Sarg die Wahrheit! - Kai Engelke - E-Book

Sarg die Wahrheit! E-Book

Kai Engelke

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Beschreibung

"... makabre Krimigeschichten mit trockenem Witz und viel Ironie sowie einer großen Nähe zum schwarzen Humor der Briten." (Delmenhorster Kreisblatt) "... die staubtrockenen mordsmäßigen Geschichten von Engelke, die überwiegend kurz angebunden, Mord und Totschlag in die Zeilen stopfen ... gnadenlos gut." (Rheinische Post) "Kai Engelkes Buch 'Der Vollzeit-Erschrecker' gilt als eine der besten Sammlungen skurriler Kurzkrimis unserer Republik." (Gießener Anzeiger) "Auch ein Spaziergang kann tödlich enden. Besonders im Emsland sollten die Menschen auf der Hut sein, denn die meisten Fälle Engelkes passieren in dieser Region. Das schafft Vertrautheit und Identifikation." (Neue Osnabrücker Zeitung)

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Seitenzahl: 191

Veröffentlichungsjahr: 2020

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DER AUTOR

Kai Engelke, geb. 1946 in Göttingen, aufgewachsen in Hildesheim, Berlin und Wyk auf Föhr, Internat in Marburg/Lahn, Abitur in Gießen, Redaktionsvolontariat bei dpa in Frankfurt/Main, Pädagogikstudium in Hildesheim, Haupt- und Grundschullehrer im Emsland; zahlreiche literarische Einzelveröffentlichungen und Herausgaben, drei CDs, Beiträge in mehr als 150 Anthologien, mehrere Literaturpreise, künstlerischer Leiter der Landesliteraturtage Niedersachsen/Bremen 2001 und 2007, künstlerischer Leiter der Meppener (Krimi-)Literaturtage 2008-2018, Moderator der Internationalen Liederfeste auf Burg Waldeck/Hunsrück 2011-2018, Juror für verschiedene überregionale Musikpreise, u.a. Preis der deutschen Schallplattenkritik; lebt in Surwold/Emsland.

DER ZEICHNER

Jürgen B. Wolff, geb. 1953 in Plauen, Druckerlehre, anschließend Graphikstudium an der Leipziger HGB. War mit seiner Band Folkländer einer der Mitbegründer der Folkszene in der DDR und spielt seit 1986 zusammen mit Dieter Beckert als Duo Sonnenschirm. Seit 1991 das „graphische Gesicht“ des Tanz&FolkFestes Rudolstadt (heute Rudolstadt-Festival). Ende der 1990er Jahre Mitbegründer der Leipziger Folksession Band. Veröffentlichung mehrerer CDs, Bücher und Liederhefte. Preisträger der Liederbestenliste und des Preises der deutschen Schallplattenkritik. Lebt als freiberuflicher Musiker, Graphiker und Autor in Leipzig.

INHALT

… paar Sätze vorweg von Jens-Paul Wollenberg

Das Böse, das Lachen & ich

Schröge Vägel

Sa

r

g die Wahrheit!

Tee mit tödlicher Doris

Aus der Klaus!

Harald Dethlefsen

Sonja

Das Schwere leicht nehmen I

Fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn

Die Sahnetote

Das überaus harte und qualvolle Leben des Harm Schnieders

Abendliches Gespräch mit einem Mörder

Kaminski wandert

Das Schwere leicht nehmen II

Ameisen und Zikaden

Das Ungetüm

Die Frau vom Kuhstrand

Es gibt keine Tramper mehr

Nagelmann

Das Schwere leicht nehmen III

Trusik ist Mumpf

Bei der Kreuzung

Fleischers Lust

Bronchialgewalt ist auch keine Lösung!

Maringelblick

Ischa Freimaak!

Der Geschmack des Bösen

Klostermoor

Der Job ist getan

Es war einmal – o Schreck o Graus

Ein schönes Lied von Raub & Mord & Totschlag

Es ist okay, dem stummen Begleiter Tod ab und zu einen Drink anzubieten. (Charles Bukowski)

… PAAR SÄTZE VORWEG

VON JENS-PAUL WOLLENBERG

Kai Engelke ist bei weitem mehr als nur ein Krimiautor, genauer genommen ein echter Achtundsechziger, ein Musikant, Lyriker, Poet, Literat, Karikaturist, Musikjournalist, sprich: ein Multikünstler; stets neugierig, kritisch, kollegial, streitsüchtig und doch humorvoll.

Bereits vor vielen Jahren bezeichnete ihn ein Journalist zu Recht als „Sprachsteller“, war es Kai Engelke doch schon in die Wiege gelegt, dank seiner Begabung sich unverblümt auf den Kleinkunstbühnen selbstbewusst und souverän präsentieren zu können, sein Publikum innerhalb kürzester Zeit sprichwörtlich an seine Stühle zu fesseln. Dies gelingt ihm scheinbar spielerisch, denn im Vergleich zu anderen KollegInnen – und das bedauert nicht nur er –, die meist nicht die Fähigkeit besitzen, der Kunst des Vortrags frönen zu können, ist Kai Engelke ein herausragender Interpret seiner eigenen Werke.

Kennengelernt habe ich ihn zum 1. deutsch-deutschen Liedermacherfestival, Anfang der Neunziger auf der Burg Altena im Sauerland.

Ich hegte bereits weit vor der sogenannten Wende einen regen Briefkontakt mit dem außergewöhnlich ehrlichen Folk- und Chansonsänger Günter Gall aus Osnabrück, den ich während des Festivals zum ersten Mal livehaftig traf und der mir seinen Freund Kai Engelke vorstellte.

„Nimm die Sonnenbrille ab, damit ich deine Augen sehe“, bemerkte ich wohl ziemlich schroff, soweit ich mich erinnere.

Wir kamen dann schnell ins Gespräch, und mir wurde sofort bewusst, dass ich es mit einem Menschen zu tun hatte, der auf der gleichen Welle ritt wie ich.

Einige Zeit später lud er mich und unser damaliges Ensemble Leipziger Lumpengesindel (unser Repertoire bestand aus Vagabundenliedern Villonscher Couleur sowie Räuber- und Handwerkersongs) zu seinem 50. Geburtstag ins emsländische Surwold ein, wo er und seine Familie in einem, wie es uns schien, abenteuerlichen Ambiente wohnten (ein uraltes Landarbeiterhaus, ein Zirkuswagen, eine sibirische Blockhütte, Pferde, Ziegen, Katzen … ließen in uns eine romantische Phantasiewelt entstehen). Seither verbindet uns eine enge Freundschaft.

Kai habe ich es auch zu verdanken, dass ich im Anschluss zur legendären Burg Waldeck fand, wo ich im Laufe der Zeit mehrere Konzerte geben konnte und gestandene Künstler wie den Black, Erich Schmeckenbecher, Liederjan, Klaus den Geiger und Manfred Maurenbrecher kennengelernt habe.

Was mich an Kai etwas später ein wenig verwunderte, war der Umstand, dass er plötzlich begann, Kriminalgeschichten zu schreiben, stand er mir zuvor doch als mehr oder weniger satirischer Autor und linksorientierter Gesinnungskumpan sehr nahe. Doch wurde mir, nachdem ich mich mit den Inhalten befasste, klar, dass es sich nicht um gewöhnliche Krimis handelte, sondern vielmehr um tiefgründige Psychogramme, die teilweise die Schattenseiten menschlicher Abgründe beleuchteten, zumal es Kai Engelke immer wieder gelingt, unerwartete Pointen zu setzen, die ihn als einen hervorragenden „Hintergedankendenker“ auszeichnen.

Gemeinsam mit dem Fingerstyle-Gitarristen Helm van Hahm geht er seit mittlerweile zehn Jahren immer wieder auf Lesereisen, und es ist schon bewundernswert, wie sich die beiden während ihrer literarisch-musikalischen Performance Musik liegt in der Gruft galant die musischen Bälle zuwerfen, wenn Kai Engelke mit seinen grausig-schönen Episoden im Klangrausch des virtuosen Gitarren-Komödianten badet, untertaucht in unergründliche Tiefen des Schreckens, bis sich eine breitfächernde Gänsehaut im Lauschen der Zuhörerschaft ausbreitet.

Doch bleiben wir zu guter Letzt beim geschriebenen Wort und lassen uns ein auf sein jüngstes Werk, betitelt Sarg die Wahrheit! – 27 neue Geschichten über Liebe, Mord & schröge Vägel.

Viel Spaß, Spannung und eine angenehme Vergänglichkeit wünscht und garantiert Jens-Paul Wollenberg.

P.S. Und, lieber Kai, jetzt bitte setz die Sonnenbrille wieder auf!

Leipzig, im Sommer 2020

DAS BÖSE, DAS LACHEN & ICH

Erst, wenn alle Norddeutschlandromane geschrieben sind, werdet ihr feststellen, dass eine Insel als Handlungsort allein noch keine Literatur ergibt. (Friesische Prophezeiung)

Ohne dass ich einen konkreten Entschluss gefasst hätte, so verspüre ich doch seit geraumer Zeit ein immer drängender werdendes Gefühl, dass es mit den skurrilen Mordgeschichten, angesiedelt zwischen tödlichem Ernst und alberner Verspieltheit, nun wirklich bald genug sein könnte.

Ich kenne Kolleginnen und Kollegen, die schreiben seit Jahren wie unter Zwang einen Ostfriesland-Krimi nach dem nächsten (hier ließen sich auch jede Menge andere Regionen einsetzen), noch dazu mit jeweils nur geringfügig geändertem Personal, offensichtlich ohne sich zu langweilen. Das ist meine Sache nie gewesen.

Auch galt mein Interesse weniger der aufklärerischen Polizeiarbeit (durch Kommissare, Ermittler, Fahnder, Detektive) als vielmehr der Psyche der Täter. Was mich seit jeher fasziniert, ist die Tatsache, dass jeder von uns, auch der friedvollste Nachbar, die netteste Kollegin, der engste Freund zu jeder Zeit, an jedem Ort zum Täter werden kann. Oder zum Opfer. Ausschlaggebend sind lediglich die jeweiligen Umstände. Meistens ist es nur dem Zufall geschuldet, dass wir nicht in tödliche Konflikte verwickelt werden. Unverdiente Tugend. Unverdientes Glück.

Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die drei Abschnitte Das Schwere leicht nehmen in diesem Buch verweisen. Sie sind kleine, durchaus ernstgemeinte Versuche, die vielzitierte „Faszination des Bösen“ ein wenig begreifbarer zu machen.

So vermeintlich leicht der Tod in manchen meiner Geschichten auch daherkommen mag, so abgrundtief verortet sind doch meist die seelischen Irr- und Umwege, die ihn herbeigelockt haben.

Was ich bisher noch nie schreibend miteinander in Verbindung gebracht habe, ist folgende Vermutung: Ich beschäftige mich (auch) mit abstrusen Mordphantasien, -arten, -geschichten, um dem brodelnden inneren Kessel den Überdruck zu nehmen. Mein Schreiben also auch als Ventilfunktion. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Angst vor dem unvermeidlichen Dahinscheiden lässt sich nicht durch Totschweigen oder Beiseiteschieben bannen. Im Gegenteil: der Tod benötigt einen Platz in unserem Leben. Im Idealfall einen positiv besetzten Platz.

Übrigens: manchmal lässt sich die Furcht vor dem Unabänderlichen sogar weglachen. Wohlgemerkt: die Furcht – nicht der Tod.

Es liegt nun schon etliche Jahre zurück, da begann ich – auf Anregung meines damaligen Verlages – einen Föhr-Krimi zu schreiben. Genre: Regionalkrimi, angesiedelt auf einer Insel. Was soll ich (siehe oben) dazu sagen?

Das fast fertige Werk verstaubte in der vielzitierten Schublade, während ich mich verstärkt der Produktion von humoristischen Kurzkrimis widmete. Das hatte den einfachen Grund, dass abgeschlossene Kurzkrimis sich weit besser in ein satirisch-kriminelles Bühnenprogramm einfügen lassen als aneinandergereihte Ausschnitte aus einem größeren Werk. Die lakonische Antwort auf die unvermeidliche Zuhörerfrage nach dem Ende des Romans – „Tja, da müssen Sie halt mein Buch kaufen“ – empfand ich immer als etwas peinlich und unbefriedigend.

Dennoch habe ich fest vor, die Arbeit an meinem Föhr-Roman irgendwann abzuschließen. Allein schon, um das Begonnene auch zu Ende zu führen. Und natürlich, weil ich von der Qualität meines Romanmanuskripts überzeugt bin.

In einigen meiner Erzählungen spielen bestimmte Gerichte eine Rolle, allerdings weniger im juristischen als mehr im kulinarischen Sinne. Die entsprechenden Rezepte habe ich hinzugefügt, sodass die jeweiligen Erzählinhalte und Speisen relativ gefahrlos nachvollzogen werden können.

Seit vielen Jahren tingele ich nun schon – solo oder auch mit musikalischer Unterstützung – über die Kleinkunstbühnen dieser Republik, um meine literarischen Kabinettstückchen einem interessierten Publikum in direkter Begegnung zu vermitteln. Um als Leser meinen Schreibstil entsprechend einordnen zu können, ist es sicher gut, zu wissen, dass etliche meiner Texte zunächst einmal für den Bühnenvortrag verfasst wurden.

Bedanken möchte ich mich bei meinem Freund Jens-Paul Wollenberg für die einfühlsame und freundliche Hinführung zu meinen oft doch recht sonderbar anmutenden Geschichten.

Dank gebührt ebenso Jürgen B. Wolff für seine Bereitschaft, mit seinen unvergleichlichen Illustrationen mein Buch um eine ganz wesentliche künstlerische Ebene zu bereichern, sowie für die typografische Gestaltung.

Und danke meiner Frau Ulrike, die es mir immer wieder ermöglicht, das zu tun, was ich wirklich tun möchte und muss.

K.E.

SCHRÖGE VÄGEL

Schröge Vägel löchen öft

schröge Vägel sünd sähr sensöbel

schröge Vägel sünd ärme Schwäne

schröge Vägel läben löstiger

schröge Vägel sünd Härlekäne

schröge Vägel schräben schröge Geschächten

spälen söltsäme Mösäk

ünd mölen schrölle Bälder

September 1994

SARG DIE WAHRHEIT!

Laut Statistik ist die Ehe die Ursache aller Scheidungen. (Buddhistisches Standesamt)

Ich hasse Beerdigungen. Ich will ja nicht mal zu meiner eigenen gehen. Aber zu Werners muss ich wohl hin. Wie sähe das denn sonst aus? Schließlich waren wir über vierzig Jahre miteinander verheiratet. Die meiste Zeit eigentlich ganz glücklich. Na ja, was man so glücklich nennt. Jedenfalls haben wir uns nie viel gestritten. Und solange Werner noch zur Arbeit ging, war sowieso alles gut. Er hatte seine Bereiche und ich meine. Doch, da war schon so etwas wie Liebe zwischen uns.

Werner war ja früher bei der Versicherung. Und wenn der abends nach Hause kam, hab ich immer gleich aus der Küche gerufen: „Werner, Schuhe aus!“ Wenn ich mir vorstellte, wo der überall reintrat auf der Straße! Kaugummis, Erbrochenes, Hundekacke, Rotze, wer weiß, was noch alles. Und der merkte es ja nicht mal.

„Elisabeth, stell dich nicht so an“, kam dann von ihm, „ich hab saubere Schuhe. Bin ja schließlich kein Maurer!“ Jeden Abend dasselbe Theater! Ich hab einige Jahre als Krankenschwester gearbeitet, ich versteh ein bisschen was von Sauberkeit und Hygiene.

Aber sonst hatte ich eigentlich keinen Grund, mich zu beklagen. Wir hatten’s doch immer ganz gut miteinander. Unsere beiden Kinder gingen längst ihre eigenen Wege. Jens hatte auch einen guten Posten bei der Versicherung gefunden, und Marianne studierte sogar Medizin. Unsere Doppelhaushälfte war längst abbezahlt, der kleine Garten mit den bunten Blumen machte mir immer viel Freude. Und schöne Urlaubsreisen haben wir zusammen gemacht! Zuerst Deutschland und Österreich, nicht so weit weg, wegen der Kinder. Und später dann Italien, Frankreich, Spanien. Einmal waren wir sogar in Portugal. Das werde ich nie vergessen! So ein schönes Land! So freundliche Menschen!

Na ja, aber dann ging Werner in Rente. Ich hatte ja schon viel früher aufgehört, im Krankenhaus zu arbeiten, auch wegen der Kinder. Und jetzt hockten wir beiden Alten zusammen in unserer Doppelhaushälfte. Ich hatte ja den Garten, den Haushalt und ein paar nette Freundinnen, mit denen ich einkaufen und bummeln ging. Werner allerdings verließ das Haus nur noch selten.

Der saß den ganzen Tag in seinem Sessel, las wahllos riesige Mengen von Büchern und trank ununterbrochen Whiskey, einen nach dem anderen. Das ging schon bald nach dem Frühstück los und setzte sich bis in die späten Abendstunden hinein fort. Ich glaube, er hielt sich für einen einsamen Intellektuellen, auf seine alten Tage. Wenn er dann nachts ins Schlafzimmer kam, war er meistens betrunken. Auch nicht gerade förderlich für eine glückliche Ehe! Werner missbrauchte den Alkohol als Schluckimpfung gegen Langeweile und Bedeutungslosigkeit.

Als in unserer Tageszeitung die Lesung einer regionalen Autorin angekündigt wurde, die im Selbstverlag ihre Lebenserinnerungen veröffentlicht hatte, und ich Werner fragte, was er davon hielte, sich das einmal gemeinsam anzuhören, da winkte er bloß unwillig ab: „Das ist doch uninteressant! Wenn es eine Veranstaltungsreihe gäbe ,Dichter an der Flasche – betrunkene Autoren lesen vor‘ – ja, da würde ich sofort mitgehen!“

Werner ging mir zunehmend auf die Nerven. Und schlimmer noch: Zwischen uns begann Gleichgültigkeit zu wuchern wie ein Schimmelpilz. Eines Abends jedoch fand ich auf meinem Kopfkissen einen handgeschriebenen Zettel, auf dem er in krakeliger Schrift notiert hatte:

Liebe mich, wenn ich’s am wenigsten verdient hab;

weil ich’s genau dann am nötigsten brauche.

Das fand ich irgendwie rührend, aber an seinem Verhalten änderte sich absolut nichts. Ganz im Gegenteil. Werner soff und las, machte seine Sprüche und war praktisch in sich selbst versunken. Wir kannten uns nicht mehr. Wir waren uns fremd geworden. Und diese Fremdheit drohte unsere alte Liebe endgültig zu erdrosseln. Das wollte ich verhindern.

Na ja, und dann, ohne dass ich zuvor irgendetwas Konkretes geplant hätte, ging plötzlich alles ganz schnell. Eines Nachmittags beschloss Werner nämlich, ein Bad zu nehmen. Nachdem er zuerst sich und dann die Badewanne hatte volllaufen lassen, griff er ein Buch und legte sich in das angenehm heiße Wasser, um zu lesen und zu entspannen.

Durch die halbgeöffnete Badezimmertür sah ich, dass Werner eingeschlafen war. Das Buch war seiner Hand entglitten und gerade dabei, im Schaum zu versinken. Werners Kopf unter Wasser zu drücken, erforderte so gut wie keine Kraftanstrengung. Von Gegenwehr keine Spur. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass Werner sich vielleicht schon im Jenseits befand, bevor ich das Badezimmer betreten hatte. Kann doch sein! Eines ist gewiss: Ich habe es aus Liebe getan. Denn die Liebe ist die einzige Wahrheit. Und der Wahrheit fühle ich mich verpflichtet.

Morgen ist die Beerdigung. Ich bin ja nun auch schon bald fünfundsiebzig. Auf dem Friedhof werde ich mich wahrscheinlich fragen, ob es sich überhaupt noch lohnt, wieder nach Hause zu gehen.

Surwold, 18./19. März 2020

(Vielen Dank, Uwe Lischper, für die Überschrift!)

TEE MIT TÖDLICHER DORIS

Wenn du lange genug in einen Abgrund schaust, schaut der Abgrund irgendwann zurück, direkt in dich hinein. (Friedrich Nietzsche)

Als der Redaktionsleiter der Ostfriesischen Rundschau mich in sein Büro bat, da schwante mir nichts Gutes. Hab ich irgendetwas Verkehrtes geschrieben? Hat womöglich ein Geschäftsmann wieder einmal meinetwegen sämtliche Anzeigenaufträge storniert? Ich war mir keiner Schuld bewusst.

„Sie haben sich ja schon öfter als Reporter für besondere Aufgaben qualifiziert, Kollege“, schmeichelte der Chef. Nach einer Rüge hörte sich das erst mal nicht an. Dennoch blieb ich misstrauisch. „Erinnern Sie sich an die Agenturmeldung neulich zum Thema Weibliche Gewalt- und Mordphantasien? Kurioserweise betrifft das besonders die älteren Semester. Also schreiben Sie mir was Griffiges zum Thema Mörderische alte Frauen. Alles klar, Kollege?“

„Ja, ja, alles klar“, murmelte ich, indem ich einigermaßen verwirrt an meinen Schreibtisch zurückschlich. Soviel ich auch suchte, eine solch skurrile Agenturmeldung konnte ich beim besten Willen nicht ausfindig machen. Aber egal, Auftrag ist Auftrag.

Nach etlichen Telefonaten und mindestens ebenso vielen Mails lernte ich Doris kennen, sie war achtundsiebzig Jahre alt. Ich war froh, dass sie sich bereit erklärte, mir von ihren Dämonen zu erzählen. Es ging ihr, das betonte sie immer wieder, weniger um ihre Selbstdarstellung als vielmehr darum, dass andere Frauen aus ihren Versäumnissen lernen sollten. Was immer das heißen sollte.

Sie lebte allein in ihrer einsam gelegenen Kate, mitten im ostfriesischen Moor, etwa fünf Kilometer von Aurich entfernt. Nur ein alter, räudiger Kater mit dem wohlklingenden Namen Scheika leistete ihr ab und zu Gesellschaft. Als ich wie beiläufig, um das Gespräch unverfänglich in Gang zu bringen, nach der Bedeutung dieses exotisch klingenden Tiernamens Scheika fragte, da sagte Doris, indem sie eine wegwerfende Handbewegung andeutete: „Ach, nichts Besonderes! Scheika, das heißt einfach nur Scheißkater!“

Lübbert, ihr Mann, hatte sie nach fast vierzig Jahren Ehe, vor etwa drei Jahren verlassen, wegen einer Jüngeren. Das hatte ihr aber nichts ausgemacht, ganz im Gegenteil. Sie war froh, nun endlich ihre Ruhe genießen zu können. Denn Lübbert war ein selbstherrliches Großmaul, ein Ekel, ein Tyrann, der auch vor brutaler Gewalt nicht zurückschreckte, besonders, wenn er getrunken hatte. So war es von Anfang an. Längst hatte sie jeglichen Kontakt zu dem Mann, mit dem sie mehr als ihr halbes Leben verbracht hatte, verloren. Sie hatte keine Ahnung, wo er jetzt lebte, und sie wollte es auch nicht wissen, so erzählte sie.

Nein, eine Liebesheirat war das damals nicht, eher ein Zweckbündnis. So war das früher in ihrem Dorf. Man fügte sich und funktionierte. Sie kannte es nicht anders. Ganz zu Beginn hatte sie insgeheim noch gehofft, dass aus länger währender Nähe so etwas wie Liebe entstehen könnte. Aber so geschah es nicht. Und so verwandelten sich ihre bescheidenen Wünsche langsam, aber stetig in Enttäuschung und Bitternis und schließlich in Wut und Hass.

Ob sie denn jemals daran gedacht hätte, ihren Mann Lübbert aus dem Weg zu räumen oder zumindest für seine fiesen Gemeinheiten und ständigen Gewaltausbrüche in irgendeiner Weise hart zu bestrafen, so fragte ich sie immer wieder. Aber sie ging nicht auf meine Fragen ein. Stattdessen schwärmte sie mir etwas vor vom rauen Charme der ostfriesischen Landschaft, vom ewigen Wind, von der unendlichen Weite, von der Nähe des Meeres. Wenn die Sonne schien, so erzählte sie, dann saß sie oft lange gedankenversunken vor ihrer Kate, schlürfte ihren Tee, den sie streng nach alter ostfriesischer Tradition zubereitete, und genoss die wohltuende Stille, die nur ab und zu durch den heiseren Ruf einer Dohle oder den schrillen Schrei einer Elster unterbrochen wurde. Das zeitweilige Rauschen des Windes in der Kiefer vor ihrem Häuschen erinnerte sie beruhigend an ihre unbeschwerte ostfriesische Kindheit. Früher wäre es ihr kaum möglich gewesen, so still und angstfrei in sich hineinzuhorchen, denn da dominierte das aggressive Gepolter und das bösartige Geschrei ihres prolligen Ehemannes Lübbert die engere Umgebung.

Hatte ich zu Beginn meiner Bekanntschaft mit Doris noch geglaubt, eine authentische Quelle für meine Recherchen gefunden zu haben, so sah ich jetzt die Substanz meines geplanten Artikels unaufhaltsam dahinschwinden. Zweimal hatte ich Doris in ihrer Einsiedelei besucht, ohne es jedoch zu schaffen, ihr irgendwelche finsteren Rachegedanken zu entlocken. Ein wenig hatte ich den Eindruck, als bereute sie ihren anfänglichen Entschluss, mich an ihrer Gedankenwelt Lübbert betreffend teilhaben zu lassen. Dennoch wollte ich es noch ein letztes Mal versuchen. Außerdem waren mir die alte Dame und ihr struppiger Kater doch ein wenig ans Herz gewachsen. Als ich bei ihr ankam, hatte sie schon Tee für uns zubereitet. Ich hatte frisches Gebäck mitgebracht. Doch Doris machte einen etwas unglücklichen Eindruck auf mich.

„Was ist denn los“, fragte ich sie, „stimmt irgendetwas nicht?“

„Ach wissen Sie, die Wespen, die ärgern mich schon den ganzen Tag. Vorhin hat mich sogar eine gestochen. Und was das Schlimmste ist: ich glaube, sie haben ihr Nest im Haus.“

„Ich schau mal nach“, sagte ich. Aber das passte der alten Dame offensichtlich überhaupt nicht. „Nein, nein, lassen Sie mal! Ich komm schon zurecht. Machen Sie sich nur keine Mühe, junger Mann. Kommen Sie doch! Lassen Sie uns eine schöne Tasse Tee zusammen trinken!“

Ihre Einladung vorerst ignorierend, ging ich ins Haus. Schnell stellte ich fest: Die gelb-schwarzen Plagegeister kamen aus der Nische, wo der alte Stangenherd seinen Platz hatte. Andere verschwanden dort. Ein ständiges Kommen und Gehen. Das Mauerwerk hinter dem Herd war alt und brüchig. Bei näherer Betrachtung fand ich das Schlupfloch der Wespen in einer Lehmfuge.

„Ich bitte Sie, kommen Sie da weg“, rief Doris ganz aufgeregt, „das ist doch gefährlich!“

Aber da hatte ich schon den ersten losen Ziegelstein seitlich vom Schlupfloch herausgezogen – und noch einen. Ich wollte an das Nest heran. Ich konnte die alte Frau doch nicht mit diesen wilden Biestern alleine lassen.

Mit dem dritten Stein fielen mir polternd und dicke Staubwolken aufwirbelnd ganze Teile des Mauerwerks entgegen. Ein großes Loch klaffte jetzt in der Wand. Ich hatte wohl den Kaminschacht freigelegt. Zuerst war nichts zu erkennen, nur langsam legte sich der Staub. Der Schacht erschien mir riesig, viel zu groß für so eine kleine Hütte. Wo war denn nur dieses verfluchte Wespennest?

„Haben Sie mal eine Taschenlampe?“ fragte ich.

Indem Doris einen tiefen Seufzer ausstieß, der gleichermaßen nach Resignation und Erleichterung klang, reichte sie mir eine alte, schon etwas angerostete Stablampe. Was ich nun im Lichtkegel der alten Leuchte erblickte, war allerdings kein Wespennest, sondern ein menschliches Skelett, das zusammengesunken auf dem Boden des Schachts hockte.

„Um Himmels willen, was ist das denn?“ schrie ich voller Entsetzen.

„Das ist Lübbert“, sagte Doris mit ruhiger Stimme. „Mögen Sie noch eine Tasse Tee?“

Surwold, 25.– 28. März 2020

— REZEPT —

Ostfriesentee gefahrlos zubereiten

Dass Fehler bei der ostfriesischen Teezeremonie zuweilen auch tödlich enden können, habe ich schon in meiner Geschichte „Keine Gnade für die Kreyenborgs“ (in meinem Buch „Musik liegt in der Gruft“) eindrücklich beschrieben. Um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden, empfiehlt es sich, die folgenden zehn Regeln genau zu beachten (wat mutt, dat mutt):

Echte Ostfriesenmischung (von Bünting, Thiele oder Onno Behrends) ins Tee-Ei geben – einen kleinen Teelöffel pro Person.

Mit sprudelnd heißem Wasser übergießen, vier Minuten ziehen lassen.

Ostfriesentee wird immer im Sitzen getrunken, niemals stehend!

Zuerst ein paar Brocken Kluntje (Kandiszucker) in die Tasse, dann Tee dazugießen. Es muss knistern.

Keinen Alkohol in den Ostfriesentee!

Die Sahne am Tasseninnenrand entlang mit dem Rohm-Lepel (Rahmlöffel) gegen den Uhrzeigersinn (die Zeit anhaltend) in die Tasse träufeln. Die aufsteigenden Wulkjes (Wolken) beobachten, dann trinken.

Schlürfen ist übrigens ausdrücklich erlaubt!

Niemals umrühren!

Nur die Gastgeberin ist berechtigt, Tee nachzuschenken! Zuwiderhandlungen werden mit Nichtwiedereinladung geahndet.

Drei Tassen sind das Minimum. Wer keine vierte Tasse möchte, steckt den Löffel als Zeichen der Sättigung in die Tasse.

Ofwachten un Tee drinken!

AUS DER KLAUS!

Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

Niemand!

Und wenn er kommt?

Dann laufen wir!

(Kindervers)

Die Aufregung war groß, nachdem im Papenburger Stadtpark ein schwarz vermummter Unbekannter nun schon zum wiederholten Male kleine Kinder erschreckt hatte. Zuerst hielten manche Eltern die Angelegenheit noch für einen missglückten Streich, einen üblen Scherz, doch die Reihe der Vorkommnisse wollte einfach nicht abreißen. Immer wieder sprang der Kinderschreck unvermutet hinter Büschen, Bäumen und Spielgeräten hervor, wobei er grunzende Laute ausstieß und die entsetzt davonrennenden und vor Angst schreienden Kinder in gebückter Haltung ein Stück weit verfolgte, ehe er sich wieder unerkannt zurückzog. Offensichtlich hatte der Vermummte es besonders auf kleine Mädchen zwischen sechs und zwölf Jahren abgesehen. Angetan hatte er ihnen bisher allerdings noch nichts. Dennoch war die Geduld der betroffenen Eltern verständlicherweise sehr schnell am Ende.

Das ging so zwei, drei Wochen lang. In der Ems-Zeitung erschienen nun regelmäßig Artikel über das Phantom vom Stadtpark