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Vor achtzehn Jahren ereignete sich im idyllischen Dorf Saran ein Massaker. Seither herrschen Vorurteile und ein tiefer Groll zwischen zwei großen Völkern. Nun begeben sich drei junge Oboso aus Saran auf eine ungewisse Reise, um einer Legende auf den Grund zu gehen. Nicht ahnend, dass bald nichts mehr so sein wird wie früher.
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Seitenzahl: 519
Veröffentlichungsjahr: 2025
T. T. Aydin
SARANS KINDER
Buch I
© 2024 T. T. Aydin
ISBN Softcover: 978-3-384-53826-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig.
KAPITEL 1
I
Zwischen den großen Baumstämmen in diesem Waldgebiet gab es eine Menge kleiner weißer Bauten, die an robusten Stielen hingen und aussahen wie riesige nach unten hängende Blütenköpfe.
Diese blütenförmigen Bauten muteten an wie Glockenblumen mit Blüten von beträchtlicher Größe von mehreren Metern, die nah aneinander lagen und zum Boden hin einen robusten Schirm bildeten.
An Stellen mit ebenem Boden standen Holzhütten, doch die meisten Hütten waren abseits des Waldes in der Nähe der Erntefelder erbaut worden.
Mithilfe der Baumstämme hatten die Dorfbewohner ein großes Seilnetzwerk erschaffen, an das opake Kristalle gebunden waren, die abends weißes Licht mit großer Reichweite ausstrahlten und umso heller leuchteten, je dunkler es wurde.
Sehr hellhäutige Gestalten, die sich Oboso nannten, bewohnten dieses kleine Gebiet des Waldes, das sie Saran nannten, was so viel bedeutete wie Heimat. Sie waren intelligente, friedvolle Wesen, deren spirituelle Energie an Natur und Licht gebunden war, und dementsprechend lebten sie. Oboso waren für gewöhnlich nur etwas größer als einssechzig, hatten lange, spitze Ohren, die schräg nach hinten gerichtet waren, und eine große Bandbreite an Augenfarben. Weibliche Oboso hatten – neben weiteren feinen Unterschieden – etwas spitzere und längere Ohren als männliche.
Ein weiteres, sehr besonderes Merkmal der Oboso
war deren schneeweißen Haare, die sie der Tradition nach lang wachsen ließen. Sie flochten sie gern unterschiedlich oder banden sie zu einem hohen Dutt oder Schwanz.
Sie waren ein großes Volk, welches auf dem großen Kontinent Gröndong an vielerlei Orten ansässig war und mit verschiedenen Völkern in Harmonie lebte. Solange die Verbundenheit an die Natur bestand, konnten sie nie genug kreativ sein. Privateigentum war ihnen fremd und besonders anrüchig, denn sie betrachteten es als würdelos, die Welt, in die sie geboren wurden, und die mehr als gütig genug war, für sich zu beanspruchen. So lebten sie auch demütig in den Nischen von großen Baumstämmen, doch die meisten von ihnen bewohnten hauptsächlich Hütten und pflegten Obst- und Früchtegärten.
Abseits vom Dasein anderer Oboso wohnte in der Nische des in der weiten Umgebung höchsten Baumstammes die junge Oboso Salpi.
Wenn man von dort oben aus der Nischenöffnung den Kopf hinausragte, konnte man durch die Baumwipfel zwar den Grund nicht sehen, doch war man dafür den Wolken am nächsten, als könnte man sie einfach erfassen, wenn man nur die Hand nach ihnen ausstreckte.
Außerdem hatte man einen ziemlich weiten Ausblick über den lebhaften Wald, die Gefilde, und schließlich, am Horizont, dort, wo teils dunkelrot glühende Berge und ein dünner Streifen kohlschwarzer Wolken sich trafen, über einen geheimnisumwitterten Ort, wo nichts gedieh und wohin kein Geist sich wagen würde.
Am Azur flog eine Vogelschar vorbei.
In ihrer Nische war es bescheiden eingerichtet, sie hatte die Wände mit Blumen geschmückt, ein paar opake Kristalle lagen herum, mehrere Stapel Bücher standen auf der einen, und mehrere alte Truhen auf der anderen Seite.
Salpi, die im Morgengrauen aufgewacht war, ging zu einem großen Holzfass, legte dessen Deckel beiseite und schaufelte sich mit der Holzschale darin Wasser heraus, bevor sie dieses begierig austrank. Sie legte den Deckel wieder zurück und machte sich fertig für den Tag; erst zog sie sich ihr weißes Nachtkleid aus und dann ein dünnes, weißes Trägerkleid aus Leinen an, welches ihr bis über die Knie reichte und locker saß.
Vor einem alten Ganzkörperspiegel, der an einer oberen Ecke zersplittert war, bürstete sie sich ihre langen, schneeweißen Haare. Sie hatte verschiedenfarbige Augen; das linke war blau, so blau wie ein wolkenloser Tageshimmel, und das andere Auge rehbraun. Heterochromie war eine Seltenheit unter den Oboso. Salpi unterschied sich von den anderen Oboso vom Aussehen her jedoch hauptsächlich darin, dass sie, wie ihre Tante, vergleichsweise kleine Ohren hatte.
Sie hielt inne, legte die Bürste auf die Truhe neben sich, und blickte einen langen Moment leicht angestrengt in den Spiegel. Sie neigte den Kopf leicht zur Seite, als versuche sie, die Person im Spiegel zu erkennen. Dann erhob sie eine Hand und blickte einen langen Moment darauf, mit einem sinnenden, leicht angestrengten Ausdruck, als könnte sie das, was sich vor ihren Augen befand, nicht erfassen. Als wäre diese Hand nicht die ihre.
II
Die Morgendämmerung war grau. Es war ruhig im Wald und die meisten Bewohner des Dorfes schliefen noch. Salpi, die weit vom Dorf entfernt auf einem hohen Ast saß, beobachtete ihre Umgebung. Ab und an, wenn sie genau lauschte, hörte sie hier und dort in der Ferne ein Rauschen, ein Knistern. Im nächsten Moment bemerkte sie in einigen Metern Entfernung seitlich von sich einen jungen Oboso im Aufzug der Wehtruppe und mit roter Augenbemalung, der Pfeil und Bogen in den Händen hielt und sich hinter einem Gebüsch duckte. Er gehörte der Defensive von Saran an und patrouillierte wie weitere andere Oboso um das Dorf herum, um vorbereitet zu sein, im Falle, dass Abnorme auftauchten.
Diese waren dunkle Kreaturen, deren genauer Ursprung ihnen noch ein Rätsel war – woher sie kamen und weshalb sie so waren, wie sie waren, war noch nicht gelöst, jedoch waren sie zum ersten Mal vor achtzehn Jahren aufgetaucht und kamen in unterschiedlichen Formen und einer durchschnittlichen Größe von über zwei Metern vor. Manche hatten ledrige, massige Flügeln und manche hatten keine, manche hatten zwei Arme und manche weniger oder mehr, manche ein weit ausladendes Mundwerk und manche tödlichere Krallen als der andere. Doch ihnen allen lag etwas gemeinsam: Sie alle waren blutrünstig, boshaft und verweilten in der Dunkelheit. Der Anblick eines Abnormen war derart grässlich und furchterregend, dass man glaubte, dieser könnte selbst die stärkste Seele für immer zutiefst aufwühlen.
Eine dunkelgraue Gestalt brauste plötzlich zwischen den Baumstämmen vorbei, so schnell, dass man sie nicht genau erkennen konnte.
Jener patrouillierende Oboso sah sich abrupt um. Es wurde wieder ruhig.
Als dann aus der Ferne eine Reihe von grässlichen, lauten Geräuschen erklang, die nach kehligen Lauten anmuteten, lief der Oboso in die Richtung, aus der sie kamen. Salpi folgte ihm heimlich, indem sie jäh von einem Ast zum nächsten flog. Das Geräusch klang bald ab, dafür waren nun kräftige Flügelschläge zu hören. Bald machte Salpi auf einem Ast Halt; unter einem Baum fanden sie einen verwundeten Oboso auf, der schwere Atemzüge von sich gab. Dessen Oberkörper blutete aus mehreren Stellen, als hätten riesige Krallen ihn durchbohrt.
„Nein, nein“, hauchte der Oboso, der ihn auf diese Weise aufgefunden hatte. Er lief schnell zu ihm und versuchte die Blutungen zu stoppen. In seinem Gesicht stand barer Horror geschrieben.
Salpi wandte den Blick von diesem Anblick ab und sah sich zwischen den Ästen um. In der Nähe brauste erneut etwas Dunkles durch die Stämme und verlangsamte sich dann, sodass man bald die Umrisse der Gestalt erkennen konnte. Es war ein dunkelroter Abnormer mit massigem Körperbau, großen schwarzen Flügeln, zwei aufgedunsenen Beinen und vier langen Armen mit beachtlich langen Krallen an den Händen. Er hatte schwarze, runde Augen, schleimige große Nasenlöcher, und einen sehr ausladenden Mund, aus dem seine oberen Fangzähne, spitz und massig, hervorstachen.
Im nächsten Moment flog er mit offensichtlich unguter Absicht auf die beiden Oboso zu. Salpi ballte ihre Hand zusammen und sogleich erstarrte der Abnorme in der Luft. Er gab grässlich laute, kehlige Laute von sich, die den Wald durchdrangen. Sein Nacken begann geräuschvoll zu knacken, während seine Schreie zunehmend schmerzerfüllter wurden. Die Geräusche klangen im nächsten Augenblick mit einem Mal ab, als dessen Nacken durch eine mit den Augen nicht erfassbare Kraft plötzlich gänzlich verdreht wurde. Der Abnorme sackte leblos zu Boden.
Salpi duckte sich tiefer, als sie patrouillierende Oboso aus verschiedenen Richtungen anlaufen bemerkte. Sie beobachtete zwischen den Zweigen hindurch, wie die Oboso den verwundeten davontrugen und eine weitere Gruppe mit Stabwaffen den regungslosen Abnormen einkesselten. Als sich die Lage beruhigte, flog Salpi leise davon, darauf bedacht, dass niemand sie bemerkte.
Da es noch früh am Morgen war, verweilte ein leichter Nebel zwischen den Baumstämmen. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die Baumkronen auf die Blütenhäuser und die großen, bemoosten Steine.
Erwachsene Oboso machten sich auf zu den Feldern; es war Erntezeit. Dabei zog eine Gruppe von ihnen schon bald durch den Wald und stimmte in enthusiastischen Tönen ein Lied an:
Tre, tre, tre!
Li paplas lobos y-tramp
Ahn lewas-y dorah banyin
Ahn lewas-y dorah Sarangen!
Los, los, los!
Ein neuer Tag hat begonnen
So öffnet eure Beutel
So öffnet eure Seelen!
Salpi spazierte frohgemut durch das Dorf, als sie ein paar kleine Oboso bemerkte, die unter sich ein Stück vortrugen. Einer unter ihnen trug einen roten Umhang.
„Ich, der allmächtige Mo Saralon, Meister der dunklen Mächte, werde euch alle bezwingen!“
Mo Saralon bedeutete roter Verräter.
Eine Oboso trat ihm entgegen, dabei schien sie zwischen ihren Händen ein imaginäres Schwert oder Stab zu halten. Sie sprach laut in einem vorsätzlich tiefen Ton: „Ich, das Haupt der Familie Wu und tapferer Kämpfer Sarans, werde das nicht zulassen! Stelle dich und Saran möge dir Erbarmen zeigen!“
„Erbarmen?“, antwortete er zynisch. „Von euch Schwächlingen brauche ich kein Erbarmen!“
Salpis Lächeln schwand.
„Du lässt mir keine andere Wahl.“
Der Kleine mit dem roten Umhang streckte daraufhin seine Hand gegen sie aus, dabei hatte er einen allzu eifrigen Ausdruck. „Dann stirb!“
Er gab ein kurzes lautes Geräusch von sich, um auf seinen imaginären Angriff hinzudeuten. Sodann warf sein Gegenüber sich seitlich zu Boden.
„Salpi!“, hörte sie plötzlich jemanden aus der Nähe rufen. Sie kannte diese raue Stimme. Sie blickte zur Seite. Im Schatten eines Baumes saß der ältere und behäbige Oboso Herr Lanling und aß genüsslich lilafarbene Früchte aus einer großen Blätterschüssel.
Sie lief vergnügt zu ihm, und plumpste ihm nah gegenüber auf die Wiese. Erfreut über ihre Gesellschaft reichte er ihr lächelnd die Schüssel entgegen. Sie nahm sich gleich mehrere Beeren heraus und verzehrte diese genüsslich.
„Ich habe dich eine Weile nicht gesehen.“
„Hm“, entgegnete sie nur, während sie mit vollen Backen weiterkaute.
Der ältere Oboso sah ihr tief in die Augen, dann lehnte er sich leicht zu ihr vor und fragte leise: „Warst du wieder auf der Suche danach, mein Kind?“
Salpi wandte den Blick ab und nickte leise.
Herr Lanling brummte, legte die Schüssel beiseite auf das Gras. Als er kurz davor schien, missbilligend etwas zu entgegnen, antwortete sie überzeugt: „Ich werde sie bald finden, Herr Lan, ich bin fest davon überzeugt.“
Dessen Miene formte sich bitterernst und beunruhigt, was unüblich für ihn war. Unter seinen buschigen Augenbrauen blickte er sich um, als wollte er sicher gehen, dass niemand sie hörte, bevor er sich langsam wieder zu ihr vorlehnte.
„Bist du dir sicher, dass-“
Salpi bejahte in einem sehr überzeugten Ton. „Meine Tante hat all die Jahre danach gesucht, wir können jetzt nicht einfach aufhören.“
Er unterbrach sie um einen Tick lauter: „Kind!“
Sie sah ihn verständnislos an.
„Willst du in die Fußstapfen deiner Tante treten? Verstehst du denn nicht, was dies für dich bedeuten würde?“ In seiner Stimme schwangen deutliche Angst und Sorge mit.
„Herr Lan! Tante hat gesagt, dass die Abnormen das Machwerk dieser dunklen Energie sind; dass es unschuldige Lebewesen beeinflusst, wenn sie ihr viel zu lange ausgesetzt sind, und sie hat auch immer gesagt, dass wir für unser aller Frieden die Tafel finden müssen.“
„Deine Tante ist-“, sagte er plötzlich laut, doch brach seinen Satz angesichts des hoffnungsvollen Blickes in ihren Augen abrupt ab.
„Geh in den Unterricht.“
Sie hatte den Wald nicht sehr weit hinter sich gelassen. Grünes Gebirge erstreckte sich bis in die Weite, und am Horizont konnte man im Nebel nurmehr Umrisse erkennen.
Auf einem stufigen Pfad inmitten einer großen, steilen Blumenwiese mit zumeist gelben Korbblüten, die fast so groß waren wie ihr Kopf, ging sie hinauf, während Ona ihr in großem Abstand stoisch nachging.
Es schien sehr ruhig, doch wenn man genauer hinhörte, konnte man zwischen den Blumenstielen ein Getuschel vernehmen. Salpi blieb stehen und ging lächelnd in die Hocke, ehe sie die Stiele etwas auseinanderdrückte.
Zwei kleine Gestalten blickten sie mit unschuldigen Angesichtern ertappt an. Tonton; so wurden Wesen dieser Art genannt, sie waren sehr kleinwüchsig, kaum einen halben Meter groß, gewöhnlich etwas mollig, das Gesicht rund mit prallen, rosigen Backen, lockigen Haaren, buschigen Brauen, und großen runden Ohren.
Tonton waren ein Volk, das gern abgeschottet auf Gröndong lebte. Sie waren bekannt für ihre Faulheit, vorlaute Art und ihre Liebe zum Essen.
Salpi blickte die beiden Tonton lieb lächelnd an und grüßte sie, doch da entgegnete der eine Tonton in bärbeißigem Ton: „Sieh an, sieh an! Es ist wieder die unverschämte Riesin!“
Der andere Tonton setzte sogleich an: „So groß der Kopf, so groß – wie ein Riese!“
Salpi lachte leise.
„Wie unverschämt!“, rügte sie der Tonton. Tonton empfanden es als respektlos, wenn jemand vor ihnen lachte, so versuchte Salpi sich das Lachen zu verkneifen, presste sich die Lippen zusammen und gluckste.
„Wie geht es euch beiden?“, fragte sie die Tontons dann breit lächelnd.
Einer der beiden Tontons hielt sich den Arm plötzlich vor das Augenfeld und rief: „Off! Diese Riesin mit ihrem strahlenden Lächeln! Ich werde noch blind!“
Salpi konnte sich nicht mehr länger zurückhalten und lachte ab. Die Tontons kehrten ihr empört den Rücken zu und verschwanden durch das Grün, während Salpi sich rücklings auf den Boden warf und dann weiter lachte. Oh, wie sie Tontons liebte!
Ona holte sie indes ein, schirmte sie vor der Sonne ab und blickte mit einem zarten Lächeln auf sie herab.
Salpi richtete sich auf. Sie begaben sich weiter hinauf.
„Tante!“, rief Salpi plötzlich heiter, als hätte sie eine Idee, lief ihr jäh ein paar Schritte voraus und drehte sich zu ihr um. Rücklings gehend fragte sie in Elan: „Darf ich dir einen Blumenkranz machen?“
Ona entgegnete einen Moment nichts, bevor sie mit warmen Gesichtszügen nickte. Ihre Augenfarbe war ein warmes, helles Braun.
Salpi machte mit ihrem Zeigefinger eine kurze, schnelle Drehung, die nebensächlich wirkte, dabei brach ein Blütenkopf gleich neben ihr magisch ab, tänzelte durch die Luft her und legte sich sanft auf ihre Hand.
„Salpi“, sagte Ona in einem ermahnenden Ton.
Salpi winkte ab. „Ja, ja!“
Ein Anlehnen an Magie und dessen Praktizieren war strengst untersagt, und seit achtzehn Jahren galt selbst die Erwähnung davon als eine Schandtat.
Sie blickte lächelnd auf die großen langen Blüten auf ihrer Hand.
„Dir wird Gelb so schön stehen, Tante!“, rief sie entzückt.
Ihre Tante blickte sie zärtlich an.
„Machst du mir auch einen?“
Ona blieb stehen. So blieb auch Salpi stehen, ihr inniges Lächeln schwand langsam ab. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und während ihre Lippen versuchten, das, was vom Lächeln übrig geblieben war, noch aufrechtzuerhalten, bemerkte sie jäh: „Aber musst du nicht – das musst du nicht!“
Sie lachte mit wehmütigen Augen, kehrte ihrer Tante schnell den Rücken zu und ging weiter.
„Sag mal, Tante, wirst du bald wieder aufbrechen?“, fragte sie mit dem Rücken zu ihr gekehrt.
„Ich muss“, hörte sie.
„Dann nimm mich dieses Mal doch mit.“ Sie klang leise und etwas bedrückt.
Stille.
Die steinernen Stufen führten auf eine große, ebene Fläche am Höhepunkt des großen Hügels, dort befand sich ein großes Gebäude mit mehreren langen Gebäudeflügeln und geschwungenen Dächern. Die Dächer schienen gewichtig und wurden von mehreren Säulen gestützt.
Steinfiguren auf Podesten standen zu beiden Seiten einer breiten Treppe, die zum mittleren Gebäudetrakt führte.
Salpi winkte ihrer Tante zum Abschied zu, bevor sie hochlief, dann leise eine opake Schiebewand um einen Spalt öffnete, und hineinkroch. In dem weitflächigen Raum saßen mindestens dreißig junge Oboso auf Sitzkissen an kleinen, hölzernen Tischen vor einem betagten Gelehrten. Sie trugen alle ein langes weißes und ärmelloses Kleid, und darüber einen genauso langen Umhang aus dünnem, teils durchsichtigem Stoff, das an zarten Tüll erinnerte, doch entgegen dem Anschein viel schwerer und robuster war. Der Umhang, der mithilfe einer runden, grünen Agraffe unter dem Kinn zusammengehalten wurde, war bei jedem individuell bestickt, da das Besticken dessen nach Tradition am Einzelnen lag. Es durfte jedoch nur mit weißen Fäden bestickt werden. Auf dem Tüll mancher sah man Blumenmuster, kleine Geschichten, oder ihren Namen und die der Familie, manche hatten keinen Platz mehr für ein neues Motiv, manche reichlich viel. Zu Letzteren gehörte auch Salpi, die bloß die Ärmel bestickt hatte, und zwar mit dem Namen ihrer Tante und ihrer engsten Freunde.
Als sie die Schiebewand leise zuschob, vernahm sie die rügende Stimme des Gelehrten: „Wie kannst du es wagen, wieder spät zum Unterricht zu kommen, wo bleibt deine Scham, du Frechling!“
Auf allen Vieren stehend sah Salpi peinlich berührt auf. Sie bemerkte Yunmen in der zweiten Reihe, und dieser signalisierte ihr, zum leeren Sitzplatz neben ihm zu kommen. Sie kannte Yunmen schon seit sie sehr klein gewesen waren, sie hatten ihre frühen Jahre gemeinsam verbracht, jede Ecke und jeden Baum in Saran miteinander erkundet.
„Setzt dich sofort an deinen Platz!“
Während sie zum einzig leeren Sitzplatz schritt, hörte sie seitlich vor sich einen Oboso zynisch in ihre Richtung bemerken: „Kleinohr.“
Sie wandte sich abrupt zu ihm, zum Oboso namens Tamtan. Er war etwas älter als sie, größer und stämmiger. Schon seit sie klein gewesen waren, hatte er sie auf spöttische Weise so genannt, weshalb sie sich einst lange überlegt hatte, mit welchem Spitznamen sie zurückschlagen könnte.
„Steingesicht“, entgegnete sie reflexartig. Schließlich hatte sie sich für diesen Spitznamen entschieden, weil sein Gesicht sehr markante Züge hatte und hart schien.
Er ignorierte ihre Bemerkung. Sie setzte sich auf den freien Platz und guckte in jenes Buch, das offen vor Yunmen lag.
Der Gelehrte, der Salpi noch missbilligend anblickte, fragte in die Runde: „Wer mag dieser unverschämten Oboso nach dem Unterricht den Stoff der letzten Tage aufklären?“
Keiner bis auf eine Oboso, die zwei Reihen seitlich hinter ihr saß, erhob die Hand. Es war ziemlich voraussehbar gewesen, dass sie die Hand heben würde, da es gewiss nicht das erste Mal war, dass der Gelehrte diese Frage in Bezug auf Salpi gestellt hatte.
Diese Oboso, die für ihr ausdrucksloses Gesicht, ihren kalten Blick, ihre Disziplin und emotionale Distanziertheit bekannt war, hieß Zhanakan und war eine in allem ausgezeichnete Oboso. Sie hatte scharlachrote Augen, die, wenn sie unter anderem aufgeregt, beängstigt oder wütend wurde, hell leuchteten – eine Seltenheit, die dazu beitrug, dass sie unter den Oboso einerseits beliebt war und andererseits gefürchtet wurde. Ihre Haare waren mit einem langen, hellblauen Stoffstreifen weit hochgebunden. Salpi lächelte warm in ihre Richtung, winkte ihr energisch zu, doch Zhanakan erwiderte den Blick nicht.
Zhanakan war schon immer unauffällig gewesen – daran hatte sich bis heute nichts geändert. Sie verbrachte die meiste Zeit allein in der Bibliothek, und dass dies der Ort war, an dem Salpi den Stoff des Unterrichts, den sie so oft verpasste, nachholen musste, hatte den beiden in den letzten paar Jahren die Möglichkeit gegeben, sich miteinander anzufreunden.
„Nun denn, fahren wir fort“, sagte der Gelehrte. „Möge jemand zuerst den Energiesatz zusammenfassen.“
Er sah mit zusammengekniffenen Augen in die Runde, als könnte er jeden Augenblick jemanden anvisieren. Zhanakan erhob sich gemächlich: „Alles Seiende hat eine Form von Energie, demnach existiert nichts ohne Energie. Energie kann weder aus dem Nichts erzeugt werden noch ins Nichts verloren gehen; sie ist also unzerstörbar.“
Ihr Blick war leer und starr geradeaus gerichtet und ihr Ton klang streng und emotionslos.
Ein Oboso aus der mittleren Reihe hob seine Hand. Der Gelehrte signalisierte ihm, seine Frage zu stellen.
„Gelehrter Pow, wenn Energie unzerstörbar ist, was passiert dann mit der dunklen Energie von rachedurstigen Seelen?“
Der Gelehrte deutete Zhanakan an, die Frage zu beantworten.
„Energie kann ausschließlich von der einen in die andere Form umgewandelt werden. Im Falle einer verlorenen Seele, vollziehen wir den Reinigungsakt, damit die Seele ihren Frieden findet.“
Sie setzte sich. Salpi hatte ihr aufmerksam gelauscht.
Nach dem Unterricht verbrachte sie ihre Zeit mit Zhanakan im großen Bibliotheksflügel, welcher der größte Raum im Gebäude war und sehr viele Bücher- und Sammelregale beherbergte.
Salpi stand eine lange Weile vor einem Regal und war in eine handgebundene, dünne Schrift vertieft. Immer wieder lächelte sie vor sich hin, und bisweilen, während sie die Schriftzeichen las, stiegen ihr sogar leichte Tränen in die Augen.
Zhanakan, die mit einem Band zwischen den Händen an einem der Bodentische saß, sah ab und an seitlich auf und beobachtete sie verstohlen. Sie wandte sich wieder dem Buch zu, ohne dieses zu lesen, bevor sie schließlich leise fragte: „Wo warst du die letzten Tage?“
Salpi schien sie nicht gehört zu haben, sie war offensichtlich viel zu ergriffen von dem, was sie las. Im nächsten Augenblick lief sie mit der Schrift zu ihr hin, während sie in melodramatischem Ton fragte: „Zhan, hast du das gelesen?“
Zhanakan blickte auf die Niederschrift in ihrer Hand.
Salpi setzte sich ihr gegenüber auf den Boden.
„Es ist eine sehr alte Geschichte… über zwei Oboso, Odin und Sava, die sich ineinander verlieben. Sie leben friedlich in den Bergen, doch eines Tages brechen sie eine der Regeln der Oboso; Sie lassen eines ihrer Tiere, für das sie zuständig sind, abschlachten, ohne dass es nötig gewesen wäre. Am nächsten Morgen finden sie den jungen Nachwuchs des abgeschlachteten Tieres tot auf.
Bald daraufhin erhebt sich Mutter Natur in der Gestalt einer Oboso und will sie bestrafen, indem sie einem von den beiden das Leben nehmen will. Aber die beiden weinen, betteln um Gnade, aber das hohe Wesen reagiert nicht, also schlagen die beiden jeweils vor, sich für die andere zu opfern. Bei diesem Anblick verschont Mutter Natur deren Leben, aber mit einer Voraussetzung; von dem Tag an würden die beiden füreinander Gift sein, sodass sie, wenn sie am Leben bleiben wollten, weit voneinander getrennt leben mussten.“
Zhanakan lauschte aufmerksam. Salpi machte eine kurze Sprechpause.
„Odin und Sava stimmen dem hohen Wesen zu. Sie würden sühnen, und solange die andere am Leben war, konnten sie leben – so dachten die beiden am Anfang zumindest. Sie müssen von da an getrennte Wege gehen, irgendwann lagen dann Berge zwischen ihnen und die Zeit verging. In dieser Zeit schrieben sie einander Briefe und ließen sie mit Botenflugtieren schicken. Jahre vergingen, und keine der beiden kann die andere vergessen. Irgendwann, irgendwann hört Odin, dass es in einer sehr weiten Gegend einen Tempel geben soll, in dem sie vielleicht verschont bleiben würden vor der allmächtigen Gewalt. Denn, sie hörte, dass es nicht nur ein gewöhnlicher Tempel sei, wo die Seelen der Verstorbenen besänftigt werden, wo man manchmal feiert und manchmal trauert, sondern auch, dass es durch Magie geschützt wird. Anscheinend könne keine noch so mächtige Kraft auf den Tempel einwirken.
Ob es wahr ist, weiß sie nicht, aber mit der Hoffnung des Wiedersehens, schreibt sie Sava, und begibt sich auf den Weg.“
Salpi machte eine kurze Sprechpause, während Zhanakan augenscheinlich sehr begierig war, mehr zu erfahren.
„Nach Tagen, und schließlich Wochen des Wanderns, erreicht Odin den Tempel. Dort wartet sie auf Sava.“ Sie schluckte fast unmerklich. „Odin wartet dort, sie wartet, bis sie nicht mehr weiß, wie oft die Sonne schon untergegangen ist, aber Sava erscheint nicht.“
„Warum nicht?“
„Das steht nicht geschrieben… aber Odin wartet trotzdem“, sie hielt einen Moment inne, bevor sie leise hinzufügte: „bis sie schließlich an ihrem Kummer dort verstirbt.“
„Wer schreibt einer Geschichte denn so ein Ende?“, fragte Zhanakan mit einem irritierten Blick auf die dünne Niederschrift.
„Ich weiß nicht, es steht kein Name drauf.“
III
Am Nachmittag half Salpi Zhanakan in deren kleinem Gemüsefeld, welches sich auf der hinteren Seite ihrer kleinen Hütte befand. Da die Sonne auf sie schien, trugen sie Hüte mit einer breiten Krempe, von dem aus ein fast durchsichtiger, weißer Tüll bis zum Brustkorb ausging und das Gesicht sowohl von der Sonne als auch von Insektenbissen schützte.
Salpi erntete jene Zwiebel, die offensichtlich reif waren – dies konnte man am geld-braun gewordenen, umgeknickten Laub der Zwiebelpflanze erkennen. Sie legte die gepflückten Zwiebeln dann in einen großen Korb.
Da sie und ihre Tante keinen eigenen Garten pflegten, teilte Zhanakan jedes Jahr ihre Ernte mit ihnen. Sie hatte dies damit begründet, dass sie immer einen Überschuss an Ernte habe, da sie allein lebte. So bat ihr Salpi stets ihre Hilfe an.
In einem ruhigen Moment wandte Salpi den Kopf zur Seite. Sie sah, wie Zhanakan, unweit von ihr zwischen den Tomatenbüschen hockte, und sich eine große, helle Tomate zur Nase führte. Sie schien den angenehm sauren Geruch davon zu mögen, und nicht nur den der Tomate, sondern von Gemüse, Obst, Pflanzen und der Erde im Allgemeinen. Wenn es vor kurzem geregnet hatte und die Erde feucht war, schaufelte sie sich mit der Hand etwas davon und roch länger als üblich daran, als wäre ihr der Geruch feuchter Erde besonders genehm.
Salpi hatte diese und ähnliche eigenartige, doch liebenswürdige Seiten von ihr entdeckt, seit sie in ihrem Garten helfend an ihrer Seite arbeitete. Wahrscheinlich wusste niemand außer sie davon. Irgendwie war dies ein Gedanke, der sie glücklich machte.
Salpi wandte sich sanft schmunzelnd wieder ihrer Arbeit zu.
KAPITEL 2
I
Eine große Gruppe von jungen Oboso stand in mehreren Reihen im Wald, manche unter ihnen trugen einen Bogen in der Hand und einen hölzernen Köcher mit Pfeilen am Rücken, manch andere, darunter Salpi, führten lange Klingen mit sich. Lediglich Zhanakan trug keines von beiden, stattdessen hielt sie eine lange, silberne Stangenwaffe, die am oberen Ende eine runde faustgroße Metallkugel besaß, von der zwei massige, große und sichelförmige Klingen in entgegengesetzte Richtungen herausragten.
Zhanakan schien mit dem Führen des Stabes kein Problem zu haben, obwohl dieser sehr gewichtig wirkte und schier so groß war wie sie. Der Stab war seit jeher ihr Begleiter.
Jeder Oboso in der Gruppe trug einen schwarzen schweren Kürass mit Schulterstücken, dessen Material wie Leder aussah, doch tatsächlich viel härter und widerstandsfähiger war.
Derjenige mit der höchsten Autorität in der Gruppe war ein stämmiger Oboso mittleren Alters namens Donpang. Er hatte ein dunkles Gewand an und darüber eine Lederrüstung, mit seinem Schwert an der Taille und Bogen und Köcher auf dem Rücken. Sein Augenfeld war blutrot bemalt.
Donpang war ein Krieger, um dessen Erlebnisse beispiellose Erzählungen und Gerüchte rankten. Es war besonders bekannt dafür, dass er über die Jahre unzählige Abnorme getötet und vielen Oboso das Leben gerettet hatte.
Er saß auf einem gewaltigen, silbern gefederten Tier, das man Kanxok nannte. Das Wort wurde aus zwei Silben gebildet; Kan bedeutete mächtig, während die zweite Silbe edel bedeutete.
Kanxok kamen in der Natur selten vor und waren bekannt für ihr schwer zähmbares Wesen, so war es selten, jemanden zu sehen, der einen reiten konnte. Sie hatten mächtige Flügel, einen langen Schwanz, und vier Vorderglieder mit spitzen, sichelförmigen Krallen wie die von einer Krähe, mit dem Unterschied, dass sie massiger und viel größer waren. Deren Kopf war enorm, mit zwei knöchernen, bedrohlich spitzen Hörnern oben, die gewunden nach hinten zogen, und zwei mandelförmigen Augen, die feindselig herausschauten. So wurden diese mächtigen Tiere seit jeher gefürchtet.
„Beim heutigen Training“, sprach Donpang, den ernsten Blick über die Gesichter der jungen Oboso schweifend. „geht es um Achtsamkeit und Zielgenauigkeit. Im Wald befinden sich an mehreren Stellen Holzfiguren, die Abnormen ähneln.“ Er bewegte sich mit seinem Kanxok vor dem Trupp langsam hin und her. Als das mächtige Tier dann schnaubte, erzitterten die Oboso in der ersten Reihe.
Unterdessen sah sich Salpi aus den Augenwinkeln um. Dieses Training hatten sie schon oft durch, doch es gab Oboso, die das erste Mal heute an diesem Training teilnehmen würden. In den Gesichtern dieser sehr jungen Oboso spiegelten sich leichte Angst und Unsicherheit wider.
„Ihr habt im Unterricht bereits gelernt, dass der Nacken eines Abnormen seine größte Schwachstelle ist, und dass es die erste Stelle ist, die anvisiert wird, aber um einen Abnormen auszuschalten, braucht ihr vor allem Muskelkraft und Gewandtheit.“
Parallel zur Theorie gab es auch militärischen Praxisunterricht, an denen Oboso schon ab dem frühen Alter von neun teilnehmen mussten. Sie lernten Kampfsportarten, Klingen zu schwingen, Bogen zu schießen, und wenn die Zeit gekommen war, würden die besten unter ihnen der defensiven Wehrtruppe beitreten und das Eindringen von Abnormen in Saran und benachbarte Dörfer verhindern.
„Im Nacken jeder Holzfigur befindet sich ein blaues Band.“ Er fügte in einem kalten Ton hinzu: „Ihr habt bis zur Dämmerung Zeit. Wer es nicht schafft, mindestens zwei solcher Bänder zu finden, möge nicht zurückkommen.“
Im nächsten Augenblick rief er laut durch die Reihen: „Los!“
Die älteren Oboso verschwanden jäh durch die Baumstämme, die jüngeren wirkten etwas unbeholfen, dass manche von ihnen den erfahrenen Oboso folgten.
Der Wind brachte die Baumwipfel zum Rascheln. Sonnenstrahlen fielen durch die Äste. Es war ruhig, dass die Welt so friedlich wirkte.
Bis zur Dämmerung mussten es noch mehrere Stunden sein. Einige Meter über dem Grund saß Salpi leger auf einem dicken Ast gegen den Baumstamm gelehnt, mit einer Hand hinter dem Kopf, die Beine übereinandergeschlagen. Sie aß mundgerechte Stücke aus zähem Früchteteig, die sie in einem kleinen Beutel mitgebracht hatte. Ihre Klingen lagen vor ihren Füßen.
Sie schloss die Augen und dachte an diese kurze Geschichte, die sie vor ein paar Stunden in der Bibliothek gelesen hatte. Wie groß musste Odins Liebe gewesen sein, dass sie bereit war, ihr Leben so zu riskieren, nur um Sava wiedersehen zu können? Wieso hatten Odin und Sava einander – so schmerzhaft es auch sein mochte, nicht vergessen und weiterleben können?
Diese Art von Liebe war wahrlich beängstigend. So dachte sie, und hoffte inständig, so etwas nie zu erfahren.
„Was machst du dort?“, hörte sie plötzlich von unten und zuckte zusammen. Sie hatte nicht erwartet, erwischt zu werden, wenn sie sich doch so hoch oben befand. Doch die Stimme hatte allzu bekannt geklungen.
Allmählich reckte sie den Kopf zur Seite und schaute hinunter. Sie erblickte Zhanakan, und konnte ihrer Miene ablesen, dass es ihr sehr ernst war. Sie hatte mehrere blaue Bände um ihren Oberarm gebunden, mindestens drei mussten es sein. Zhanakan signalisierte ihr, runterzukommen.
Salpi ergriff den dicken Strang, der von einem höheren Ast runter hing und fast bis zum Grund reichte, und so wie sie damit hinaufgeklettert war, kletterte sie damit auch wieder runter.
„Wie viele Bände hast du?“
Etwas verlegen lächelte Salpi und kratzte sich durchs Haar.
„Sag nicht, du hast noch keines?“
Zhanakan blickte sie unentwegt an.
„Aber schau doch, Zhan, das Wetter ist so schön!“
Zhanakan seufzte leise. „Komm“, sagte sie und ging zurück. Sie liefen eine Weile durch den Wald, bevor sie in der Ferne eine Holzfigur ausmachten. Die massige Figur, die ein unpräzises Aussehen hatte, stand sehr krumm mit einem großen Buckel, die breiten Arme nach vorne gerichtet, als wäre sie kurz davor, ihre Beute zu ergreifen, und hatte eine Größe von weniger als zwei Metern.
Zhanakan lief darauf zu, bevor ein anderer Oboso es zuerst fand, dabei versuchte Salpi sie einzuholen. Neben einem Baumstamm machten sie dann Halt. Sie blickte zu Salpi, die nach Luft schnappte. Bei dem starren, abwartenden Blick ihres Gegenübers, wusste Salpi, was sie tun musste. Sie ging an ihr vorbei, zückte ihre Klingen heraus, schnellte um die Holzfigur herum, ehe sie, ohne innezuhalten, seitlich hinter der Figur mit ausgeholten Klingen hoch darauf zusprang. Im nächsten Augenblick rammte sie die Klingen zueinander gewandt in den Nacken und stützte sich mit einem Fuß gerade noch auf dem Buckel der Holzfigur ab.
Daraufhin wurde es für einen Moment still. Salpi musterte leicht enttäuscht das Ergebnis. Ihr Sprung war nicht hoch genug und ihre Kraft unzulänglich gewesen, der Einschnitt war eindeutig nicht tief genug. Man musste tief genug in den Nacken einschlagen, damit ein Abnormer einen Tod erlag.
Während Zhanakan sie im Hintergrund betrachtete, zog Salpi ihre Klingen mühevoll zurück und sprang rückwärts auf den Boden, sie senkte den Kopf. Sie wusste, dass Zhanakan sich Sorgen um sie machte. Über die Jahre hinweg hatte sie sich im Ausdauertraining besonders abgemüht, oft war sie vor Erschöpfung einfach umgekippt. Sie hatte schon früh realisiert, dass ihre physische Verfassung schwach war, dies jedoch mit Willensstärke und Hartnäckigkeit zu kompensieren versucht.
Doch irgendwann hatte sie dann begonnen, sich immer mehr auf ihre übersinnlichen Kräfte zu verlassen, was sehr riskant war, da sie diese unter allen Umständen geheim halten musste, anstelle vergeblich danach zu streben, physisch leistungsfähiger zu werden, um mit den anderen mithalten zu können. Aber war das denn so verwerflich?
Salpi ging einige Schritte zurück, bevor sie erneut ausholte, darauf zulief und einen sehr hohen Sprung machte. Sie schwang ihre Klingen und rammte diese mit aller Kraft in den Nacken, dabei schummelte sie und übte mithilfe ihrer übersinnlichen Kräfte einen Einfluss auf die Klingen aus, ohne dass Zhanakan, die seitlich weit hinter ihr stand und sie beobachtete, es bemerken könnte.
Die Klingen schnitten einen spitzen Winkel in das harte Material, ehe ein großes Stück Holz herausbrach. Salpi hielt sich fest, und blickte in die Einkerbung im Holz, darin lag ein langes blaues Band. Sie nahm es grinsend heraus und drehte sich zu Zhanakan um, den Band stolz schwenkend.
„Schau, schau!“ rief sie dümmlich lächelnd und lachte, mit Augen, von denen man gewohnt war, dass sie so einfach so hoffnungsvoll und lebensfroh strahlten. Sie sprang runter.
Zhanakan lächelte sehr gelind. Daraufhin vernahmen sie aus der Ferne eine Gruppe von Oboso, die in ihre Richtung zu kommen schien. Salpi packte flink Zhanakans Arm und zog sie mit sich hinter ein Gebüsch. Bald kamen Tamtan und zwei weitere Oboso hergelaufen. Als sie die Holzfigur demoliert auffanden, machte Tamtan eine missmutige Miene, weshalb Salpi in ihre Hand kicherte.
Daraufhin blickte er abrupt in ihre Richtung, schnell duckte sie den Kopf runter. Zhanakan wartete behelligt – sie war nicht jemand, die sich gern versteckte. Nach einem Moment bahnte sich ein Speer durch das Gebüsch und stach sehr knapp vor ihr ein. Erschrocken und mit einem komischen Schrei sprang Salpi rückwärst zurück. Zhanakan stand auf und nahm ihren Stab hervor, sie blickte Tamtan bedrohlich an.
„Hat Zhanakan dir wieder geholfen, Kleinohr?“, fragte er zynisch.
Salpi atmete durch und stand auf. Sie wedelte das Stoffband in ihrer Hand. „Willst du das haben, ich kann es dir geben!“ Sie lächelte unverhohlen, und genau das schien Tamtan zu irritieren.
Ein anderer Oboso trat an seine Seite mit den Worten: „Sie hat es wahrscheinlich nur durch Zhanakans Hilfe zu Händen bekommen. Ich denke, sie hat es nicht verdient.“
Zhanakan blickte ihre Gegenüber gereizt an. Plötzlich lachte Salpi keck auf.
„Und wenn dem so ist?“, sagte sie spöttisch. „Wer seid ihr, dass ihr darüber urteilen könnt, ob ich es verdient habe oder nicht!“
Tamtan gab einen wütenden Laut von sich.
„Man hält dich nicht ohne Grund für verrückt“, fuhr der andere Oboso sie gereizt an.
Salpi grinste ihn vergnügt an, als würden deren Worte, so gehässig sie auch sein mochten, einfach an ihr vorbeistreifen. Als würde sie auf sie alle herabsehen. Ihr inniges Lächeln reizte die anderen sogar noch mehr, und als sie dann auch noch lachte, kamen die Oboso erzürnt auf sie zu.
„Gib das Band her“, sagte Tamtan in einem ernsten auffordernden Ton.
Sogleich trat Zhanakan vor Salpi und schwang die scharfen Klingen ihres Stabes bedrohlich gegen die Gruppe, dabei leuchteten ihre Augen rot auf und ließen sie besonders furchterregend wirken. Die Oboso blieben abrupt stehen.
Es war offensichtlich, dass keiner von ihnen sich auch nur einen Schritt auf sie nähern würde. Tamtan blickte ihr mit zusammengezogenen Augenbrauen ernst in die roten Augen, deren Intensität ihn sichtlich immer mehr beunruhigte. Schließlich wandte er den Blick ab.
Im nächsten Augenblick packte Salpi Zhanakan flink am Arm und lief mit ihr in die entgegengesetzte Richtung. Tamtan und die anderen Oboso liefen ihr nach.
„Kleinohr!“, brüllte Tamtan ihr hinterher.
„Steingesicht!“, rief Salpi laut in einem nachäffenden Ton zurück, und lachte vergnügt schallend auf. Zhanakan konnte sich bei ihrem Anblick ein leises Lachen nicht verkneifen. Nach einer Weile gaben Tamtan und seine Gruppe die Verfolgung auf, doch Salpi und Zhanakan liefen weiter.
Salpi zog sie an der Hand mit sich durch unzählige Baumstämme, durch das Unterholz, über moosbewachsene kleine Felsen, sprangen über dünne Bäche. Als sie schließlich an einem großen, dem Dorf sehr bekannten Fluss namens Isla ankamen, schnauften sie. Salpi lachte leise zwischen den Atemzügen.
Plötzlich ergriff sie Zhanakans Hand und zog sie hinter das nächste Gebüsch, wo sie sich duckten.
„Was ist?“, fragte Zhanakan überrascht, woraufhin Salpi ihr signalisierte, still zu sein, und zeigte mit dem Zeigefinger in eine Richtung nach vorn. Eine Gruppe von männlichen Oboso trat im Gespräch durch die Baumstämme hervor. Anhand ihrer Gesichtsbemalung war es offensichtlich, dass sie der Wehrtruppe angehörten. Einer unter ihnen war Donpangs Begleiter namens Wukschi, der bekannt dafür war, seinen Groll gegen Mo Saralon laut und aggressiv auszuleben. Er hatte ein cholerisches Temperament und zauderte nicht, Gewalt anzuwenden, wenn ihm etwas nicht passte, weshalb er von jüngeren Oboso oft gefürchtet wurde. Er und seine Anhänger waren dafür bekannt, Anstoß zu erregen.
So mied auch Salpi ihn – wenn auch nicht aus Angst, sondern eingedenk der Tatsache, dass sie eine Unruhe verspürte jedes Mal, wenn sie ihn sah, was nicht verwunderlich war, da sie sich gut vorstellen konnte, dass er keine Sekunde zaudern würde, sein Schwert gegen sie zu ziehen, mit dem Versuch, sie kaltblütig zu töten, wenn er erführe, dass sie übersinnliche Kräfte besaß. Als Kind war er deshalb nicht selten in ihren Albträumen erschienen.
„Du weißt was gut ist!“, jauchzte einer unter den Oboso. Nur Bruchstücke konnten sie hören. Indes glitt Zhanakans Blick zu Salpi, und sie sah, wie nervös sie anmutete, als hätte ein ungutes Gefühl sich ihrer bemächtigt.
Die Gruppe ging quer durch das Gefilde und verschwanden bald zwischen den Bäumen, woraufhin Salpi und Zhanakan sich aufrichteten. Als Zhanakan sie etwas fragen zu wollen schien, ergriff Salpi wieder ihre Hand. Mit einem strahlenden Lächeln sagte sie: „Komm!“
„Wohin?“, fragte Zhanakan, während sie sich von ihr am Fluss entlang mitziehen ließ. Bald führe sie sie wieder durch den Wald und Zhanakan kam nicht umhin, auf die Hand zu blicken, die sie so selbstverständlich hielt und mit sich zog.
Plötzlich blieb Salpi stehen. Sie signalisierte Zhanakan, still zu sein, und sah durch die Baumkronen hinauf. Sie schloss die Augen und horchte.
Zhanakan betrachtete sie etwas verwirrt. Dann hörten sie aus der Ferne gerade noch einen tiefen Laut, so ähnlich wie das bedrohliche Gebrüll eines Kanxok. Salpi öffnete selbstsicher die Augen und deutete in die Richtung, aus der das Geräusch kam. „Komm!“, rief sie grinsend.
„Wohin?“
„Wirst du schon sehen.“
Bald kletterten sie einen hohen, steinigen Abhang hinauf. Am obersten Rand blieben sie stehen und blickten hinunter auf ein kleines grünes Tal, in dem mehrere Kanxok ruhten.
Zhanakan schaute mit Begeisterung, was Salpi erfreute. Sie lehnte sich zu ihr und flüsterte: „Das ist eine von ihren Ruhestätten.“
Salpi blickte hinunter, als sie beim Anblick eines weißen Kanxok erstarrte. Das Tier hatte schneeweißes Fell und schien jünger als die anderen. Mit dem Gesicht war es gegen eine Wand gewandt und starrte auf depressiv anmutende Art vor sich hin. Zhanakan folgte ihrem Blick.
„Ist das... nicht Maleras?“
Maleras war die treue Gefährtin ihrer Tante.
„Nein, Maleras ist mit meiner Tante unterwegs“, entgegnete Salpi überzeugt und wandte den Blick schnell von ihr ab. Ihre Augen suchten vergeblich nach Trapka, schließlich bemerkte sie etwas enttäuscht: „Trapka ist wohl nicht hier.“
Sie gingen zurück. Schließlich kletterte Salpi auf einen großen Felsen und rief so laut sie konnte zum Azur: „Trapka!“
Sie sahen sich um. Einen langen Moment später hörten sie kräftige Flügelschläge sich aus der Entfernung nähern. Mächtige, schwarz gefederte Flügel schlugen über die hohen Baumkronen hinweg. Ein hünenhaftes, kohlschwarz gefedertes Tier mit gefährlichen Krallen drang von oben in den Wald herein, dabei gab es tiefe und fast grässlich klingende Laute von sich. Seine golden schimmernden Augen, die feindselig und bedrohlich anmuteten, erweichten, als sie Salpi bemerkten. So fletschte es sein gewaltiges Gebiss daraufhin nicht mehr.
Im nächsten Moment landete es auf seinen vier massigen Vordergliedern unweit vor Salpi und Zhanakan, und ringelte seinen Schwanz leicht ein.
Sie streckte die Hand nach ihm aus, ehe das Tier seinen Kopf in ihre Reichweite herabsenkte und es ihr erlaubte, ihn zu streicheln. „Ich habe dich vermisst, Trapka“, sagte sie. Sie drückte ihre Stirn gegen sein steinhartes Gesicht und beide schlossen die Augen. Sie konnte die warmen Atemzüge, die er durch seine großen runden Nüster machte, auf der Haut spüren. Dabei sah Zhanakan dies befremdlich an.
Nachdem Trapka die Augen wieder öffnete, drehte er den Kopf zu ihr und schnaubte bedrohlich.
„Nein, Trapka!“, zähmte Salpi ihn schnell.
Daraufhin legte sich das Tier mit seinem Oberkörper vornüber auf den Boden, damit sie ihn besteigen konnte.
Salpi kletterte den Felsen runter, rief lieb zu ihrer Freundin: „Zhan, komm!“ und ergriff deren Hand.
„Was ist mit dem Training? Wir müssen zurück, die Gelehrten werden nach uns suchen!“
„Bis es dunkel wird haben noch viel Zeit!“
Sie half ihr auf den Rücken Trapkas, und setzte sich selbst hinter sie, um sie festzuhalten, obwohl sie kleiner war als Zhanakan. Sie hielten sich an den spitzen Auswüchsen an seinem Rücken fest.
Salpi klopfte zweimal sanft auf Trapka, bevor dieser den Kopf erhob und mit Staub aufwirbelnden Flügelschlägen sich allmählich erhob.
„Zum silbernen Tempel!“, rief Salpi vergnügt.
Trapka flog mit einer hohen Geschwindigkeit über die Baumwipfel hinweg, sie flogen bald über das Dorf, über die Erntefelder und entlang kleiner Berge. Indes hielt Zhanakan sich angespannt fest. Als Trapka dann plötzlich hinauf zu den Wolken flog, mussten sich die beiden vorlehnen und ganz fest an ihm halten, und Zhanakan kniff die Augen zusammen, da die Geschwindigkeit zugenommen hatte und damit auch der Druck auf sie.
Nach einer Weile waren sie über den ersten Wolken und Trapka verlangsamte sich. Salpi streckte weit die Arme aus und rief laut mit einem überschwänglichen Lächeln: „Wir sind frei!“ Sie lachte vor Freude, während Zhanakan sich mit ihren nun hellrot leuchtenden Augen begeistert herumblickte. Fast überall um sie herum war es weiß, sie schwebten wortwörtlich über den Wolken.
Sie erfreuten sich eine lange Weile dieses Anblicks, bis sie die Berge fast hinter sich gebracht hatten und Trapka langsam wieder hinuntertauchte. Denn gleich hinter den Bergen befand sich eine mächtige, weitläufige Baute in silbernem Weiß. Sie hatte ein konkaves, silbernes Dach, welches innen und außen von massiven silbernen Säulen getragen wurde. Während auf einer Seite des Tempels die Berge standen, befand sich auf der anderen, gegenüberliegenden Seite ein großer Wasserfall, und dahinter erstreckte sich wieder der Wald.
Der Tempel war laut Überlieferung vor über einem Jahrhundert von Oboso, zusammen mit dem Mitwirken eines Dojondorfes, welches sich damals in der Nähe befunden haben soll, erbaut worden sein. Dojon waren ein Volk, das man nur sehr selten auf Gröndong sah, da sie hauptsächlich auf der Insel Rojah lebten. Sie hatten mit Oboso weitgehend phänotypische Ähnlichkeit, mit den einzigen Unterschieden, dass sie kleinere Ohren besaßen und eine breite Palette an unterschiedlichen äußerlichen Merkmalen wie Haut- und Haarfarbe aufwiesen.
Seitdem Dojon jedoch durch die Geschehnisse vor achtzehn Jahren als Gefolgschaft Mo Saralons verstanden wurden, wurde ein historisches Mitwirken ihrerseits am Tempel von Oboso gänzlich abgelehnt.
Trapka landete zwischen den Säulen des Tempels auf dem Boden und legte sich mit dem Oberkörper nieder, sodass Salpi und Zhanakan hinuntersteigen konnten.
Vögel zwitscherten, der Wasserfall im Hintergrund rauschte, und bis auf sie befand sich keiner im Tempel. Die Decke war beachtlich hoch, und das Bauwerk hatte die akustische Besonderheit, dass Klänge verstärkt wurden und auf eine angenehme Art hallten.
Der silberne Tempel war ein Ort der besonderen Anlässe, und jedes Jahr versammelten sich die Bewohner Sarans hier, um der Verstorbenen zu gedenken.
Salpi lief weiter ins Innere, tanzte dabei um die Säulen herum. Zhanakan hatte dabei innegehalten und blickte sie mit einer fast verträumten Miene an.
Mit einem zärtlichen Lächeln begann Salpi zu singen, dabei verlieh der Hall ihrer Stimme etwas Ätherisches und sie erklang durch den ganzen Tempel, schmeichelte den Ohren von Zhanakan und Trapka.
„kan dorna, kan dorna,
O-moho sa ni“
„Schau dorthin, schau dorthin,
das Licht geht auf“
Das, was sie sang, war ein althergebrachtes Lied, das Oboso gerne ihrem Nachwuchs sangen, um sie bei Betrübnis oder Ärger zu besänftigen.
Salpi blickte zur hohen Decke, drehte sich um die eigene Achse. Ihr langes weißes Kleid erhob sich dabei leicht und drehte sich mit ihr mit, als sie weiter sang:
„o-moho sa ni,
dor pöri doremi la!“
„Das Licht geht auf,
dort wo Blumen blühen!“
Sie hielt inne, ihre Augen suchten sodann Zhanakan, und als sie sie erblickte, lief sie freudig auf sie zu. Als sie ihr dann nähergekommen war, und doch kein geringer Abstand zwischen ihnen lag, verlangsamte sie sich.
„Salpi“, sagte Zhanakan in einem sanften Ton. „Warum sind wir hier?“
„Zhan, was wenn dies der Tempel ist, an dem Odin auf Sava gewartet hat?“
Überrascht sah Zhanakan sich herum. „Das stand in der Geschichte?“
„Nein, aber was, wenn?“ Sie lächelte überzeugt. „Und was wenn Sava nicht gekommen ist, weil sie den Tod gefürchtet hat? Doch was, wenn sie aufgebrochen war, aber auf ihrer Reise verhindert wurde?“
Zhanakan blickte sie nachdenklich an.
„Die Geschichte wird gegen das Ende hin gänzlich aus Odins Perspektive erzählt, wer auch immer es geschrieben hat…“
Salpi machte eine Sprechpause. Trapka, der mit geschlossenen Augen auf dem Boden ruhte, schnaubte laut, als wäre er von ihrem Gespräch behelligt. Zhanakan distanzierte sich von ihm und näherte sich Salpi, dabei verschränkte sie ihre Hände verlegen hinter dem Rücken, wandte den Blick von ihr weg zum Wasserfall und bemerkte leise: „Ich weiß nicht, warum Sava nicht gekommen ist, aber ich hätte dich auf jeden Fall gefunden.“
Salpi lächelte gerührt. Sie lief auf sie zu und sprang ihr um den Hals, dabei war sie sich nicht sicher, was dieses plötzliche Gefühlschaos in ihr genau war, welches sie sowohl berauschte als auch verwirrte.
II
Am nächsten Morgen erwachte Salpi allein in der Nische. Ihre weißen, ungekämmten Haare lagen wirr um das Kissen. Sonnenlicht fiel durch den großen Durchgang herein.
Ihre Augen suchten nach ihrer Tante, doch deren Bett, das seitlich von ihr lag, war ordentlich zugedeckt. Allmählich richtete sie sich auf und gähnte, da bemerkte sie auf dem Tisch ein bescheidenes Frühstück und ein abgerissenes Stoff Papier unter einem Holzbecher. Es war eine Notiz, darauf stand in den Schriftzeichen der Oboso:
Ich breche auf.Mögen wir uns sehr bald wiedersehen.
Ona
Salpi schloss die Augen und gab sich einen langen Moment der Ruhe hin.
„Mögen wir uns sehr bald wiedersehen“, flüsterte sie. Sie öffnete die Augen wieder, langte nach einem eingerollten hellbraunen Papier unter dem Tisch und entrollte dieses. Es war eine Landkarte von Gröndong, darauf waren dutzende Stellen rund markiert, von denen der Großteil angekreuzt war. An ein paar dieser Stellen hatte sie in den letzten Monaten bereits gesucht – ohne Erfolg. Jedoch war sie nach wie vor entschlossen, die Tafel zu finden.
Sie aß und trank, bereitete ihr Gepäck und Vorrat.
Bevor sie sich auf die Suche nach der Tafel begab, wollte sie ihre Freunde sehen. Jenseits des Waldes erstreckten sich meilenweit Felder, die die Oboso angebaut hatten. Auf manchen dieser Felder wuchs ausschließlich die Pflanze Dorgin; diese hatte fast zwei Meter hohe Stängel mit langen Blättern, und kugelartige Kolben von einem Durchmesser von ungefähr zwanzig Zentimetern. Die Kolben hatten einen festen Überzug, doch innen waren sie gefüllt mit dichten Büscheln aus weißen Fasern, die für Oboso und fast alle anderen Völker einen unentbehrlichen Rohstoff darstellte. Sie benutzten es unter anderem zur Herstellung von kälteresistenter Kleidung, warmer Umhänge, Decken und Matratzen.
Während der Erntezeit sammelte sich jeder Oboso mit kräftigen Händen und den nötigen Werkzeugen das Nötige ein.
Mit leeren Händen ging Salpi durch die Reihen an Dorgin vorbei und sah sich nach ihrer Freundin um. Da wurde sie von einer bekannten Oboso namens Taarya erblickt, die durch die langen Pflanzenstängel munter nach ihr rief. Salpi lief zu ihr.
„Was machst du hier?“, fragte Taarya. Sie war eine attraktive Oboso aus der älteren Generation, und im Moment trug sie einen großen, zur Hälfte mit Dorgin-Fasern gefüllten Sammelkorb auf ihrem Rücken. Ihre Haare hatte sie zu einem hohen Dutt gebunden.
„Ich such’ nach Zhanakan“, antwortete Salpi und lächelte. „Aber es ist nicht dringend. Soll ich dir helfen?“
„Vielen Dank, meine Schönheit, aber ich bin beinahe fertig.“
„Wie geht es dir und der Kleinen?“
Taarya schmunzelte. „Alles fein. Besuch uns doch mal bald, anstatt wieder so plötzlich zu verschwinden, Salpi!“, ärgerte sie sich. „Du hilfst mir seit langem auch nicht mehr im Garten! Den Unterricht schwänzt du anscheinend auch sehr oft – ich habe es gehört!“
Salpi streckte ihre Arme aus, guckte zum Azur und beschwerte sich laut in einem melodramatischen Ton: „Warum rügt mich denn immer jeder?“
Taarya lachte leise auf, ehe sie Salpi die Wange kniff. „Soll ich mich jetzt schuldig fühlen?“
„Das tut weh!“, jammerte Salpi. „Lass mich los, du bist eine Tyrannin! Taarya, die Tyrannin!“
„Was sagst du da? Ich bin doch so lieb und nett“, neckte Taarya sie amüsiert, während sie ihre Wange fest zwischen den Fingern hielt.
„Und nenn mich gefälligst yona!“
-yona war eine Nachsilbe für ältere weibliche Oboso oder Schwester; man setzte sie hinter den Namen oder dessen Anfangsbuchstaben an.
Schließlich ließ Taarya sie los, und Salpi lief von ihr weg, als würde sie flüchten. Taarya lachte ihr liebevoll hinterher.
Salpi ging tiefer ins Feld, sie fasste sich an die Wange, die ein bisschen rot geworden war und leicht brannte. Nach einem Moment hielt sie inne. Sie ging rückwärts ein paar Schritte zurück und blickte zur Seite. Zwischen den großen Pflanzen in einigen Metern Entfernung erkannte sie den Rücken einer stämmigen Gestalt. Es musste Zhanakan sein, Salpi erkannte sie an ihrer Figur, und den sehr langen, mit jenem blauen Stoffband hochgebundenen Haaren, die ihr bis über die Hüfte reichten. Vielleicht täuschte sie sich, doch im nächsten Moment wandte die Oboso sich so um, dass Salpi ihr Gesicht von der Seite sehen konnte.
Salpi strahlte erfreut und wollte schnell nach ihr rufen, doch hielt dann inne. Zhanakan hakte einen Kolben, dabei schien sie in ihrer Arbeit so konzentriert, als wäre sie in einer anderen Dimension. Sie beobachtete sie einen Moment lang. Ihr überschwängliches Lächeln glitt in ein sachtes über. Leise distanzierte sie sich, ohne die Augen von Zhanakan abzuwenden.
Als sie zwischen den Pflanzen fast verschwunden war, blickte Zhanakan allmählich seitlich hoch. Eine Böe brachte die großen Pflanzen leise zum Rascheln.
Salpi bummelte durch das Dorfinnere.
Als sie bald an einer alten Hütte vorbeiging, ging deren Tür knirschend auf. Dies war die Hütte einer der Hebammen, die Salpi seit ihrer Kindheit kannte; Heova, deren Mutter und Großmutter ebenfalls Hebammen gewesen waren, sollen die meisten der Geburten in Saran begleitet haben. Ihre Tante hatte ihr einst erzählt, dass die beiden auch bei der ersten Geburt ihrer Mutter anwesend gewesen waren und ihr vor und nach der Geburt stets geholfen hatten. Weibliche Oboso konnten sich in allen das weibliche Geschlecht betreffenden Angelegenheiten an sie wenden.
Aus der Hütte trat nun eine betagte Oboso mit sehr langem Zopf in die Schwelle. Sie hielt eine große runde Schüssel im Arm, als wollte sie damit irgendwohin, doch als ihre Blicke sich begegneten, hielt sie inne.
Seit sie denken konnte, hatte Heova diesen Blick in ihren Augen, wenn sie sie sah, und Salpi konnte den Grund dafür nie finden. Jedes Mal, wenn sie einander begegneten, glaubte sie Feindseligkeit in ihrem Ausdruck zu erkennen, einen Groll, als würde ihr Blick sie einer Untat bezichtigen, und zugleich schien sie auf eine merkwürdige Art verwirrt.
Sie war mit ihr nie allein in einem Raum gewesen, sonst hatten sie auch nie wirklich miteinander gesprochen, so war ihr merkwürdiger Blick, der nur ihr zu gelten schien, umso verwirrender für sie. Manchmal fürchtete sie sogar, dass sie um ihre Kräfte wusste.
Während Heova ihr mit ihrem intensiven Blick folgte, wandte Salpi sich mit einem unbehaglichen Gefühl wieder nach vorn und ging schnell weiter.
Sie blickte sich gemächlich um. Oboso, die tagsüber nicht auf den Feldern arbeiteten oder im Lehrsaal studierten kümmerten sich um das Dorf und den Nachwuchs. Manche versuchten sich zu amüsieren oder taten nichts, zu den Letzteren gehörte auch der Herr Lanling. Dieser saß vor einem Blütenhaus auf der Wiese und tat sich an einer großen Schale voller bunter Früchte gütlich. Obwohl keiner bezeugen konnte, was damals vor achtzehn Jahren genau passiert war, hieß es, der große Lanling habe in seiner Jugend den Mo Saralon eigenhändig aus der Welt geschafft und Frieden nach Gröndong zurückgebracht, und dies war der Grund, warum er seit jeher besonders großen Respekt genoss. Doch seit sie sich erinnern konnte, machte er es sich immer bequem, labte leckeres Essen und beobachtete nur den Alltag.
Er bemerkte sie nicht, da sie weit weg war.
„Herr Lanling!“, rief sie mit einem breiten Grinsen. Er sah auf, bemerkte sie und lächelte erfreut. Sogleich deutete er ihr, sich zu ihm zu gesellen.
Salpi lief überschwänglich hüpfend zu ihm, da hörte sie aus einigen Metern Entfernung seitlich von sich ein paar laute Stimmen.
Es war Tamtan mit drei weiteren Oboso, von denen einer ihm etwas zuflüsterte, daraufhin schlug Tamtan diesem fest auf den Kopf. Der Oboso ging in die Hocke und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf.
„Warum lässt ihr euch so von ihm behandeln?“, fragte Salpi laut und blickte die Oboso um Tamtan herum an. Tamtan reagierte mit einer erzürnten Miene.
„Misch dich gefälligst nicht wieder ein, verdammtes Kleinohr. Für wen hältst du dich?“, sagte er und kam ein paar Schritte auf sie zu.
„Jeder weiß doch, dass du gleich mehrere Schrauben locker hast und was für ein Schwächling du bist. Du hast sogar kleine Ohren – wie Mo Saralon. Woher nimmst du dir also das Recht, so zu reden?“
Ein anderer aus der Gruppe fügte zynisch hinzu: „Sie soll auch Augen haben wie Mo Saralon. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man annehmen, sie seien verwandt.“
Salpi gluckste überheblich, als würde sie ein Lachen unterdrücken.
„Ist es denn schlimm, ein Schwächling zu sein? Dann bin ich eben ein Schwächling.“
Die Gelassenheit in ihrer Stimme, als würde sie sich amüsieren, und ihr überhebliches Grinsen irritierten ihn sichtlich.
„Steingesicht, denkst du, du bist so großartig? Fühlst du dich mächtig, wenn du auf mich losgehst? Aber Tamtan, Macht hört dort auf, wo Gewalt anfängt. In deinen Schlägen steckt keine Macht.“
„Das will ich sehen!“, brüllte er sie irritiert an und schnellte bedrohlich auf sie zu. Salpi kreischte mit einem fast entzückten Grinsen übertrieben auf und rannte durch die Baumstämme. Tamtan rannte ihr hinterher.
„Komm her!“
Salpi sprang gleich auf den ersten langen Pflanzenstrang, den sie fand, und ließ sich damit zum nächsten Strang schwingen.
Herr Lanling der sie aufgeregt beobachtet hatte, sah ihnen lachend hinterher.
Später stand Salpi auf einem großen Felsen, streckte überschwänglich lächelnd die Arme aus, reckte den Kopf hoch und schrie so laut sie konnte: „TRAPKA!“
Ihre Stimme hallte durch den Wald. Sie sah sich hochgemut um. Ruhe kehrte jäh wieder ein, während sie sich mit hochgerecktem Kopf zwischen den leicht raschelnden Baumwipfeln umsah. Schließlich, nach einer Weile, hörte sie Trapkas Flügelschläge aus der Weite, ehe dieser durch die Baumkronen herunter brauste und anmutig vor Salpi anlandete. Er bäumte sich auf und streckte seine gewaltigen Flügel weit aus. Während er auf seinen beiden Hinterbeinen stand, erreichte sein Haupt schier die Höhe der Kronen der ungefähr acht Meter langen Bäume, bevor er die Flügel langsam wieder einzog und auf seinen vorderen Beinen landete.
Er senkte sein Haupt und ließ sich von ihr streicheln, dabei schloss er die Augen. Sie lächelte erfreut. Nach einem Moment hüpfte sie auf den Boden, ergriff ihre große Beuteltasche und warf sie sich über die Schulter.
„Salpi!“
Salpi drehte sich in die Richtung, aus der sie die bekannte Stimme nach ihr rufen gehört hatte und erblickte ihre zwei besten Freunde, die ihr entgegenliefen. Als sie im nächsten Augenblick bemerkte, dass Trapka plötzlich seine Zähne fletschte und sich gegen die beiden aufbäumen wollte, zähmte sie ihn noch rechtzeitig mit den Worten: „Ruhig, Trapka!“
Das Tier brummte widerwillig und mürrisch, doch hielt sich schließlich zurück.
Salpi war erfreut, ihre Freunde zu sehen, dass sie auf sie zulief. Als sie einander gegenüberstanden, fragte Zhanakan, wohin sie nun ginge, und blickte über ihre Schulter hinweg zu Trapka.
Salpi hielt einen Moment inne, bevor sie antwortete: „Nach Onmang.“
Ärgerlich entgegnete Yunmen: „Warum? Oh warte, lass mich raten; es geht um die Steintafel.“
Eine Vorhaltung war in seinem Ton zu vernehmen.
Salpi verneinte nicht, doch sie schwieg, was für die beiden Antwort genug war.
„Salpi.“ Zhanakan klang besorgt um sie. „Wegen einer Legende belegst du dir selbst einen Weg in den Abgrund.“
„Die Tafel gibt es aber wirklich!“, sagte Salpi überzeugt. „Tante hat gesagt, dass es einen Zusammenhang zwischen den Abnormen, die uns angreifen, und der Steintafel gibt. Wenn wir die Tafel aus der Welt schaffen, müssen wir in Zukunft nie wieder davor fürchten, von ihnen angegriffen zu werden.“
Eine kurze Stille schwoll zwischen den Freunden an.
„Ich weiß, ihr glaubt mir nicht, und das ist in Ordnung,“ Salpi kehrte ihnen den Rücken zu und blieb kurz stehen, ehe sie ihren Satz zu Ende sprach: „aber ich kann nicht weiter zulassen, dass meine Tante diese Last allein trägt.“ Mit diesen Worten distanzierte sie sich.
Zhanakan und Yunmen sahen ihr eine Weile besorgt und nachdenklich zugleich hinterher.
Als Trapka den Kopf und Hals zum Boden senkte, damit Salpi ihn besteigen konnte, rannte Zhanakan ihr nach.
„Warte!“
Salpi drehte sich überrascht um.
Zhanakan blieb stehen, als sie ihr nah genug stand. „Ich komme mit dir.“
Salpi stockte. Ehe sie antworten konnte, hatte auch Yunmen sie eingeholt. „Diesmal verschwindest du nicht ohne uns. Sind wir denn nicht beste Freunde?“, rief er ihr in einem gespielt beleidigten Ton zu.
Beim Anblick ihrer Freunde bildete sich ein warmes Lächeln auf ihren Lippen.
III
In einem Blütenhaus saßen kleine Oboso auf der Wiese und horchten besonders aufmerksam dem Herrn Lanling, der hinter einem Holztisch saß.
„Vor nicht vielen Jahrzehnten war der Mo Saralon hier auf Saran geboren. Er unterschied sich von den anderen darin, dass er angeborene magische Fertigkeiten besaß. Er wuchs zu einem Kind mit gewaltigen Kräften heran, so, wie man sie in Saran zuvor an keinem Oboso gesehen hatte.“
Ein sehr junger Oboso auf seiner Zuhörerschaft unterbrach ihn: „Was ist schwarze Magie, Herr Lanling?“
Herr Lanling blickte mit leicht zusammengekniffenen Augen nach oben, ehe er mit einem abwesenden Blick antwortete: „Dunkle Magie, mein kleiner Oboso, ist die Folge einer dunklen Seele, und je öfter einer sie anwendet, umso mehr frisst sie die Seele der Person auf, bis nichts mehr übrigbleibt. Zum Glück ist keiner von uns dazu in der Lage.“
„Und wie wird eine Seele dunkel?“
„Wenn man zulässt, dass Hass und Zorn sie ergreifen.“
„Herr Lanling, wird es je wieder jemanden geben, der Kräfte hat wie Mo Saralon?“
Eine Oboso antwortete in einem rügenden, viel zu überzeugten Ton anstelle von Herr Lanling: „Das hat es noch nie gegeben! Und wenn doch, dann-“ Sie stockte. Es wurde plötzlich still im Blütenhaus. Herr Lanling senkte mit einem bedrückten Blick in den Augen den Kopf.
Die Stille wurde unterbrochen, indem einer der jüngsten Oboso neugierig fragte: „Hat der Meister der dunklen Mächte denn wirklich eine Armee aus Dojon gebildet, Herr Lanling?“
Eine andere Oboso unterbrach ihn mit den Worten: „Meine Mama hat gesagt, dass er von Geburt an eine dunkle, böse Seele gehabt hatte.“
Herr Lanling blickte die Oboso wehmütig an. „Stimmt, deine Mutter kannte ihn. Fast jeder Oboso aus der älteren Generation hat ihn gekannt.“ Er machte eine kurze Sprechpause.
„Wenn ihr älter werdet, werdet ihr vielleicht erkennen, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse, Schwarz und Weiß verschwommen und oft eine Sache des Auges sind. Vielleicht auch nicht.“ Er wandte bedrückt den Blick ab.
Seine Worte schienen sich den Jüngeren nicht zu erschließen.
„Auch Sie haben ihn gekannt!“
„Natürlich kannte Herr Lanling ihn! Er hat ihn doch bezwungen und ihn komplett aus der Welt geschafft, dass weder seine Leiche noch seine Seele je gefunden worden sind! Nicht wahr, Herr Lanling?“
Herr Lanling entgegnete darauf nichts.
„Wie war Mo Saralon, bevor er uns verriet?“
„Er war…“, sagte Herr Lanling leise und seine Augen blickten in die Vergangenheit zurück, wehmütig machte er dann seinen Mund zu und schloss die Augen.
IV
Am Rande einer Strömung, die in einen tiefen, breiten Wasserfall stürzte, ruhte Trapka, und auf ihm, Salpi, die die Arme um dessen dicken Fell gewunden hatte und mit geschlossenen Augen friedlich lag. Sie lauschte andächtig dem Wasserfall und ein fragiles Lächeln lag auf ihren Lippen.
Sie wäre eingeschlafen, wenn Zhanakan und Yunmen nicht bald eingetroffen wären. Diese trugen ebenfalls große Beuteltaschen auf ihren Rücken mit und jeweils einen Gurt um die Taille, an den mehrere kleine Beuteltäschchen gebunden waren. Yunmen kam grinsend angelaufen, er trug einen langen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen am Rücken. Zhanakan, die ruhig herantrat, hielt ihren langen Stab.