-bla mit einem Mann, der wie ein Einsiedler lebte. Sie hatte Sehnsucht nach Sophie, nach ihrem Zuhause, den alten Freunden. Sie vermisste das alles jeden Tag mehr. Ob sie durchbrennen sollte? Eine gute Idee! Entschlossen aber leise zog sie ihren Koffer unter dem Bett heraus und packte. Sie wollte sich von niemandem vorschreiben lassen, wie ihr Leben auszusehen hatte.

Sara wartete, bis ihr Onkel schlief. Vorsichtig tastete sich mit dem Koffer die Treppe hinunter, was bei diesen verfluchten, knarzenden Dielen fast unmöglich war. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen. Doch ihr Onkel hatte einen gesegneten Schlaf.

Leise zog sie die Haustür hinter sich zu. Es waren nur knapp 2 Kilometer zum Bahnhof, die würde sie locker zu Fuß schaffen. Auch wenn der Koffer unnatürlich schwer war. Es fühlte sich an als würde sie tausende von Backsteinen schleppen. Die letzten hundert Meter schleifte Sara den Koffer nur noch hinter sich her. Sie sah auf den Fahrplan, der an einer Wand hing. Scheiße! Heute ging nur noch ein Zug und der fuhr um halb 3. Halb 3 nachts? Sie sah auf ihre Uhr. Das war ja noch ewig! Frustriert lies sie sich auf die Bank fallen und trat gegen den Koffer. Was für eine Scheiße, gefangen in einem Irrenhaus, aus dem es kein Entkommen gab. Sie hätte schreien können, tat es aber nicht. Obwohl keine Menschenseele da war. Einsamkeit überkam sie mit voller Wucht. Sie heulte, warum war ihr Leben nur so kompliziert?

Vor nicht ganz einem Monat war alles noch in bester Ordnung. Sie konnte jeden Tag mit ihrer besten Freundin abhängen. In der Schule und danach. Ihr Zimmer war cool, hatte sie es sich selbst einrichten und gestalten können, ganz nach ihrem Geschmack. Eigener Fernseher und Telefonanschluss. Sie konnte kommen und gehen, wann sie wollte. Denn ihre Eltern vertrauten ihr und sie konnten sich sicher sein, dass sie diese Freiheit nicht ausnutzte. Genauso konnte sie sich auch auf ihre Eltern verlassen. Manchmal kam es ihr vor, als wären die Eltern ihre älteren besten Freunde. Die Erinnerungen schmerzten. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe herum, spätestens morgen früh würde ihr Fehlen auffallen. Sara kramte das Buch aus ihrer Tasche. Sie wollte die Zeit mit Lesen überbrücken, bis dieser bescheuerte Zug endlich kam. Erst 23 Uhr! Saras Magen meldete sich lautstark. Jetzt bloß keinen Hunger! Wann öffnete denn dieser Kiosk? Wahrscheinlich erst am nächsten Tag! Sie lief an das Fenster, um die Öffnungszeiten zu sehen. Aber alles was sie vorfand, war eine verriegelte Tür. Dann würde sie halt nichts essen. Auch egal, sie wollte nur noch hier weg, da konnte sie ein wenig Magengrummeln auch nicht davon abhalten. Sophie würde Augen machen. Durch die ganzen Telefonate mit ihr war die Sehnsucht nach Zuhause noch größer geworden. Fürs erste wollte sie bei Sophie bleiben, bis der erste Schmerz vorbei war und sie in ihr Elternhaus zurück konnte, ohne daran zu zerbrechen. Ihre Eltern hinterließen ihr genug Geld, so dass sie sich die nächsten Jahre keine Sorgen zu machen brauchte. Von nun an würde sie auch Kleinigkeiten machen müssen, die ihre Mutter selbstverständlich übernahm, wie zum Beispiel ihre Wäsche oder ihr Frühstücksbrot, das immer liebevoll morgens auf ihrem Platz am Tisch lag. Und ihre Kleider rochen immer so frisch und sauber. Saras Kleider rochen im Moment alles andere als angenehm. Sie verzog angewidert die Nase. Es entsprach einer Mischung von irgendetwas zwischen Mülltonne und Kuhstall, wie der Mief im Haus ihres Onkels, das immer mehr zu verfallen drohte. Warum kümmerte er sich nicht um all das? Keine Familie haben zu wollen war eine Sache, aber den Termiten zuzuschauen, wie sie einem das Haus unter dem Hintern weg fraßen, eine andere.

Wo war sie hier bloß gelandet? Am Arsch der Welt mit hirnlosen Zombies, die wahrscheinlich alle so lebten wie ihr Onkel. Vielleicht würden sie Sara auch für die schlechte Ernte verantwortlich machen und sie auf einem Stein den Göttern opfern? Sie sah zu viele Horrorfilme, doch möglich war alles. Zum Glück war sie in ein paar Stunden weit weg von diesem grässlichen Leben. Sie hatte ihr Prinzessinnenleben gegen das Leben als Aschenputtel eingetauscht. Doch das sollte nun ein Ende haben, frei und selbständig wollte sie sein. Und sie war ja auch schon mittendrin, wie man sehen konnte. Sie war bereits seit 2 Stunden eine eigenständige, selbstbewusste junge Frau. Wieso verging die Zeit so langsam? Immer noch keine Menschenseele zu sehen. Wer weiß, vielleicht lagen sie in den Büschen und warteten nur auf die richtige Gelegenheit, um über sie herzufallen.

„Kannst du mir mal verraten, was du hier machst?“ rief eine ärgerliche Stimme hinter ihr. Saras Kopf schoss erschrocken nach oben und knallte genau gegen ein Schild aus Metall.