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Ein Gott ist niemandem Rechenschaft schuldig. Er gibt oder nimmt. Er ist mächtig und erhaben. Er ist das Licht oder die Dunkelheit. Leben oder Tod. Hoffnung und Verzweiflung. Alles und nichts. Überall und nirgendwo. Ich aber bin ein Mensch. Doch wer bin ich? Momentan hat meine Meinung ein unumstößliches Gewicht. Die meisten wagen nicht, mir zu widersprechen. Ich bin in eine Situation geraten ... unverschuldet und unbeabsichtigt. Andere würden sagen, ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Aber ob es wirklich richtig ist, dass ich hier bin? Wo soll ich bloß anfangen? Habt ihr eine Ahnung, wie es ist, ein Gott zu werden? Nymnos, ein Ausgestoßener und Verbannter, begegnet auf seiner Exilreise einem Volk, das ihm beibringt, was Vertrauen, Verehrung, Aufopferung, Eifersucht und Freundschaft bedeutet.
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Seitenzahl: 414
Veröffentlichungsjahr: 2025
Savannenherz
Savannenherz
Rymur oddi Dynyol
Impressum
© 2025 Rymur oddi Dynyol
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH
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22926 Ahrensburg
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Raphael Wendling-Rollmann (als Rymur oddi Dynyol)
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Namenlos
Angenommen, ich bin ein Gott. Habt ihr eine Ahnung, wie es ist, einer zu sein? Glaubt ihr denn, dass ich einer bin?
Ich bin ein Mensch. Doch momentan hat meine Meinung bei einem Savannenvolk ein unumstößliches Gewicht. Die meisten ihrer Angehörigen wagen nicht, mir zu widersprechen. Ich bin hier in eine Situation geraten … unverschuldet und unbeabsichtigt. Andere sagen, ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Aber ob das gut war? Wo fange ich an?
Ich kam aus dem südlichen Reich und reiste durch die Welt. Nicht freiwillig, versteht sich. Ich wurde aus meiner Heimat verbannt. An dessen nördlicher Grenze wurde ich ausgesetzt und bin nach Norden gewandert, durch einen unendlichen Wald, der zu meiner großen Freude ein Ende hatte. Jenseits des Waldes, den nie jemand durchquert hatte, durchschritt ich die Weiten einer Savanne. Das war der schlimmste Teil meiner Exilreise – obwohl ich bis dahin geglaubt hatte, der Wald sei grauenhafter. Ich litt oft Hunger und Durst. Ehrlich gesagt, weiß ich heute nicht mehr, wie ich das überlebte. Ich habe nicht nachgedacht, war immer weiter und weiter gewandert und hatte die Qualen aus meinen Gedanken verbannt.
An einem der ungezählten heißen Tage in der weiten trockenen Ebene kam ich an einer kleinen Schlucht vorbei – ein Erdriss. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sich die Landschaft in die felsige Gestalt wandelte. Ich suchte nach Wasser, um meiner ausgetrockneten Kehle das Gefühl zu geben, am Leben zu sein. Den Hunger verdrängte ich, bis er übergangen war. Menschen kamen lange ohne Nahrung aus, aber nicht ohne Wasser. Dass es nicht schlau war, am Rand einer Klippe nach Wasser zu suchen, leuchtet mir heute ein. Damals war mein Verstand von der Sonne weggebrannt.
Als ich den Abgrund entlangschritt, vernahm ich ein seltsames Röhren. Ich folgte dem Geräusch, von dem ich dachte, dass es ein sterbendes Tier sei, was für mich Essen bedeutete. Ich hoffte auf ein kleines, schwaches oder krankes Gnu oder etwas ähnliches, was eine willkommene Abwechslung und ein Segen gewesen wäre. Das Fleisch hätte mich gesättigt, das Blut meinen Durst gelöscht. Ich weiß, ekelhaft, aber in Extremsituationen macht man einiges, das man sonst nie machen würde.
Ich ahnte ja nicht, was oder wen ich entdeckte. Nichts hätte mich darauf vorbereitet. Es war ein Löwenjunges – glaubte ich zuerst – das zu nah am Abgrund gespielt hatte und hinunter auf einen Felsvorsprung gefallen war. Von dort aus war es nicht mehr in der Lage, hinaufzuklettern. Dazu waren die Wände zu steil. Das helle Röhren und Fiepsen war eine Art Hilferuf. Es erschrak, als es mich entdeckte, und erstarrte. Misstrauisch betrachteten wir einander, bis es aufstand und sich auf die Hinterbeine wie ein Mensch stellte! Es streckte seine Arme nach mir aus und flehte mich herzzerreißend an, ihm zu helfen.
Ich war ... überrumpelt? Nicht nur, dass es aufrecht stand, nein, es sprach! Ich weiß bis heute nicht, warum Menschen und Leoniden eine ähnliche Sprache besitzen. Das gehört zu den Geheimnissen der Welt.
Als mich das kleine Ding mit Tränen in den Augen um Hilfe bat, brach meine Starre zusammen und ich entschloss mich, zu helfen. Denn wenn es hier war, gab es andere seiner Art. Vielleicht waren sie ja so freundlich, mir ein wenig Proviant für die Rettung eines ihrer Angehörigen zu schenken. Dass ich in dieser Situation überhaupt so weit dachte, grenzte an ein Wunder, so ausgezehrt wie ich war.
»Warte dort«, krächzte ich trockenen Halses und trat so nahe an den Abgrund, dass mir schwindelig wurde. Ich legte mich flach auf den Bauch und streckte den Arm nach dieser seltsamen Kreatur aus. Nur wenige Zentimeter trennten seine Pfote von meiner Hand. Verzweifelt sprang das Kleine plötzlich hoch.
»Nicht!«, rief ich, doch es war zu spät. Es verlor auf dem schmalen Podest das Gleichgewicht und stürzte in den Abgrund. Nur durch seine schnelle Reaktion hielt es sich in letzter Sekunde fest, hing jetzt hilflos da unten und schluchzte.
Zuerst wusste ich nicht, was zu tun war. Ich kam zwar auf die Idee nach seinen Leuten zu suchen und sie herzubringen, doch so lange hielt sich das Junge nicht. Vorsichtig kletterte ich deshalb die Steilwand hinunter. Obwohl es nur wenige Meter waren, kam es mir schrecklich tief vor, bis ich endlich den Felsvorsprung erreichte. Anders als auf der Klippe konnte ich mich hier nicht flach hinlegen. Ich kniete nieder und streckte den Arm so weit wie möglich.
»Nimm meine Hand! Schnell!«, blaffte ich. Sofort hatte sich das Kleine festgekrallt und zog sich selbst hoch. Voller Angst stieß es seine Krallen in mein Fleisch, um nicht abzurutschen. Ich schrie auf. Mehr aus Überraschung, denn vor Schmerz.
Ich zog es hoch, es sah mich mit schreckgeweiteten Augen an. »Kletter' auf meinen Rücken«, sagte ich. Hastig änderte es seine Position und kraxelte dorthin, wo es mich sofort mit Armen und Beinen umklammerte. »Halt dich fest!«
Ich kletterte denselben Weg hinauf, den ich herunter gekommen war. Der Aufstieg gelang schneller und innerhalb einer Minute waren wir oben. Völlig außer Atmen zog ich mich über die Kante und blieb erschöpft auf dem Boden liegen. Das kleine Wesen sprang von mir weg und rannte davon. Ohne ein Wort des Dankes ließ es mich zurück.
»Warte!«, rief ich hinterher, doch entweder hörte es mich schon nicht mehr oder es ignorierte mich. Bald war es im hohen Gras verschwunden. Ich war nicht verärgert, dazu fehlte mir die Kraft. Dennoch wurmte es mich, dass es mir nicht mal gesagt hatte, wo das nächste Wasserloch oder ein Platz zum Ausruhen war. Mein einziger Anhaltspunkt war die Richtung, in die es sich davongemacht hatte.
Lange Stunden später, nach einer weiteren schrecklichen Wanderung ohne Verstand und Bewusstsein, brach ich zusammen. Meine Reiseutensilien lösten und verteilten sich auf dem Boden. Die tragenden Lederriemen hatten sich im Verlauf der letzten Tage gelockert, ohne dass ich mir die Mühe machte, sie wieder festzuzurren. Ich hatte womöglich schon andere Sachen verloren, es aber nicht bemerkt. Das letzte Geräusch, das ich hörte, war der Gong, als mein kleiner Kochtopf gegen einen Stein rollte. Dann umfing mich Dunkelheit.
Als ich aufwachte, aber noch nicht die Augen öffnete, glaubte ich, das Erlebnis mit der vermenschlichten Löwenkreatur sei eine Ausgeburt meines erschöpften Verstandes gewesen. So etwas Bescheuertes fiel nur mir ein. Ich war schon immer der Phantast in der Familie. Ein Grund, weshalb man mich oft gemieden hatte. Meine Leute waren ein Haufen purer Realisten, für die alles beweisbar sein musste, weil es sonst nicht existierte. Meine Schwestern sind mir gegenüber tolerant geblieben, hatten mich aber nicht selten nur mit ausgestreckten Armen angefasst. Zugegeben, meine Phantasien war bizarr. Wobei dieser Traum hier alles Bisherige übertraf.
Ein menschlicher Löwe. Was für ein Blödsinn.
Weil es nichts nützte, entschied ich mich schwerfällig dazu, die Augen endlich aufzumachen. Ich erwartete einen hellblauen Himmel gespickt mit der gnadenlos sengenden Sonne, die mir die Haut verbrutzelte. Umso überraschter war ich, als ich eine Zeltplane aus grob gewobenem Stoff entdeckte, die sich über mein Blickfeld spannte. Ich sah mich um, bis ich über die geknüpften Teppiche, Krüge, Verzierungen und viele andere Dinge hinweg auf einem niedrigen hölzernen Tisch Brot, Fleisch und eine Schale mit Wasser entdeckte, die ich gierig fixierte. Ich kämpfte mich aus meiner Paralyse empor und zu dem Tisch hin, der einen Meter entfernt neben mir stand. Mein Magen sprang grummelnd hin und her. Ich verlor keine Zeit, stopfte das leckere Mahl in mich hinein und würgte es kaum gekaut herunter. Es war eine Geschmacksexplosion! Selbst fürstliche Speisen hätten das hier nicht übertrumpft. Es war göttlich!
Erst nachdem ich satt war, stellte ich mir die Frage, wo ich mich befand? Ich brauchte ein paar Momente, um mich dazu durchzuringen, aufzustehen und nach draußen zu schleichen. Zwar war ich schaulustig, aber ein Teil von mir wollte nicht hinsehen. Denn wenn es ein Traum war, wachte ich bestimmt in dem Moment auf, in dem ich das Zeltverdeck zur Seite schlug. Umso erstaunter war ich, ein Dorf aus Zelten sowie Ställen aus Pfählen mit Strohüberdachung zu entdecken, in denen seltsame kleine Vögel gehalten wurden. Ich schaute auf einen großen Platz, in dessen Mitte eine Art Totem stand. Doch das war nicht der Grund, weshalb ich staunte. Als ich einen kleinen Schritt heraustrat, sah ich in ein Löwengesicht, dessen Besitzer drei Meter entfernt von mir stand. Das Gesicht starrte zurück. Verdammt! Das war doch kein Traum gewesen! Der hier war um einiges größer als das Junge. Hilfe!
Es schrie auf, dass es mir in den Ohren wehtat, und alle anderen auf dem Platz in unsere Richtung sahen. Viele Augenpaare richteten sich auf mich. Ich kam mir vor wie auf dem Präsentierteller. Ein paar entfernten sich hastig, liefen durch das Zeltdorf und riefen: »Er ist wach! Er ist wach!«
Wie sollte ich reagieren? Ich war inmitten des Dorfes dieser seltsamen Wesen. Wenn sie nur halb so kräftig und flink waren wie echte Löwen, dann hatte ich keine Chance zu entkommen. Mutig schritt ich auf sie zu, misstrauisch wurde ich observiert. Als ich bei dem mir nächst Stehenden ankam – ich glaube, es war ein Mann, der buschigen und dichten Mähne nach zu urteilen – hob ich die Hand und grüßte ihn mit einem beklommenen »Hallo«. Seine Augen weiteten sich und ich war mir nicht sicher, ob er mich nicht gleich anfiel und das Genick brach. Stattdessen fiel er auf die Knie und rief: »Er hat zu mir gesprochen!« Nach ihm knieten die anderen vor mir im Gras.
Wenig später saß ich im Zelt des Anführers dieses merkwürdigen Volkes. Allein. Es war geräumig und großzügig mit allerlei Utensilien eingerichtet. Von der Zeltdecke hing ein Gebilde herab, das einem Traumfänger nicht unähnlich sah. Die Stoffwände waren mit Bildern verziert, für die ich keinen Blick hatte.
Wo war ich? Was passierte jetzt? Was wollten diese halb-menschlichen, halb-tierischen Wesen von mir?
Es dauerte nicht lange, da trat jemand durch das Zeltverdeck ein, der eine hohe Stellung innehaben musste, denn er trug ein verziertes Leibchen, das mit einem ledernen Gürtel über seinen Schultern gehalten wurde. Sein ganzer Körper war bemalt oder gar tätowiert und die Mähne mit unzählbaren dicken und dünnen Zöpfen verziert, die mit Perlen an ihren Enden zusammengehalten wurden. Nach ihm trat eine Frau ein, zu erkennen an ihrer fehlenden Mähne und dem großen auffallenden Ohrschmuck. Sie trug ebenfalls ein Leibchen, aber es war schmucklos, und um den Hals hingen ein Dutzend Halsbänder und Ketten, die ihre unbedeckte Brust betonten.
Wir betrachteten uns gegenseitig eine Weile abschätzend. Ich traute nicht, mich zu bewegen. Es war eine unangenehme Situation. Nach dem Aufruhr, den ich draußen verursacht hatte, fühlte ich mich in die Enge gedrängt.
Die beiden verbeugten sich und der Mann sprach mit kräftiger, dunkler Stimme: »Ich danke dir, Araksch. Du hast meinen Sohn gerettet.«
»Wir stehen tief in deiner Schuld«, ergänzte die Frau demütig.
Stille.
Niemand bewegte sich oder gab einen Mucks von sich. Ich sah zwischen ihnen hin und her.
»Ä-ähm ...«, stammelte ich unbeholfen.
Wer war Araksch?
Da ich nicht wusste, wie ich antworten sollte, rückte ich gleich mit der Wahrheit heraus. »Ich weiß nicht, für wen ihr mich haltet, aber mein Name ist Nymnos«, sagte ich zögerlich.
Ich wusste nicht, wie sie reagierten, wenn ich ihre Vorstellung von wem auch immer zerstörte. Opferten sie mich dann oder verputzten sie mich zum Frühstück? Aber lügen war nicht drin. Ich hatte jede Menge Mist genau dadurch in meinen Leben angestellt, doch nie für jemand anderen ausgegeben.
Sie sahen einander verunsichert an. Er musterte mich skeptisch, sie senkte ihr Haupt und sagte tief berührt: »Nur die wahren Götter sind bescheiden! Du bist einer von ihnen!«
Ein Gott? Sie hielten mich für einen Gott? Mist! Wie kam ich denn da wieder raus? Ich versuchte, ihnen klarzumachen, dass ich ein Mensch war. Nichts weiter. Doch je mehr ich gegen ihre Annahme argumentierte, desto überzeugter schien sie, dass ich dieser Araksch-Gott sei. Er hingegen zweifelte. An Ende platzte mir der Kragen.
»Ich bin kein Gott!«, sagte ich, fasste die Frau bei der Schulter und zwang sie, ihre Verbeugung zu unterbrechen. Sie sah mich mit großen Augen an.
»Ihr müsst Euch nicht vor uns fürchten, Ehrgebieter. Wir sind Eure Diener und Untertanen«, sagte sie gehetzt abwiegelnd.
Hilfesuchend sah ich zu dem Leoniden. So nannte ich sie spontan, mir fiel nichts Besseres ein. Ich trat einen Schritt zurück und wiederholte kopfschüttelnd: »Nein, nein. Ich bin kein Gott. Ich bin ein Mensch.«
Der andere erhob sich; er überragte mich stehend um mindestens eineinhalb Köpfe. Er legte seine schwere Tatze auf meine Schulter und sah mich mehrere schweigende Momente an, bevor er fragte: »Du sagst die Wahrheit?«
Ich nickte fast unmerklich.
»Hm«, machte er. »Dann danke ich dir trotzdem, Nymnos. Aber was sind Mensch?« Er kannte die Mehrzahl nicht.
Sie stellten sich als Ranogg und Klý vor und offenbarten mir eindringlich, dass ich für ihr Volk ein Gott war. Zu viele hatten mich gesehen. Sie erklärten mir, eine lange Mähne sei Zeichen von hohem Stand. Nun, wie soll ich sagen? Ich habe nie viel vom Haare schneiden gehalten. Ich schor sie mir bloß, damit sie in Form blieben. Mehr nicht. Dementsprechend lang waren sie. Sie reichten mir bis knapp über die Schulterblätter. Wegen meiner langen Exilreise ohne jegliche Annehmlichkeiten sahen sie zerzaust und strubbelig aus. Wie eine Löwenmähne eben. Das hatte Eindruck hinterlassen. Während ich bewusstlos war, hatte ihr Medizinmann mich untersucht und mehrere Rituale an mir vollzogen. Er will festgestellt haben, dass ich göttlicher Abstammung war.
Wir einigten uns darauf, vorerst nichts von meiner wahren Herkunft zu verraten. Ich blieb für den Moment in ihrem Dorf, da ich kein wirkliches Ziel hatte und sie mir freundlich gesonnen schienen. Ein mulmiges Gefühl in der Magengegend blieb zurück. Vor seinem versammelten Volk stellte Ranogg mich als Mensch gewordener Gott Nymnos vor.
»Kaum einer von euch kennt ihn, weil er zu den alten Göttern gehört, die vor den Erdgöttern regierten. Er wandelt über die Erde auf der Suche nach einer neuen Heimat und bat mich, hierbleiben zu dürfen. Seid ihr damit einverstanden?«, rief er und der größte Teil der Leoniden stimmte begeistert zu. Ein paar schienen nicht überzeugt, so als wüssten sie von der Lüge. Erst später erfuhr ich, dass sie keine Ahnung davon hatten und ebenfalls an meine fingierte Göttlichkeit glaubten. Ihre Probleme galten ihrem Häuptling.
Ich war verschüchtert, genauso wie viele Leoniden. Ein paar hatten keine Berührungsängste und hießen mich mit einer festen Umarmung willkommen, was mir den Erstkontakt erleichterte. Ich glaube, das war das erste Mal seit langem, dass ich gelächelt habe.
Sie stellten mich den wichtigsten Leoniden der Gemeinschaft vor. Als Letzter trat einer hervor, der sich deutlich von allen abhob. Ein breiter Berg, sein Gesicht weiß gefärbt mit schwarz umrandeten Augen und Lefzen.
»Das ist Ku’papa«, sagte Ranogg, der neben mir stand. Er legte eine Tatze zum Gruß auf seine Stirn, dann auf die Brust. »Er ist unser Medizinmann und hat dich als Gott erkannt.«
Ku’papa erwiderte Ranoggs Gruß und wandte sich dann an mich. Er entblößte sich abrupt, trat wenige Zentimeter vor mich und kniete. Zischend streckte er mir seine Zunge entgegen, wirbelte den Kopf zwei Mal von links nach rechts, nahm meine Hand und biss hinein. Ich schrak zurück, als der leicht stechende Schmerz meinen Arm durchzuckte. Er ließ mich ohne Gegenwehr los, erhob sich und stapfte dann ohne ein Wort davon. Ein bisschen Blut troff auf den Boden. Die Wunde war nicht der Rede wert und tat nicht mehr lange weh. Trotzdem wusste ich von dieser Aktion nichts zu halten.
»Er trinkt das Blut jedes Stammesmitglieds oder Besuchers«, erklärte Ranogg. »Nur so wissen wir, wer das Böse in sich trägt und wer nicht. Er wäre gestorben, wenn dein Blut schlecht wäre.«
Eine interessante Vorstellung, aber ob das half, die Guten von den Bösen zu trennen, bezweifelte ich.
Danach waren Ranogg und Klý so gastfreundlich mich vorläufig aufzunehmen. Ihr Zelt war zweckbedingt eingerichtet. Die wenigen Möbel und Regale waren dazu da, allerlei Utensilien zu verstauen – anders als zu Hause, wo sich manche Leute Möbel nur zur Zierde in den Raum stellten. Die Pfähle, die das Zelt aufrecht hielten, waren safrangelb gestrichen. An jedem stachen Bolzen oder Nägel heraus, an denen Werkzeuge, Kleidung, Schmuck und weitere wundersame Dinge hingen. Die einzigen Verzierungen waren die vielen Bilder im Zeltstoff, die Jagdszenen zeigten. Der Boden war, bis auf die Sitz- und Schlafplätze, kahl und von Gras befreit. In der Mitte war eine Feuerstelle, über der auf einem kompliziert aussehenden Gerüst ein großer Topf aus Ton kochte. Die Luft war erfüllt von würzigem Essensduft. Ich hatte riesigen Hunger.
Das Leonidenjunge, das ich gerettet hatte, saß ungeduldig im Zelt und wippte hin und her. Es war Ranoggs und Klýs Sohn. Sein Name war Darrá. Ich hatte ihn nicht erwartet, weil er sich in den vergangenen Stunden versteckt hatte. Er begrüßte mich nicht und während des von Klý schmackhaft serviertem Gericht, das mir vollkommen neu war und ungewohnt intensiv schmeckte, blieb er befangen.
Der Junge verbarg sich bei seinem gewaltig großen Vater und schielte immer wieder hinter dessen Schulter hervor. Wenn er glaubte, dass ich ihn nicht sah, beobachtete er mich neugierig. Ich fand es amüsant und spielte ein kleines Spielchen mit ihm. Ranogg und Klý bemerkten es und ließen uns für den Moment gewähren.
Sie taten sich ein schwer, ein Gespräch anzufangen. Ich konnte mir nicht annähernd vorstellen, was in ihnen vorging. Mir ging es umgekehrt nicht anders.
Wir belauerten einander und warteten auf eine Reaktion. Kinder waren unkomplizierter, wie Darrá mir auf – im wahrsten Sinne – umwerfende Art bewies.
In einem unbedachten Moment hatte er vergessen, sich zu verstecken, und greinte belustigt auf, als ich ihn angrinste. Im Handumdrehen kletterte er auf seinen Vater und sprang mich von dessen Kopf aus ins Gesicht an. Er umklammerte meinen Nacken und knabberte an den zerzausten, fettigen Haaren herum. Ich lachte auf, seine Eltern waren empört.
»Darrá! Sofort runter von ihm!«, fauchte Klý, Ranogg grollte tief.
Keine zwei Sekunden später ließ Darrá mich los und ging maulend auf seinen Platz. Er setzte sich und sah mich an, als hätte ich Schuld an dem Ärger.
»Bitte entschuldige«, sagte Klý. »Manchmal kommt das Jagdblut in ihm hoch.« Das war ein Ausdruck für: Er war sehr wild.
Ich war zwar ein bisschen verwundert über Darrás Reaktion, verzieh ihm aber den Überfall. Ich hatte es provoziert. Doch sein Gesicht! So griesgrämig! Anstatt Klý ordentlich zu antworten, lachte ich laut los. Das verstand Darrá als Beleidigung und plusterte seine Backen wie ein Frosch auf. Dann drehte er den Kopf eingeschnappt von mir weg.
Ich unterdrückte den Impuls, weiter zu lachen, obwohl mir das nicht leicht fiel. Stattdessen entschuldigte ich mich stockend bei ihm und erklärte, dass ich ihn nicht auslachte.
Ranogg und Klý sahen verwirrt drein, weil ich vor ihrem Sohn um Gnade bat.
»Du hast so trotzig geguckt, das fand ich lustig«, sagte ich.
Darrá blieb beleidigt und verschränkte die Arme wie eine kleine Prinzessin. Wenn er so weitermachte, polterte ich erneut los und war endgültig bei ihm unten durch.
»Ich will dich nicht in Schwierigkeiten bringen, ehrlich. Wenn dein Vater dich bestraft, mache ich es wieder gut. Versprochen«, bot ich an, was sein Interesse weckte. Er musterte mich herablassend wie ein arroganter König und nickte.
»Du musst morgen Dreckball mit mir spielen.«
»Darrá!«, echauffierte sich Klý über die Forderung ihres Sohnes.
Bevor Darrá etwas erwiderte, sagte ich: »Ich habe deinem Kind Probleme bereitet. Ich bin schuld und dafür stehe ich gerade. Wenn das seine Forderung ist, akzeptiere ich sie.«
Sie starrte mich überrumpelt an, während Ranogg sich prustend und auflachend an einem Stück Fleisch verschluckte, hustete und es ausspuckte. »Du hast ihn gehört«, sagte er zu seiner Frau. Dann zu Darrá: »Und du wirst morgen früh den Frauen helfen! Mit Gästen geht man beim Essen nicht wie mit Hyänen um. Danach kannst du ihn abholen.«
Begeistert und wieder sonnenfroh nickte Darrá eifrig, wandte sich mir zu und akzeptierte meine Entschuldigung.
»Du hast keine Ahnung, worauf du dich eingelassen hast«, grinste Ranogg schelmisch. Klý seufzte und schüttelte den Kopf.
Nachdem das Eis des Schweigens gebrochen war, fragten sie mich aus. Wer ich war und woher ich kam oder warum sie nie einen wie mich gesehen hatten?
Ich beantwortete ihre Fragen, so genau ich konnte, und schilderte ihnen die ewig scheinende Reise, auf der ich lange niemandem begegnet war. Seit ich meine Heimat verlassen hatte, waren schon ein paar hundert und mehr Tage vergangen, in denen ich mich in der fruchtbaren Wildnis durchgeschlagen hatte. Die Probleme hatten erst angefangen, als ich die trockene Savanne erreicht hatte.
Im Wald waren ausreichend Wild, Beeren oder andere genießbare Pflanzen gewesen. In kalten Nächten hatte ich Äste gesammelt, Feuer gemacht und überall Wasser gefunden. Sobald sich der Wald lichtete und in die Savanne überging, waren mir zumindest ein paar Gnu- oder Antilopenherden begegnet. Bäche oder kleine Wasserstellen waren rar, aber nicht unauffindbar. Dann entschied ich mich, in die Savanne vorzudringen. Ich hatte Vorsorge getroffen und Vorräte mitgenommen. Nie aber hatte ich damit gerechnet, nach nur zehn Tagen nichts Essbares mehr zu finden. Weder Tiere, noch Pflanzen. Nicht einmal Käfer. Nach drei weiteren Tagen waren alle Vorräte aufgebraucht und ich war in der Situation angelangt, mit der meine Geschichte hier anfing.
So erzählte ich. Zwar hörten mir alle drei aufmerksam zu, aber Ranoggs und Klýs Fragen zielten immer wieder darauf ab, von zu Hause zu erzählen. Wo es war, wie es dort aussah und ob es mehr von meiner Sorte gab? Sie wollten alles über den Ort meiner Geburt erfahren, den ich selbst hasste.
Ich berichtete ihnen mehr gezwungen denn gewollt von dem Reich weit im Süden, wo es nur Menschen gab. Ich erklärte, dass ich in einer Stadt aufgewachsen war. Ihnen aber begreiflich zu machen, was das war, gestaltete sich als schwer, da sie den Begriff nicht kannten. Städte gab es hier nicht.
»Eine Stadt ist eine große Anzahl von Häusern«, versuchte ich mich holprig an einer Definition, vergaß dabei aber, dass sie keine Ahnung hatten, was Häuser waren.
»Häuser? Du meinst Zelte?«, unterbrach mich Ranogg sofort.
»Äh, nein«, entgegnete ich. »Ich meine Häuser. Also … äh …« Ich kam mir vor, als hätte ich Wortfindungsstörungen. »Zelte mit Wänden aus Stein und einem Dach aus Holz und Dachschindeln.«
»Ihr habt Zelte aus Stein … ?«, fragte Klý beeindruckt. Alle drei waren verblüfft.
»Wie groß ist ein Steinzelt?«, fragte Darrá und erleichterte mir die Antwort. Bei ihm musste ich deutlicher antworten, damit er es verstand.
»Jedes Haus hat drei bis vier Räume und es leben fünf bis sechs Personen darin«, antwortete ich so schlicht wie möglich. Es war eine komische Situation. Ich hatte das Gefühl, dass der kleine Leonide mehr verstand als seine Eltern.
»Und wie viele Steinzelte hat eine Stadt?«, fragte er dann.
Das war ebenfalls eine klare und zugleich extrem schwere Frage. Ich hatte keine Ahnung, ab wie vielen Häusern eine Stadt als Stadt galt.
»Das weiß ich nicht genau«, sagte ich ehrlich. »Aber meine Heimatstadt hatte ungefähr zehntausend Häuser und zählte trotzdem zu den kleinen Städten.«
»So viele!«, staunte Darrá. »Wie viel ist zehntausend?«
Es dauerte, bis ich ihre bohrenden Fragen zufriedenstellend beantwortet hatte und sie mich endlich in Ruhe ließen. Wieder war Darrá meine Rettung, der herzhaft gähnte und daran erinnerte, dass es schon spät war.
Klý breitete großzügig einen Teppich aus und legte darauf einen weiteren. Der Untere war aus getrocknetem verzwirbelten Gras geflochten und diente dazu, das der zweite Teppich aus Baumwolle nicht schmutzig wurde. Der Stoff war weich und fein geknüpft, mit einem Streifenmuster verziert. Es musste Wochen oder Monate gedauert haben, in zu fertigen. Zum Schluss ein dritter, kleinerer zusammengerollter Teppich, der als Kissen fungierte.
»Du wirst keinen Schlaf finden, wenn du nach draußen gehst. Jeder will dich ausfragen«, meinte Ranogg.
»Danke. Ich bin froh, überhaupt an irgendeinem Ort schlafen zu dürfen«, sagte ich, legte mich seitlich hin und stützte den Kopf mit angewinkeltem Arm ab. »Das ist das erste Mal seit langer Zeit, dass ich einen richtigen Platz dafür erhalte. Wie kann ich mich erkenntlich zeigen?« Ich hatte ja keine Ahnung, was diese kleine Höflichkeitsfloskel alles in Gang setzte.
Er sah mich kurz nachdenklich an – für mich war sein Gesicht das eines wilden Tieres statt eines denkenden Wesens. Er wollte etwas sagen, als jemand anderes schon wieder seine Aufmerksamkeit auf sich zog: Ungeniert und wie selbstverständlich tapste Darrá müde zu mir auf den Schlafteppich. Er schnurrte zufrieden und rollte sich wie eine Hauskatze in meiner Beinkuhle zusammen, nur dass er dreimal so groß war.
Sowohl sein Vater als auch seine Mutter schauten verdutzt, wie ihr Kind es sich bei mir gemütlich machte. Noch verwunderter waren sie, als ich – freilich unbewusst – meine freie Hand ausstreckte und Darrá am Kopf kraulte.
Ranogg hob die Arme in die Luft und lachte leise schulterzuckend.
»Wie es aussieht, bist du jetzt sein Freund«, sagte Klý und legte sich auf ihren Schlafteppich, der nicht direkt neben Ranoggs lag. »Stört er dich?«
Ich fand die Frage überflüssig. »Nein, gar nicht. Ich dachte nur bisher, dass er mich nicht mag? Wegen eben, meine ich.«
»Dich nicht mögen?«, wunderte sich Ranogg. »Wir kennen uns noch nicht lange, aber ich glaube, selbst meinen Feinden fiele es schwer, dich nicht zu mögen.«
»Wie? Was meinst du?«
Plötzlich maunzte Darrá maulend auf und sah uns nicht sehr glücklich an. Eher verkatert.
Verkatert …
Was für ein Flachwitz.
Unser Gespräch erstarb abrupt und wir wünschten uns eine gute Nacht.
Darrá ließ mich nicht gleich schlafen. Er grabbelte nach meiner Hand und legte sie unverfroren zurück auf seinen Kopf, nachdem ich sie weggezogen hatte. Klý lachte leise auf, hielt sich aber sofort die Tatze vor die Schnauze. Sie und Ranogg sahen belustigt im dämmrigen Schein des kleiner werdenden Feuers zu uns herüber.
Kaum hatte ich meine Finger gekrümmt, streckte Darrá seinen Bauch in die Luft. Ein deutlicher Wink, wo ich jetzt weiter zu kraulen hatte. Ich streichelte ihn dann lange und ausgiebig, bis schließlich er und dann ich einschliefen.
Dreckball
In den kommenden Wochen kraulte ich viele Leonidenbäuche, während Darrá seine Not hatte, überhaupt nochmal dranzukommen. Nicht nur Leonidenkinder, auch Klý und sogar Ranogg verlangten das von mir. Sie wollten wissen, wie es sich anfühlte, weil sie sich gegenseitig dort mit ihren Krallen verletzten würden. Meine Hände mit den stumpfen Fingernägeln waren perfekt dafür geeignet. Das war paradox. Sie flochten Körbe und knüpften Teppiche, für beides brauchte es Fingerspitzengefühl. Aber sie waren nicht in der Lage, sich gegenseitig zu streicheln.
Verkehrte Welt.
Obwohl ich sagen muss, dass mir bei Ranogg etwas mulmig zumute war. Ich kannte ihn zu wenig und hatte größeren Respekt als später, nachdem ich herausfand, dass er und Klý erst zweiundzwanzig Sommer alt waren.
Ich greife vor. Zurück zum Ausgangspunkt.
Der nächste Tag war gemütlich und entspannt, bis Darrá seine Strafe beendete, die daraus bestand, den Frauen beim Knüpfen und Flechten von Körben aus dünnen Zweigen zu helfen.
Danach folgte ein Tohuwabohu.
Das erste, was er nach getaner Pflicht gegen Mittag tat, war, mich an der Hand zu nehmen und wegzuführen. Nicht wenige waren darüber verwundert, ein paar schienen sogar empört, ohne dass ich verstand, warum.
An die Rolle des Gottes musste ich mich gewöhnen. Ich dachte an Ranoggs Einschärfungen, mich bloß nicht zu verraten und erhabener zu tun, als ich es war. Leichter gesagt, als getan.
Darrá hastete zwischen den Zelten zielstrebig hindurch. Er brabbelte Fragen und gab selbst die Antworten darauf, ohne dass ich die Möglichkeit erhielt, etwas zu sagen:
»Deine Hand ist so weich. Tust du dir nicht oft weh? Ich hab' dich ganz schnell gekratzt, als du mich gerettet hast. Tut mit leid. Das wollte ich nicht. Mama hat gesagt, ich soll vorsichtig sein, weil du schnell kaputt gehen kannst. Stimmt das? Ich werde gut aufpassen! Aber Dreckball ist nicht so schlimm und tut niemandem weh. Nie! Kennst du Dreckball? Das ist einfach. Du musst mich nur mit einem Dreckball treffen, dann hast du gewonnen. Am besten, du machst einen Grashüpfer nach und springst hin und her, wenn ich dich abwerfe. Aber das schaffst du eh nicht. Ich bin nämlich der beste Dreckballspieler der Welt! Aber E'nuk glaubt mir nicht. Weißt du, wer E'nuk ist? Das ist mein bester Freund! Aber manchmal ist er blöd, weil er mir nicht immer glaubt. Papa sagt, er ist schlau. Aber ich bin mir nicht so sicher.«
Ich erhielt keine Gelegenheit mir die Umgebung in der Ferne einmal genauer anzusehen, weil Darrá mich hinter sich her zu einem Platz zerrte, der einmal ein Wasserloch gewesen war.
Bis dahin quasselte er ununterbrochen. Das war ein heftiger Gegensatz zu dem, wie mich die anderen Stammesangehörigen behandelten. Sie waren voller Ehrfurcht und gleichzeitig voll Dankbarkeit, dass sie gar nicht wagten mit mir zu sprechen. Stattdessen berührten sie mich bloß.
Wenn ich ehrlich bin, war mir Darrás kindischer Redeschwall angenehmer.
Er wies mich an, mich auf eine Seite des Schlammlochs zu stellen. Dann erklärte er, dass jeder in den Schlamm hineinrennt, um Dreckbälle zu formen, sobald der Startruf fiel. Mit denen musste der Gegner abgeworfen werden und wenn er getroffen war, war die Runde zu Ende.
Das hörte sich recht leicht an. Dachte ich. Wie erklärt, stellte ich mich auf eine Seite.
»Nein, nein!«, quäkte er sofort. »Das ist meine, du musst auf die andere.«
»Und wenn ich trotzdem hierbleibe?«, fragte ich, denn ich ahnte, dass er sich einen Vorteil verschaffte.
Er blieb stur. »Das geht nicht. Das ist schon immer meine Seite gewesen.« Er sagte das, als sei es ein unumstößliches Gesetz.
Ich schmunzelte, weil es mich daran erinnerte, dass ich früher beim Spielen immer eine Lieblingsstelle, einen Lieblingsball oder etwas anderes hatte, das ich nie hergab. Das ist eine Marotte, die zwar niedlich erscheint, aber Kinder untereinander nervte.
Ich fügte mich und stellte mich auf die andere Seite. Doch als ich mich vor den nassen und ekelerregend aussehenden Schlamm positionierte, maulte er schon wieder.
»Du darfst dich nicht so nah davorstellen! Das ist ungerecht!«, rief er.
»Schon gut, schon gut«, sagte ich und hob entschuldigend die Hände. Ein paar Schritte zurück und er schien zufrieden. »Und was jetzt?«
»Ich zähle bis fünf und dann geht’s los«, sagte er laut, wir waren ein Dutzend Meter voneinander entfernt.
Ein paar kleine Grüppchen von Leoniden standen in der Nähe und beobachteten uns..
Dann fing Darrá an zu zählen und mit erhöhter Stimme rief er zum Schluss: »Fünf!« Wir rannten los, er auf allen vieren, womit er einen klaren Geschwindigkeitsvorteil hatte, und ich auf meinen beiden ungelenken Beinen.
Er erreichte das Schlammfeld als Erster und bremste ab, indem er sich mit dem Hintern in den Dreck hineindrückte. Das sah zwar ulkig aus, war aber eine scheinbar lange erprobte Technik.
Bei mir hingegen verlief das Bremsmanöver nicht annähernd so erfreulich. Ich fiel auf die Nase. Es war wie auf glattem Eis. Meine Füße fanden keinen Halt und ich rutschte über den schlammnassen Boden hinweg. Ich hatte den Untergrund völlig falsch eingeschätzt. Mit Schuhen wäre ich nicht ausgerutscht, aber so?
Zuerst drohte ich nach hinten wegzufallen, fing mich wieder kurz, indem ich meinen Oberkörper nach vorne verlagerte. Das nutzte am Ende aber nichts, denn ich verlor trotzdem das Gleichgewicht. Ich sah noch, wie Darrá den ersten Dreckball mit den Tatzen formte, mich mit verwunderten Augen und leichtem Grinsen anstarrte. Dann landete ich mit dem Gesicht voran im Matsch.
Autsch. Peinlich für einen Gott.
Keine Sekunde später hörte ich sein lautes Gelächter. Es war kein Hohn, sondern ein ehrliches Lachen darüber, wie unmöglich komisch ich hingefallen war.
Ich hob den Kopf und sah in seine Richtung. Sobald er mein dreckbeschmiertes Gesicht sah, gellte er, fiel zu Boden und hielt sich den Bauch, während er sich wälzte.
Ich versuchte, mir vorzustellen, wie mein Gesicht aussah, und grinste bei dem Gedanken.
Ja, es musste urkomisch gewesen sein.
Dafür war Darrá jetzt außer Gefecht gesetzt. Ich kraxelte auf Händen und Knien voran, damit er nicht merkte, wie ich näherkam. Das hätte ich genauso sein lassen können, denn er war mit sich selbst beschäftigt. Mit einem losen Stück Erde in der Hand tippte ich ihn an und drückte es auf seine Schnauze, sobald er mich ansah.
»Gewonnen!«, rief ich.
Er spuckte aus und haute mir dann seinen Klumpen an die Wange, den er noch in der Pfote hielt.
Prustend und spuckend fiel ich um, überrascht von dem Gegenangriff. Wie am Vorabend stürzte er sich auf mich, nur dass ihn diesmal niemand zurückhielt und er raufte, wie er wollte, mich in den Schlammboden tunkte und weiter lachte.
»Schummler!«, rief er dabei mehrmals. »Schummler, Schummler! Du hast dich selbst abgeworfen! Bist voll mit Dreck!«
»Ich bin ausgerutscht. Abgeworfen hast du mich deswegen nicht«, entgegnete ich.
Darrá hatte für einen Pimpf seiner Größe jede Menge Kraft. Ich kämpfte, um nicht ständig in den feuchten Boden gedrückt zu werden.
»Du hast mich nicht abgeworfen«, sagte er.
»Doch, einen kurzen Moment schon. Dann traf mein Dreckball deine Schnauze.« Kaum gesagt, war ich wieder im Schlammbad.
Wir wühlten eine Weile so weiter. Aus der Ferne sah das aus, als kämpften wir – zum Glück waren seine Eltern nicht in der Nähe. Die hätten sich an ihrer eigenen Spucke verschluckt und wären daran erstickt. Da wunderte es mich dann doch, dass kein anderer Leonide einschritt und Darrá für seinen Umgang mit mir tadelte. Andererseits sagte wohl niemand dem Sohn des Häuptlings, dass er etwas falsch machte, ohne dafür bei Ranogg angeschwärzt zu werden.
Nachdem wir uns völlig verausgabt hatten, lagen wir atemlos da, während die heiße Sonne den Schlamm auf uns trocknete, der trotz der Hitze angenehm kühl blieb. Am liebsten wäre ich liegen geblieben und hätte geschlafen.
Darrás Pläne sahen freilich anders aus und er forderte eine Revanche. So so. Er erkannte meinen Sieg an.
»Aber nur, weil du es nicht besser wusstest«, schränkte er ein. »Beim nächsten Mal gewinne ich sofort.«
Pfft! Und mich nannte er Schummler? Ich hatte langsam den Eindruck, dass er sich die Regeln zurechtbog, wie sie ihm in den Kram passten. Irgendwie … niedlich.
Wir gingen wieder in Position und Darrá zählte. Aber nicht langsam, sondern ungerecht schnell. »EinszweidreivierFÜNF!«, rief er, rannte los und war beim Schlammfeld, lange bevor ich überhaupt kapierte, dass die Runde gestartet war.
Ich hechtete los, achtete aber darauf, nicht wieder unglimpflich wegzurutschen, und streckte meine Hände zum Boden hin aus, als mich sein Dreckball an der Schulter traf.
»Gewonnen!«, rief er fröhlich. »Du bist langsam!«
Jetzt verhöhnte er mich. Na warte, du Kleiner - !
»Ich habe Dreck in die Augen bekommen«, sagte ich, rieb mein Gesicht und fuchtelte mit der Hand herum, so als könnte ich nichts mehr sehen. »Hilf mir, bitte.«
Er war sofort da. Gut erzogen war er.
»Lass' mich sehen«, sagte er, fasste mein Kinn vorsichtig und begutachtete mich, so als sähe er den Dreck in meinen Augen. Ich konnte nicht anders und grinste ungehalten.
»Was ist?«, fragte er verwundert.
Ich öffnete die Lider und starrte in seine großen, savannengelben Augen, die mich fragend ansahen. Einen Moment zu spät begriff er, was ich vorhatte. Er schrie laut auf, die Falle schnappte zu. Ich packte seinen Kopf und drückte ihn mit dem Gesicht in den Dreck. Sein Aufschrei erstarb und er zappelte wild umher. Ich ließ ihn sofort wieder los.
Seine verdutzte Miene wandelte sich in den aufgeplusterten Ballon des letzten Abends.
»Hey!«, rief er. »Du hast schon verloren! Das war mies!«
»Ich weiß«, erwiderte ich, fasste ihn wieder am Kopf und klatschte ihn nochmal in den klebrigen Schlamm.
Dieselbe Gemeinheit gleich zweimal zu bringen, machte ihn rasend. »Hör' auf damit!«, rief er wütend. »Sonst - «
»Sonst sagst du es deinem Vater?«, fragte ich und drückte ihn ein drittes Mal nach unten.
Als ich ihn losließ und er langsam sein Gesicht anhob, hatte ich ein fauchendes Kätzchen vor mir.
Schuldbewusst bat ich um Verzeihung: »Ich wollte dich ein bisschen ärgern. Das mache ich nur bei denen, die ich gern habe.« Er schien nicht zufrieden oder gar beschwichtigt. »Also gut. Weil ich so gemein war, darfst du mich dreimal tunken, in Ordnung?«
Sofort hellte sich seine verschmierte Miene auf, gefolgt von einem dreckigen Lachen. Kinder lachten ohnehin am niederträchtigsten. Zumindest hörte es sich bei ihnen am unheimlichsten an.
»Jetzt?«, fragte ich.
Er forderte mich auf, nah an sein Gesicht zu kommen. So ein Leonidengesicht sah von nahem gefährlich aus, obwohl es nur ein kleines war. Vor allem dann, wenn der dazugehörige Leonide verärgert und auf Rache sann. Die Zähne in seinem Mäulchen waren zwar klein, sahen aber trotzdem schon aus, als könnten sie großes Wild reißen. Zusammen mit den starrenden Augen wirkten sie nochmal um einiges bedrohlicher. Ich schluckte und hoffte, niemals wieder einem so nahe zu kommen.
Vielleicht lag es aber an Darrás selbstbewusster Art. Was, wenn er seinen Eltern davon erzählte und sie mein Verhalten grob beleidigend fanden? Ich kannte dieses Völkchen gar nicht und wusste nicht, ob sie mit ihren Kindern genauso umgingen wie wir zu Hause? Hatte ich schon einige Grenzen überschritten, wofür ich später empfindlich bestraft wurde? Was, wenn sie mich wegen Beleidigung des Häuptlingssohnes an den Totempfahl fesselten und abfressen würden?
Scheiße!
Warum war ich nur so sorglos? Würden die Leoniden, die uns beobachteten, gleich zu Ranogg rennen und ihm sagen, wie ich mit seinem Sohn umging?
Ich hatte keine Zeit, die düsteren Gedanken weiterzuverfolgen, weil Darrá plötzlich meinen Kopf mit beiden Tatzen nahm und mich aufschreiend dreimal schnell hintereinander in den Schlamm drückte. Danach brach er wieder in lautem Gelächter aus. »Du siehst so blöd aus!«, rief er und lachte mich aus, bis er meinen gedrückten Stimmungsumschwung bemerkte.
Den verstand er aber völlig falsch. »Du hast mich eben auch getunkt!«, verteidigte er sich sofort. »Bist du deswegen beleidigt?«
Ich schüttelte den Kopf und erklärte ihm kurz und kindgerecht, was mich beschäftigte und ich befürchtete.
»Niemand wird dich bestrafen!«, widersprach er prompt. »Und wenn sie es versuchen, gehe ich dazwischen!«
Sein Mut war zuversichtlich und baute mich etwas auf.
»Ich glaube nicht, dass Mama und Papa böse sind. Du hast mich gerettet!«, argumentierte er. »Und wenn doch, sage ich, dass es meine Schuld war.« Sicher war er sich also nicht.
Die Stimmung war dahin und die Zeit schon fortgeschritten. Es standen immer noch Grüppchen von Leoniden in unserer Nähe, nur waren es nicht mehr dieselben. Waren es vorher Erwachsene gewesen, schauten jetzt mehrere Kinder zu uns herüber. Abseitig entdeckte ich Ku’papa. Dabei empfand ich ein verfremdendes Gefühl, so als dürften er oder ich nicht hier sein.
Darrá hatte seine Altersgenossen schon lange bemerkt und bisher ignoriert. Jetzt sah er hinüber, dann zu mir, dann wieder zu ihnen. »Bist du wirklich kein Gott?«, fragte er in kindlicher Unschuld.
Offenbar war das Thema doch nicht vorbei. »Warum fragst du? Denkst du denn, ich bin einer?«
Darrá dachte kurz nach. »Ja. Du hast mich gerettet und du bist so anders und du kommst aus dem Nichts«, antwortete er.
Er glaubte immer noch daran, obwohl ich ihn aufgeklärt hatte. Ich fragte mich, ob seine Eltern ebenso dachten. Da fiel mir ein, dass viele Götter sich unters Volk mischten und Sterbliche spielten. Wahrscheinlich dachten sie deshalb, dass ich einer war.
Später erfuhr ich, dass das genauso auf die Savannengötter zutraf, obwohl sie anders miteinander zusammenhingen, als ich es von zu Hause her kannte. Es gab die Urgötter, dann das Pantheon der Siebzehn und die kleinen Götter. Zu Letzteren zählte ich in den Augen der Leoniden. Sie waren zahlreich, für alles und jeden existierte ein Gott, der in verschiedenen Stämmen unterschiedlich verehrt wurde. Tausende von kleinen Göttern, die nicht mal den Leoniden alle bekannt waren. Die Urgötter waren die Erschaffer der Welt und zeigten sich gelegentlich. Die kleinen Götter wandelten ebenfalls manchmal unter den Sterblichen, um nach dem Rechten zu sehen. Im Gegensatz dazu blieben die Götter aus dem Pantheon der Siebzehn – auch die Unaussprechlichen genannt, weil niemand ihre Namen kannte – unter sich und herrschten über die Welt. Allen gemeinsam war, dass sie nicht direkt in den Lauf der Dinge eingriffen.
Legten Ranogg, Klý und Darrá die Wahrheit über meine Herkunft als schlichte Zurückhaltung aus? War das der Grund? Oder wollte er es wieder besseren Wissens glauben?
»Wenn du der Meinung bist, dass ich einer bin, dann bin ich wohl einer«, sagte ich und versuchte es mit einem Kompromiss. So hielt ich mir ein kleines Hintertürchen offen.
In Darrás Augen sah ich – wie soll ich sagen? – eine Hoffnung auf die Hoffnung aufflammen.
»Ich wusste es!«, rief er, sprang auf und sah mich begeistert an. »Niemand ist so wie du! Niemand kommt aus dem Nichts! Und keiner traut sich, den Häuptlingssohn zu veralbern! Nur ein Gott macht das.«
Puh! Ohne es zu wollen, hatte ich mich gerettet.
Mein Magen knurrte ungöttlich laut. Darrá sah mich verwundert an, als hätte er das Geräusch vorher nie gehört. Es war mir peinlich. »Äh … «, machte ich. »Also ich - «
»Du hast Hunger? Dann gehen wir zurück. Mama hat bestimmt schon angefangen.«
»Angefangen mit was?«
»Na, mit Essen kochen«, sagte er, bot mir seine Pfote an und half mir unerwartet galant vom Boden auf. Der Schlamm quirlte, als ich aufstand. Wir waren über und über mit Dreck beschmiert.
Als wir den Rückweg antraten, sah ich in Richtung unserer Beobachter und winkte ihnen zum Abschied. Zuerst zögerlich grüßten ein paar zurück oder nickten mir zu. Andere hingegen observierten mich und erwiderten meinen Gruß nicht. Da wurde mir langsam bewusst, dass ich nicht bei allen willkommen war und sie mit Problemen kämpften, in die ich inmitten hineingeraten war. Es sollte nicht lange dauern, bis ich erfuhr, wie schwerwiegend diese Probleme waren.
Baden
Ich war im Kokon eines Unbescholtenen, der keine Ahnung hatte, was vor sich ging. Auf dem Weg zu Ranoggs und Klýs Zelt schauten uns einige verwundert hinterher, obwohl sie zweifelsohne alle wussten, was wir getrieben hatten.
Wir passierten den Totemplatz, auf dem der hölzerne Pfahl höher als alle Zelte steil empor stach. Wir blieben stehen. Bisher war mir nicht aufgefallen, wie detailreich das Totem ausgearbeitet war. Aus dem Holz des Baumstammes waren mit größter Sorgfalt verschiedene Gesichter herausgearbeitet worden. Von unten nach oben zeigte das Totem sieben Wesen: Ein Löwe, der das Maul weit aufgerissen in den Himmel reckte, und aus dessen Rachen die anderen Wesen wuchsen. Eine starrende Antilope, eine zischelnde Schlange, eine lachende Hyäne, einen mit den Flügeln schlagenden Aasgeier, ein lauerndes Krokodil. Und dann etwas, das einem Menschen frappierend ähnelte. Zuoberst gekrönt waren die Kreaturen von zwei Kugeln, die eine weiß, die andere schwarz angemalt. Doch das menschenähnliche Wesen zog meinen Blick auf sich. Es hatte zwei Ohren, eine Nase, Lippen und um das Gesicht wallende Haare. Seine Zähne stachen unnatürlich spitz aus dem Mund hervor und die Stirn war wulstig und verzerrte dessen Blick.
»Sag mal, Darrá, ist das da oben Araksh?«, fragte ich. Er nickte mehrmals. »Verstehe. Und die anderen?«
»Papa hat sie mir mal erklärt. Ganz unten der Leonidenkopf sind wir. Unser ganzes Volk. Wenn wir brüllen, beten wir die Götter an. Die Antilope ist Weschnut, der Gott der Erde. Die Schlange heißt Mem’en, sie ist die Göttin des Grases und der Hitze und ist sehr böse. Die Hyäne ist Kraçzan, der Gott der Vereinigung.« Er kicherte belustigt.
»Was ist?«, fragte ich wunderlich.
»Kraçzan ist ein Mann und eine Frau. Gleichzeitig!«, rief er hell.
Ein Zwittergott? Wie ungewöhnlich. Kaum ein Volk hatte zweigeschlechtliche Götter.
Als ich nicht mit ihm lachte, fuhr er fort: »Der Geier ist Lud’ashz, der Gott der Toten. Sangú ist die Göttin des Blutes. Und dann kommt Araksh, der Gott des Lebens und des Todes. Das sind die sechs Urgötter, die alle Stämme verehren.«
Ich hatte viele Fragen, merkte aber schnell, wie knapp Darrá mir antwortete. Sein Hunger überwog das Interesse, mir alles zu zeigen oder zu erklären.
Im Zelt seiner Eltern roch es nach gebratenem Fleisch. Ich hatte keinen Schimmer, was hier gegessen wurde.
»Wir sind zurück!«, kündigte Darrá uns an.
Ranogg war nicht da, bloß Klý stand von uns abgewandt, sie schien etwas zu suchen. Gelassen wandte sie sich um, bekam große Augen, hielt sich die Pfote vor die Schnauze und lachte herzhaft.
Ich sah an mir herunter, sah zu Darrá, der mich betrachtete, und dann wieder zu Klý. »Sehen wir so schlimm aus?«, fragte ich.
Sie nickte eifrig. »Schlimmer. So habe ich Darrá bisher nie gesehen. Sein Gesicht!« Sie wurde ganz ungehalten, hielt sich sogar ihren Bauch. »So kommt ihr hier nicht rein. Erst müsst ihr euch waschen.«
Hätte ich gewusst, wie man sich hier wusch, ich wäre auf und davon. Ich fragte nach dem nächsten Wasserloch. Stattdessen reichte sie mir einen Krug zur Antwort.
»Wenn du Durst hast, brauchst du nicht so weit zu laufen. Wie teilen gerne unsere Vorräte mit dir«, sagte sie zuvorkommend und hatte offensichtlich nicht den Anlass meiner Frage verstanden. Das lag aber eher daran, dass ich nicht begriff, wie die Dinge hier liefen. So entstehen schnell kulturelle Missverständnisse.
Aus Höflichkeit trank ich vom überreichten Wasser und merkte, wie durstig ich war. Ich leerte ein Drittel des nicht klein getöpferten Kruges. Er war so hoch, wie mein Unterarm lang war, und hatte einen Umfang von einem halben Meter. Darrá war wieder hinausgegangen, während ich Klý erklärte, dass ich mich im Wasserloch baden wollte.
»Baden?«, fragte sie. »Du meinst, du willst dich im Wasser säubern?«
»Ist das ein Problem?«
Sie nickte. »Ja. Wir haben keine großen Wasserlöcher. Die dürfen wir nicht verschwenden.«
Hm. Logisch. Ich war selbst halb verdurstet angekommen. Schon klar, dass ich diesen Luxus hier nicht erwarten konnte. Die Macht der Gewohnheit.
»Ich habe nie von jemandem gehört, dass er sich im Wasser wäscht«, meinte Klý nachdenklich, was mich stutzig machte.
»Wie haltet ihr euch denn sonst sauber?«, fragte ich nichtsahnend.
Sie bemerkte meine Skepsis und lächelte. »Du wirst sehen. Das ist purer und wohltuender Genuss! Komm' mit, Ranogg ist heute dran«, sagte sie und ging mit mir nach draußen. Wir mussten ein bisschen warten, bis er zurückkam. Darrá war fort.
Klý hob ratlos die Tatzen. »Er ist zu seinem Vater gegangen. Er muss hungrig sein, sonst würde er das nicht wagen. Ranogg mag es nicht, während der Ratssitzung mit Haushaltspflichten gestört zu werden.«
Ich verstand gar nichts mehr. Was hatte denn Darrá mit Ranoggs Pflichten zu tun, die er während irgendeiner Sitzung erledigte?
Wir warteten. Ich setzte mich auf den Boden und mir fielen einmal kurz die Augen zu.
»Bist du müde?«, fragte Klý, ich schreckte hoch, glotzte sie verwirrt an und nickte ermattet.
»Darrá kann anstrengend sein und heute hat er sich mit dir ausgetobt. Das finde ich schön. Er hat selten die Gelegenheit dazu.«
»Warum das? Er hat doch viele andere Freunde, oder?«
Darauf wog sie zögernd den Kopf hin und her, antwortete aber nicht, was mir Antwort genug war. Darrá hatte demnach keine richtigen Freunde. Ich fragte mich nur, warum? Weil er der Häuptlingssohn war? Aus dem Nichts kam mir ein schockierender Gedanke.
»Es war nicht Pech und Unachtsamkeit, dass er bei der Klippe beinahe zu Tode gekommen ist, nicht wahr?«, fragte ich ahnungsvoll.
Klý drehte langsam ihren Kopf in meine Richtung. Ihr Blick schrie danach, mir etwas wichtiges sagen zu wollen. Stattdessen räusperte sie sich unfraulich, als sie ihren Sohn nebst Gatten aus den Augenwinkeln erblickte. Sie schwieg und zeigte ein aufgesetzt glückliches Mienenspiel.
Ranogg schlug sich eine Tatze an die Stirn. »Du bist ja noch dreckiger!«, rief er.
Darrá neben ihm war befreit vom Schlamm, sah aber seltsam zerzaust und ungewöhnlich zufrieden aus. Er lächelte dümmlich. Was war mit ihm?
»Das wird länger dauern, als ich dachte«, sagte Ranogg und nickte in meine Richtung. »Dann zieh' dich schnell aus, sonst wird es spät.«
Äh … was?
Wie, ausziehen?
»Hier?«, fragte ich skeptisch.
»Sicher! Wo soll ich dich sonst säubern?«
Ich rieb zögerlich Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand aneinander, während mich die Drei betrachteten. Wieso wollte er mich waschen?
»Ich – äh …«, stammelte ich. »Wie – wie willst du mich den waschen?«
Ranogg sah zu Klý, die sagte: »Bei ihnen ist es anders.«
Ranogg kratzte sich am Kopf. »Wir reinigen uns gegenseitig, indem wir uns sauber lecken, verstehst du?« Ich erhielt kaum Zeit zu begreifen, was er sagte, als er fortfuhr: »Nymnos, ich habe Hunger und keine Lust zu warten. Zieh' dich aus.« Sein Ton wurde eine Spur fordernder und er sah mich an, als wäre er mein Vater. Ich lernte, einen hungrigen Leoniden besser nicht auf die Geduldsprobe zu stellen. Ich war das Einzige, was zwischen ihm und seinem wohlverdienten Essen stand. Dazu kam, dass ich der Erste und Einzige war, der Probleme damit hatte, gewaschen zu werden, wie er es vorhatte.
Hilfe.
Als ich mich nicht rührte, trat Ranogg kopfschüttelnd auf mich zu und riss mir meinen geliehenen, zu großen Lendenschurz herunter. Ich schrie auf und wich nackt vor ihm zurück.
»Was soll das? Gott hin oder her, dreckig gibt es kein Abendmahl. Weder für dich, noch für mich«, erklärte er und versuchte mich zu ergreifen, doch ich wich ihm aus und hob abwehrend meine Arme.
»Ranogg! Ich – äh – du musst das nicht machen. Ich habe keinen Hunger – Ah!«
Er sprang mich an und ich fiel um. Er drehte mich mit Leichtigkeit auf den Bauch, drückte meine Brust mit einer Pranke zu Boden und fixierte die zappelnden Beine, indem er sich auf sie drauf setzte. Er ergriff mein rechtes Bein, winkelte es an und leckte die Fußsohle schnell ab. Seine Zunge war rau und groß und es kribbelte in einer nicht auszuhaltenden Welle durch meinen Körper. Ich schrie auf und wand mich.
»Hör' auf, dich zu wehren! Warum stellst du dich so an?«, fragte er und fuhr ohne Gnade fort.